Süden und das verkehrte Kind - Friedrich Ani - E-Book

Süden und das verkehrte Kind E-Book

Friedrich Ani

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Beschreibung

Ein kleines Mädchen ist verschwunden und erst spät bemerkt Kommissar Tabor Süden, welches Spiel die Angehörigen mit ihm treiben. Haare: dunkelbraun. Augenfarbe: braun. Größe: 129 Zentimeter. Alter: 6 Jahre. Geschlecht: weiblich. Nastassja Kolb ist verschwunden, und alle Vernehmungen laufen zunächst ins Leere. Bis Tabor Süden begreift, welches Spiel die Familienangehörigen mit ihm treiben und wie Recht sein Freund und Kollege Martin Heuer mit seinen Vermutungen hatte. Doch da ist es schon zu spät: Aus Wut und Verzweiflung greift Süden zu Mitteln, mit denen er sich selbst ins Abseits manövriert. Süden und das verkehrte Kind von Friedrich Ani: die Arni-Krimis im eBook erhältlich!

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Seitenzahl: 180

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Friedrich Ani

Süden und das verkehrte Kind

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[home]

Vorspann

Ich arbeite auf der Vermisstenstelle

der Kripo und kann meinen eigenen Vater

nicht finden.

Tabor Süden

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1

Dies, Herr Süden«, sagte der Staatsanwalt, »ist ein Kontaktgespräch. Wir sind allein in diesem Raum, ein übrigens, bei allem Respekt, nicht sehr kommoder Raum; ich wusste nicht, dass Sie Ihre Vernehmungen unter derart beengten Verhältnissen durchführen müssen. Wir sind allein, Herr Süden. Wir haben eine halbe Stunde Zeit. Wenn wir mehr Zeit brauchen, werde ich sehen, was ich tun kann. Nichts wird protokolliert. Im Moment. Herr Süden?«

Dr. Michael Vester betrachtete mein Schweigen. Sein Blick fixierte meinen Mund, als hätte er anderweitige Absichten.

»Ja«, sagte ich dann.

»Ich möchte Sie etwas fragen.« Er hatte die Hände auf dem Tisch übereinander gelegt und klopfte in regelmäßigen Abständen mit dem rechten Daumen auf den linken Handrücken, möglicherweise nicht aus Nervosität oder Ungeduld, es wirkte eher wie ein Tick. »Haben Sie getrunken, diese Nacht?«

»Ja«, sagte ich.

»Wie viel haben Sie getrunken?«, sagte Vester.

»Fünf Bier«, sagte ich.

»Fünf Nulldreigläser?«

»Fünf Flaschen«, sagte ich. Es waren sieben gewesen, aber ich stand nicht unter Eid.

»Das ist sehr viel«, sagte Vester.

Sein Daumen hob und senkte sich, wir sahen uns an, vom einen Ende des rechteckigen Tisches zum anderen, wir waren uns vorher noch nie begegnet, und als er heute Morgen um halb acht vor der Tür meiner Wohnung stand, sagte er als Erstes: »Ich freue mich, Sie kennen zu lernen.« Dann sagte er: »Leider sind die Umstände wenig erfreulich.«

Je länger wir inzwischen in dem kleinen Raum mit dem niedrigen Fenster im zweiten Stock des Dezernats saßen, desto unerfreulicher wurden die Umstände. Und ich war der Grund dafür.

»Wenn es zur Vernehmung kommt«, sagte Vester, »muss ich eine Blutprobe veranlassen. Sie wissen das.«

»Ja«, sagte ich.

Es war nicht meine Absicht, einsilbig oder verstockt aufzutreten, ich konnte nicht anders, die halbe Nacht lang hatte ich gesprochen, nun war ich erschöpft und meine Stimme ein ausgehöhltes Organ. Überhaupt befand ich mich an diesem Morgen in einer Höhle tausend Kilometer unter der Oberfläche des Tages, in einer Finsternis so weit jenseits dieses zehnten April, dass ich mir nicht sicher war, ob es mir je wieder gelingen würde, meine Stimme, meinen Schatten, meine Existenz zurückzuerlangen. Nicht einmal Sonja, deren Nähe mich in den vergangenen Stunden vor dem vollkommenen Absturz bewahrt hatte, reichte jetzt noch für eine bescheidene Rettung. Die Wände der Höhle berührten meinen Körper.

Beinah bildete die Gegenwart des Staatsanwalts eine Art gerichtsverwertbaren Beweis dafür, dass es mich noch gab. Durch ihn hatte ich einen Platz in der Wirklichkeit, solange er, irgendwo am Ende eines Tisches, mir gegenübersaß, stellte ich eine Koordinate in einem geordneten, erprobten System dar, man konnte mich sehen und ansprechen und ausfragen und verurteilen. Doch es fiel mir schwer, mich nicht selbst zu verurteilen und wegzusperren und zu vergessen.

»Hören Sie mir zu?«, fragte Vester.

»Ja«, sagte ich. »Wenn es sein muss.«

»Bitte?«

»Die Blutprobe«, sagte ich.

»Wir werden sehen.«

Der Tisch war leer. Vester hatte seine Aktenmappe auf einen Stuhl gelegt und kein Blatt herausgenommen. Und ich war, als er mich gemeinsam mit Karl Funkel und Volker Thon abholen kam, derart abwesend gewesen, dass ich vergessen hatte, meinen kleinen karierten Block und den Kugelschreiber einzustecken. Das war mir noch nie passiert. Die Utensilien gehörten zu meiner Erscheinung wie die an den Seiten geschnürte Lederhose, das weiße Leinenhemd, die Narbe am Hals und die Kette mit dem blauen Stein und dem Adlermotiv.

Auch hatte ich mich, entgegen meiner Gewohnheit, sofort hingesetzt und war nicht stehen geblieben, hatte mich nicht an die Wand gelehnt, tat, wozu der Staatsanwalt mich aufforderte. Und ich war ihm dankbar.

»Möchten Sie Mineralwasser trinken?«, sagte er.

»Nein«, sagte ich.

»Fühlen Sie sich nüchtern?«

Ich schwieg.

»Sie haben die Nacht in Ihrer Wohnung zusammen mit der Kollegin Feyerabend verbracht«, sagte er.

Ich schwieg.

»Herr Süden.« Er tippte mit dem Daumen auf seine Hand und sah mich an, eine Minute oder länger, und ich erwiderte seinen Blick. »Ich möchte Sie, obwohl es nicht notwendig wäre, weil Sie das Procedere kennen … Sie sind ein erfahrener Kriminalist, und, wie ich weiß, einer unserer erfolgreichsten, und ich muss nochmal sagen, ich freue mich wirklich, Sie persönlich kennen zu lernen, eine andere Situation wäre mir allerdings lieber, Ihnen auch, schätze ich … Sie können immer noch, jetzt sofort, wenn Sie wollen, einen Rechtsbeistand hinzuziehen. Obwohl dies ein Kontaktgespräch ist, worauf ich großen Wert lege. Möchten Sie das? Wollen Sie sich Ihre Entscheidung noch einmal überlegen? Sie erhalten jede Chance, die Ihnen zusteht, ich werde versuchen, Sie nicht anders zu behandeln als jede andere Person in Ihrer Lage.«

Er machte eine Pause, holte Luft, sah zum Fenster, durch das nur spärlich Licht hereinfiel, runzelte die Stirn und senkte für einen Moment den Kopf.

»Das ist das erste Mal, dass ich gegen einen Polizeibeamten ermitteln muss«, sagte Vester. »Ich geb zu, keine einfache Situation. Wie für Sie auch, schätze ich. Wir hatten die Bedenkzeit also beide nötig. Ich für mein Teil habe gestern den ganzen Tag Ihre Akten gelesen, auch nachts noch, statt Bier habe ich schwarzen Tee getrunken, vermutlich die gleiche Menge wie Sie. Was mir aufgefallen ist: Sie sind ein eigenwilliger Beamter, Sie neigen dazu, auszuscheren. Würden Sie diese Einschätzung teilen?«

»Was meinen Sie mit ›ausscheren‹?«

»Aus der Gruppe. Sie scheren aus dem Team aus, aus dem Kollegenkreis, Ihr Kollege Thon hat mir meinen Eindruck bestätigt. Gleichwohl schätzt er Sie außerordentlich, das hat er ausdrücklich betont.«

Er sah mich an und zupfte am Ärmel seines hellblauen, klein karierten Hemdes, dessen Manschetten aus den dunklen Sakkoärmeln hervorstanden. Ich schätzte Dr. Michael Vester auf Ende vierzig und vermutete, dass er bis vor einiger Zeit schlanker gewesen war, da er sich in Abständen an die Wangen fasste und sie drückte und sich mit schnellen unauffälligen Bewegungen über die Hüften strich. Er trug eine teure silberglänzende Armbanduhr und wenn er einen Blick darauf warf, ließ er sich Zeit.

»Hat Torsten Kolb Anzeige erstattet?«, sagte ich.

Er antwortete erst nach einer Weile, während er mich unvermindert anstarrte.

»Wir sitzen hier«, sagte Vester, »weil ich darüber zu beschließen habe, ob wir ein Verfahren einleiten müssen oder nicht. Unabhängig von Herrn Kolb, der sich zu der Sache bis zur Stunde nicht geäußert hat. Es geht hier nicht um die Sache Kolb, jedenfalls nicht in erster Linie, es geht um Sie. Sie sind der Grund, warum Herr Thon keine andere Wahl hatte als mich zu informieren beziehungsweise einfach das zu tun, was er tun muss. Mich und Sie muss die Frage beschäftigen, ob Ihr Verhalten eine Dienstaufsichtsbeschwerde und möglicherweise förmliche Disziplinarmaßnahmen nach sich zieht. Im Augenblick möchte ich mir nur ein Bild von Ihnen machen, ich möchte Ihre Sicht der Vorfälle kennen lernen, und ich versichere Ihnen, was immer in Ihren Akten stehen mag, die Äußerungen mancher Kollegen, Anmerkungen über eigenmächtiges Verhalten und dergleichen, Ihre eigenen Aussagen zu bestimmten Fällen und Personen – das alles werde ich nicht dazu benutzen, ein eventuelles strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen Sie zu untermauern. Mit all dem, was ich erwähnt habe, können Sie sich nicht selbst beschuldigen, machen Sie sich darüber keine Sorgen! Ausschließlich Ihr Verhalten vom Montag zählt, Sie sind im Augenblick kein Beschuldigter, ist Ihnen das klar?«

»Natürlich.«

»Gut«, sagte Vester. »Haben Sie zum jetzigen Zeitpunkt den Wunsch, dass Ihr Vorgesetzter Thon oder Dezernatsleiter Funkel an diesem Kontaktgespräch teilnimmt?«

»Nein.«

»Ich versuche, Ihnen Möglichkeiten zu bieten, damit Sie sich wohl fühlen, damit Sie sich entspannen, damit wir vernünftig und schnell zu einer Klärung kommen. Sind Sie sicher, dass Sie dieses Gespräch weiter allein mit mir führen wollen?«

»Ja«, sagte ich.

»Dann weise ich Sie darauf hin, dass ich, wenn ich den Eindruck gewinnen sollte, es wäre notwendig, im Anschluss an dieses Kontaktgespräch eine informatorische Befragung durchführen werde, und zwar in Anwesenheit der Herren Thon und Funkel.« Vester faltete die Hände und holte tief Luft. »Selbstverständlich würde ich nach dieser Befragung eine Aktennotiz erstellen und meine Erkenntnisse und Schlussfolgerungen dem Tatbefundsbericht hinzufügen. Von unserem jetzigen Gespräch wird es keinerlei Vermerke geben, das hab ich Ihnen bereits erklärt. Auch wenn es Ihnen merkwürdig oder überflüssig erscheint: Ich weise Sie nochmals darauf hin, dass Sie das Recht haben, die Aussage zu verweigern. Ich finde zwar nicht, dass Sie das tun sollten, aber …«

»Ich auch nicht.«

Vester nickte, setzte an, etwas zu sagen, und zögerte.

Das Sirren der Neonröhre an der Decke krönte die Stille.

»Erzählen Sie jetzt!«

Ich schwieg. Ich fror. Mein Herz schlug unterirdisch.

 

Sein Nicken ging über in Kopfschütteln und endete abrupt.

»Das ist alles, was Sie dazu zu sagen haben?«, fragte er. »Das ist Ihre Aussage? Und Sie würden dabei bleiben, wenn es zu einer offiziellen Vernehmung und im schlimmsten Fall zu einer Dienstaufsichtsbeschwerde käme?«

»Ja«, sagte ich. Dann stand ich auf, ging zur Wand, lehnte mich dagegen und verschränkte die Arme. Ich versuchte, meine innerliche Erstarrung zu überlisten, das Sprechen hatte mir dabei geholfen. Aber als ich die Wand mit dem Rücken berührte, hatte ich vergessen, was ich gesagt hatte.

»Bitte setzen Sie sich wieder!«, sagte Vester.

»Ich stehe lieber.«

»Ich bitte Sie.«

Ich bewegte mich nicht.

Vesters Daumen zuckte. »Demnach wollen Sie, dass wir das Kontaktgespräch beenden«, sagte der Staatsanwalt.

»Sie können mich weiter befragen.«

»Sinnlos.« Er nahm die Aktenmappe vom Stuhl und ging zur Tür. »Wir machen fünfzehn Minuten Pause, dann beginnen wir mit der informatorischen Befragung. Ich bitte Sie, das Dezernatsgebäude nicht zu verlassen.«

Ich blieb an der Wand stehen, bis Sonja Feyerabend in der offenen Tür auftauchte.

»Traust du dich nicht herein?«, sagte ich.

»Was ist passiert?«, sagte sie.

Sie trug einen grauen Rollkragenpullover aus Cashmere und Bluejeans. Ihre halblangen braunen Haare, die sie frisch gewaschen hatte, glänzten fast im Neonlicht, und das Leuchten ihrer Augen schien die trostlose Entfernung zwischen uns zu begrünen. Ich wollte auf sie zugehen und schaffte es nicht.

Sie blickte über die Schulter in den Flur.

»Der Staatsanwalt behauptet, du kooperierst nicht.«

»Nein«, sagte ich.

»Soll ich dir einen Kaffee bringen?«

»Nein.«

Sie machte einen Schritt ins Zimmer, als hinter ihr eine Stimme ertönte.

»Entschuldigen Sie!«

Sonja hielt inne und drehte sich um. Gefolgt von Kriminaloberrat Karl Funkel, dem Leiter des Dezernats 11, und Hauptkommissar Volker Thon, meinem direkten Vorgesetzten, kam Michael Vester wieder herein.

»Ich muss leider darauf bestehen, dass Sie den Raum verlassen, Frau Feyerabend«, sagte der Staatsanwalt.

Hinter den Männern tauchte Erika Haberl auf, die Sekretärin aus dem K 114, der Vermisstenstelle, mit einer Kunststofftasche in der Hand. Ich wusste, was darin war.

»Ich möchte nicht, dass Sie an der Vernehmung teilnehmen«, sagte Vester zu Sonja. »Sie werden das verstehen.«

Sonja warf mir einen Blick zu, den zu erwidern mir nicht gelang, obwohl meine Augen so grün waren wie die ihren.

»Bitte setzen Sie sich dorthin!« Vester meinte Erika Haberl und zeigte auf den Stuhl neben dem Tisch. Sie setzte sich, packte den Laptop aus, schloss das Kabel an und startete den Computer.

Nur in den seltensten Fällen benutzten wir bei Vernehmungen Tonbandgeräte, entweder wir schrieben selbst mit – was mein Freund und Kollege Martin Heuer und ich meistens taten – oder wir fertigten hinterher ein Protokoll an. Die schnellste Methode war, eine Schreibkraft hinzuzuziehen, und Erika Haberl galt als eine der zuverlässigsten Kräfte auf diesem Gebiet, sie arbeitete konzentriert und ausdauernd, unterdrückte jegliches Mienenspiel, so krude oder fürchterlich die Aussagen des Verdächtigen auch sein mochten, und formulierte fehlerhafte Ausdrücke selbstständig und korrekt um.

»Bitte setzen Sie sich an den Tisch«, sagte der Staatsanwalt.

»Ich stehe lieber.« Es waren nur noch drei Stühle vorhanden.

»Das geht in Ordnung«, sagte Funkel. Er zog einen Stuhl vom Tisch weg und setzte sich in die Nähe der Tür, die beiden anderen Männer nahmen am Tisch Platz und wandten sich mir zu.

Neben den Laptop hatte Erika Haberl ein Päckchen Papiertaschentücher, einen unlinierten Schreibblock und einen Bleistift gelegt. Manchmal, das kannte ich aus meiner Erfahrung mit ihr, notierte sie Wörter, die sie nicht verstand, manchmal auch Dinge, die sie nach Dienstschluss unbedingt einkaufen musste.

»Fertig«, sagte sie, nachdem sie das Datum und den Ort der Vernehmung hingeschrieben hatte.

»Herr Süden«, sagte Vester. »Möchten Sie nach den Paragraphen zweiundfünfzig und dreiundfünfzig StPO vom Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machen?«

»Nein«, sagte ich.

»Vernehmungsbeginn neun Uhr zwanzig, Mittwoch, zehnter April. Hauptkommissar Tabor Süden wurde darüber belehrt, dass er die Aussage verweigern kann, wovon er keinen Gebrauch macht. Diese informatorische Befragung dient ausdrücklich der Klärung der Frage, ob ein Straftatbestand vorliegt oder nicht. Außer dem Staatsanwalt nehmen daran teil … Sie kennen die Namen, Frau Haberl. – Herr Süden, trifft es zu, dass Sie vor zwei Tagen, am Montag, dem achten April, in diesem Raum in Gegenwart Ihres Kollegen Martin Heuer die Vernehmung eines Mannes durchgeführt haben, der verdächtigt wurde, an der Entführung seiner eigenen Tochter beteiligt zu sein?«

»Der Verdacht besteht immer noch«, sagte ich.

»Bitte gewöhnen Sie sich an, auf meine Fragen zu antworten«

Vester saß aufrecht da, die Ellbogen auf den Armlehnen, mit ausdrucksloser Miene.

»Ja«, sagte ich.

»Im Verlauf dieser Vernehmung kam es zu einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen Ihnen und dem Verdächtigen, stimmt das?«

»Ja.«

»Warum?«

»Er log uns an«, sagte ich. »Er machte sich lustig über uns. Er machte uns Vorwürfe …«

»Welcher Art waren diese Vorwürfe?«, unterbrach er mich.

»Wir seien nicht fähig, seine Tochter zu finden, deshalb würden wir unsere Unfähigkeit an ihm abreagieren.«

»Gab es weitere Vorwürfe?«

»Ja«, sagte ich.

Funkel blickte zu Boden, Thon kratzte sich mit dem Zeigefinger am Hals und wirkte angespannt und wütend. Und er hatte Grund dazu.

»Torsten Kolb sagte, er könne uns sowieso nicht ernst nehmen, weil wir betrunken seien.«

»Was haben Sie darauf erwidert?«, sagte Vester.

»Dasselbe wie Sie«, sagte ich. »Er solle auf unsere Fragen antworten und sonst nichts.«

»Hat er das getan?«

»Er hat weiter gelogen.«

»Wie kam es zu der tätlichen Auseinandersetzung?« Dasselbe hatte er mich vor einer halben Stunde gefragt.

»Er sagte, ich soll ihn am Arsch lecken.«

»Und deswegen haben Sie ihn gepackt, vom Stuhl gezerrt und zu Boden geworfen?«

Funkel kratzte sich an der Lederklappe über seinem linken Auge, Thon nestelte an seinem Halstuch, eine Angewohnheit, die mir in diesem Moment komisch vorkam.

»Ich weiß nicht mehr, warum ich es getan habe.« Dasselbe hatte ich schon vor einer halben Stunde zu ihm gesagt.

Nach einem Schweigen sagte Karl Funkel: »Du musst eine Erklärung finden. Denk nach, was waren die letzten Worte, bevor du ausgerastet bist, wir brauchen eine Erklärung.«

»Anmerkung«, sagte Vester und drehte ein wenig den Kopf zu Erika Haberl. »Hauptkommissar Süden ist bekannt für seine eigenwilligen Verhörmethoden, wie aus seinen Akten hervorgeht. Obwohl er bisher nie handgreiflich wurde, so fühlten sich einige Personen, die es mit ihm zu tun bekamen, durch seine Art herausgefordert, auch Kollegen, wie Kommissariatsleiter Thon bestätigte.«

»Dies ist keine Beschuldigtenvernehmung, Herr Staatsanwalt«, sagte Thon, ohne ihn anzusehen.

»Das war eine Anmerkung«, sagte Vester. »Herr Süden … Bleiben Sie bei Ihrer Aussage? Soll Ihre Erklärung ›Ich weiß nicht, warum ich den Verdächtigen Kolb niedergeschlagen habe‹ so ins Protokoll?«

»Nein«, sagte ich. Er wollte etwas sagen. »Ich habe ihn nicht niedergeschlagen«, sagte ich. »Ich habe ihn zu Boden geworfen, sonst nichts.«

»Es bleibt beim Tatbestand der Körperverletzung in Ausübung Ihres Dienstes. Ist Ihnen das bewusst?«

»Natürlich«, sagte ich.

»Anmerkung«, sagte Vester. »Bis zum jetzigen Zeitpunkt liegt keine Anzeige des Opfers vor. Herr Süden … Folgen wir vorübergehend Ihrer Formulierung, Sie hätten den zur Vernehmung geladenen Torsten Kolb nicht niedergeschlagen, sondern lediglich zu Boden geworfen. Würden Sie sagen, dass diese Formulierung auch auf Ihr Vorgehen gegen Ihren Kollegen Martin Heuer zutrifft?«

»Nein.«

»Dann frage ich Sie: Trifft es zu, dass Sie Ihren Kollegen, Hauptkommissar Martin Heuer, unmittelbar nachdem Sie Torsten Kolb zu Boden geworfen haben, tätlich angegriffen, seinen Kopf gegen die Wand geschlagen, ihn mit einem Faustschlag ins Gesicht niedergestreckt und anschließend auf ihn eingeschrien haben, und zwar so lange, bis Kollegen aus anderen Büros aufmerksam wurden und den schwer verletzten, blutenden Kommissar vorfanden? Trifft es zu, dass Sie, als Ihre Kollegen bereits den Raum betreten hatten, immer noch weiter auf den am Boden liegenden Martin Heuer einschrien, obwohl Sie sahen, wie schwer verletzt er war und dass er dringend ärztliche Hilfe benötigt hätte?«

Ich ließ die Arme fallen, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen.

»Das trifft zu«, sagte ich. »Ich habe meinen besten Freund krankenhausreif geprügelt, ich habe ihn geschlagen und angeschrien.«

»Warum haben Sie das getan?«

Mit geschlossenen Augen, den Kopf im Nacken, sagte ich: »Weil er es verdient hatte.«

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2

Bekleidung: blaue Jeanshose mit künstlich eingefärbten Flecken und ausgestellten Beinen, grüner Pullover mit silbernen Sternen, rote Jeansjacke mit weißem Kunstpelzkragen und der Aufschrift »Superstar«, blassblaue Turnschuhe mit Klettverschluss

Haare: dunkelbraun, mittellang, durchsetzt von geflochtenen Rastazöpfchen

Figur: schlank

Augenfarbe: braun

Größe: 129 Zentimeter

Alter: 6 Jahre

Geschlecht: weiblich

Nationalität: deutsch

Sprache/Dialekt: Deutsch

Besondere Merkmale: an der linken Schläfe eine 1,5 Zentimeter lange Narbe

Weitere Informationen: Nastassja neigt dazu, fremde Leute auf der Straße anzusprechen und sie zu fragen, wohin sie gehen. Sie hat ein offenes freundliches Wesen.

Fragen: Wer hat Nastassja Kolb seit dem Abend des 4. April gesehen? Wer kann Angaben über ihren derzeitigen Aufenthalt machen? Wer hat ungewöhnliche Beobachtungen in der Münchner Josephinenstraße beziehungsweise auf der Prinz-Ludwigshöhe gemacht?

Sachverhalt: Seit Freitagabend, 5. April, wird die 6-jährige Nastassja Kolb aus München vermisst. Das Mädchen verließ ihr Elternhaus in der Josephinenstraße 8 gegen 17.30 Uhr. Möglicherweise wirkte sie zornig und hatte es eilig. Vorausgegangen war ein Streit mit ihrer Mutter. Nach Aussagen ihres 13 Jahre alten Bruders Fabian, der sie vom Fenster aus noch gesehen hat, lief das Mädchen die Josephinenstraße hinunter in Richtung Ludwigshöher Straße.

Zuständige Dienststelle: Kriminalkommissariat 114, Dezernat 11, Bayerstraße

Sachbearbeiter: Tabor Süden

 

Wie bei jeder Vermissung, die wir ernst nehmen mussten, begann die Fahndung mit dem Ausfüllen von Formularen, die wir per Fax an verschiedene Dienststellen schickten, während der Kollege Wieland Korn beim Landeskriminalamt die Daten ins INPOL-System eingab, von wo aus diese über Nacht mit der VERMI/UTOT-Datei des BKA vernetzt wurden, um sie mit Informationen über Vermisste und unbekannte Tote abzugleichen. Parallel dazu erhielten ausgewählte Inspektionen vom LKA Fernschreiben, die wesentliche Details über die verschwundene Person enthielten. Beim Verdacht auf ein Verbrechen schalteten wir die Öffentlichkeit ein, in Fällen von Kindsvermissungen, sofern es sich nicht um Streuner und polizeibekannte Ausreißer handelte, banden wir so früh wie möglich die Medien mit ein, nicht nur, damit sie uns bei der Suche unterstützten, sondern auch aus Gründen des Selbstschutzes: Je offener und direkter wir mit der Presse umgingen, desto ungestörter konnten wir unsere Arbeit verrichten, ohne über jeden Schritt der Fahndung extra Auskunft geben zu müssen.

Darüber hinaus klebten wir Plakate an U- und S-Bahnhaltestellen, in die Nähe von Jugend-, Einkaufs- und Vergnügungszentren, verteilten Laufzettel und Postwurfsendungen, durchsuchten vor allem die nähere Umgebung des Kindes, Keller, Speicher, Garage, das Grundstück sowie seine Lieblingsplätze, schickten Streifenbeamte zu Friedhöfen, wo sich weggelaufene Kinder oft versteckten, und überprüften so viele Freundschaften, Bekanntschaften und familiäre Verbindungen wie möglich. Sämtlichen Krankenhäusern und ambulanten Diensten, den Leitstellen der Verkehrsbetriebe und den Taxizentralen übersandten wir Fotos des Kindes und Beschreibungen von Kleidung, Aussehen und Verhaltensmerkmalen.

Manchmal beschäftigten sich von Anfang an rund sechzig Kollegen mit dem Fall, nach Einrichtung einer Besonderen Aufbauorganisation, einer BAO, die schließlich in eine Sonderkommission überging, waren es oft an die hundert Kriminalisten, die rund um die Uhr Befragungen durchführten, Spuren und Hinweise aus der Bevölkerung überprüften, die üblichen Wege des Kindes wieder und wieder abfuhren, Personen im Ausland aufstöberten, die in einer Verbindung zum Kind standen. Zu Hilfe kamen uns außerdem sowohl polizeiinterne als auch externe Psychologen und Rechtsmediziner sowie Spezialisten der Operativen Fallanalyse aus dem Präsidium oder dem BKA.

Das plötzliche, unerklärliche Verschwinden eines Kindes, das auch nach mehreren Stunden nicht nach Hause zurückkehrte, bedeutete für uns den Super-GAU, und wir erlebten ihn ungefähr fünfmal im Jahr. Wir hatten also Erfahrung, doch diese Erfahrung erhöhte weder unser Trostvermögen noch erleichterte sie uns das Durchschauen der Lügen, die uns die Angehörigen auftischten, bei jeder Vermissung von neuem, ausnahmslos, ganz gleich, wie schrecklich die Umstände sein mochten. Das Einzige, was mich meine zwölfjährige Erfahrung auf der Vermisstenstelle wirklich gelehrt hatte, war: Hinter den Tränen, dem Schrecken und dem Flehen in einem Zimmer, das eine einzige leere Stelle zu sein schien, gab es eine verschlossene Tür, die zu öffnen die Angehörigen ebenso fürchteten wie den Tod des Verschwundenen oder dessen unerwartete Rückkehr. Denn sie wussten, sie waren Teil seiner Geschichte, und die Fragen, mit denen ich sie konfrontierte, führten zu jener Tür, hinter der sie seit jeher ihre Lügen, ihre Schuld, ihre Feigheit und die Bastarde ihrer Gedanken verbargen. Und sie begriffen, dass in diesem Zimmer zwar ein Mensch fehlte, dieser aber seinen Schatten zurückgelassen hatte, der einen Schlüssel besaß, den einzigen, der in das unheimliche Schloss passte.

Matrimonia Kolb sah ich die Panik vom ersten Augenblick an, sosehr sie auch schluchzte und sich mit Alkohol zu betäuben versuchte.

 

»Gründe des Verschwindens«, sagte Martin Heuer, der die Unterlagen und Formulare vor sich auf dem Tisch liegen hatte. Ich stand in der Nähe des großen Fensters, dessen grüne Läden geschlossen waren. Es war Freitag, der fünfte April, eine halbe Stunde vor Mitternacht.