TEUFELSJÄGER 004: Ein Toter kehrt zurück - W. A. Hary - E-Book

TEUFELSJÄGER 004: Ein Toter kehrt zurück E-Book

W. A. Hary

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Beschreibung

W. A. Hary: Witwen sollten nicht zu früh lachen! "Ich bin eine Mörderin, Mr. Tate! Ja, ich gebe es ehrlich zu. Ich sitze hier und klage mich selbst an. Man kann in Ihrem Gesicht nicht lesen, aber mir ist klar, daß Sie jetzt schockiert sind. Wir sind zusammen und plaudern. Außer uns beiden gibt es keinen Lebenden, der von meiner Tat weiß. Richtig, ich sagte... "keinen Lebenden". Es gibt nämlich noch mindestens ein Wesen, das es weiß, und zwar das Opfer, mein Mann. Sie werden jetzt denken, gut, aber was soll's? Schließlich ist der Mann nicht mehr am Leben. Was nutzt ihm also dieses "Wissen"? Mein Gott, wenn das so leicht wäre. Das ist es leider nicht: Mein Mann ist nämlich ein Toter, der zurückgekehrt ist!" ________________________________________ Coverhintergrund: Anistasius eBooks – sozusagen direkt von der Quelle, nämlich vom Erfinder des eBooks! HARY-PRODUCTION.de brachte nämlich bereits im August 1986 die ersten eBooks auf den Markt – auf Diskette. Damals hat alles begonnen – ausgerechnet mit STAR GATE, der ursprünglichen Originalserie, wie es sie inzwischen auch als Hörbuchserie gibt. Die Druckfassung dieser Ausgabe finden Sie hier: hary.li/mtliste001.htm

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W. A. Hary

TEUFELSJÄGER 004: Ein Toter kehrt zurück

Gesamtausgabe

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

Vorbemerkung

Diese Serie erschien bei Kelter im Jahr 2002 in 20 Bänden und dreht sich rund um Teufelsjäger Mark Tate. Nach Band 21 wird sie hier nahtlos fortgesetzt! Jeder Band (siehe Druckausgaben hier: http://www.hary.li/mtliste001.htm ) ist jederzeit nachbestellbar.

 

TEUFELSJÄGER 004

Ein Toter kehrt zurück

von W. A. Hary

Witwen sollten nicht zu früh lachen!

 

Impressum

Alleinige Urheberrechte an der Serie: Wilfried A. Hary

Copyright Realisierung und Folgekonzept aller Erscheinungsformen (einschließlich eBook, Print und Hörbuch) by www.hary-production.de

ISSN 1614-3329

Diese Fassung:

© 2010 by HARY-PRODUCTION

Canadastr. 30 * D-66482 Zweibrücken

Telefon: 06332-481150

www.HaryPro.de

eMail: [email protected]

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck und Vervielfältigung jedweder Art nur mit schriftlicher Genehmigung von Hary-Production.

Coverhintergrund: Anistasius

Titelbild: Thorsten Grewe

 

Vorwort

„Ich bin eine Mörderin, Mr. Tate! Ja, ich gebe es ehrlich zu. Ich sitze hier und klage mich selbst an. Man kann in Ihrem Gesicht nicht lesen, aber mir ist klar, daß Sie jetzt schockiert sind. Wir sind zusammen und plaudern. Außer uns beiden gibt es keinen Lebenden, der von meiner Tat weiß. Richtig, ich sagte... „keinen Lebenden“. Es gibt nämlich noch mindestens ein Wesen, das es weiß, und zwar das Opfer, mein Mann. Sie werden jetzt denken, gut, aber was soll's? Schließlich ist der Mann nicht mehr am Leben. Was nutzt ihm also dieses „Wissen“? Mein Gott, wenn das so leicht wäre. Das ist es leider nicht: Mein Mann ist nämlich ein Toter, der zurückgekehrt ist!

Ohne zuvor darauf einzugehen, wie es überhaupt zu der furchtbaren Tat kommen konnte, will ich Ihnen erzählen, was sich danach abspielte. Nur eine Szene, und Sie werden ermessen können, daß ich das Grauen kenne…“

 

1

 

Ich habe einmal meinen Mann geliebt. Das ist lange her. Vor fünfzehn Jahren heirateten wir. Ich war ein junges Mädchen von siebzehn, wußte noch nichts von der Welt, von den Männern und von all den furchtbaren Dingen, die mir später widerfahren würden. Am Anfang war ich jedenfalls glücklich, und an diese Zeit mußte ich nun denken, nachdem mein Mann bereits Wochen unter der feuchten Erde des Westfriedhofs lag. Ich war schon zu Bett gegangen. Der Gedanke an die glückliche Vergangenheit ließ mich nicht schlafen.

Es ging auf Mitternacht zu, als ich es im Bett nicht mehr aushielt. Ich stand auf. Es war kühl, und meine Zähne klapperten. Trotzdem riß ich das Fenster auf. Da stand ich. Mein Blick schweifte über die alten Häuser, in denen noch bis vor Jahren ausschließlich traditions- und standesbewußte Bürger Londons gewohnt hatten. Die Zeiten ändern sich. Heute wohnen dort Leute, die nicht unbedingt dorthin gehören. Dieses Viertel ist aus jahrhundertelangem Schlaf erwacht. Leben ist eingekehrt. Nicht, daß ich etwas dagegen habe. Ich wollte schon immer Leben um mich herum, obwohl mein Verhalten der vergangenen Jahre diesem Verlangen Hohn sprechen...

Aber ich merke schon, daß ich abschweife: Ich fühlte mich in jener Nacht entsetzlich einsam, da ich merkte, daß Edgar, so hieß mein Mann, der einzige Mensch geblieben war, mit dem ich Kontakt hatte. Jetzt war Edgar tot, und ich schaffte es einfach nicht mehr, mit anderen Kontakt zu bekommen. Ich hatte es sozusagen verlernt, neue Beziehungen zu knüpfen oder alte wiederaufleben zu lassen. In dieser Situation war es nur verständlich, daß ich all das Schlimme vergaß und nur noch an die glücklichen Stunden mit meinem Mann dachte.

Ich stand da, starrte über die Dächer, unter denen nur noch für mich Fremde wohnten, achtete nicht auf meinen vor Kälte zitternden Körper, sog die feuchtkühle Nachtluft tief in meine Lungen und weilte mit meinen Gedanken längst nicht mehr in dieser Welt. Plötzlich war es mir, als hörte ich eine ferne Stimme. Ich runzelte die Stirn und lauschte. Eine eigenartige Atmosphäre nahm mich gefangen. Mein Verstand entrückte der Wirklichkeit noch mehr, und ich hatte keine Möglichkeit, dies aufzuhalten - vielleicht auch, weil ich das gar nicht wollte.

Die Stimme wurde wieder hörbar. Es klang wie ein Ruf, und es schälte sich allmählich für mich ein Name heraus: „May!“ Ich erschrak, denn dies war - mein eigener Name! Es war mir, als sei die Kälte, die an meinen Knochen nagte, die Kälte des nahenden Todes. Doch das schreckte mich nicht. Ich ertrug es, schaute fasziniert auf die wallenden Nebelfetzen über den Dächern des Viertels. Manche bildeten sich zu schemenhaften Gestalten, und eine von diesen wehte direkt auf mich zu.

Ich lachte leise und registrierte dabei einen irren Unterton. Wenn ich mich jetzt der Atmosphäre zu entziehen versucht hätte, wäre das ein hoffnungsloses Unterfangen gewesen. Der Nebelstreif wallte. Wie im Zeitraffertempo wehte er auf das offene Fenster zu, in dem ich stand. Die Kälte verstärkte sich, doch begann ich, sie nicht nur zu akzeptieren, sondern sogar zu genießen. „May!“ rief es mir zu, und ich hörte mich antworten: „Ja, Geliebter, was ist?“

Es war deutlich die Stimme von Edgar: „May, ich habe Sehnsucht nach der Wärme deines Körpers. Vertreibe die Kälte des Todes aus meinem starren Leib. Sie quält mich und läßt meinen Geist ruhelos werden.“ Jetzt erkannte ich in dem Nebelstreif deutlich die Konturen meines Mannes. Sie schienen von innen heraus zu leuchten. Irgendwo schlug dröhnend eine Kirchturmuhr. Ich brauchte die Schläge nicht zu zählen, um zu wissen, daß sie Mitternacht ankündigten. Da waren noch andere Nebelfetzen, die sich teilweise in häßliche Fratzen zu verwandeln begannen. Jedesmal jedoch, bevor dieser Prozeß abgeschlossen war, lösten sie sich wieder auf. Schauriges Gelächter klang auf und hallte über die Dächer, die im Licht des bleichen Vollmondes wie ein Scherenschnitt wirkten. Nur die Erscheinung von Edgar blieb einigermaßen konstant, obwohl seine Formen immer wieder zerflossen.

„Bist du unglücklich, Liebster?“ flüsterte ich ihm zu. „Kannst du nicht die ewige Ruhe erlangen?“

Ein abgrundtiefer Seufzer, der hohl klang, wie direkt aus einem Grab kommend. „Ach, May, wenn du wüßtest, wie schrecklich das Reich der Toten sein kann. Ich rieche dein warmes Blut und wäre so gern bei dir, um neue Lebenskraft zu schöpfen.“

Ich erbebte. Was redete Edgar da für Dinge? Ich wollte ablenken. „Warum bist du gekommen?“

„Ich sagte schon, daß mich die Sehnsucht trieb. Bisher war der Weg zu dir allerdings versperrt. Erst als du so intensiv meine Gegenwart wünschtest, gelang es mir, die Kluft zu überwinden. Doch bin ich nicht wirklich hier bei dir. Es ist nur mein schwacher Geist, der den Rest seiner Kräfte verbraucht, um einen Dialog zu ermöglichen.“

Ich glaubte, die grauenhafte Leidensmiene Edgars zu erkennen. Im nächsten Augenblick war der Eindruck wieder verschwunden. „Was kann ich tun, um den Zustand zu bessern, in dem du dich befindest, Liebster?“ murmelte ich. Fast befürchtete ich, zu leise zu sprechen und deshalb von ihm nicht verstanden zu werden. Dies erwies sich allerdings als unbegründet, denn Edgar schien sogar meine geheimsten Gedanken erraten zu können. Jetzt fiel mir auch auf, daß er nicht laut zu mir sprach, sondern daß seine Stimme direkt in meinem Kopf aufzuklingen schien.

Wieder ein so abgrundtiefer Seufzer, dem die Worte folgten: „Du kannst mir wahrhaftig helfen. Gib mir deinen seelischen Beistand. Komm zu mir, um für mich bei den guten Geistern ein gutes Wort einzulegen. Sonst bleibe ich verdammt und sehne mich nach deinem warmen Fleisch und dem Leben, das ihm innewohnt.“

Wieder diese seltsamen Formulierungen. Alles krampfte sich in mir zusammen. Mühsam würgte ich hervor: „Ich soll zu dir kommen? Jetzt auf der Stelle? Ich soll den Westfriedhof besuchen?“

Ein leiser Schrei, der von tausenderlei Qualen erzählte und langsam verebbte. Der Wind trieb die Nebelschleier weiter über den Scherenschnitt der Dächer davon, dem Silberlicht des runden Mondes entgegen. Es gelang mir unter Aufbietung aller Kräfte, meine Augen zu schließen. Mir schwindelte. Alles begann sich um mich herum zu drehen. Der Boden kippte weg. Ein harter Aufprall, gegen den ich nichts tun konnte. Wimmernd und zitternd und schluchzend blieb ich am Boden liegen und brauchte Minuten, bis ich mich soweit von dem Erlebnis erholt hatte, daß ich in der Lage war, wieder aufzustehen. Ich knallte das Fenster zu und wankte ins Bad. Hier war die Heizung an, damit ich am Morgen beim Duschen nicht zu frieren brauchte. Es dauerte weitere Minuten, bis ich soviel Wärme auftankt hatte, daß ich mich wieder einigermaßen als Mensch fühlen konnte. Die Gedanken, die sich um eine mögliche Erkältung drehten, wurden verscheucht durch andere Gedanken, die sich mit dem eben erst Erlebten beschäftigten. Die Stimme Edgars war nicht mehr da. Trotzdem war es mir, als flüstere sie mir ununterbrochen zu, ich solle mich sofort zum Westfriedhof begeben. Dieses gewiß nur eingebildete Flüstern hatte suggestive Wirkung und bestimmte schließlich meine Handlung. Ich verließ das Bad, griff wahllos in den riesigen Kleiderschrank im Ankleidezimmer, streifte irgend etwas über, ohne das lange Kleid richtig zu registrieren, wählte einen warmen Mantel, der überhaupt nicht dazu paßte, stieg in Pumps, faßte die Handtasche so fest, als brauchte ich sie, damit sie mir Halt geben konnte, und verließ mit unsicheren Schritten das alte, herrschaftliche Haus in der Delvino Road, die zum Bezirk Parsens Green und somit zum Stadtteil Hammersmith gehört. Ich weiß gar nicht mehr zu sagen, wie es mir gelang, zum Westfriedhof zu kommen. Irgendwo ließ ich den Wagen stehen und fand mich vor einem verschlossenen Tor wieder. Da tat ich etwas, was überhaupt nicht meiner Art entsprach. Ich handelte wie in Trance, als hätte eine fremde Macht von mir Besitz ergriffen, während ich das Tor einfach überkletterte. Wie durch ein Wunder blieb dabei meine Kleidung heil.

Ich taumelte mehr als daß ich lief durch die düsteren Grabreihen. Bäume säumten meinen Weg. Sie schüttelten ihre Kronen und wiegten sich hin und her, als wollten sie mich beschwören, sofort wieder umzukehren. Je näher ich dem Grab meines Mannes kam, desto unheimlicher wurde es. Die Bäume wurden schlanker, höher und wirkten plötzlich wie schwarze Hände, die vergeblich versuchten, nach mir zu greifen, wenn ich vorüberkam.

Immer schneller wurde mein Schritt. Mein Atem ging keuchend. Der Schweiß stand auf meiner Stirn und rann mir in die weit aufgerissenen Augen. Das Herz versuchte, einem Dampfhammer nachzueifern. Die Wege wurden schmäler und düsterer. Da waren Naturzäune aus sorgfältig geschnittenen Weiden. Miniaturkapellen, die zu teuren Familiengrüften gehörten, tauchten auf. Und dann stand ich vor dem Grab meines Mannes. Die Erde war erst frisch eingeebnet. Sie war locker und noch unbepflanzt. Der Grabstein war noch neu. Eine letzte Ruhestätte, die gar nicht recht hierher passen wollte, zwischen all die ehrwürdigen Familiengrüfte. Dahinter befand sich auch die Gruft der Harris, der Vorfahren und verstorbenen Verwandten Edgars. Sie war überfüllt, und Edgar hätte eigentlich eine neue Gruft beziehen müssen. Er hatte es anders gewollt. Noch zu Lebzeiten hatte er einmal zu mir gesagt, daß er nur hier beerdigt werden wollte. Bei seinen Verwandten zwar, um mit ihnen im Tod vereint zu sein, aber in keiner Gruft, sondern in einem gewöhnlichen Grab.

Es war das Geringste, was ich für ihn hatte tun können, nachdem er durch meine Hand verschieden war. Ich stand da und starrte auf den Namen, den jemand kunstvoll in den Stein gearbeitet hatte. War da nicht ein Wispern, das über die Gräber zu mir drang? Wo waren die mannigfaltigen Geräusche der Millionenstadt, die sonst allgegenwärtig waren, als Sinfonie des Lebens? Das Wispern verstärkte sich. Die Bäume rauschten, aber es war dies nicht der gewohnte Laut, sondern er erinnerte an das Flüstern von Stimmen. Büsche bewegten sich. Ihre Blätter raschelten, doch klang es wie das Atmen von Wesen, die nicht von dieser Welt waren.

Ich packte meine Handtasche fester. Die Linke ballte ich zur Faust und preßte sie gegen meinen Mund. Nur so konnte ich verhindern, daß sich das Grauen durch einen gellenden Schrei Luft machte. Meine Blicke irrten umher, nahmen die sich bewegenden Schatten auf und erzeugten in meinem Innern Wahnsinn. Und dann hörte ich zum ersten Mal die dumpfen Laute, die direkt unter der Erde zu meinen Füßen entstanden. Sie waren deutlich hörbar. Es war unmöglich, daß ich mich irrte.

„Edgar?“ murmelte ich verstört. „Edgar, mein Geliebter?“

Ein grauenvolles Stöhnen antwortete mir - ein Stöhnen, das durch die Erdmassen gedämpft wurde. Fassungslos stierte ich auf das Grab. Die dumpfen Geräusche verstärkten sich. Und dann begriff ich endlich, was da geschah. Jetzt konnte ich den Schrei nicht mehr zurückhalten, der sich über meine Lippen drängte. Ich machte all dem Luft, was ich empfand, bis ich Atem schöpfen mußte, um nicht zu ersticken.

 

2

Der Schrei änderte nichts. Die Vorgänge waren unaufhaltsam. Und zu einem zweiten Ausbruch meiner Gefühle kam es nicht. Eine eiskalte Hand schien meine Kehle zuzuschnüren. Ich war unfähig, mich von der Stelle zu rühren. Die lockere Erde begann, sich zu bewegen, als wäre ein halbes Dutzend Maulwürfe emsig am Arbeiten. An einer Stelle warf sie sich auf, doch anstelle der stumpfen Schnauze eines Maulwurfes schoben sich zitternde Finger ins Freie. Es hatte den Anschein, als wuchsen sie direkt aus dem Boden. Sie bewegten sich nach allen Richtungen, krallten sich schließlich in den Grund. Das schreckliche Stöhnen entstand wieder. Ein zweites Mal öffnete sich der Boden. Nur zwei Zoll vor meinen Fußspitzen grub sich die nächste Hand frei. Blitzschnell griff sie vor. Gestank verbreitete sie. Eisig kalt fühlte sie sich an, als sie über meinen Fuß tastete. Deutlich sah man, daß die Verwesung bereits begonnen hatte. Das Fleisch war schwammig und aufgedunsen.

Stärker wurden die Bewegungen unter der jetzt dünner gewordenen Oberfläche des Bodens. Die Hand ließ von mir ab und suchte nach einem anderen Halt. Ächzend und stöhnend schaufelte sich der Leichnam frei. Die Natur schien den Atem anzuhalten. Alle Geräusche verstummten. Ich erkannte schütteres Haar, von feuchter Erde verklebt. Eine kantige Stirn wurde sichtbar. Sie war grünlich verfärbt. Und weiter ging es. Mit einem Ruck schob sich der Oberkörper des Toten ins Freie. Die Augen waren geschlossen, das Gesicht ausdruckslos. Jetzt hoben sich die Lider. Die Augäpfel glühten zu mir empor. Der Mund öffnete sich bebend, einen langgezogenen Grauenslaut hervorstoßend. Aus dem Mund fiel wimmelndes Ungetier. Es machte der Leiche nichts aus.

Ein Grollen stieg aus der toten Brust. Ein weiterer Ruck. Der Grabstein kippte halb um. Noch immer war ich auf die Stelle gebannt, zu keiner Regung fähig. Edgar war nicht wiederzuerkennen. Sein Oberkörper lag nun frei. Sie hatten ihm ein einfaches Totenhemd aus Sackleinen übergezogen. An verschiedenen Stellen war der Stoff zerrissen und ließ die tödlichen Verwundungen sehen. Der Brustkorb war eingedrückt. Andere Wunden, die sich im Gesicht befanden und längst nicht mehr bluteten, verliehen Edgar die Physiognomie eines Frankensteinmonsters. Auseinanderklaffendes Fleisch schimmerte weiß. Ich drehte durch. Ein Ächzen entrang sich meiner ausgedörrten Kehle. Ich warf mich herum und ergriff die Flucht.

Mit einer wütenden Gebärde schleuderte das untote Wesen Erde um sich und verließ vollends sein Grab. „May, geliebte May!“ grollte es hinter mir und ließ mir die Haare zu Berg stehen. „Geliebte May, so warm ist dein Leib. Laß mich aus dir trinken, mich neue Kraft schöpfen, damit sie die fortschreitende Verwesung bekämpft.“

Tapsende Schritte. Ich wollte schneller laufen, kam dabei ins Stolpern und verlor den Halt. Mit einem Aufschrei fiel ich zu Boden. Es gelang mir nicht sofort, mich wieder aufzurichten. Ich wandte den Kopf. Bei der heftigen Bewegung verlor ich meine Brille. Eigentlich konnte ich dankbar dafür sein. Die hohe Gestalt, die auf mich zutorkelte, war so für mich nicht mehr klar erkennbar. Alles wirkte verschwommen. Der süßliche Verwesungsgeruch, der entfernt an schimmeligen Weichkäse erinnerte, holte mich ein und nahm mir schier den Atem. Ich kroch davon und war viel zu langsam.

Fast hatte mich die unsicher tapsende Gestalt erreicht, als es mir endlich gelang, wieder auf die Beine zu kommen. Ich warf mich vorwärts. Der Brille beraubt, konnte ich nur noch sehr wenig sehen, zumal es dunkel war. Ich schaute zum Mond empor, doch dieser hatte anscheinend sein Antlitz mit einer Wolke bedeckt, um nicht Zeuge der unvorstellbaren, grauenvollen Vorgänge werden zu müssen. Bäume, Sträucher, Büsche und Gräber huschten an mir vorüber. Mehrmals drohte ich wieder zu stürzen. Jedesmal gelang es mir gottlob, den drohenden Fall aufzuhalten.

„May!“ Die Stimme Edgars klang dumpf und furchtbar verzerrt. „May, warum wartest du nicht auf mich? Warum läßt du es nicht zu, daß ich dir nahe komme, ganz nahe? Weißt du denn nicht, wie sehr ich dich brauche?“

Die Lungen stachen, als würden sich tausend Messer hineinbohren. Meine Kräfte ließen nach. Der Absatz eines Schuhes brach ab. Ich verlor den anderen Schuh Augenblicke später. Der Kies auf dem rauhen Weg zerriß die Haut an meinen Fußsohlen. Es gelang mir nicht, das Grauen abzuschütteln, das mich unbeirrbar verfolgte, so sehr ich mich auch bemühte. Und dann immer wieder die Aufforderungen des Toten, den eine Macht beseelt hatte, die unmöglich von dieser Welt sein konnte: „May!“ Kein Keuchen, nur der verzweifelte Ruf: „May!“

Plötzlich ging es nicht mehr weiter. Der Weg endete in einer Sackgasse. Ich hatte völlig die Orientierung verloren und wußte nicht mehr, in welchem Teil des Friedhofs ich mich befand. Vor mir war ein Zaun und dicht hinter mir der Verfolger, der nach meinem Blut, nach meiner Lebenskraft lechzte. Ich sprang an dem Zaun empor, hatte jedoch meine Kräfte überschätzt. Ich war zu erschöpft, um zu entkommen.

„Hilfe!“ schrie ich, doch war es mehr ein Ächzen als ein Schrei. Wieder und immer wieder versuchte ich, den Zaun zu erklimmen. Meine Hände versagten. Meine Glieder waren schwer wie Blei. Feurige Ringe drehten sich vor meinen Augen. Die Lungen pumpten wie ein Blasebalg und sorgten dennoch zu wenig für Sauerstoff. Ich warf mich herum, glitt wimmernd mit dem Rücken am Zaun abwärts. Da war der hohe Schatten, vom silbrigen Licht des Mondes übergossen, der sich von der dichten Wolke wieder befreit hatte. Er war mein einziger Zeuge.

Der Untote taxierte mich. Er ließ sich jetzt Zeit mit mir, genoß die letzten Augenblicke meines Lebens, meine Todesangst. Er wußte, daß ich sowieso nicht mehr weiter fliehen konnte. Das Totenhemd hing in Fetzen an ihm herunter, den zerfleischten Brustkorb freigebend. Ich persönlich trug für diese schrecklichen Verwundungen die Schuld. Ich hatte seinen Tod verursacht, von dem andere annahmen, er sei die Folge eines tragischen Unfalls. Alles war perfekt von mir eingefädelt worden. Und jetzt war der Ermordete aus dem Reich der Toten zurückgekehrt, um Rache zu nehmen. Ich konnte es nicht begreifen, aber es war so. Der unumstößliche Beweis stand vor mir, tapste grollend auf mich zu.

„May! Ich wußte es: Du fliehst nicht mehr weiter!“ Er hob die Arme, breitete sie aus. „Komm in meine Arme. Ich drücke dich an meine tote Brust. Spüre den Atem des Todes, schenke mir die Energie, die nur Lebende in sich bergen. Ich lechze danach.“ Tapp... tapp... tapp...

Ich roch den Atem des Todes, und mir wurde schlecht davon. Der Ekel übermannte mich schier. Die Schritte knirschten über den Kies. Die ausgestreckten Hände, von der Erde verschmutzt und vom Tod unansehnlich geworden, berührten mich fast. Ein letztes Mal gelang es mir, einen Schrei über meine Lippen zu drängen. Ich vermeinte fast, er müßte in der ganzen Stadt gehört werden, doch würde sowieso jegliche Hilfe für mich zu spät kommen müssen. Der Leichnam grunzte zufrieden, packte mich, zog mich zu sich hoch und schloß mich in die Arme. Das furchtbare Gesicht näherte sich dem meinen. Sinnlos, meinen Kopf zur Seite drehen zu wollen. Ich konnte den Kuß des Ermordeten nicht vermeiden. Die schwammigen, eisigen Arme hatten eine ungeheure Kraft. Die Luft wurde mir gewaltsam aus den Lungen gepreßt. Ich konnte nicht mehr atmen. Wieder ein zufriedenes Grunzen. Das Monster genoß die Situation.