9,99 €
TEUFELSJÄGER: Die 6. Kompilation
Die Mumie erreichte London am Abend. Das Schiff, auf dem sie sich befand, wurde ausgerechnet um Mitternacht entladen. Die Hafenarbeiter schufteten stumm und konzentriert. Nachtschicht. Wer mochte das schon? Auf der Kiste mit der Mumie stand »Persönliche Effekte«. Die Papiere für den englischen Zoll wiesen Umzugsgut eines gewissen Don Coopers aus. Abholer sei Ronald Cooper, Don Coopers Bruder.
Zwei der Arbeiter befestigten das Seil an der Kiste. Sie gaben dem Kranführer das Zeichen. Langsam hob sich die Kiste aus dem Bauch des Schiffes. Da hörten sie zum ersten Mal das laute Stöhnen. Die Arbeiter blickten sich an. Abermals stöhnte jemand abgrundtief. Sie erschraken, schauten in die Runde. Alles war taghell ausgeleuchtet. Erlaubte sich jemand einen Scherz mit ihnen?
Enthalten in der 6. Kompilation:
26 »Tote, die nicht ruhen können« (TG)
27 »Satansbräute weinen nicht« (TG)
28 »Ein Geist lädt ein zum Gruseln« (TG)
29 »Grüße vom Leibhaftigen« (TG)
30 »Es ist nicht alles Geist, was spukt« (TG)
Alle von W. A. Hary!
________________________________________
Urheberrechte am Grundkonzept zu Beginn der Serie Teufelsjäger: Wilfried A. Hary!
Copyright Realisierung und Folgekonzept aller Erscheinungsformen (einschließlich eBook, Print und Hörbuch)
by hary-production.de
Diese Serie erschien bei Kelter im Jahr 2002 in 20 Bänden und dreht sich rund um Teufelsjäger Mark Tate. Seit Band 21 wird sie hier nahtlos fortgesetzt! Jeder Band ist jederzeit nachbestellbar.
Nähere Angaben zum Autor siehe hier: de.wikipedia.org/wiki/Wilfried_A._Hary
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2018
Wichtiger Hinweis
Diese Serie erschien bei Kelter im Jahr 2002 in 20 Bänden und dreht sich rund um Teufelsjäger Mark Tate. Seit Band 21 wird sie hier nahtlos fortgesetzt! Jeder Band (siehe Druckausgaben hier: http://www.hary.li) ist jederzeit nachbestellbar.
TEUFELSJÄGER
Die 6. Kompilation
W. A. Hary: „Diese Kompilation beinhaltet die Bände 26 bis 30 der laufenden Serie!“
Alleinige Urheberrechte an der Serie: Wilfried A. Hary
Copyright Realisierung und Folgekonzept aller Erscheinungsformen (einschließlich eBook, Print und Hörbuch) by www.hary-production.de
ISSN 1614-3329
Copyright dieser Fassung 2018 by www.HARY-PRODUCTION.de
Canadastr. 30 * D-66482 Zweibrücken
Telefon: 06332-481150
www.HaryPro.de
eMail: [email protected]
Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck und Vervielfältigung jedweder Art nur mit schriftlicher Genehmigung von Hary-Production.
Covergestaltung: Anistasius
Die Mumie erreichte London am Abend. Das Schiff, auf dem sie sich befand, wurde ausgerechnet um Mitternacht entladen. Die Hafenarbeiter schufteten stumm und konzentriert. Nachtschicht. Wer mochte das schon? Auf der Kiste mit der Mumie stand »Persönliche Effekte«. Die Papiere für den englischen Zoll wiesen Umzugsgut eines gewissen Don Coopers aus. Abholer sei Ronald Cooper, Don Coopers Bruder.
Zwei der Arbeiter befestigten das Seil an der Kiste. Sie gaben dem Kranführer das Zeichen. Langsam hob sich die Kiste aus dem Bauch des Schiffes. Da hörten sie zum ersten Mal das laute Stöhnen. Die Arbeiter blickten sich an. Abermals stöhnte jemand abgrundtief. Sie erschraken, schauten in die Runde. Alles war taghell ausgeleuchtet. Erlaubte sich jemand einen Scherz mit ihnen?
In der Kiste rumpelte es. Sie schwankte am Seil hin und her, löste sich, krachte herab. Die Arbeiter konnten sich gerade noch in Sicherheit bringen. Die Kistenwände verschoben sich etwas. Ansonsten überstand sie den Absturz sehr gut.
»Ronald Cooper!« grollte jemand. Lauter: »Ronald Cooper! Ich soll dir gehören, aber ein Toter gehört niemals einem Lebenden!«
Einer der beiden Arbeiter griff sich ans Herz und kippte um. Andere wurden aufmerksam. Sie vergaßen ihren Job, traten näher. Was ging hier vor?
Der Vorarbeiter wollte seine Leute antreiben, doch das Wort blieb ihm im Hals stecken, denn in diesem Augenblick brach eine geballte Faust durch das roh zusammengezimmerte Holz der Kiste.
Und die grollende Stimme sagte:
»Denn mein ist die Macht des Bösen!«
»Seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen?« brüllte der Lademeister außer sich, der weiter weg stand und anscheinend von den Vorgängen gar nichts mitbekam. »Euch mache ich Beine, ihr Penner! Wozu werdet ihr bezahlt?«
In die Ladearbeiter kam Bewegung. Sie kümmerten sich zunächst um den Bewußtlosen. Er wurde schleunigst in die Obhut eines Arztes gegeben.
Der Lademeister, der schon wieder an einen Streik geglaubt hatte, atmete erleichtert auf.
Die Arbeit ging weiter. Die Kiste aus Ägypten, die angeblich »persönliche Effekte« eines Don Copper enthielt, hing leicht pendelnd und anscheinend völlig unbeschädigt am Stahlseil und verließ das Schiff.
Der Kran brachte sie an Land. Dort stand sie, zunächst unbeachtet. Niemand konnte sich mehr an den Zwischenfall erinnern. Hatte es überhaupt einen gegeben?
Nur einer würde später davon sprechen: der mit dem Herzanfall. Niemand würde ihm Glauben schenken, denn »persönliche Effekte« waren schließlich nicht in der Lage, dermaßen aus der Rolle zu fallen.
Dabei war alles erst der Anfang einer ganzen Kette von Ereignissen.
Zielobjekt war vorderhand Ronald Cooper.
*
In der Frühe wurde Ronald Cooper benachrichtigt. Telefonisch.
Ronald Cooper runzelte die Stirn. Er war etwas älter als Don und von ihm rein äußerlich schon so verschieden, wie sich Brüder nur unterscheiden konnten. Ronald besaß nicht die hochgewachsene, durchtrainierte und mithin muskelbepackte Figur von Don und auch nicht diese männlich-herbe Schönheit, die auf die meisten Frauen wirkte und Don zu manchen Erfahrungen mit dem angeblich so schwachen Geschlecht verhalf. Ronald Cooper war kleiner, wirkte drahtig. Er war der typische Vertreter des Geschäftsmannes in den besten Jahren, mit bereits deutlich ausgeprägter Stirnglatze. Mit Frauen hatte er wenig im Sinn. Deshalb war ihm die eigene Frau auch davongelaufen. Vollauf beschäftigt mit der Wahrung seiner Geschäfte, blieb ihm keine Zeit für andere Dinge, was ein Grund mit war, warum er für die Lebensweise seines »abenteuerlichen« Bruders nur Verachtung übrig hatte.
Und jetzt das: Umzugsgut von Don Cooper, um das er sich kümmern soll! Nach Lage der Dinge mußte er sich sogar persönlich bemühen. Ronald Cooper wußte eine Menge unflätiger Bemerkungen, um seinem Zorn Luft zu machen. Allein seine gute Erziehung verbot ihm, sie auch zu gebrauchen. Er sagte telefonisch ein paar Termine ab und machte sich auf den Weg. Diesmal fuhr er den Wagen selbst. Seinen Fahrer bemühte er ohnedies nur, wenn es aus Gründen der Repräsentation unerläßlich erschien.
Gegen zehn Uhr traf er ein. Man verwies ihn zum Zollager, wo die Kiste auf ihn wartete. Der Spediteur stand schon bereit. Er würde für Ronald Cooper alle Formalitäten erledigen. Dazu benötigte er jedoch den konkreten Auftrag von Ronald Cooper. Und Ronald war hier, um eine Möglichkeit zu finden, den Kelch an sich vorüberziehen zu lassen. Die Belange seines Bruders interessierten ihn nicht. Es reichte seiner Meinung nach, wenn er seine monatlichen Zahlungen an Don tätigte und von Fall zu Fall ordentliche Verträge mit unterzeichnete, die Don auf seinen ausgedehnten Auslandsreisen zum Wohle der gemeinsamen Firma anregte. Nur in dieser Beziehung vermochte Ronald Cooper, für seinen Bruder so etwas wie Verwandtschaft zu empfinden. Es war der einzige Punkt, in dem sie sich berührten und auch das Motiv, warum Ronald nie auf die Idee kam, die monatlichen Zahlungen zu verweigern. Don brachte sie mehrfach wieder herein, wenn er ausnahmsweise einmal Geschäftstüchtigkeit bewies.
»Das ist die Kiste!« sagte der Angestellte der Spedition vorsichtig. Ihm war nicht entgangen, wie übel gelaunt der große Ronald Cooper war.
Mißmutig sah Ronald die Papiere ein. »Ich möchte den Inhalt sehen!« forderte er.
Die beiden Zöllner, die sich ebenfalls in ihrer Begleitung befanden, gaben dem Spediteur einen Wink. Der Mann setzte das Brecheisen an. Unter dem Deckel kam zunächst Holzwolle zum Vorschein. Neugierig geworden, beugten sich die Zöllner vor, um besser sehen zu können. Von Umzugsgut keine Spur. Abgesehen von der Holzwolle war die Kiste leer! Während Ronald Cooper wie ein Karpfen nach Luft schnappte, knurrte einer der Zollbeamten: »Ein übler Scherz, wie?«
Ratlos zuckte der Spediteur mit den Schultern.
Der zweite Zöllner fing sich schnell: »Nehmen Sie die Kiste auseinander!«
»Warum?« weigerte sich der Spediteur.
Der Zollbeamte griff nach der Kiste und versuchte, sie hochzuheben. Sie war schwer wie Blei. »Deshalb!« knurrte er böse. Ronald Cooper vergaß allmählich seinen Ärger. Er begann zu begreifen, daß mit der Kiste etwas nicht stimmte.
Lustlos machte sich der Speditionsangestellte daran, die Kiste mit dem Brecheisen zu zerlegen. Niemand half ihm dabei, was seine Laune nicht gerade verbesserte. Er malte sich in Gedanken bereits aus, was für eine Rechnung er Ronald Cooper ausstellen würde. Die eine Holzwand krachte zur Seite. Die ganze Holzwolle quoll heraus. Der Spediteur trat mitten hinein und wollte weitermachen. Plötzlich ein aufgebrachtes Stöhnen, das direkt aus der Holzwolle zu kommen schien.
Alle zuckten zusammen. Der Spediteur fuhr zurück, wie von einer Tarantel gebissen. Einer der Zöllner bewies Mut Vorsichtig teilte er die Holzwolle. Da war absolut nichts! Er nahm dem Spediteur das Brecheisen ab. »Jetzt will ich es genau wissen!« Rücksichtslos schlug er auf das Holz ein, bis sich alle vier Wände gelöst hatten und am Boden lagen, übersäht mit Holzwolle. Probehalber wurden die Holzteile angehoben. Ein ganz normales Gewicht. Trotzdem mußten zwei Lagerarbeiter die Teile zum Röntgengerät bringen.
Es brachte kein Ergebnis. Die Kiste war und blieb leer. Es war dem Spediteur überlassen, sie wieder notdürftig zusammen zu nageln. Da sie an die Adresse von Ronald Cooper gehen sollte, tat sie das auch - ob leer oder nicht. Ronald wehrte sich nicht dagegen. Er wollte das Ding aufheben, um später Don zur Rede zu stellen. Solche Scherze konnte er nämlich auf den Tod nicht ausstehen. Aber dafür mußte Don erst einmal wieder auftauchen. Ronald hatte keine Ahnung, wo sich sein Bruder zur Zeit aufhielt.
Die nächste Station der mysteriösen Kiste war der Keller von Ronald Coopers Villa. Die Unterbringung überwachte er persönlich. Sie bekam einen Ehrenplatz inmitten von Gerümpel aus längst vergangenen Zeiten.
Gerade als Ronald Cooper den Keller verließ, kam die Post. Ein Brief wurde abgegeben. Als Ronald den Absender las, schwoll ihm die Zornesader erneut. Irgendeine ägyptische Adresse von seinem Bruder. Ronald schickte den Butler hinaus und brach das Kuvert auf.
»Lieber Ronald, ich hoffe, daß Dich Brief und Kiste möglichst gleichzeitig erreichen. Ich wollte Dir eine Freude machen. Du weißt, daß ich Deine Sammlerleidenschaft, alte Sachen betreffend, noch nie teilte. Für mich sind Antiquitäten einfach Dinge, die andere nach Gebrauch weggeworfen haben. Trotzdem diese Sendung. Um sie überhaupt aus dem Land kriegen zu können, habe ich sie bei der Ausfuhr als Umzugsgut deklariert. Hoffentlich sind die Schwierigkeiten, die Du beim englischen Zoll hast, nicht zu groß. Denn die Kiste enthält eine echte Mumie! Ja, Du liest richtig, Ronald: eine Mumie! Sie hat einen beträchtlichen Wert, wie Du Dir vorstellen kannst. Nimm sie als ein brüderliches Geschenk. Ich kann sowieso nichts damit anfangen. Mit freundlichen Grüßen Dein Bruder Don aus Ägypten.«
Ronald Cooper las den Brief fünfmal und fragte sich jedesmal, was er davon halten sollte. Und dann ging er hoch wie eine Rakete. Wenn Don nicht völlig verrückt war und hier die Wahrheit schrieb, dann konnte es nur so sein, daß jemand die Mumie gestohlen hatte!
Ronalds nächster Gang war zum Telefon. Er alarmierte den Hafenzoll. Es kam nicht alle Tage vor, daß etwas aus dem Zollager verschwand. Deshalb würde das die Zöllner mit Sicherheit interessieren.
Ronald Cooper irrte sich gewaltig. Der englische Zoll fühlte sich eher auf den Arm genommen. Nur Ronalds gewichtiger Name hielt sie davon ab, ihn wegen Beleidigung anzuzeigen. Es bedurfte viel Überredung, bis sie sich der Mühe unterzogen, im Zollager nachzusehen.
Dabei kam heraus, daß jemand gewaltsam ein Fenster geöffnet hatte. Das Ungewöhnliche dabei war allerdings, daß dies offensichtlich von innen geschehen war. Also eher ein Ausbruch als ein Einbruch. Und jetzt glaubte man auf einmal den Worten des Ladearbeiters, der in der Nacht einen Herzanfall bekommen hatte. Man interpretierte das allerdings so, daß sich in der Kiste zweifelsohne ein blinder Passagier befunden haben mußte. Für Ronald Coopers Hinweis auf eine Mumie hatte man höchstens ein müdes Lächeln übrig. Die Fahndung lief an. Auch New Scotland Yard wurde eingeschaltet.
May Harris, meine Freundin, und ich, Mark Tate, waren gerade beim Lunch, als das Telefon klingelte. May war eine ausgezeichnete Köchin. Es schmeckte ihr selber, weshalb sie ein wenig wehmütig in ihren Teller blickte.
Ich hatte ein Herz für sie und stand auf. »Laß nur, May, ich gehe schon ran!« Ich nahm den Hörer ab und meldete mich.
»Scotland Yard, ich verbinde«, sagte eine angenehme weibliche Stimme. Scotland Yard? echote ich in Gedanken.
Es knackte in der Leitung. Dann ertönte eine männliche Stimme: »Furlong!« Also mein Freund, Chefinspektor Tab Furlong.
»Ich bin es, Mark. Was ist los, Tab? Du störst uns am Mittagstisch.«
»Tut mir leid, Herr Privatdetektiv, aber ich habe eine Nachricht, die dich am nächsten Brocken verschlucken läßt.«
»Schieß los!« bat ich. Eine böse Vorahnung peinigte mich. Wenn Tab so sprach, dann war etwas passiert, und zwar etwas, was man nicht alltäglich nennen konnte.
»Kennst du Dons Bruder?«
»Nein, nicht einmal seinen Namen. Don schweigt sich über seine Verwandtschaft aus. Er behauptete einmal, das Schwarze Schaf zu sein und nicht einzusehen, daß er mit den weißen Lämmern überhaupt verkehren sollte.«
»Er heißt Ronald und ist ein angesehener Bürger Londons. Nicht nur das. Don hat ihm aus Ägypten ein äußerst ungewöhnliches Geschenk geschickt.«
»Was für ein Geschenk? Aus Ägypten sagst du? Jetzt weiß ich endlich, wo sich Don Cooper und Lord Frank Burgess herumtreiben.«
»Im Moment ist das nicht so von Interesse, Mark. Halte dich fest! Don schickte per Seefracht eine Kiste mit einer Mumie! Allerdings ist die Kiste jetzt leer.« Er erzählte mir mit knappen Worten, was er wußte. Demnach beschäftigte sich ein Kollege von ihm mit der Angelegenheit. Von diesem hatte Tab auch den Hinweis über die Mumie bekommen. Im Gegensatz zu allen anderen konnte Tab Furlong darüber nicht lachen. Er hatte in seinem Leben genug erlebt, um zu wissen, daß es Dinge gab, die man mit dem menschlichen Verstand nicht erfassen konnte.
Das Gespräch endete mit dem Versprechen meinerseits, einmal Ronald Cooper persönlich aufzusuchen. Vorher allerdings widmete ich mich dem Mittagsmahl, ehe es kalt wurde und nur noch halb so gut schmeckte.
May erfuhr von mir, um was es ging.
*
Ronald Cooper war um diese Tageszeit selbstverständlich nicht mehr daheim anzutreffen. Er war damit beschäftigt, sein Wirtschaftsimperium in einer Manier zu regieren, die für seine persönliche Entfaltung keinen Platz mehr ließ. Ich dachte es mir und steuerte den gemieteten Austin von Mays Wohnung direkt zu der Adresse, die mir Tab Furlong angegeben hatte. Das Verwaltungsgebäude erwies sich als Glaspalast, der mir einen Eindruck davon vermittelte, wie reich mein Freund Don Cooper in Wirklichkeit war. Gedanken hatte ich mir bislang keine darüber gemacht. Das Geld hatte Don und mich noch nie auf Distanz zueinander gehalten.
May hatte es sich nicht nehmen lassen, mit von der Partie zu sein. Wir suchten uns einen Parkplatz und stiegen aus. May legte den Kopf in den Nacken. »Das also hat Don gemeinsam mit seinem Bruder Ronald geerbt.«
»Irrtum!« belehrte ich sie. »Erstens ist es nur ein Teil davon, und zweitens ist Ronald Cooper der eigentliche Erbe. Testamentarisch wurde verfügt, daß Ronald allein mit der Führung des Wirtschaftsimperiums betraut ist. Der Alte hat seine Söhne gut gekannt. Sein Testament ist mehr als gerecht. Und Don ging schließlich auch nicht ganz leer aus dabei. Für ihn ist lebenslang gut gesorgt. Er kann das Leben eines reichen Playboys führen. So bleiben seine Beiträge zum Erhalt der Firma rein freiwillig, was sie nur noch effektiver machen.«
»Danke für den Vortrag«, sagte May sarkastisch. »Aber jetzt bin ich auf diesen Ronald Cooper gespannt. Vor allem darauf, wie er auf unseren Besuch reagiert.«
Ja, das fragte ich mich allerdings auch. Die Freunde von Don Cooper mußten nicht unbedingt Freunde von Ronald Cooper sein.
Bis zum Vorzimmer des allmächtigen Chefs gelangten wir. Weiter nicht. »Mr. Cooper bedauert, Mr. Tate, Sie im Moment nicht empfangen zu können«, wies uns die Chefsekretärin kühl ab. Sie war mir unsympathisch in ihrem altmodischen, unvorteilhaften Kleid, dem Vogelgesicht und dem stechenden Blick. Das personifizierte Klischee des Bürodrachens. Hatte sie Ronald Cooper engagiert, um unliebsame Besucher zu erschrecken? Aber immerhin war ich gewöhnt, mich mit Dämonen und Monstern aus jenseitigen Gefilden herumzuärgern. Die Sekretärin vermochte mich nicht in die Flucht zu schlagen.
»Nun gut, wir können ja hier warten«, entgegnete ich liebenswürdig.
»Es kann lange dauern, Mr. Tate, denn Mr. Cooper befindet sich in einer wichtigen Sitzung.«
»Trotzdem, richten Sie ihm noch einmal aus, wir seien Freunde seines Bruders und interessierten uns für die Mumie, die ihm Don heute morgen schickte.«
So genau hatte ich es vorher nicht formuliert. Die Chefsekretärin betrachtete mich, als wäre sie am Überlegen, ob es nicht sinnvoller sei, die Polizei einzuschalten. Sie entschied sich dagegen und drückte die Sprechtaste der Hausanlage.
»Ja?« meldete sich eine mißmutige Stimme.
»Sir, die beiden Freunde Ihres Bruders lassen sich nicht abweisen. Sie...«
»Ja, habe ich Ihnen denn nicht gesagt, daß...?«
Die Sekretärin bewies, daß sie sich durchsetzen konnte. Sie unterbrach Ronald Cooper. »Ja, Sir, ich habe es schon begriffen, aber Mr. Tate behauptet, es handele sich um die Lieferung einer Mumie.«
Ronald Cooper vergaß zu antworten. Es dauerte eine halbe Minute, ehe er wieder von sich hören ließ. »Eine Viertelstunde, dann ist das Wichtigste besprochen. Sagen Sie Mr. Tate, er möge sich so lange gedulden!«
Ich war zufrieden. Mehr hatte ich nicht erreichen wollen. Wir setzten uns. Die Chefsekretärin erledigte irgendwelche Schreibarbeiten. Dabei schaute sie immer wieder zu uns herüber. Wie ein Raubvogel, der seine Beute sichert! dachte ich mißmutig. May und ich sprachen kein Wort miteinander. Beide hingen wir unseren eigenen Gedanken nach.
Es wurde länger als versprochen. May und ich waren bereits ungeduldig. Die Stimme von Ronald Cooper meldete sich wieder per Sprechanlage. »Sie können jetzt die beiden hereinlassen!« schnarrte er.
Die Sekretärin stand auf und winkte uns zur gepolsterten Zwischentür. Von Höflichkeit schien sie nichts zu verstehen. Ich spürte leisen Groll wegen dieser Behandlung, sagte jedoch nichts, sondern bereitete mich auf Dons Bruder vor. Die Sekretärin öffnete einen Zwischenraum. Rechts und links Wandschränke. Nach drei Schritten die zweite Tür. Die Chefsekretärin ging voraus und trat als erste in das Allerheiligste von Ronald Cooper. So weit wären wir erst einmal! dachte ich grimmig. Ronald Cooper kam gerade aus dem großen Konferenzraum, der sich an sein Büro anschloß. Eine steile Sorgenfalte stand über seiner Nasenwurzel, als er uns betrachtete. Ich fühlte mich unbehaglich.
»Mr. Tate und Mrs. Harris!« meldete die Sekretärin artig.
Ronald Cooper knallte die Tür zum Konferenzraum zu und stampfte näher. Hinter seinem Schreibtisch baute er sich auf. Die Sekretärin winkte er hinaus. Es war, als brauchte Ronald Cooper den Schreibtisch, um eine Barriere zwischen uns aufzubauen. »Bitte, setzen Sie sich!« Mit der ausgestreckten Hand deutete er auf die Sesselgruppe.
Wir ließen uns nieder. Dann erst nahm auch Cooper Platz. Die Ellenbogen stützte er auf den Schreibtisch. Er legte die Fingerkuppen gegeneinander. »Ich habe nicht lange Zeit. Wissen Sie etwas über meinen Bruder? Was soll die Geschichte mit dieser Mumie, die niemals ankam?«
May Harris und ich tauschten einen raschen Blick. Ronald Cooper hatte offensichtlich Mühe, uns einigermaßen höflich zu behandeln. Am liebsten hätte er uns wieder hinausgeworfen. Beruhigend hob ich die Arme. »Keine Sorge, Mr. Cooper, wir werden Ihre kostbare Zeit nicht über Gebühr in Anspruch nehmen. Ehrlich gesagt, wir wissen selber nicht, wo sich Ihr Bruder zur Zeit aufhält.«
»Wieso haben Sie dann von dem Zwischenfall erfahren?«
»Nun, wir haben halt unsere Verbindungen«, wich ich aus.
Cooper lehnte sich zurück und fixierte uns. »Aha, das wollen Sie mir also nicht sagen. Was wissen Sie überhaupt?«
»Daß Don Ihnen angeblich eine Mumie geschickt hat und daß diese verschwunden ist.«
»Mehr nicht?«
Ich bestätigte das.
»Und was wollen Sie von mir?«
Mein Ärger wuchs. »Hören Sie, Mr. Cooper, ich kenne Ihren Bruder recht gut und mache mir ernstlich Sorgen um ihn.«
»Sie sind doch dieser Privatdetektiv, der in Sachen Geister reist, nicht wahr?«
Ich verzog das Gesicht zu einer schmerzlichen Grimasse. »So wie Sie das formulieren, bestätige ich es nur ungern, aber es bleibt mir wohl nichts anderes übrig.«
»Ja, Don hat Sie einmal erwähnt, bei einem Telefonat. Er hat eine Reihe von Verrücktheiten von sich gegeben. Was haben Sie denn vor, Mr. Tate? Wollen Sie mich jetzt auch bekehren? Tut mir leid, aber ich bin ein Mensch, der mit beiden Beinen auf der Erde steht.« Er stand auf und blickte demonstrativ auf seine Armbanduhr. »Meine Zeit ist wirklich knapp bemessen. Die Sekretärin begleitet Sie nach draußen.« Ich wollte noch etwas sagen, aber Ronald Cooper fiel mir ins Wort. »Sinnlos, das Gespräch weiterzuführen, Mr. Tate, ich habe für diese Art von Konversation keine Zeit!«
Wortlos wandten wir uns zur Tür. Die Chefsekretärin öffnete. Höflich aber bestimmt dirigierte sie uns hinaus. Mir fiel nur auf, daß sie zuvorkommender war als zu Beginn. Positiv war das allerdings ganz und gar nicht zu werten.
Als wir unten in den Wagen stiegen, sagte ich zu May: »Hoffentlich hat Ronald Cooper mit dem Hinauswurf keinen Fehler begangen!«
Sie blickte an dem riesigen Verwaltungsgebäude empor. »Diese Hoffnung hege ich allerdings auch. Wir sollten uns in deiner Wohnung aufhalten. Deine Telefonnummer steht im Telefonbuch. Möglicherweise greift Ronald Cooper im Notfall doch auf dich zurück?«
Der Abend kam und für Ronald Cooper der Feierabend. Zu seiner Villa fuhr er nicht allein. Der Chauffeur wurde ausnahmsweise bemüht. Längst war die Dunkelheit hereingebrochen, als Ronald Cooper daheim anlangte. Er schickte den Fahrer weg, nachdem er ihm das Versprechen abgenommen hatte, am nächsten Morgen pünktlich wieder zu erscheinen. Dann widmete er sich dem Tagesbericht des Butlers. Nur mit halbem Ohr hörte er zu. Schließlich wurde auch der Diener weggeschickt. Er würde diese Nacht ausnahmsweise nicht im Hause schlafen. Am nächsten Morgen hatte er frei und wollte das nutzen. Ronald Cooper war das egal. Er würde früh ins Bett gehen.
Kaum hatte er sich ausgekleidet und Abendtoilette gemacht, als er das auch tat. Ronald Cooper war todmüde. An seinen Bruder und dessen Umgang verschwendete er keinen einzigen Gedanken mehr. Deshalb schlief er auch sofort ein.
Ronald Cooper hatte keine Ahnung, wieviel Uhr es war, als er plötzlich erwachte. Verständnislos starrte er in die Dunkelheit. Was hatte ihn geweckt? Schon wollte er die Augen schließen und sich wieder dem Schlummer hingeben, als ein eiskalter Lufthauch über ihn hinwegstrich. Abermals starrte er in das Dunkel. Aus den Schatten der Nacht schälte sich eine Gestalt. Zum zweitenmal der eisige Hauch. Hatte er seinen Ursprung am teilweise offenstehenden Fenster? Dürftiger Schein erhellte den Fenstervorhang, der sich im hereinwehenden Wind leicht bauschte. Ein Schlurfen, als zöge jemand seine Füße über den Boden. Die Gestalt! Bewegung kam in sie.
Ronald Cooper hatte den Eindruck, eine Hand greife nach seinem jetzt wie rasend pochenden Herzen, um es anzuhalten. »Ist da jemand?« stöhnte er. Das Schlurfen verstummte. Noch immer bewegte sich der Schatten, kam jedoch ins Wanken und kippte dann lautlos um.
Wie der Blitz war Ronald Cooper am Lichtschalter, betätigte ihn. Er vergaß zu atmen. Kalte Schweißperlen traten auf seine Stirn, die Augen waren unnatürlich geweitet. Vorsichtig lugte er um das Fußteil des herrschaftlichen Bettes. Nichts! Absolut nichts!
Er warf die Decke beiseite und sprang auf. Im Zimmer war es kühl. Ihn fröstelte. Automatisch griff er sich dem Morgenmantel und zog ihn an. Seine nackten Füße tapsten über den Boden. Er umrundete das Bett. Ja, da war wirklich nichts und niemand. Er mußte sich geirrt haben. Doch dann stutzte er. Ein seltsamer Geruch stieg ihm in die Nase. So hatte er sich immer den Geruch einer Mumie vorgestellt. Der Gedanke erzeugte auf seinem Rücken eine Gänsehaut. Sein Blick irrte umher. Es war ihm, als würde er aus tausend glühenden Augen beobachtet, obwohl er niemanden sah. Eisern zwang er sich zur Ruhe und ging weiter zum Fenster. Er zog den Vorhang zurück, um das Fenster zu schließen. Doch da sah er, daß dieses gar nicht geöffnet war. Gleichzeitig wußte er, daß er sich nicht allein in dem Raum befand.
Ronald Coopers Nackenhaare sträubten sich. Ein Luftzug in seinem Rücken. Er wagte es nicht, sich umzudrehen. Das Zuschlagen der Schlafzimmertür wirkte auf ihn wie ein Peitschenhieb. Er schaute über die Schulter.
»Jetzt bin ich allein!« murmelte er brüchig vor sich hin. Kaum waren die Worte verklungen, als ihm klar wurde, wie unsinnig sie sich anhörten. Träumte er denn noch? Machten ihn Streß und Geschäfte langsam aber sicher wahnsinnig? Wütend wandte er sich wieder dem Fenster zu. In diesem Augenblick öffneten sich beide Flügel, trafen ihn, stießen ihn zurück. Eine sturmartige Bö fauchte herein. Kälte biß Ronald Cooper in die Knochen. Der Atem blieb ihm weg. Er hatte den Eindruck, in das dunkel gähnende Loch der Hölle zu blicken. Die Deckenbeleuchtung wurde rasch schwächer, erlosch fast, wurde degradiert zu einem rotglühenden Auge, das Ronald Cooper zu beobachten schien.
Ronald Cooper schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Festland. Er kämpfte gegen den zerrenden Sturm an und arbeitete sich auf die Fensterhöhle zu. Irgendwie erreichte er sie. Und sein Blick ging ungehindert durch den hinter dem Haus gelegenen Park bis zu der in der Nähe befindlichen Straße. Alles erschien normal. Außer dem starken Wind, der die Baumwipfel peitschte. Dies schien auf Coopers Gelände beschränkt zu bleiben.
Bis die grollende Stimme erscholl: »Denn mein ist die Macht des Bösen!« Von allen Seiten schien sie zu kommen.
Ronald Cooper schloß das Fenster. Er ging zu dem kleinen Schreibtisch hinüber, zog die oberste Schublade heraus. Eine Pistole, geladen und gesichert. Er packte sie. Der kühle Griff möbelte sein Selbstbewußtsein auf. Er fühlte sich erstarkt und schritt zur Tür. Mit der Linken öffnete er sie. Dunkelheit empfing ihn. Er fand den Lichtschalter. Aber das Licht im Flur brannte nur in halber Stärke. Ronald Cooper lauschte gebannt. Nichts rührte sich mehr. Befand sich wirklich außer ihm jemand im Haus? Aber es war doch abgeschlossen. Vielleicht Einbrecher? Ronald Cooper dachte an die ausgezeichnete Alarmanlage und verwarf auch diesen Gedanken. Egal, er würde der Sache auf den Grund gehen.
Als er an seinem Arbeitszimmer vorbeikam, machte er Zwischenstation, um sich auch noch eine Taschenlampe zu holen. Somit fühlte er sich gut ausgerüstet. Ronald Cooper lief zur Freitreppe, die in die Eingangshalle führte. Auch dort ließ er das Licht aufflammen. Die Halle war leer. Sein Mantel befand sich noch immer in der Garderobenecke, wo ihn der Butler zum Auslüften hingehängt hatte. Ronald Cooper stieg die Treppe hinunter.
Es war der Zeitpunkt, da er die ersten Geräusche hörte, die offensichtlich aus dem Keller kamen. Und es war der Zeitpunkt, da ihm bewußt wurde, daß er bisher nicht an die Mumie gedacht hatte. Vielleicht hing alles mit dieser zusammen? Er biß die Zähne zusammen, daß es knirschte. Nein, redete er sich ein, für alles gibt es eine vernünftige, plausible Erklärung! Aus irgendeinem Grund ist diese ominöse Mumie von großer Bedeutung. Deshalb kümmert man sich so auffällig darum. Und der Defekt in der Lichtversorgung ist gewiß auf einen Eingriff in die Alarmanlage zurückzuführen. Damit beruhigte er sich. Gewöhnliche Einbrecher waren ihm immer noch lieber, als Phänomene, die er mit seinem praktisch denkenden Verstand unmöglich einzuordnen vermochte.
Er steuerte auf die Kellertür zu, hinter der die seltsamen Geräusche aufklangen. Dabei war er sicher, sehr schnell die Antwort auf alle Fragen zu bekommen.
*
Ich schaute auf die Uhr. Mitternacht. May war ein wenig eingenickt. Jetzt schreckte sie auf. Sofort fand sie in die Wirklichkeit zurück. May Harris hatte Hexenkräfte in sich. Vor einiger Zeit merkten wir es. Ihr ehemaliger Mann, der als schlimmer Dämon endete, weil er einen Pakt mit dem Bösen geschlossen hatte, war daran nicht ganz unschuldig. Wir wußten allerdingsr nicht, ob Edgar Harris in ihr diese Kräfte weckte, oder ob sie vorher schon latent vorhanden waren. Auf jeden Fall verstand es Edgar Harris, Mays Hexenfähigkeiten mit einer Brille zu neutralisieren, deren Gläser mit unsichtbaren magischen Symbolen versehen waren. Auch wenn May die Brille einmal absetzte und für einen Tag Kontaktlinsen trug, wirkten die magischen Symbole. Ihre Wirkung klang erst nach geraumer Zeit ab. Als Mays Brille erneuert werden mußte, ging sie zu dem Optiker, der dem längst vergangenen Edgar Harris noch immer treu ergeben war. Der schrullige Optiker, selber ein Diener des Bösen, lockte nacheinander alle Bekannten von May Harris, die direkt oder indirekt am Untergang des schrecklichen Dämons Edgar Harris beteiligt waren, in die Falle, um sie zur Rechenschaft zu ziehen. Dabei kam uns ein wichtiger Faktor zunutze: nämlich mein Dämonenauge, das ich stets an einer Halskette trug. Ein Amulett mit sagenhaften Eigenschaften, die ich nur leider nicht steuern konnte. Das Amulett, auch Schavall genannt, schützte mich zwar, aber auf oftmals recht eigenwillige Art und Weise. Letztlich wurde der Kampf durch den Schavall entschieden. Wir kamen alle mit einem blauen Auge davon.
Seitdem brauchte May Harris keine Brille mehr. Obwohl sie es vorzog, noch immer eine zu tragen, wenn auch aus anderem Grund als zuvor: Da war ein eigenartiger Schimmer in ihren Augen, mit dem sich ihre Hexenkräfte verrieten. Mit der Brille kaschierte sie das. Anfangs war sie mir etwas unheimlich mit ihren wiedergewonnenen Fähigkeiten. Inzwischen hatte ich eingesehen, daß sich May dadurch keineswegs negativ veränderte. Sie blieb die Frau, die ich liebte und die meine Liebe aus ganzem Herzen erwiderte. May und ich waren ein unzertrennliches Paar, obwohl wir bis jetzt noch keine Zeit fanden zu heiraten. Oder hatte das andere Gründe? Wir wußten es selber nicht.
May gähnte verhalten. Ich schob meine Gedanken beiseite und stand auf. »Vielleicht sollten wir etwas tun?« schlug ich vor. »Ich habe ein eigenartiges Gefühl. Die Zeit ist günstig. Mitternacht. Die Stunde der Dämonen beginnt.«
»Was hast du vor, Mark?«
»Wir sollten ein kleines Ritual durchführen. Möglicherweise gelingt es uns dabei, mehr über diese ominöse Mumie und mehr über Don in Erfahrung zu bringen.«
»Du machst dir Sorgen?«
»Du dir etwa nicht?«
May nickte. Auch sie stand auf. »Also gut, beginnen wir.«
Ich nahm Kreide aus einer Schublade. Es war eine besondere Kreide. Ihre Beschaffenheit verstärkte jedes magische Zeichen, das man damit malte. Gemeinsam rückten wir die Sitzmöbel in der engen Wohnung auseinander, um genügend Platz zu schaffen. Dann zeichnete ich einen kleinen magischen Kreis. Als ich damit fertig war, brachte ich sechs Zeichen aus der längst vergessenen Schriftsprache der geheimnisvollen Goriten an, die einst das Gute über die Welt gebracht haben sollen, um hernach spurlos zu verschwinden. Ich versuchte schon seit Jahren, ihre Geheimnisse zu ergründen, doch kam ich damit nicht voran. Es würde vielleicht ewig ein unerfüllbarer Wunschtraum bleiben. Ich nahm den Schavall von der Halskette und legte ihn inmitten des Kreises. Der Schavall sah aus wie ein Auge. Jetzt zeichnete ich eine Ellipse darum, was den Eindruck noch verstärkte.
May und ich reichten uns die Hände. Wir konzentrierten uns. Ich begann, Goritenworte zu beten. Dabei versanken wir immer tiefer in Trance. Ich hörte, daß May in mein Gebet einfiel - nicht mit den Ohren, sondern gleichsam mit meinem Geist. Unsere Seelen kamen sich näher. Unsere Gedanken paßten sich aneinander an, bis sie sich zu einem einzigen Strom vereinigten. Zu einem Strom und zu einem gemeinsamen Wunsch: Erkenntnisse zu erlangen über das Schicksal von Don Cooper und Lord Frank Burgess.
Sosehr wir uns bemühten, es erfolgte keine Resonanz, bis wir Erschöpfung spürten, und unsere Gedanken in eine andere Richtung wenden mußten, um das Ritual länger durchhalten zu können. Wir dachten gleichzeitig an die ominöse Mumie, die Don angeblich aus Ägypten geschickt hatte. Aus der uns umgebenden Finsternis schälten sich die Umrisse eines Hauses. Wir wußten beide sofort, um welches Haus es sich handeln mußte: die Villa von Ronald Cooper. Wir wollten näher heran, doch etwas verhinderte es. Als wir unsere Bemühungen verstärkten, traf uns ein brutaler Schlag, der uns von einer Sekunde zur anderen aus der Trance erwachen ließ.
Der Schavall zwischen uns hatte sich aufgebläht bis zur Fußballgröße, obwohl er damit Schwierigkeiten hatte, in der Ellipse zu bleiben. Jetzt schrumpfte er wieder auf das normale Maß zurück. Seine Reaktionen zeigten deutlich, daß wir eben mit negativen magischen Kräften zusammengekommen waren. Erschrocken blickte ich May Harris an. Jetzt konnten wir nicht mehr gegenseitig unsere Gedanken lesen.
»Ich habe das Gefühl, wir sollten uns um die Villa Cooper kümmern«, murmelte May brüchig.
Ich schüttelte den Kopf. »Es geht einfach nicht. Ronald Cooper hat uns ganz klar abgewiesen. Wenn wir ihm dennoch einen Besuch abstatten, ist das Hausfriedensbruch.«
»Dann soll Ronald Cooper allein mit dieser Gefahr fertig werden?«
»Erstens«, belehrte ich May, »wissen wir gar nicht genau, ob es sich überhaupt um eine Gefahr für Ronald Cooper handelt, und zweitens bleibt uns tatsächlich keine Wahl. Wir können nicht einmal Tab Furlong vom Yard einschalten. Er ist mit dem Fall nicht betraut, sondern ein Kollege von ihm, und der wird kaum Verständnis dafür aufbringen, wenn wir von magischen Kräften sprechen, die Ronald Cooper offenbar zusetzen.«
»Also abwarten und Tee trinken?«
»Gar keine schlechte Idee, May, das mit dem Tee!«
Sie winkte mit beiden Händen ab. »Schon gut, schon gut, Mark, ich habe den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden und werde uns beiden einen Tee aufbrühen.«
Ich blickte ihr nach. May Harris war verstimmt, und ich konnte ihr das beim besten Willen nicht verdenken.
Ronald Cooper öffnete die Kellertür und blieb lauschend stehen. Alle Geräusche waren verstummt. Vorsichtig zog er die Tür weiter auf, dabei hoffend, daß sie nicht in den Angeln knarrte. Die vermeintlichen Einbrecher durften nicht ahnen, daß er ihnen bereits auf der Spur war. Mit dem Daumen legte er den Sicherungsflügel der Waffe um. Ein leises Klicken, das in der entstandenen Stille überlaut erschien. Ronald Cooper trat auf die steil abwärtsführende Treppe. Die Steinstufen waren bereits etwas ausgetreten. Die Wände waren roh verputzt und ansonsten kahl. Der Geruch von Kälte und Feuchtigkeit kam Ronald Cooper entgegen. Irgendwie war es anders als sonst, obwohl er die Veränderung nicht zu erklären vermochte.
Fröstelnd zog er die Schulterblätter zusammen. Stufe für Stufe arbeitete er sich abwärts, dabei bemüht, mit den Augen die Dunkelheit da unten zu durchdringen. Noch immer kein Laut, außer dem Scharren seiner eigenen Füße. Er hielt es aus, bis er unten war. Dann wurde der Druck der Angst vor dem Ungewissen zu stark. Mühsam widerstand er dem Wunsch zur Flucht und knipste die Taschenlampe an.
Zwei Schritte vor ihm stand eine Mumie. Der Schein der Lampe zitterte an ihr empor, blieb am mit alten Binden verhüllten Gesicht hängen. Die Augen waren geöffnet, und sie schienen zu leben. Ein eigenartiges, unheimliches, erschreckendes Leben. Der Blick des Todes in seiner Inkarnation. Der Mund der Mumie öffnete sich leicht. Licht fiel in den vermoderten Rachen, in dem ein dumpfes Grollen entstand.
»Grüße von Don!« sagte die Mumie.
Ronalds Verstand setzte aus. Er wollte schießen, konnte jedoch den Zeigefinger am Abzug nicht krümmen. Ein Zittern erfaßte ihn, übertrug sich auf die Hände. Zuerst fiel die Pistole zu Boden. Ein Glück, daß sich dabei kein Schuß löste, der ihn verletzte. Und dann sah er, was die Mumie in den bandagierten Händen hielt: in der Linken einen Dolch mit spiralförmig verdrehter Klinge und kunstvoll ziseliertem Griff, in der Rechten ein Herz. Ronald Cooper zweifelte keine Sekunde daran, daß es sich um ein menschliches Herz handelte.
Auch die Taschenlampe entfiel seinem Griff. Sie erlosch am Boden, ließ die Finsternis zurückkommen, die sich wie ein schwarzes Tuch auf Ronald Cooper senkte. In dieser Finsternis war Ronald Cooper allein mit sich und dem Grauen. Schreiend wandte er sich um. Er stolperte die steinerne Treppe hinauf, dem Geviert aus Licht entgegen, das den Weg in die Halle zeigte. Er schaffte es. Hinter sich glaubte er tapsende Schritte zu hören. Das trieb ihn weiter. Er warf einen Stuhl um, riß eine Vase zu Boden, wo sie in tausend Scherben zersprang und ihren Inhalt vergoß. Nur ein einziger vernünftiger Gedanke schaffte es, aus den Tiefen seiner Seele hinaufzudringen und sein Bewußtsein zu beherrschen: Telefon! Ja, das war die einzige Möglichkeit für ihn, Hilfe herbeizurufen. Irgendwie erreichte er sein Arbeitszimmer. Er warf die Tür ins Schloß, drehte zweimal den Schlüssel um, ging zum Apparat, hob ab. Die Nummer! durchschoß es seinen Kopf. Er kramte das Telefonbuch hervor, blätterte in fiebernder Hast.
Draußen klopfte es. »Grüße von deinem Bruder Don!«
Da war die gesuchte Nummer. Ronald Cooper verwählte sich, machte noch einen Anlauf.
Das Klopfen wurde heftiger. »Denn mein ist die Macht des Bösen!«
Tränen rannen Ronald Cooper über die Wangen. Die Augen brannten wie Feuer. Er konnte die Zahlen nicht mehr genau erkennen. Fix und fertig mit den Nerven, gab er es beinahe auf, wollte sich seinem Schicksal ergeben. Aber dann gelang es ihm endlich, die richtige Nummer in die Scheibe zu drehen. Er erwartete, das Besetztzeichen zu hören. Doch er hatte Glück. Auf der anderen Seite der Leitung läutete es zweimal, bevor jemand abhob.
Die Tür würde dem Klopfen und Hämmern nicht mehr lange standhalten. »Ronald Cooper!« grollte es von draußen. »Mein ist die Macht des Bösen. Ich werde dich heimsuchen, wie es meine Bestimmung ist!«
*
Das Telefon schrillte. May Harris und ich sahen hoch. May brachte gerade den Tee. Ehe sie reagieren konnte, eilte ich zum Apparat. Das zweite Läuten. Ich schaltete mit einem Knopfdruck den digitalen Anrufbeantworter ein. Ein Neuerwerb. So konnte ich jedes Gespräch mitschneiden.
»Detektei Mark Tate!« meldete ich mich. Eine Seltenheit. Nonnalerweise sagte ich nur meinen Namen. Ich weiß selber nicht, warum ich diesmal eine Ausnahme machte.
»Mr. Tate!« Ein Keuchen und Stöhnen. »Mr. Tate!«
Ich glaubte, die Stimme von Ronald Cooper erkannt zu haben. »Mr. Cooper?«
»Ja, die Mumie - sie - sie ist hinter mir her! Im Keller. Ich - ich war im Keller und jetzt...«
Im Hintergrund hörte ich Klopfen und Grollen. Ich begriff die Situation, in der sich Ronald Cooper befand. »Beten Sie, Mr. Cooper, beten Sie!«
»Wie bitte?«
»Sie sollen beten, verdammt noch mal! Haben Sie irgendeinen geweihten Gegenstand in Reichweite?«
»Ich - ich verstehe nicht.«
»Der einzige Schutz, Mr. Cooper! Beten ist das Geringste, war Sie jetzt tun können - falls Sie es nicht verlernt haben!«
»Der Himmel steh mir bei... Mr. Tate, bitte, kommen Sie! Der Himmel und alle Heiligen...«
Ich knallte den Hörer auf die Gabel. May Harris bewies, wie gut sie zu mir paßte. Sie stand bereit, angezogen, mit meinem Mantel über dem Arm. Sie half mir hinein. Gemeinsam rannten wir nach draußen.
»Hoffentlich schaffen wir es rechtzeitig!« sagte ich, als wir mit dem Fahrstuhl nach unten fuhren. May Harris antwortete nicht. Sie starrte stumm vor sich hin. Vielleicht war mein Verhalten von vornherein falsch gewesen. Ich hätte mich in der Nähe der Villa aufhalten sollen. Aber dann hätte mich Ronald Cooper nicht anrufen können. Ich hatte keine Rufweiterleitung von meinem Festnetztelefon zum Handy. In diesen Augenblicken schwor ich mir, dies zu ändern - bei nächster Gelegenheit. Ich hieb mit der geballten Hand gegen die Kabinenwand. Dadurch wurde der Fahrstuhl allerdings nicht schneller.
*
Ronald Cooper betete. Erst kleinlaut, dann immer inbrünstiger. Ja, fast hatte er es verlernt. Die Tür flog auf. Die Mumie stand in der Öffnung, in der Linken den Dolch, in der Rechten das Herz. Sie tappte einen Schritt näher, Grauen und Panik in Ronald Cooper mehrend. Doch Ronald Cooper ließ sich von nichts mehr beirren. Mark Tate hatte ihn angewiesen zu beten, also tat er es auch. Dabei dachte er an den Privatdetektiv. Egal, ob er nun an magische Dinge glaubte oder nicht. Was er hier erlebte, war unerklärlich. Deshalb mußte er sich auf das Wort eines Mannes verlassen, den Don als Experten beschrieben hatte.
Ronald Cooper hielt sich am Schreibtisch fest. Das Möbelstück zitterte mit ihm um die Wette. Noch zwei Schritte tappte die Mumie näher. Dann blieb sie stehen.
»Hör auf!« grollte sie. »Hör auf, Ronald Cooper! Deine Worte tun mir weh.«
Jetzt schien sich Ronalds Zittern auch auf die Wände zu übertragen. Ein unerklärliches Phänomen. Die Bilder wackelten an der Wand, die Schränke wankten. Durch den Boden lief ein Beben, als würde das Haus jeden Augenblick zusammenstürzen.
Die Mumie stöhnte. »Die Macht - Macht des - des Bösen! Des Bösen!« Ein Wort wie Donnerhall, überlaut, das gesamte Gebäude erfüllend.
»Grüße von Don!« schrie Ronald Cooper, ehe er mit dem Beten erneut begann.
»Ja, ich soll dir Grüße von deinem Bruder Don bestellen.« Die Mumie ging darauf ein. »Er befindet sich in Ägypten.«
Ronald langte am Ende seines Gebetes an. »Was für Grüße sollst du bestellen? Himmel, steh mir...«
Die Mumie lachte. Jetzt wurde deutlich, daß für das Beben der Villa keineswegs Ronald verantwortlich zeichnete. Die schwarze Magie hatte die Mauern durchdrungen, und sie reagierte auf das Gebet von Ronald Cooper. Das Lachen beendete alles schlagartig. Dann blieb nur noch das Beten von Ronald.
Die Mumie drehte sich langsam herum. Sie schwankte wie ein Halm im Wind. Viel Kraft brauchte sie, das Arbeitszimmer zu verlassen. Ronald Cooper faßte neuen Mut. Er lief hinterher. Die Mumie wandte sich nach ihm um. Ronald blickte in die toten Augen, in denen der Teufel persönlich zu hocken schien. Und da erst kamen ihm diese Augen bekannt vor. Er konnte es nicht begreifen.
Die Mumie kehrte sich ab, strebte dem Keller zu. Ronald starrte auf das Herz. Es schlug! Es zappelte und arbeitete, als wäre es lebendig, als brauchte es nur jemand in die Brust zurückzuversenken, in die es gehörte.
Ronald Cooper vergaß dabei nicht zu beten. Er beeilte sich, um nicht den Anschluß zu verlieren. Die Kellertür blieb offen. Ronald knipste diesmal die Beleuchtung an. Unten lagen Taschenlampe und Pistole, unberührt. Ronald nahm sie auf. Die hohe Gestalt der Mumie verschwand in dem Kellerraum mit der Überseekiste. Ronald lief hinterher. Die notdürftig zusammengezimmerte Kiste stand offen. Die Mumie kletterte hinein.
»Gebt mir neue Kraft!« sagte sie mit ersterbender Stimme. »Gebt mir neue Kraft, ihr Engel des Todes!« Schwer fiel sie auf den Rücken. Der Deckel krachte zu.
Ronald Cooper stützte sich mit beiden Händen darauf. Das Holz fühlte sich heiß an, als wäre es dem Schein eines offenen Feuers ausgesetzt gewesen. In der Kiste rührte sich nichts mehr. Ronald Cooper leierte noch immer das Gebet herunter. Es wurde ihm nicht bewußt.
Ein Klingeln an der Haustür. Sofort dachte Ronald Cooper an Mark Tate. Er zögerte. Doch dann verließ er den Kellerraum und rannte nach oben. Ohne zu überlegen, riß er die Tür auf. Zwei Gestalten standen draußen. »Der Himmel und alle Heiligen...«, plapperte Ronald Cooper anstatt einer Begrüßung. Dann kippte er vornüber, denn er war am Ende seiner Kräfte.
Wir erreichten die Villa von Ronald Cooper in Rekordzeit. Gottlob herrschte momentan nur mäßiger Verkehr auf Londons Straßen. Das Gebäude reichte bis fast zum Bürgersteig. Der Vorgarten bildete nur einen schmalen Streifen und wurde begrenzt von einer halbhohen Mauer und einem schmiedeeisernen Zaun. Mit quietschenden Reifen hielten wir vor dem Tor. Wir sprangen hinaus und eilten zum Eingang. Gottlob war das Tor nicht abgeschlossen. May kimgelte, während ich das Hemd öffnete und den Schavall zum Vorschein brachte. Ich wunderte mich, daß die geheimnisvollen Kräfte, die das Gebäude beherrschten, keinen Angriff starteten.
Der Schavall erwärmte sich leicht. Seine einzige Reaktion. Also war es mit den magischen Kräften gar nicht so weit her. Hatten wir sie bei unserem Ritual überschätzt? Ich überlegte schon, ob ich die Tür gewaltsam aufbrechen sollte, als Schritte ertönten. Ein Schlüssel drehte sich im Schloß. Ronald Cooper öffnete persönlich. Betend fiel er mir entgegen. Geistesgegenwärtig fing ich ihn auf. Kein leichtes Stück Arbeit. May half mir, ihn ins Innere zu bringen. Alles erschien normal, obgleich der Schavall hartnäckig glühte.
Ronald Cooper betete noch immer. Er tat es mit der lallenden Stimme eines Irren. Ich bekam Mitleid mit ihm. Keiner von uns beiden trug ihm den Hinauswurf nach. Der Mann hatte so gehandelt, wie es seiner Meinung nach richtig war. Wer wollte ihn deswegen verurteilen? Inzwischen hatte er sein Vorgehen gewiß büßen müssen - in einer Art und Weise, wie er es sich nie erträumt hatte.
Ich war froh, als wir Ronald Cooper endlich auf einen Stuhl setzen konnten. Ich bangte um seinen Verstand und nahm deshalb den Schavall von der Halskette. In meiner Linken erwärmte er sich noch mehr. Ich drückte ihn Ronald Cooper gegen die Stirn. Sofort hörte er auf zu beten. Ein Zucken ging durch seinen Körper. Wir konnten von Glück sagen, daß Ronald Cooper mich gerufen hatte, anstatt schreiend auf die Straße zu rennen. Damit hatte er sich eine Chance gegeben. Sich und uns! Ronald Cooper wurde ruhiger. Seine Augen blieben geschlossen. Regelmäßig hob und senkte sich seine Brust. Er war in Schlaf gefallen. May rückte einen zweiten Stuhl in Reichweite. Ich legte Coopers Beine darauf.
»Möchte wissen, wo sich die Mumie befindet«, sagte May Harns.
Ich zuckte die Achseln, betrachtete den friedlich Schlummernden. »Es ist wohl besser, wenn wir ihn jetzt in Ruhe lassen, May. Vielleicht solltest du auf ihn achten, während ich das Haus durchsuche?«
Sie nickte mir zu, stellte sich neben Ronald Cooper. Ich warf einen Blick in die Runde. Ronald Cooper war offensichtlich allein im Haus. Kein Personal in dieser Nacht. Die Mitternachtsstunde war inzwischen überschritten. Vielleicht sollte ich meine Aufmerksamkeit auf den Keller richten?
Ich ging zur erstbesten Tür, öffnete sie. Das Eßzimmer. Anerkennend schürzte ich die Lippen. Die Einrichtung war zwar alles andere als modern, bewies aber Coopers guten Geschmack. Die nächste Tür: das Wohnzimmer. Die Eingangshalle war relativ klein. Deshalb hatte der Architekt ein zusätzliches Wohnzimmer bauen lassen. Die fast obligatorische Kaminecke fehlte nicht. Es gab sie wahrscheinlich in allen Räumen. Man hatte Gasbrenner installiert, konnte jedoch zusätzlich Holzscheite darin brennen. Bei der dritten Tür hatte ich endlich Glück. Ein kurzes Gangstück, nur zwei Schritte. Eine steil nach unten führende Steintreppe schloß sich an. Das Licht brannte.
Ich winkte May Harris zu. Sie winkte zurück. Die Tür ließ ich offen. Ich trat auf die Treppe, stieg langsam hinunter. Nichts rührte sich. Mit meiner Hand umklammerte ich den Schavall wie einen Rettungsanker. Einer der Kellerräume stand offen. Eine Menge Gerümpel. Eine Überseekiste erregte meine Aufmerksamkeit. Davor lagen eine Taschenlampe und eine Pistole. War sie geladen?
Ich achtete nicht darauf, schritt auf die Kiste zu. Sprunghaft vergrößerte sich der Schavall um das Doppelte. Die Hitze, die er ausstrahlte, war unerträglich, schadete mir jedoch nicht. Ich war der Träger des Schavalls, und seine Hitze war nur magischer Natur - allerdings tödlich für den, der das Böse wollte. Mit dem Fuß stieß ich gegen die Kiste. Im Innern rührte sich nichts. Der Deckel war zugenagelt. Spuren von Gewalteinwirkung. Richtig, man hatte die Kiste im Hafen auseinandergenommen und hernach notdürftig wieder zusammengezimmert. Ich zog daran herum. Nein, so ließ sich die Kiste nicht öffnen.
In der Ecke fand ich ein Stück Stahlrohr. Ich setzte es wie ein Brecheisen an und hebelte den Deckel hoch. Es quietschte und knarrte. Ein Geräusch, das hier unten unheimlich wirkte. Etwas quiekte, huschte mir über die Füße. Eine Ratte, dick und fett. Sie verschwand zwischen dem Gerümpel, total verängstigt, als hätte sich ein Katzenheer angemeldet. Aber es war die schwarze Magie, die dem Tier zusetzte. Ein Märchen die Behauptung, Ratten seien immun gegen böse Beeinflussungen. Das Tier hatte sich hierher verirrt und suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Wenn es noch mehr von der Sorte gab, konnte es sogar gefährlich werden. In ihrer Panik griffen sie Menschen an.
Die Kiste war auf. Holzwolle quoll heraus. Ich faßte sie vorsichtig an, teilte sie. Nach Angaben von Tab Furlong mußte die Kiste leer sein. Sie war nicht mehr länger leer! Eine Mumie lag darin. Die Augen waren offen und starrten mich an. Meine Hand mit dem Schavall zitterte. Ich konnte es nicht verhindern. Diese Augen ließen mich in den Abgrund der Hölle sehen.
Plötzlich kam in die Mumie Bewegung. Sie hob den linken Arm, brachte ein seltsames Messer zum Vorschein. Einen Dolch. Die Schneide reflektierte das Licht der Deckenlampe, die fast senkrecht über der Kiste hing. Ich sah die Dolchspitze auf mich zurasen. Es war zu spät auszuweichen. Die Spitze zielte auf mein Herz...
*
May Harris war unruhig. Das Haus machte ihr zu schaffen. Dank ihrer magischen Fähigkeiten spürte sie die Anwesenheit einer unbekannten Macht. Im Moment verhielt sich diese böse Macht friedlich. In der Mitternachtsstunde hatte sie sich frei entfalten können. Jetzt war dies erschwert. Doch die Nacht war auf der Seite der schwarzen Magie.
Nachdenklich betrachtete May Ronald Cooper, den die Einwirkung des Schavalls in einen friedlichen Schläfer verwandelt hatte. Es wäre besser, sie und Mark hätten ihn von hier weggebracht. Zunächst aber mußte Mark Tate nach dem Rechten sehen. Die Mumie war wichtig, denn sie war der Schlüssel zu der Beantwortung der Frage, wo sich Don Cooper und Frank Burgess befanden. Hatten sie wirklich etwas mit der Mumie und deren Versendung nach England zu tun? Oder hatte die fremde Macht nur einen Vorwand gebraucht? May konnte sich das nicht vorstellen. Sie war mit Mark Tate der Meinung, daß es echte Zusammenhänge gab. Nicht der Zufall allein hatte magische Kräfte auf den in dieser Beziehung bisher völlig unbedarften Ronald Cooper angesetzt. Hätte man Mark Tate eine Falle stellen wollen, wäre das auch weniger spektakulär gegangen und vor allem auch direkter.
May Harris sah ein, daß die Überlegungen nichts einbrachten. Erst wenn Ronald Cooper zu einer echten Mitarbeit bereit war, gab es einen Lichtblick. Da schlug Ronald Cooper die Augen auf. Verständnislos blickte er sich um. May Harris spürte, wie sich die magischen Energien formierten. Sie griffen nach dem erwachten Ronald Cooper. May wehrte sie ab. Mit Erfolg. Sie schuf eine Art Schutzschirm um Ronald Cooper. Das gelang ihr sogar ohne große Mühe. Die Beeinflussung war nicht sonderlich stark.
»Mrs. Harris?« Ronald Cooper hatte alle Mühe, seine Gedanken zu ordnen. »Wie - wie sind Sie hierhergekommen? Was suchen Sie bei mir?«
May antwortete nicht. Ronald Cooper sollte selber daraufkommen.
Ruckartig richtete sich Ronald Cooper auf. Dabei verlor er beinahe das Gleichgewicht. Er griff sich mit beiden Händen an den Schädel. »Mein Gott, was ist denn passiert? Mir schwindelt.«
May Harris sah ein, daß sie ihm doch auf die Sprünge helfen mußte. »Sie haben uns gerufen, Mr. Cooper. Sie waren in Not.«
Er ließ die Hände sinken. Das Grauen kehrte sekundenlang in die Augen zurück, verzerrte leicht seine Züge. Dann glättete sich seine Miene wieder. »Die Mumie!« murmelte er vor sich hin. »Um Himmels Willen, was geht in meinem Hause vor?«
»Mark Tate befindet sich im Keller. Er ging hinunter, um auf diese Frage eine Antwort zu finden.«
Ronald Cooper wollte aufspringen, doch er war zu entkräftet dazu. »Im Keller?« echote er bestürzt. Sein Blick irrte zur offenen Tür hinüber. »Die Mumie wird erwachen und...«
»Sie sollten sich um Mark Tate keine Sorgen machen, Mr. Cooper. Er ist kein Neuling und weiß sich zu helfen.«
Ronald nickte. »Sie haben recht, Mrs. Harris. Ich muß mich wohl bei Ihnen beiden entschuldigen, wie?«
»Ich wüßte nicht warum.«
»Bitte verlangen Sie von mir niemals, daß ich all diese Dinge, die ich erlebte, zum Anlaß nehme, mein gesamtes Weltbild zu ändern«, stöhnte er. »Schwarze Magie hat keinen Platz in dieser Welt. Sie gehört in das finstere Mittelalter oder ins Altertum.«
May Harris lächelte verständnisvoll. »Sie tun recht daran, Mr. Cooper. Es ist unsere Aufgabe, Übergriffe der schwarzen Magie zu verhindern. Es gibt eine Menge Kämpfer gegen das Böse in aller Welt - nicht nur gegen das Böse, das von Menschen produziert wird. Das alles wäre schon genug. Nein, die Grenzen zwischen dem Diesseits und den furchtbaren Räumen des dämonischen Zwischenreiches sind oftmals labil. Manchmal gelingt es den Höllenkreaturen, Einfluß auf das Geschehen auf Erden zu nehmen. Oftmals sind es Menschen, die das beschwören. Sie streben nach Macht und lernen es, Magie anzuwenden und damit die Energien des Jenseits anzuzapfen. Scheinbar gelingt es ihnen, physikalische Grundsätze umzukehren. Sie bedenken dabei nicht, daß auch Magie den Gesetzen der Natur unterworfen ist - nur sind das andere Gesetze als die von der Schulweisheit verbreiteten.«
»Ich danke Ihnen für den äußerst aufschlußreichen Vortrag, Mrs. Harris!« Die Worte klangen keineswegs ironisch, wie es aus dem Munde eines solchen Mannes zu vermuten gewesen wäre. »Aber sagen Sie mir eines: Wieso werden die meisten Menschen nie in ihrem Leben mit magischen Dingen konfrontiert?«
»Sie werden alle, nur haben die wenigsten ein Auge dafür«, belehrte ihn May. »Der Mensch, dem eine schwarze Katze über den Weg läuft und der deswegen ein Kreuz schlägt, um Unheil von sich abzuwenden, praktiziert weiße Magie, ohne sich dessen bewußt zu werden. Der gesamte Aberglauben beruht auf der Basis von Magie. Der Alltag ist voll davon. Obwohl das meiste als Unsinn zu begreifen ist. Deshalb gibt es auch so wenige intelligente Menschen, die solchen Dingen Glauben schenken können.«
»Sie mißverstehen mich, Mrs. Harris. Natürlich kenne ich ähnliche Beispiele zur Genüge. Aber meine Frage zielte in eine andere Richtung. Eben die Magie im Alltag, um es einmal so auszudrücken, präsentiert sich mir als barer Unsinn. Aber dann dieses Erlebnis heute nacht mit der Mumie. Solche Erlebnisse sind es doch, die deutlich zeigen, daß es tatsächlich Dinge gibt zwischen Himmel und Erde, die sich mit normalem Verstand nicht erklären lassen.«
»Sie haben recht, Mr. Cooper. Ich erwähnte vorhin die Kämpfer gegen das Böse. Ihnen allein ist zu verdanken, daß Geschehnisse wie heute nacht nicht Alltag werden. Gottlob nur wenige Menschen werden jemals damit konfrontiert. Doch nur solange Menschen wie Mark Tate und andere, wie zum Beispiel ein gewisser David Murphy, erfolgreich ihren Kampf führen. Und der Zufall kann jeden zum auserkorenen Opfer machen - in jeder Minute und überall auf der Welt.«
»Herrliche Aussichten!« murmelte Ronald Cooper erschüttert. Aber an einen Zufall vermochte auch er nicht recht zu glauben, was die Ereignisse in seinem Haus betraf. Er wandte den Kopf und blickte zur Kellertür hinüber. Ein erstickter Laut brach von seinen Lippen.
May Harris folgte seinem Blick. Und auch sie vergaß zu atmen. Da stand Mark Tate. In der Linken hielt er einen Dolch, in der Rechten ein pochendes Herz. Ja, es lebte und schlug kräftig, als sei es kerngesund.
*
Der Dolch raste auf meine Brust zu, und ich war zu langsam, um ihn abzuwehren. Jede Reaktion meinerseits mußte zu spät kommen. Doch das war auch gar nicht notwendig. Die Spitze bohrte sich nicht in meine Brust. Sie prallte gegen einen unsichtbaren Widerstand, glitt ab. Dabei sprühten die Funken. An der Stelle, wo die Berührung stattfand, entstand ein intensives Leuchten, das meinen gesamten Körper einhüllte. In Wirklichkeit hatte es jedoch seine Ursache beim Schavall. Das Dämonenauge war zwar auf normale Größe zurückgeschrumpft, doch kämpfte es aktiv gegen die magischen Kräfte. Es schwebte ein Stück empor, verließ somit meine Hand, blieb jedoch bei mir.
Ich ließ das Stahlrohr fallen. Klirrend fiel es auf den Boden, der aus Steinplatten bestand. Die Mumie stöhnte schaurig, verdrehte die Augen. Die Augen erinnerten mich an einen Menschen, den ich gut kannte. Auf mein Gedächtnis konnte ich mich verlassen. Es ließ mich äußerst selten im Stich. Vor allem dann nicht, wenn es sich um meine Freunde handelte: Die Mumie besaß Don Coopers Augen!
Diese Tatsache setzte mir so zu, daß ich nach Halt suchte. Und ausgerechnet fand ich den Halt an der Kiste. Die Mumie versuchte, sich aufzurichten, doch sie sank wieder zurück. Ich nahm ihr den Dolch aus der Hand.
»Welche Macht ist es, die dich beseelt?« fragte ich. Die Mumie gab keine Antwort. Ich knirschte mit den Zähnen, den Zorn und die Sorge um Don Cooper bekämpfend. War das hier tatsächlich Don Cooper? Ich betrachtete die Mumie. Sie stammte bestimmt nicht aus längst vergangenen Zeiten, sondern war relativ neu. Ein Leichnam, nach altem, ägyptischem Rezept behandelt. Und ein Opfer des Bösen! »Sprich!« forderte ich. »Wer hat dich geschickt? Was ist dein Auftrag?«
»Mein ist die Macht des Bösen!«
Ich verlor die Geduld, griff den Dolch fester und setzte ihn an den Hals der Mumie an. In meiner Hand war der Dolch durchaus eine Waffe gegen die bösen Kräfte. Die Mumie wußte es wohl. Sie rollte stärker mit den Augen. Sie hob den rechten Arm. Zum erstenmal sah ich das lebende Herz. Es dauerte eine Weile, bis ich daraus meine Schlüsse ziehen konnte.
Auch das Herz nahm ich an mich. Der Schavall schwebte noch höher, blieb über der Kiste hängen. Aus ungewissen Gründen griff er die Mumie nicht direkt an. Das Dämonenauge war nämlich unberechenbar. Es handelte selten so, wie man es erwartete, und war alles andere als Diener meines Willens. Erkannte der Schavall von sich aus, daß die eigentliche Gefahr nicht von der Mumie ausging?
Das pochende Herz erzeugte Ekel in mir. Ich hatte Mühe, mich zu beherrschen. Es fühlte sich warm an. Aber irgendwie war es mir vertraut. »Hat dich Don geschickt?« fragte ich die Mumie.
»Du begreifst nichts - genausowenig wie Ronald Cooper!« grollte sie.
»Vielleicht doch!« Ich richtete mich auf, warf noch einen letzten Blick auf den einbalsamierten Leichnam. Dann wandte ich mich ab. Ich kehrte in die Halle zurück. May Harris und der erwachte Ronald Cooper sahen mich an wie ein Gespenst.
»Mark!« entfuhr es der entsetzten May Harris. »Mark, was - was ist passiert?« Sie sah, daß ich den Schavall nicht mehr bei mir hatte. Er schwebte noch immer über der offenen Kiste.
Ich ging nicht auf May ein, sondern schritt auf Ronald Cooper zu. »Die Mumie wurde zu Ihnen geschickt. Noch kenne ich nicht das Motiv und auch nicht den wahren Absender. Aber ich habe einen Verdacht. Kommen Sie, Ronald Cooper! Was Sie tun müssen, ist nicht angenehm, aber notwendig. Nur Sie können es, weil nur Sie die Kontaktperson sind - als einziger lebender Verwandter von Don Cooper.«
Er stand auf. Sein Atem ging keuchend. Seine Augen wurden groß und rund. »Dann - dann habe ich mich nicht geirrt? Ich erkannte die Augen der Mumie. Mein Gott, das ist doch nicht möglich!«
May Harris runzelte die Stirn. Sie spürte Zorn darüber, weil sie niemand aufklärte. Aber dafür war jetzt keine Zeit. Jede Sekunde war kostbar.
Ronald Cooper folgte mir in den Keller. Auch May Harris ging mit. An der offenen Kiste blieben wir stehen. Das Dämonenauge glühte aggressiv. Die Mumie betrachtete uns stumm. Ich reichte Ronald Cooper den Dolch. »Tun Sie, was Sie tun müssen! öffnen Sie damit die Brücke zur Erkenntnis!«
Ronald Cooper nickte. Er nahm die Waffe in Empfang und konzentrierte sich. Dann zerschnitt er die Bandagen vor der Brust der Mumie.
Im alten Ägypten nahm man die Innereien aus den Leichen und bewahrte sie in eigenen Behältnissen auf. Die Innereien waren Grabbeigaben. Sie waren der Verwesung ausgesetzt. Bei dieser Mumie fehlte nur das Herz. Ein Anblick, der starke Nerven verlangte. Ronald Cooper hatte sie offenbar. Ich beobachtete ihn trotzdem die ganze Zeit, in der Furcht, daß er im nächsten Augenblick umkippte. Er tat, was getan werden mußte. Das lebendige Herz kam an seinen Platz.
Kaum war das geschehen, als sich die Mumie aufbäumte. Sie fiel mit einem schaurigen Laut zurück. Die Augen schlossen sich.
Ich hob ihre Lider mit dem Daumen. »Er lebt!« sagte ich. Dann nahm ich Ronald Cooper das Messer ab. Er zitterte wie Espenlaub. Der Schavall schwebte tiefer. Jetzt glühte er nicht mehr so intensiv. Es sah so aus, als dringe sein Leuchten in die Mumie ein, um sie zu erfüllen und sie von dem Bösen zu heilen. Die Wunde schloß sich wie von Geisterhand. Mit dem Messer entfernte ich immer mehr der Bandagen.
May Harris schaute mir in atemloser Spannung zu. Sie hatte zwar keine Erklärungen bekommen, begriff aber auch so.
Ich konzentrierte mich vor allem auf den Kopf. Eine schwarze Haarsträhne wurde sichtbar. Noch war das Gesicht bedeckt. In fiebernder Hast arbeitete ich weiter. Ich konnte es kaum erwarten.
Die Spannung sprang auf Ronald Cooper über. Er vergaß seine reichlich angeknacksten Nerven und das Furchtbare, das er erlebt hatte, und starrte auf meine Hand, die das Messer führte. Bei aller Hast mußte ich vorsichtig sein, um den Mann nicht zu verletzen. Nein, jetzt war er keine Mumie mehr, sondern ein lebendiger Mensch. Ein unglaubliches Phänomen, das auf Lösung harrte.
Endlich war das Gesicht frei. Ich kannte es sehr gut, obwohl ich wußte, daß dies hier keineswegs Don Cooper war. Es war ein anderer, nämlich Lord Frank Burgess! Eine geheimnisvolle Macht hatte ihn umgebracht und zu einer Mumie werden lassen. Aber warum? Und wieso hatte Ronald Cooper sein Leben retten können?
Lord Frank Burgess, der Herr von Schloß Pannymoore, war ein Mann der Geheimnisse. Ich lernte ihn durch Don Cooper kennen. Beide waren Abenteurer reinsten Wassers. Sie hatten unabhängig voneinander die ganze Welt bereist. Immer wieder hatten sich ihre Wege gekreuzt, was sie zu Freunden machte. Eines Tages traf Frank ein Mädchen mit Namen Julia Cassel. Sie war eine Voodoo-Hexe auf Haiti - gegen ihren Willen. Der Papaloi, der Hohepriester des Voodoo, hatte sie sich zur Hexe erzogen. Er hatte ihre magischen Kräfte geweckt, um sie als sein Werkzeug zu benutzen, denn sie war im Grunde mächtiger als er selbst. Frank durchbrach unter Einsatz seines Lebens den Teufelskreis und befreite Julia Cassel. Eine Odyssee der beiden begann. Sie begleitete ihn auf seinen Reisen. Bis sie auf sein Schloß zurückkehrten, wo er sie als Lady Ann zu seiner Frau nahm. Und jetzt wurde der furchtbare Fluch wach, der auf Schloß Pannymoore schon seit Jahrhunderten lastete. Er traf jeden Familienangehörigen, der hier wohnte und eine Nichtadelige heiratete. Ein weiterer Teufelskreis. Lady Ann gebar ein Kind, von dem keiner außer dem Lord wußte, wo es sich befand und wo es augwuchs. Lady Ann starb bei der Geburt. Ihr Geist wurde Opfer des Fluches.
Die überragenden Fähigkeiten als Voodoo-Hexe erlaubten ihr eine Ausnahmestellung. Bei einem Besuch von Don Cooper wurde das deutlich. Beinahe wurde auch Don das Opfer des Fluches. Lady Anns Geist rettete ihn und verhalf ihm zur Flucht. Don wandte sich an mich. Mit meiner Hilfe gelang es ihm, den Fluch von Schloß Pannymoore zu brechen. Dabei geschah es, daß sich der Geist von Lady Ann mit ihrem lebenden Mann verband. Seitdem lebten zwei Seelen in seinem Körper. Die Kräfte der Hexe veränderten ihn im Laufe der Zeit, machten ihn zu einem Magier. Eine seiner herausragenden Fähigkeiten war die des Gestaltwandelns. Das hieß, er konnte sein Äußeres in perfekter Weise verändern, konnte in jede beliebige Rolle schlüpfen. Es kostete ihn viel Energie, weshalb er diese Fähigkeit nur selten anwandte. Außerdem war zu seiner Verwandlung gewöhnlich ein geistiger Kontakt zum Original nötig. Hatte er die Gestalt von Don Cooper angenommen, um Don vor einer Gefahr zu retten?
Noch immer wohnten zwei Seelen in seiner Brust. Mehrmals schon war das seine entscheidende Waffe im Kampf gegen das Böse gewesen. Die beiden Geister konnten sich voneinander trennen, obwohl Lady Ann an seinen Körper gebunden war. Wenn Frank im Kampf unterlag, brauchte die Lady nur abzuwarten, bis ihre Chance zum Zurückschlagen kam.
Ich war äußerst gespannt auf die Erklärungen des Lords. Vor Wochen war er mit Don Cooper abgereist. Das Fernweh hatte sie außer Landes getrieben. Nach den ersten zwei Ansichtskarten war es still um sie geworden. Wir wußten nicht, was inzwischen passiert war.
Kaum war die Verwandlung des Lords vollzogen, als der Schavall herabfiel. Er landete auf Franks Brust. Ich nahm das Amulett auf und hängte es an die Halskette. Jetzt wirkte es wie jedes normale Schmuckstück.