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Eine Frau wird in ihrer Wohnung in Reykjavík ermordet aufgefunden. Auf dem Schreibtisch liegt ein Zettel mit Kommissar Konráðs Telefonnummer. Die Frau hatte offenbar kurz vor ihrem Tod noch angerufen und ihn angefleht, nach ihrem Kind zu suchen, das sie vor Jahrzehnten zur Adoption freigegeben hat. Konráð hatte abgelehnt. Dies bereut er nun zutiefst und will ihrer verzweifelten Bitte wenigstens postum nachkommen. Er macht sich auf die Suche nach dem Kind - nichtsahnend, welch einem tragischen Schicksal er damit auf die Spur kommt ...
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Seitenzahl: 434
Eine Frau wird in ihrer Wohnung in Reykjavík ermordet aufgefunden. Auf dem Schreibtisch liegt ein Zettel mit Kommissar Konráðs Telefonnummer. Die Frau hatte offenbar kurz vor ihrem Tod noch angerufen und ihn angefleht, nach ihrem Kind zu suchen, das sie vor Jahrzehnten zur Adoption freigegeben hat. Konráð hatte abgelehnt. Dies bereut er nun zutiefst und will ihrer verzweifelten Bitte wenigstens postum nachkommen. Er macht sich auf die Suche nach dem Kind – nichtsahnend, welch einem tragischen Schicksal er damit auf die Spur kommt …
Arnaldur Indriðason, 1961 geboren, graduierte 1996 in Geschichte an der University of Iceland und war Journalist sowie Filmkritiker bei Islands größter Tageszeitung Morgunbladid.
Heute lebt er als freier Autor mit seiner Familie in Reykjavik und veröffentlicht mit sensationellem Erfolg seine Romane. Arnaldur Indriðasons Vater war ebenfalls Schriftsteller.
1995 begann er mit Erlendurs erstem Fall, weil er herausfinden wollte, ob er überhaupt ein Buch schreiben könnte. Seine Krimis belegen allesamt seit Jahren die oberen Ränge der Bestsellerlisten. Seine Kriminalromane »Nordermoor« und »Todeshauch« wurden mit dem »Nordic Crime Novel’s Award« ausgezeichnet, darüber hinaus erhielt der meistverkaufte isländische Autor für »Todeshauch« 2005 den begehrten »Golden Dagger Award« sowie für »Engelsstimme« den »Martin-Beck-Award«, für den besten ausländischen Kriminalroman in Schweden.
Arnaldur Indriðason ist heute der erfolgreichste Krimiautor Islands. Seine Romane werden in einer Vielzahl von Sprachen übersetzt. Mit ihm hat Island somit einen prominenten Platz auf der europäischen Krimilandkarte eingenommen.
Arnaldur Indriðason
Tiefe Schluchten
Island Krimi
Übersetzung aus dem Isländischenvon Kristof Magnusson
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Diese Übersetzung wurde gefördert vom
Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen.
Titel der isländischen Originalausgabe:
»Tregasteinn«
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2019 by Arnaldur Indriðason
Published by arrangement with Forlagið, www.forlagid.is
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Anja Lademacher, Bonn
Umschlaggestaltung: Jeannine Schmelzer
Einband-/Umschlagmotiv: © Cassidy Storytelling/istockphoto
Karten: Reinhard Borner
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7517-1037-4
www.luebbe.de
www.lesejury.de
Diese Geschichte ist fiktiv. Namen, Personen und Ereignisse sind frei erfunden.
Und da stand die junge Frau am Wohnzimmerfenster und blickte hinaus in die abendliche Dunkelheit. Sie rauchte eine Zigarette und blies genüsslich den Rauch aus, ihre Silhouette war deutlich zu erkennen in dem matten Licht, das aus der Wohnung schien. Sie hatte schulterlanges Haar und trug ein eng geschnittenes Kleid, das ihren schlanken Körper betonte, sie nahm einen Schluck aus einem Glas, das sie auf der Fensterbank abgestellt hatte. Vielleicht war sie gerade von einer Feier nach Hause gekommen. Sie war eine elegante Erscheinung, mit ihrer Zigarette, dort an dem Fenster. Da erschien hinter ihr ein Mann, der ungefähr in demselben Alter war, er ging zu ihr, trank aus seinem Glas und legte die Arme um sie. Sie küssten sich.
Die meisten Leute sahen sich zu dieser Zeit die Quizshow im Fernsehen an. Im Untergeschoss des Nachbarhauses saß ein Paar mittleren Alters im Fernsehzimmer auf dem Sofa. Der Mann war glatzköpfig und trug eine Brille, ein Hemd und eine Krawatte, deren Knoten er gelöst hatte. Die Frau trug die Haare zu einem Zopf gebunden, hatte sich an ihn geschmiegt und gähnte. Dann stand sie auf, ging in die Küche, werkelte etwas an der Spüle herum und stellte Geschirr in den Schrank. Plötzlich blickten sie beide in derselben Sekunde auf.
Im Obergeschoss spielten Kinder im Wohnzimmer, zwei Jungen und ein Mädchen. Sie hatten eine riesige Menge an Legosteinen auf dem Boden verteilt und bauten etwas daraus, dann hielten sie mitten im Spiel inne und blickten in Richtung der geschlossenen Tür, hinter der die Küche ihrer Wohnung lag.
Hinter dieser Tür waren ihre Eltern und stritten. Die Frau sagte etwas, woraufhin der Mann sie anschrie und auf den Küchentisch schlug, bevor er sich ihr drohend näherte, als wollte er sie schlagen.
Vorn, im Wohnzimmer, stand der ältere der beiden Jungen von den Legosteinen auf und führte seine Geschwister in den Wohnungsflur.
In der Küche wurde weiter gestritten, dann schlug der Mann zu.
Im Erdgeschoss schenkte der Mann der Quizshow keine Beachtung mehr, er stand auf und sah in Richtung Zimmerdecke, so nah schien der Streit in der Küche im Obergeschoss zu sein. Seine Frau ließ an der Spüle alles stehen und liegen und kam zurück ins Wohnzimmer. Sie sprachen miteinander, die Frau wollte offenbar, dass der Mann hinauf zu den Nachbarn ging und sie beruhigte. Es sah so aus, als führten sie dieses Gespräch nicht zum ersten Mal.
Der Mann in der Küche schrie in einem fort und schlug seine Frau abermals, dieses Mal ging sie zu Boden.
Im Nachbarhaus küssten die fein gemachten Leute sich immer leidenschaftlicher. Die Frau zog dem Mann das Sakko aus. Er zögerte einen Moment und sah auf die Uhr, als hätten sie nicht viel Zeit, als wären sie spät dran und müssten sich beeilen. Die Frau ließ sich nicht beirren und hatte ihm das Hemd bereits halb aufgeknöpft. Im nächsten Moment fiel ihr Kleid zu Boden, sie gab dem Mann einen Schubs, sodass er ausgestreckt auf das Sofa fiel. Der Mann lag dort, die Hose in den Kniekehlen und sah der Frau dabei zu, wie sie ihren BH öffnete, dann hielt sie plötzlich mitten in der Bewegung inne, ging zum Fenster und zog den Vorhang zu. Wenig später erlosch im Zimmer das Licht.
Der Mann in der Küche stand drohend über der Frau und brüllte. Die Kinder waren nirgendwo zu sehen. Dann erstarrte er für einen Moment und lauschte. Etwas hatte ihn gestört. Die Frau lag noch immer auf dem Boden, doch nun half er ihr auf, strich ihr das zerzauste Haar glatt und gab ihr mit Gesten zu verstehen, sie solle in der Küche bleiben und still sein. Die Frau trug eine weiße Bluse und einen grauen Rock. Sie strich den Rock glatt, der Mann öffnete die Küchentür und ging hinaus. Er warf einen schnellen Blick ins Wohnzimmer und sah, dass die Kinder nicht mehr dort waren, nur die zurückgelassenen Legosteine auf dem Boden. Dann wandte er sich zur Wohnungstür und öffnete sie, während seine Frau verschüchtert und bewegungslos in der Küche zurückblieb.
Im Erdgeschoss stand die Frau im Rahmen ihrer Wohnungstür und hörte zu, was oben vor sich ging. Sie schien sich große Sorgen zu machen. Ihr Mann war jetzt bei den Nachbarn von oben. Die Frau dort versteckte sich weiterhin in der Küche und wusste nicht, was sie tun sollte. Hilfe war nah. Vielleicht war all das schon einmal genau so passiert.
Die Männer sprachen an der Wohnungstür. Schließlich ging die Frau langsam zur Küchentür, öffnete sie und kam hinzu. Die Männer sahen sie an. Der ältere der beiden Jungen erschien im Flur und warf einen Blick auf die Erwachsenen im Eingangsbereich, seine Geschwister standen hinter ihm. Der Mann von unten sagte etwas zu der Frau, doch die schüttelte den Kopf, als würde er sich unnötige Sorgen machen. Ihr Mann schien der Meinung zu sein, dass man sie nun genug gestört hätte, und wollte die Wohnungstür schließen, doch sein Nachbar von unten ließ sich nicht abwimmeln. Die Männer stritten, die Frau und die Kinder sahen zu.
Die dicken Vorhänge, die das Liebespaar verbargen, bewegten sich nicht.
Der Mann verlor die Geduld. Er schubste seinen Nachbarn, wollte ihn aus der Tür drängen. Die Frau stand schweigend dabei und unternahm nichts. Die Kinder kamen zu ihr und nahmen ihre Mutter in den Arm. Die Frau von unten stand noch immer in ihrer Wohnungstür und hörte, was oben vor sich ging. Schließlich hatte der Mann seinen Nachbarn zurückgedrängt und knallte ihm die Tür vor der Nase zu. Er wandte sich seiner Frau zu, die da umringt von ihren Kindern stand, starrte seine Frau an, die Kinder, dann wieder sie, dann verschwand er im Wohnungsflur.
In einem Wohnblock auf der anderen Straßenseite saß eine spärlich bekleidete Frau am Esstisch und hatte das Gesicht in ihren Händen vergraben. Es ging ihr ganz offenbar nicht gut. In regelmäßigen Abständen warf sie einen Blick in die Wohnung und schien mit jemandem zu sprechen, bald darauf erschien ein Mann und küsste sie auf den Mund. Er trug eine dunkle Hose und einen Pullover und zog nun seine Jacke an. Die Frau brachte ihn zur Tür, der Mann ging rasch auf den Hausflur hinaus. Als ob sie nicht wollten, dass ihn jemand bemerkte. Die Frau blieb allein zurück und setzte sich wieder an den Tisch, fand aber keine Ruhe, stand wieder auf und sah auf die Uhr, sah auf ihr Handy, legte es wieder fort.
Im Stockwerk über ihr saß eine alte Frau vor dem Fernseher, nur das Flackern des Bildschirms erleuchtete ihr Gesicht. Sie sah zur Tür, erhob sich und ging zögerlich nach vorn.
Sie öffnete die Tür, und ehe sie sich’s versah, ging ein Mann auf sie los und warf sie zu Boden. Sein Gesicht war in der Dunkelheit kaum zu erkennen.
Wenig später hatte das Schattenwesen eine Plastiktüte in der Hand und durchsuchte hastig die Wohnung. Blitzschnell lief er von einem Zimmer ins nächste, zog Schubladen auf, riss Dinge aus den Schränken, bevor er wieder auf den Hausflur hinauslief und darauf achtete, die Wohnungstür hinter sich zu schließen.
Der Vorhang, der das Liebespaar in dem Wohnzimmer verborgen hatte, war wieder aufgezogen. Die junge Frau stand nackt im Dunkeln, blickte aus dem Fenster und rauchte, und der weiche Schein der Glut traf auf ihr friedliches Gesicht.
Marta parkte vor dem Hauseingang und griff nach ihrer E-Zigarette. Sie befand sich in einem der Stadtviertel, das sowohl mit Wohnblocks als auch mit Reihenhäusern und Doppelhäusern bebaut war, hier und da gab es sogar ein paar frei stehende Häuser für die etwas Bessergestellten. Das Stadtviertel war in den frühen Siebzigerjahren gebaut worden und hatte schon bessere Tage gesehen. Die Polizei wurde immer mal wieder wegen Ruhestörung oder Trunkenheit hierhergerufen, und die Graffitisprayer wurden immer dreister. Auch Einbrüche und Diebstähle verzeichnete die Polizei gelegentlich in ihren Berichten, doch ein Verbrechen von dieser Tragweite hatte es hier noch nie gegeben. Die Leute waren erstaunt und schockiert zugleich, als sich herumsprach, aus welchem Grund vor einem der Wohnblocks die Polizeiwagen mit den heulenden Sirenen vorfuhren, dazu ein Krankenwagen und schließlich sogar der Kleinbus der Kriminaltechnik. Immer mehr uniformierte Beamte gingen hinauf in den ersten Stock, in eine Wohnung, die wieder und wieder von Kamerablitzen erleuchtet wurde.
Die Frau lag im Eingangsbereich ihrer Wohnung, so nah an der Tür, dass man kaum hineinkam, ohne über sie steigen zu müssen. Sie musste um die siebzig sein, trug eine Strickjacke, darunter eine Bluse, eine braune Hose und um den Hals eine Brille an einer dünnen Kette. Ihr Haar war fast vollständig ergraut. Ihrem Gesicht war anzusehen, wie brutal der Angriff gewesen sein musste. Ihre Augen waren weit geöffnet, und auch der Mund war aufgerissen, als hätte sie mit aller Kraft versucht, irgendwie an Sauerstoff zu kommen.
Die Wohnung war vollkommen verwüstet. Die Habseligkeiten der Frau lagen auf dem Boden und waren teilweise zu Bruch gegangen, die Schubladen standen offen, Bücher waren überall verteilt, einige Möbel umgeworfen. Die Gemälde an den Wänden hingen schief. Aber keines von ihnen schien zu fehlen.
Marta stand im Eingangsbereich der Wohnung und zog an ihrer E-Zigarette. Sie hatte aufgehört, die dünnen Mentholzigaretten zu rauchen, und dampfte jetzt, schließlich war das fast schon gesund, zumindest wenn man den Werbebotschaften der Hersteller von E-Zigaretten glaubte. Am liebsten mochte sie Vanille, auch wenn ihr der Geschmack eigentlich relativ egal war, solange das Nikotin großzügig genug dosiert war. Dann spürte sie eigentlich eine ganz gute Wirkung, zumindest wenn sie schnell rauchte und viel Dampf auf einmal einsog, weswegen Marta jetzt öfter von Dampfwolken eingehüllt war, als wäre sie ein Erdwärme-Kraftwerk.
»Muss das sein mit dieser Dampferei?«, fragte der Kriminaltechniker. Er versuchte nicht, seine Genervtheit zu verbergen.
»Jetzt entspann dich mal«, sagte sie und wandte sich dem Amtsarzt zu, der gekommen war, um den Tod der Frau festzustellen.
»Kannst du schon was zur Todesursache sagen?«, fragte Marta.
»Ist doch ziemlich offensichtlich, oder? Sie hat keine Luft mehr bekommen«, sagte der Arzt. »Erstickt. Und es ist noch nicht lange her, eine halbe Stunde oder so. Wieso seid ihr eigentlich so schnell hier?«
»Wurde sie erwürgt?«
»Nein. Ich glaube eher, jemand hat ihr etwas über den Kopf gezogen, eine Plastiktüte vielleicht. Und die wurde dann hier zusammengezogen«, fügte er hinzu und zeigte auf einen schwachen Abdruck am Hals. »Sie hat sich gewehrt. Ihre Fingernägel sind abgebrochen. Genaueres kann man erst nach der Obduktion sagen.«
»Wer hat uns eigentlich gerufen?«, fragte Marta.
»Hat seinen Namen nicht genannt«, sagte ein Polizist, der im Hausflur stand und als Erster vor Ort gewesen war. »Der hat nur was von einem Überfall gesagt, dass hier eine Frau in ihrer Wohnung liegt und vielleicht verletzt ist.«
»Können wir den Anruf zurückverfolgen?«
»Die meinten, das wird schwierig.«
»Dann war das wohl der Täter, oder?«, sagte Marta wie zu sich selbst. »Hat vielleicht ein schlechtes Gewissen bekommen, weil er zu weit gegangen ist?«
Da diese Fragen an niemanden gerichtet waren, antwortete auch keiner. Die Frau war erst vor kurzer Zeit überfallen worden, und es gab keinen Zeugen außer dem Täter selbst. Oder den Tätern. Vielleicht waren es mehr als einer, und sie hatten beschlossen, die Polizei zu rufen. Die Frau hatte arglos die Tür geöffnet, dann war ohne Vorwarnung jemand auf sie losgegangen und hatte sie zu Boden geworfen. Oder sie hatte noch versucht zu fliehen und war nicht weiter als ein paar Schritte gekommen. Wenn das der Fall war, hatte sie den Täter vielleicht hereingelassen. Ihn vielleicht gekannt.
Marta trat mit ihrer E-Zigarette hinaus in den Hausflur und sah sich im Treppenhaus um, warf einen Blick nach oben, nach unten. Dann ging sie die Treppen hinunter ins Erdgeschoss, an der Haustür vorbei und weiter in Richtung Keller. Sie betrat den dunklen Kellerflur und machte Licht. Kellerverschläge säumten beide Seiten des Flures, und an dessen Ende lag eine geräumige Waschküche mit einem Fenster, das sich ungefähr auf Brusthöhe befand und auf einen großen Hinterhof hinausführte. Das Fenster war gekippt, Fußabdrücke und Schmutz auf der Fensterbank zeigten eindeutig, dass dort vor nicht allzu langer Zeit jemand eingestiegen war.
»Bist du hier reingekrochen, Mistkerl?«, murmelte Marta, während sie die Spuren betrachtete. Der Täter war offenbar nicht in Eile gewesen. Er hatte sogar das Fenster wieder in die Kippstellung zurückgebracht, als würde das reichen, um seine Spuren zu verwischen. Marta versuchte draußen vor dem Fenster eine Spur im Gras auszumachen, doch es war zu dunkel.
Sie ging in den ersten Stock zurück und sagte den Kriminaltechnikern Bescheid, die inzwischen ihre dünnen weißen Ganzkörperanzüge angezogen hatten. Einer von ihnen ging mit seiner Ausrüstung nach unten. Wenig später erlaubten sie Marta, die Wohnung zu betreten, unter der Bedingung, nichts anzufassen. Die Nachbarn waren gebeten worden, in ihren Wohnungen zu bleiben, doch draußen vor dem Wohnblock sammelten sich langsam die Schaulustigen. Die Leiche der Frau wurde die Treppe hinuntergetragen und zur Obduktion in die Uniklinik gebracht. An der Türklingel stand der Name Valborg.
Marta betrachtete das Bild der Zerstörung, das sich ihr bot. Sie hatte im Laufe der Jahre mehr von Einbrechern verwüstete Wohnungen und Häuser betreten, als ihr lieb war, und auf den ersten Blick schien hier nichts anders zu sein als sonst. Alles war auf der Suche nach etwas Wertvollem durchwühlt worden. Ohne Rücksicht auf Verluste. Marta überlegte, ob der Täter etwas Bestimmtes gesucht haben könnte. Im Schlafzimmer lag eine kleine, leere Schmuckschatulle auf dem Boden, der Inhalt einer Umhängetasche war ausgekippt worden, Marta sah eine Brieftasche, ohne Bankkarten, ohne Geld.
Im Badezimmer hatte der Täter den Medizinschrank auf dieselbe rücksichtslose Weise ausgeräumt. Eine leere Medikamentenpackung war in die Badewanne gefallen, andere Dinge lagen in der Kloschüssel, ein Nagelknipser, eine Seifenschale. Ein weit verbreitetes Cholesterin-Medikament schwamm auf der Wasseroberfläche. Die Frau hatte also einen erhöhten Cholesterinwert. Marta beugte sich über die Badewanne und betrachtete eine Medikamentenpackung, die dort lag – wenn Marta nicht alles täuschte, hatte die Frau noch ein sehr viel ernsteres gesundheitliches Problem.
Marta sah keinen Desktop-Computer und fand weder Laptop noch Tablet. Nicht einmal ein Handy. Auf Facebook oder Twitter würde sie also wahrscheinlich nicht viel über diese Frau erfahren. Ein altmodisches Festnetztelefon, das wohl auf einem Tisch im Eingangsbereich gestanden hatte, lag auf dem Boden. Marta wusste, dass es noch immer ältere Leute gab, die das Internet für Teufelszeug hielten und keine Computertechnik im Haus duldeten, doch Valborg erschien ihr eigentlich ein paar Jahre zu jung für jemanden, an der die technische Revolution der letzten Jahrzehnte völlig vorbeigegangen war.
In einer Ecke des Wohnzimmers stand ein Schreibtisch. Zeitungen und Papiere lagen wild darum verstreut, Rezepte für Medikamente, Rechnungen von Fachärzten, vermischt mit allen möglichen Zetteln, Erinnerungsnotizen, Einkaufslisten. Marta hob einige von ihnen auf und sah sie an, bis sie einen Zettel mit einer Telefonnummer fand, die ihr nur allzu vertraut war. Auf dem Zettel stand nur die Nummer, kein Name. Marta starrte die Nummer eine Weile an und überlegte, was es wohl für eine Verbindung zwischen ihr und der Verstorbenen gab. Dann beschloss sie, es sofort herauszufinden. Sie nahm ihr Handy, wählte die Nummer und hörte wenig später am anderen Ende eine altbekannte Stimme.
»Hier ist Konráð?«
»Störe ich?«
»Kommt drauf an, worum es geht.«
»Kennst du eine gewisse Valborg?«
»Nein.«
»Sie scheint dich aber zu kennen«, sagte Marta.
»Wirklich? Valborg? Sagt mir nichts.«
Es folgte ein kurzes Schweigen.
»Oder doch, warte mal, ist die schon ein bisschen älter?«, fragte Konráð.
»Ich habe deine Nummer auf ihrem Schreibtisch gefunden. Sie ist tot.«
»Tot?«
»Ja.«
»Bist du bei ihr? Ist ihr etwas zugestoßen? Oder was machst du da?«
»Bei ihr wurde eingebrochen, und sie wurde erstickt«, sagte Marta, »wahrscheinlich mit einer Plastiktüte.«
»Das ist ja furchtbar.«
»Woher kanntest du sie denn?«
»Eigentlich kenne ich sie gar nicht wirklich«, sagte Konráð, und Marta spürte selbst durch das Telefon, wie schockiert er war. »Wenn das die Frau ist, an die ich denke …, sie wollte mich treffen, weil sie wusste, dass ich bei der Polizei gearbeitet habe. Vor zwei Monaten oder so … hast du Plastiktüte gesagt?«
»Was wollte sie denn von dir?«
»Ist sie wirklich tot?«, stammelte Konráð. »Ich habe mich nicht sofort an den Namen erinnert, aber was sie wollte, das weiß ich noch ganz genau, das war nämlich ziemlich speziell. Sie hat mich kontaktiert, um zu fragen, ob ich ihr Kind finden kann.«
Sie hatten sich im Museum Ásmundur Sveinsson getroffen.
Konráð erinnerte sich noch gut daran, wie sehr er gezögert hatte, als sie ihn anrief und um Hilfe bat. Er sagte ihr, er sei in Rente und nehme auch keine privaten Aufträge an, doch sie ließ sich nicht abwimmeln. Eine Woche später rief sie erneut an und fragte, ob er seine Meinung geändert habe. Konráð irritierte diese Hartnäckigkeit ein wenig, aber er wollte nicht unhöflich sein. Und der Schmerz in der Stimme der Frau ließ ihn vermuten, dass es ihr nicht leichtgefallen war, mit ihm Kontakt aufzunehmen.
»Du hast doch in dem Fall mit der Leiche ermittelt, die sie am Langjökull im Eis gefunden haben, oder?«, fragte sie ganz entmutigt, nachdem sie eine Weile gesprochen hatten und er bereits zum zweiten Mal versuchte, das Gespräch zu beenden. Das konnte er nicht bestreiten. Es war einer seiner schwierigsten Fälle gewesen. Die Medien hatten viel darüber berichtet, dreißig Jahre hatte es gedauert herauszufinden, was wirklich passiert war. Konráð war im Laufe der Zeit deswegen oft in unangenehme Situationen geraten, jeder schien dazu etwas zu sagen zu haben, die Leute behelligten ihn mit den wildesten Verschwörungstheorien über verschollene Menschen, mysteriöse Todesfälle und die Machenschaften der isländischen Unterwelt.
Wenig später verabschiedeten sich Konráð und die Frau. Für ihn schien die Sache damit erledigt, doch sie rief zwei Monate später abermals an.
»Ich weiß nicht, ob du dich erinnerst«, sagte sie. »Ich habe dich vor einiger Zeit angerufen und dich um Hilfe gebeten.«
Da fiel ihm ihr letztes Telefonat wieder ein. Er erinnerte sich an den Schmerz in ihrer Stimme, und ihm war unwohl bei dem Gedanken, die Frau zum dritten Mal abzuwimmeln. Er hatte ja noch nicht einmal richtig über die Sache nachgedacht. Bei dem letzten Gespräch hatte sie gar nicht die Gelegenheit gehabt, näher zu erläutern, worum es ging. Sie hatte nur gefragt, ob er ihr in einer Angelegenheit helfen könne, die sie schon lange belaste und sehr persönlich sei. Er war nicht darauf eingegangen, um gar nicht erst den Anlass für weitere Gespräche zu liefern. Doch nun musste er sich eingestehen, dass er neugierig geworden war.
»Was belastet dich denn so? Was soll ich für dich tun?«, fragte er in eine unangenehme Gesprächspause hinein.
»Das möchte ich ungern am Telefon besprechen«, sagte sie. Offenbar hatte sie gespürt, dass er jetzt etwas wohlwollender reagierte. »Es würde mich freuen, wenn wir uns treffen könnten. Vielleicht in der Innenstadt, in einem Café? Oder wo auch immer du magst. Und entschuldige, dass ich so hartnäckig bin, ich will dir wirklich nicht auf die Nerven gehen. Aber ich weiß einfach nicht, an wen ich mich sonst wenden soll.«
Dann erwähnte sie, dass sie früher in der Nähe des nach dem Bildhauer Ásmundur Sveinsson benannten Museums gearbeitet habe und manchmal nach Feierabend dorthin gegangen sei, um den Tag in Ruhe ausklingen zu lassen. Sie verabredeten sich für einen der nächsten Nachmittage. Als Konráð ankam, war kaum jemand dort. Ein ganzer Reisebus voller Touristen war gerade abgefahren, und er war sich sicher, dass bald weitere kommen würden. Reykjavík war damals vom Massentourismus überschwemmt worden, die Reiseunternehmen suchten verzweifelt nach Orten, wo sie die ganzen Leute hinbringen konnten, und da eignete sich das Museum Ásmundur Sveinsson gut, schließlich war es nicht weit von der Innenstadt entfernt und hatte einen sehr interessanten Skulpturengarten.
Auch das Gebäude selbst suchte in Reykjavík seinesgleichen. Es war auf originelle Weise zeitlos und außergewöhnlich zugleich, strenge Formen trafen auf weiche Linien, und über allem erhob sich ein Kuppeldach, das an eine Sternwarte erinnerte. Als wäre dort ein Schiff aus einem Paralleluniversum gestrandet.
In einem der Ausstellungssäle saß Valborg auf einer Bank und betrachtete eine Skulptur. Sie zeigte eine Mutter, die ihr Kind auf dem Schoß hielt und es voller Liebe ansah. Die Skulptur hieß Mutterliebe. Als Konráð den Saal betrat, gab Valborg ihm ein zögerliches Zeichen, sie begrüßten sich, und sie bot ihm den Platz an ihrer Seite an.
»Unglaublich, dass man einen ganz normalen Stein in so schöne Kunst verwandeln kann …«, sagte sie, während sie weiterhin die Skulptur betrachtete.
Konráð hatte vor einiger Zeit zufällig in ein Interview mit dem Künstler hineingeschaltet, das im Fernsehen lief. Da waren ihm besonders die kräftigen Finger des Bildhauers aufgefallen, seine rissigen, unreinen Fingernägel und die verheilten Wunden, die Hammer und Meißel hinterlassen hatten. Hart arbeitende Hände, die Stein sprengten und ihn verwandelten in Geschichten und Poesie.
»Er hat so schöne Skulpturen von Frauen gemacht«, sagte Valborg. »Insbesondere von Müttern. Diese starken Frauen, die ihre Kinder so liebevoll im Arm halten, sie beschützen und nähren. Die Liebe zwischen Mutter und Kind, gehauen in Stein.«
»Denkst du viel über so etwas nach?«, fragte Konráð nach einem Moment des Schweigens und sah Valborg an. Sie hatte weiche Gesichtszüge und dunkle, geschwungene Augenbrauen, die hohe Stirn ließ sie nachdenklich wirken.
»Je älter ich werde, desto mehr«, sagte sie. »Ich wollte es nicht einmal halten. Ich habe es nie gesehen.«
»Was hast du nie gesehen?«
Die Frau wandte den Blick nicht von der Skulptur ab.
»Ich bin von einem Spezialisten zum nächsten gerannt. Alle sagen mir, dass ich nicht mehr lange habe. Sie können es mit Medikamenten noch hinauszögern, mir etwas gegen die Schmerzen geben, doch eine Heilung gibt es nicht, damit muss ich mich abfinden. Das habe ich auch versucht. Aber es ist schwer. Ich muss in der letzten Zeit immer wieder an eine bestimmte Sache denken und … ich weiß gar nicht, wie ich das sagen soll. Ich habe mal ein Kind bekommen, das mir direkt nach der Entbindung weggenommen wurde. Oder vielmehr … es wurde mir nicht genommen, ich habe es fortgegeben. Ich hatte dem schon vor der Geburt zugestimmt, da erschien es mir am vernünftigsten, wenn ich das Kind gar nicht erst sehen oder im Arm halten würde, damit gar nicht erst eine Bindung entsteht. Und doch habe ich nie aufgehört, an mein Kind zu denken. Auch wenn ich erst jetzt einen ernsthaften Versuch mache, herauszufinden, was aus ihm geworden ist. Das ist siebenundvierzig Jahre her und … ich weiß nichts, ich weiß nicht einmal, ob es ein Junge war oder ein Mädchen. Ich habe mich damit abgefunden, es war ja schließlich meine Entscheidung, ich hätte das Kind nicht behalten können, das war klar, aber jetzt möchte ich wissen, wie es ihm ergangen ist, und ihm vielleicht sagen … ihm sagen, was passiert ist und warum und schauen, ob es ihm gut geht, damit ich mir keine Sorgen machen muss. Damit ich weiß, dass das die richtige Entscheidung war. Dass ich das richtig gemacht habe, trotz allem.«
»Siebenundvierzig Jahre sind eine lange Zeit.«
»Und ich sage immer noch ›das Kind‹.« Valborg sprach so leise, dass Konráð auffiel, wie müde und erschöpft sie war. Er dachte an die Schmerzmittel, die sie eben erwähnt hatte. »Es wird bald fünfzig, und ich sage immer noch ›das Kind‹. Ich kenne es ja auch nicht anders, ach, was sage ich, ich kenne es ja überhaupt nicht!«
»Was hast du bisher unternommen, um es zu finden?«, fragte Konráð.
»Ich habe damals auf dem Land gewohnt, auf der anderen Seite der Berge. Oder genauer gesagt, ich bin extra dorthin gezogen, um das Kind dort bei jemandem zu Hause zur Welt zu bringen. Das ging alles sehr gut, eine Hebamme war dabei, die sich gut um mich gekümmert und meine Situation verstanden hat. Die hat mich, ehrlich gesagt, auch dazu gebracht, es so zu machen, anstatt das Kind abzutreiben. Sie hatte das Kind im Arm, als ich es zum ersten und einzigen Mal sah. Die Hebamme lebt nicht mehr, das habe ich herausgefunden. Und über das Kind kann ich nichts finden, was mich nicht überrascht, wenn man bedenkt, wie wir das damals gemacht haben. Den Geburtstag und das Jahr weiß ich natürlich, doch das hat mir nicht geholfen. Vielleicht haben die das Geburtsdatum auch einfach geändert. Ich bin zur Polizei gegangen, aber es ist ja niemandem Gewalt angetan worden. Alles geschah mit meiner Zustimmung. Die Polizei hat ja auch Wichtigeres zu tun, die haben mir den Tipp gegeben, ich soll eine Zeitungsannonce aufgeben, mich an das Fernsehen wenden. Aber das kann ich nicht. Das würde ich nie tun.«
»Warum hast du dein Kind weggegeben?«
Konráð bereute sofort den harschen Ton, in dem er die Frage gestellt hatte.
»Kannst du mir nun helfen oder nicht?«, fragte Valborg, ohne ihm zu antworten.
»Ich wüsste nicht, wie«, sagte Konráð, der sich weiterhin nicht recht in die Sache einmischen wollte. »Du hast ja offenbar alles versucht. Vielleicht solltest du die Sache auf sich beruhen lassen? Wenn es keine offiziellen Aufzeichnungen gibt und die Menschen, die dir helfen könnten, nicht mehr leben, sollte man vielleicht gar nicht mehr daran rühren. Und selbst wenn du nach all der Zeit noch etwas herausfindest, weißt du nicht, was das dann für dich bedeutet. Vielleicht bist du erleichtert, weil alles gut ausgegangen ist. Oder es geht dir danach noch schlechter als jetzt.«
»Ich weiß. Aber dieses Risiko gehe ich ein«, sagte Valborg und sah ihm fest in die Augen, um ihm zu zeigen, dass sie all das bereits bedacht hatte. »Ich würde alles tun, um herauszufinden, was aus meinem Kind geworden ist. Ich bezahle dich natürlich. Ich habe etwas gespart.«
»Es geht mir nicht um das Geld«, sagte Konráð.
»Diesen Fall, mit der Leiche auf dem Langjökull, den hast du doch letztendlich auch gelöst, obwohl das alles so lange her war. Du hast niemals aufgegeben.«
»Oh, ich habe oft aufgegeben«, sagte Konráð. »Und viele Fehler gemacht. Ich bin auf diesen Fall alles andere als stolz.«
»Aber in den Zeitungen stand …«
»In den Zeitungen steht eben nicht immer die Wahrheit. Warum hast du das Kind weggegeben? War das wirklich deine eigene Entscheidung?«
Valborg betrachtete lange die Skulptur von der Mutter und dem Kind.
»Du wirst mir nicht helfen, oder?«, sagte sie. Es klang nicht so, als wollte sie weiter darauf bestehen, doch die Enttäuschung war ihr anzumerken.
»Ich weiß einfach nicht, was ich für dich tun könnte. Tut mir leid. Ich mache solche Dinge generell nicht.«
»Du denkst, ich soll die Sache auf sich beruhen lassen?«
»Ich bin natürlich nicht in der Position, dir da Ratschläge zu geben.«
»Nein, das bist du wohl nicht.«
Sie saßen eine Weile schweigend da und betrachteten die Kunstwerke, während das nachlassende Licht des Tages durch die geneigten Fenster auf sie fiel.
»Kennst du die Geschichte vom Tregasteinn? Dem Stein der Reue?«, fragte Valborg.
»Nein«, sagte Konráð.
»Der liegt in einem Gebirge in Westisland«, sagte Valborg. »Daran denke ich manchmal, wenn ich diese schöne Skulptur betrachte.«
Sie bemerkte, dass Konráð auf seine Armbanduhr sah, und verstummte.
»Ich will dich nicht länger aufhalten«, sagte sie und stand auf.
»Ich hoffe, ich habe dich jetzt nicht verärgert«, sagte Konráð.
»Du hast mich nicht verärgert«, erwiderte Valborg. »Danke, dass du dich mit mir getroffen hast.«
»Willst du mir wirklich nicht sagen, was damals passiert ist?«
»Da du mir eh nicht helfen kannst, wüsste ich nicht, warum.«
»Ich weiß nicht einmal, wo ich anfangen sollte.«
»Keine Sorge, ich verstehe das. Ich wollte diesen Weg bis zum Ende gehen, aber nun sehe ich, er ist mir versperrt. Vielen Dank noch mal, dass du dich mit mir getroffen hast. Und bitte entschuldige, dass ich dich behelligt habe. Du wirst nichts mehr von mir hören.«
Konráð sah vor sich, wie die Frau damals das Museum verlassen hatte, einsam und ratlos, niedergedrückt von der Last der Vergangenheit. Sie hielt ihr Wort. Konráð hörte nie wieder von ihr. Doch nun, wo Marta ihm die unglaubliche Nachricht überbracht hatte, dass die Frau in ihrer Wohnung ermordet worden war, fragte er sich, ob er sie im Stich gelassen hatte. Nachdem das Telefonat beendet war, saß er verdattert da und erinnerte sich an ihre Begegnung im Museum. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, wie jemand diese freundliche Frau so brutal angreifen konnte, wie Marta es beschrieben hatte. Nichts in seinen Gesprächen mit Valborg hatte darauf hingewiesen, dass sie in Gefahr schwebte. Konráð hatte solche Aufträge einfach nicht mehr annehmen wollen, er wollte sich nicht mehr in das Privatleben anderer Leute einmischen, ganz so, als wäre er noch immer bei der Polizei. All diese fremden Tragödien mitzuverfolgen, das verlangte einem auf Dauer einiges ab. Eigentlich hatte er damit abgeschlossen.
Er nahm erneut die Dokumente zur Hand, mit denen er beschäftigt gewesen war, als Marta ihn angerufen hatte – und bald wurde ihm klar, dass Valborg und er sich gar nicht so unähnlich waren. Auch er war auf der Suche nach Antworten. Er hielt die Abschrift der Zeugenaussage einer jungen Frau in den Händen, die vor Jahrzehnten in einem fast vergessenen Kriminalfall ausgesagt hatte. Dieser Fall war bis heute ungelöst. Die Frau war im Jahr 1963 eines Abends die Skúlagata entlanggegangen und hatte einen Mann aufgefunden, der vor dem dortigen Schlachthof in seinem eigenen Blut lag. Der Mann war Konráðs Vater gewesen. Jemand hatte ihm zwei Stichwunden zugefügt, an denen er dort auf dem Bürgersteig gestorben war. Die beiden Stiche gingen so tief und waren so präzise ausgeführt, dass sie den maximalen Schaden angerichtet hatten. Die Frau, die ihn gefunden hatte, erwähnte in ihrer Zeugenaussage wieder und wieder das viele Blut, das in den Rinnstein floss.
Und diese Frau war noch am Leben. Konráð hatte sie nie kennengelernt, nie mit ihr gesprochen. Doch in letzter Zeit überlegte er immer wieder, ob er sie treffen oder die Sache auf sich beruhen lassen sollte, und genau darüber hatte er nachgedacht, als Marta ihn aus seinen Grübeleien gerissen hatte. In all den Jahren bei der Kriminalpolizei hatte er diesem Fall keine Aufmerksamkeit geschenkt, doch vergessen konnte er ihn auch nicht. In letzter Zeit hatte er immer wieder versucht, den Mut aufzubringen, sie anzurufen und sie ein paar Dinge zu fragen.
Doch etwas unternommen hatte er nie. Konráð wusste, dass er damit den größten Schritt tun würde, den er jemals unternommen hatte, um den Mörder seines Vaters zu finden.
Danach, so befürchtete er, gab es kein Zurück mehr.
Marta sah sich Fotos vom Tatort an, während sie Konráð zuhörte. Es war der Tag nach dem Fund der Leiche, Konráð hatte kein Auge zugetan, seitdem er davon gehört hatte. Sein Treffen mit Valborg ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Der Ausstellungssaal, die Skulptur und vor allem das Museum selbst, in dem sie oft nach einem langen Arbeitstag Ruhe gesucht hatte. Er machte sich schwere Vorwürfe, nichts für sie getan zu haben. In den Wochen nach ihrem Treffen hatte er gelegentlich an Valborg gedacht, und als er von ihrem gewaltsamen Tod erfahren hatte, fiel er aus allen Wolken. Eine derart erbarmungslose, brutale Tat passte so gar nicht zu dieser zurückhaltenden, höflichen Frau, die sich nach Jahren des stillen Leidens endlich ein Herz gefasst und ihn um Hilfe gebeten hatte. Wäre er doch nur sensibler gewesen und hätte besser zugehört, nachdem er gemerkt hatte, wie traurig sie war.
»Sie hatte also ein ungewolltes Kind?«, fragte Marta, die trotz Konráðs Erzählungen sehr sachlich blieb. Dann legte sie zwei Fotos vor sich auf den Tisch. Sie saßen in ihrem Büro im Kommissariat an der Hverfisgata. Konráð war gekommen, um ihr zu sagen, was er über Valborg wusste – auch wenn das nicht viel war.
»So hat sie das nicht gesagt. Sie hat mir sowieso nicht die ganze Geschichte erzählt, dazu habe ich wohl zu abweisend reagiert. Das bereue ich jetzt schrecklich. Ich hätte einfach besser zuhören sollen.
»Wenden sich oft Leute mit solchen Dingen an dich?«
»Es kommt vor.«
»Aber du bist dann nicht besonders hilfsbereit?«
»Nein.«
»Das kann ich gut verstehen«, sagte Marta, dann reichte sie ihm einige Bilder vom Tatort und fragte: »Fällt dir irgendetwas auf?«
Konráð sah anhand der Bilder, wie sehr der Einbrecher in der Wohnung gewütet hatte. Oder die Einbrecher. Er sah sich die Tapete an, die schief an den Wänden hängenden Gemälde. Es war sonderbar, plötzlich die Wohnung der Frau zu sehen.
»Ich denke mal, sie hat allein gelebt«, sagte er.
»Ja. Sie war neunundsechzig. Unverheiratet. Keine Kinder. Alleinstehend. Ihre Eltern sind lange tot, zu anderen Verwandten hatte sie offenbar nur wenig bis gar keinen Kontakt, einen nennenswerten Freundeskreis gab es auch nicht. Sie hat eine Schwester, die in einem Pflegeheim lebt, das war’s. Ich fahre gleich zu ihr. Die letzten zwanzig Jahre oder so hat Valborg als Sprechstundenhilfe im Ärztehaus Ármúli gearbeitet und ist gerade in Rente gegangen. Wir haben bereits mit einigen Mitarbeitern dort gesprochen, die sind natürlich total schockiert. Wir müssen da noch gründlicher nachfragen. Infos sammeln. Herausfinden, wer diese Frau war.«
»Jetzt weißt du immerhin schon mal, dass sie ein Kind weggegeben hat«, sagte Konráð. »Das könntest du ausfindig machen.«
»Ja. Schauen wir mal, was daraus wird.«
»Und die Nachbarn?«
»Sagen nur das Beste über sie. Hilfsbereit. Kinderfreundlich. Würde uns schon sehr wundern, wenn es jemand von denen gewesen war. Der Wohnblock hat vier Stockwerke, zwei Wohnungen pro Stockwerk. Die Leute aus zwei der Wohnungen waren eh verreist. Die anderen waren zu Hause, stehen aber nicht unter Verdacht, sind nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten und haben zumindest keinen ersichtlichen Grund, die Frau zu überfallen. Aber vielleicht müssen wir da auch noch mal genauer ran.«
»Und niemand hat irgendwas bemerkt?«
»Da lief doch diese Quizshow im Fernsehen, die alle immer schauen«, sagte Marta.
»Wisst ihr inzwischen, wer uns gerufen hat?«, fragte Konráð.
»Nein. Das war eine anonyme Nummer, ein Mann, mehr wissen wir nicht. Aber wir arbeiten daran. Ich habe heute Morgen mit Valborgs Hausarzt gesprochen, der hat gesagt, sie war unheilbar an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt, ziemlich weit fortgeschritten. Wenn der Täter sie gut genug gekannt hätte, um das zu wissen, dann …«
»… hätte er nur einige Monate warten müssen und sie wäre von allein gestorben?«, sagte Konráð. »Der Tod war bereits in ihr.«
»Genau«, sagte Marta und griff nach ihrer E-Zigarette, schaltete sie an und blies Rauchschwaden aus.
»Du meinst also, sie haben sich nicht gekannt?«
»Zumindest nicht besonders gut, würde ich sagen.«
»Ich hatte ziemlich schnell den Eindruck, dass sie nicht gern über ihr Privatleben redet«, sagte Konráð. »Vielleicht hat sie ja keinem von ihrer Krankheit erzählt.«
»Ihre Kolleginnen und Kollegen im Ärztehaus wussten zumindest kaum etwas über sie. Niemand wusste, dass sie krank war, es hat ihr auch bis zum letzten Arbeitstag niemand etwas angemerkt. Sie war wie immer. Freundlich. Professionell. Zu ihrem Abschied gab es Blumen und Kuchen.«
»Und die Wohnung sieht aus, als hätte da ein Berserker gewütet«, sagte Konráð, der sich die Bilder noch einmal angeschaut hatte.
»Das sieht alles nach einem ganz gewöhnlichen Einbruch aus, oder? Abgesehen von der Leiche der Wohnungsbesitzerin«, sagte Marta. »Wir wissen nicht genau, was gestohlen wurde, irgendwas aus ihrer Brieftasche und wahrscheinlich auch etwas aus den Schubladen.«
»Medikamente?«
»Wir haben eine Liste der Schmerzmittel, die sie genommen hat. Die sind ziemlich stark, könnte man auf dem Schwarzmarkt teuer verkaufen. So was Ähnliches wie Morphium. Die hat der Täter alle mitgehen lassen. Danach suchen Einbrecher. Wir befragen gerade diejenigen, die wir kennen. Die würden die Kloschüssel leer trinken für so was. Es ist also, wie soll ich es sagen, ein ganz normales Verbrechen in Verbindung mit einem furchtbaren Mord.«
»Und der Notruf?«
»Da stehen wir vor einem Rätsel«, sagte Marta und stieß eine Wolke Nikotindampf aus. »Es gibt keine Zeugen außer dem Einbrecher selbst. Valborg wurde direkt hinter ihrer Wohnungstür ermordet. Er muss uns selbst alarmiert haben. Warum will er, dass wir die Leiche sofort finden? Warum lässt er nicht einige Tage verstreichen und wartet, bis man sie vermisst? Warum die Eile?«
»Vielleicht wollte er nicht so weit gehen«, sagte Konráð. »Und als er sah, dass sie tot war, hat er einen Schock gekriegt und den Notruf gewählt.«
»Was für ein Vollidiot. Wer auch immer er ist«, seufzte Marta. »So ein beschissener Vollidiot«, sagte sie erneut, klatschte die Fotos auf den Tisch und sah Konráð an. »Hast du schon das mit der Plastiktüte gehört? Ich glaube, ich sollte dir das eigentlich nicht verraten.«
»Was ist damit?«
»Die haben Reste von Limonade und Bier im Gesicht und im Haar der Toten gefunden und nehmen an, dass das aus der Plastiktüte stammt, mit der sie erstickt wurde.«
»Aha?«
»Als wären vorher lauter leere Getränkedosen drin gewesen.«
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Konráð. »Damit reduziert sich die Zahl der Verdächtigen auf alle Isländerinnen und Isländer.«
»Ich habe gehört, du lässt dir alle möglichen Sachen aus dem Archiv ausdrucken«, sagte Marta, von seiner letzten Bemerkung ein wenig genervt. »Geht dir das Nichtstun langsam auf die Nerven?«
»Ich will mich ja nicht völlig zur Ruhe setzen.«
»Du nicht? Oder der Geist deines Vaters?«
»Ich glaube nicht an Geister«, sagte Konráð.
Eygló hatte mit mehr Leuten auf der Trauerfeier gerechnet. Als sie die Kapelle des Friedhofs Fossvogur betrat, waren kaum zehn Leute dort und darunter kein einziges bekanntes Gesicht aus ihrer Zeit in der Spiritistischen Gesellschaft.
Der Sarg war offen. Málfríður lag unter einem leuchtend weißen Tuch und blickte ein wenig streng drein, als hätte sie eigentlich noch etwas sagen wollen. Sie war das älteste Mitglied der Spiritistischen Gesellschaft gewesen und, trotz des großen Altersunterschieds, eine gute Freundin von Eygló. Doch in den letzten Jahren hatten sie nicht mehr viel Kontakt gehabt. Málfríður hatte von sich selbst nie behauptet, seherische Fähigkeiten zu haben, war jedoch mit einem bekannten Medium und Heiler verheiratet gewesen und hatte seine Séancen und Krankenbesuche organisiert. Eygló kannte kaum jemanden, die sich so brennend für das Jenseits interessiert und leidenschaftlicher über die Ätherwelt gesprochen hatte. Als Eygló sich damals, auf der Suche nach Rat, an die Spiritistische Gesellschaft gewendet hatte, wurde sie von Málfríður empfangen. Málfríður brachte ihr bei, dass sie sich vor ihren Visionen nicht fürchten musste. Dass es vielmehr etwas Schönes war, nicht so zu sein wie alle anderen.
Die alte Frau starb in dem Pflegeheim, in dem sie die letzten Jahre gelebt hatte. Eygló war kurz vor ihrem Tod ein letztes Mal dort gewesen. Málfríður hatte darum gebeten. Vor vielen Jahren war es Málfríður gewesen, die Eygló dazu ermutigt hatte, selbst Séancen und spiritistische Sitzungen abzuhalten. Eygló war damals so unsicher und gehemmt gewesen, dass sie sich das nie getraut hätte. Ihr Vater hatte als Medium gearbeitet und keinen guten Ruf genossen, es hieß, er stecke mit einem Betrüger unter einer Decke, der skrupellos die Verletzlichkeit von Menschen ausnutzte, die ihre liebsten Angehörigen verloren hatten. Und dieser Betrüger war der Vater von Konráð.
Eygló hätte ihre spirituellen Fähigkeiten am liebsten ignoriert, sosehr ihr Vater und auch Málfríður sie ermutigten, sie zu pflegen. Sie fürchtete, diese Fähigkeiten würden ihr Leben durcheinanderbringen, doch Málfríður ermutigte sie immer wieder. Sie sagte, Eygló solle ihre natürlichen Gaben nutzen, anstatt gegen sie anzukämpfen. Und zwar zum Guten.
Bevor Eygló damals zum Zimmer der alten Frau gegangen war, hatte sie sich auf der Station erkundigt, wie es ihr ging. Man sagte ihr, dass sie nicht mehr lange leben werde. Málfríður schlafe viel, sei oft desorientiert und wirke manchmal so, als wäre sie schon gar nicht mehr auf dieser Welt, sie spreche mit sich selbst oder mit Gästen, die gar nicht da seien, als wäre sie verwirrt. Sie bekomme offenbar nur selten Besuch, abgesehen von ihrem Sohn, der regelmäßig vorbeischaue. An diesem Tag sei Eygló bisher die einzige Besucherin.
Als Eygló dann das Zimmer erreichte, sah sie, dass Málfríður bereits einen Gast hatte. Offenbar bekam sie doch öfter Besuch, als behauptet. Auf einem Stuhl an der Seite des Bettes saß eine ältere Frau in einem grünen Mantel. Sie sah ziemlich ärmlich aus und trug ein Kopftuch, die Hände lagen gefaltet in ihrem Schoß. Eygló fand, dass ihr Gesicht eine große Milde ausstrahlte.
In diesem Moment klingelte Eyglós Handy. Sie ging in Richtung Aufenthaltsraum, während sie telefonierte. Als sie zurückkam, war die Frau verschwunden. Eygló nahm ihren Platz ein.
Auf Málfríðurs Nachttisch standen nur wenige persönliche Dinge: Ein Foto von ihrem Sohn und einige Hörbücher, Isländersagas und Thriller, wenn Eygló es richtig sah. Sie wollte Málfríður nicht wecken. Es war schummrig im Zimmer. Málfríður war fast blind und nahm nur noch Bewegungen wahr und Schatten.
Schließlich regte Málfríður sich. Sie öffnete die Augen und fragte, ob da jemand sei.
»Bist du das, Hulda?«, sagte sie. »Bist du noch da?«
»Nein, ich bin es, Eygló. Wie geht es dir?«
»Eygló, wie schön!«, sagte die alte Frau. »Das ist aber lieb, dass du mich besuchst.«
»Ich wollte dich nicht wecken.«
»Ich dachte, ich wäre schon auf der anderen Seite. Das denke ich jedes Mal, wenn ich einschlafe. Ich war wieder bei meiner Mutter, ich habe mich wunderbar gefühlt.«
Málfríður tastete nach Eyglós Hand und nahm sie.
»Ich freue mich jedes Mal beim Einschlafen auf meine Träume«, sagte sie. »Da kann ich wieder richtig sehen, alles ist lebendig und bunt.«
Málfríður lächelte und erzählte Eygló von ihren Träumen, in denen es immer hell war und warm. Sie sei so alt, dass sie keine Angst mehr vor dem Tod habe, im Gegenteil, sie sei sogar neugierig auf das, was käme. Das sagte sie nicht zum ersten Mal. Sie habe ein gutes Leben gehabt, nun warte sie auf eine andere Form der Existenz, ein kaltes Grab vielleicht, ohne jedes himmlische Glück – oder eine Welt, die bevölkert sei von den Seelen derer, die ihr vorausgegangen seien und an die sie fest glaube.
»Ich fürchte mich nicht«, sagte sie. »Erinnerst du dich an das Mädchen im Þingholt-Viertel?«
»Die so krank war? Warum …?«
»Ich weiß auch nicht, warum, aber ich denke an sie«, sagte Málfríður.
»Das ist so lange her«, sagte Eygló. Sie hatte überhaupt nicht den Eindruck, dass die alte Frau desorientiert oder verwirrt war.
»Wahrscheinlich, weil ich in letzter Zeit so viel an meinen lieben Kristleifur denke, der sie damals mit dir zusammen besucht hat. Er hat sich das sehr zu Herzen genommen. Ich träume von ihm«, sagte Málfríður. »Dann steht er quicklebendig hier im Zimmer. Du erinnerst dich doch an ihn, oder?«
»Aber natürlich erinnere ich mich an Kristleifur. Gut sogar«, sagte Eygló.
»Ich glaube, bei mir ist es jetzt auch bald so weit«, sagte Málfríður. »Er kommt mich bald holen. Ich habe zweimal von ihm geträumt, letztens, er stand hier vor mir und lächelte mich an.«
»Er war ein guter Mann.«
Málfríður schwieg und schloss langsam die Augen. Einige Zeit später fragte sie:
»Triffst du dich noch mit diesem Polizisten?«
»Nein. Also, nicht mehr so oft«, sagte Eygló.
»Ach so«, sagte Málfríður und konnte die Enttäuschung in ihrer Stimme nicht verbergen. »Gefällt er dir nicht?«
»Solche Fragen stelle ich mir nicht.«
Eygló hatte von ihrer Bekanntschaft mit Konráð erzählt, einem pensionierten Kriminalbeamten. Und auch davon, dass ihre Väter früher gemeinsam leichtgläubige Leuten um ihr Geld gebracht hatten, die ganze traurige Geschichte.
»Wer ist diese Hulda, die du vorhin erwähnt hast?«
»Eine liebe, ganz alte Freundin von mir. Niemand hat so sehr an das Leben nach dem Tod geglaubt wie Hulda. Für sie gab es da keinen Zweifel«, sagte Málfríður. »Wir haben jahrelang darüber gesprochen, wie die wohl aussehen könnte, diese andere Form der Existenz nach dem Leben hier. Deswegen denke ich jetzt so viel an das Seelenreich. Und weil du und ich auch öfter über solche Dinge gesprochen haben, möchte ich dich um einen kleinen Gefallen bitten.«
Eygló nickte. Im Laufe der Jahre hatte Málfríður sich immer mehr für das interessiert, was nach dem Tod kommen würde.
»Was kann ich für dich tun?«, fragte Eygló, obwohl sie es bereits ahnte.
»Wir haben darüber schon mal gesprochen. Ich möchte euch Botschaften senden.«
Málfríður drückte Eyglós Hand und starrte sie mit ihren fast erblindeten Augen an.
»Neugier ist das Letzte, was mir geblieben ist«, sagte sie und fuhr dann deutlich leiser fort: »Bitte halte die Augen offen. Für den Fall, dass es dazu kommt.«
Der Priester betrat die Kapelle, begrüßte die wenigen Trauergäste und machte über dem Sarg das Zeichen des Kreuzes. Er öffnete die Bibel und las einige Verse über die Auferstehung und das ewige Leben. Dann verlor er einige Worte über die Verstorbene und hob hervor, dass sie ihr ganzes Leben unerschütterlich an den Spiritismus geglaubt hatte. Danach sprach er ein Gebet und bat die Anwesenden, im Gesangbuch den Psalm-Choral über die Blume aufzuschlagen und über das Fleisch, das wie Gras ist. Hinter Eygló räusperte sich jemand, dann setzte ein verschämter, dünnstimmiger Gesang ein. Danach machten auch die Anwesenden das Zeichen des Kreuzes über der Toten. Die Bestatter legten den Deckel auf den Sarg, setzten vergoldete Schrauben ein und fragten, ob jemand unter den Anwesenden eine der Schrauben festziehen wolle. Eygló trat vor, sprach währenddessen ein kurzes Gebet und nahm Abschied. Dann dachte sie daran, was sie ihrer alten Freundin versprochen hatte.
Nach Abschluss der Trauerfeier sprach sie dem Sohn von Málfríður ihr Beileid aus, wollte gehen und hatte den Ausgang schon erreicht, als sie jemand aufhielt, indem er sie am Arm fasste.
»Du musst Eygló sein, oder?«, fragte ein Mann in ihrem Alter, den sie noch nie zuvor gesehen hatte.
Eygló sagte Ja.
»Entschuldige, dass ich dich einfach so anspreche. Ich heiße Jósteinn und habe Málfríður und ihren Mann durch die Spiritistische Gesellschaft kennengelernt. Sie hat manchmal von dir gesprochen und von Engilbert, deinem Vater. Den habe ich nicht gekannt, aber ich wusste, wer er war.«
»Ah, alles klar«, sagte Eygló, lächelte und wollte weitergehen.
»Hast du etwas gespürt, seit sie gestorben ist?«, flüsterte der Mann und konnte nur schwer seine Neugierde verbergen. Er war so eifrig, dass es fast unhöflich war.
»Gespürt?«
»Hattest du Kontakt zu Málfríður?«, flüsterte der Mann. Der schwarze Mantel, den er trug, hatte bessere Tage gesehen, sein Haar war ungekämmt. »Ist sie hier? Ist sie vielleicht jetzt hier bei uns?«, fragte er und setzte eine Wollmütze auf.
Eygló war irritiert davon, wie ungeniert der Mann an diesem Ort, bei diesem Anlass über die Verstorbene sprach.
»Ich glaube nicht …«, begann sie, konnte den Satz jedoch nicht zu Ende bringen.
»Ich weiß von deinem Vater«, sagte der Mann leise. »Málfríður hat mir von ihm erzählt. Und dass du und dieser Freund von dir nach Informationen suchen. Der ist Polizist, oder? Málfríður hat das gesagt.«
»Ich weiß nicht, was …«
»Málfríður hat gesagt, du würdest vielleicht eine Sitzung machen. Dass du versuchen würdest, mit ihr in Kontakt zu treten. Dass du versprochen hast, auf Nachrichten von ihr zu warten.«
»Wie hast du das eben gemeint? Was weißt du über meinen Vater?«
»Machst du das? Hältst du eine Sitzung ab?«
»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht«, sagte Eygló und versuchte sich zu beruhigen. »Was weißt du denn nun über meinen Vater?«
»Über den Engilbert, tja …«, sagte der Mann. »Ich war vor ungefähr drei Jahren mal auf einer spiritistischen Sitzung. Da hat man sich erzählt, dass er Botschaften aus dem Jenseits dazu benutzt hat, um einer Witwe aus Hafnarfjörður Geld abzuknöpfen. Hansína hieß sie oder so. Das war kurz vor seinem Tod. In den Sechzigern, oder?«
Eygló starrte den Mann an.
»Wie meinst du das? Geld abknöpfen?«
»Das hat jemand so nebenbei bemerkt«, sagte der Mann. »Eigentlich haben wir darüber gesprochen, dass du ein viel begabteres Medium bist, als dein Vater es jemals war.«
»Weißt du …« Eygló hatte genug von diesem Mann.
»Ich weiß ja nicht, was da dran ist«, sagte er hastig und in entschuldigendem Ton. »Irgendjemand kannte ihren Sohn, also den Sohn von dieser Hansína«, fügte Jósteinn hinzu und nannte einen Namen, den Eygló sich einprägte. »Mehr weiß ich nicht. Meinst du, du kündigst die Sitzung über die Spiritistische Gesellschaft an? Falls du eine abhältst, jetzt wo Málfríður tot ist?«
»Das werde ich nicht tun«, sagte Eygló und verabschiedete sich.
Wenig später hatte sie den Parkplatz des Friedhofs überquert und die Tür ihres Autos schon geöffnet, als sie sah, wie eine abgerissen gekleidete Frau vom Friedhof her auf sie zukam. Auch diese Frau hatte sie noch nie zuvor gesehen und war dementsprechend überrascht, als die Frau fragte, ob sie bei der Trauerfeier gewesen sei.
»Hast du Málfríður gekannt?«, fragte Eygló.
»Ja. Sie kam oft hierher.«
»Auf den Friedhof?«
»Glaubst du, sie ist jetzt auf der anderen Seite?«, fragte die Frau.
»Auf der anderen Seite? Ich denke schon«, sagte Eygló und stieg schnell in ihr Auto. Sie war nun wirklich von genug wildfremden Leuten angequatscht worden.
Die Frau stand unbewegt da und beobachtete, wie Eygló rückwärts ausparkte. Doch als Eygló noch einmal in den Rückspiegel blickte, nachdem sie losgefahren war, war die Frau verschwunden.
Als er zu Marta ins Büro gekommen war, um ihr zu erzählen, was er über Valborg wusste, hatte Konráð noch immer nicht das leiseste Interesse daran gehabt, sich in die Angelegenheit einzumischen. Er traf einfach eine Freundin auf einen Kaffee und erzählte, während sie an ihrer E-Zigarette zog. Dann fuhr er nach Hause und wollte nicht mehr an die Sache denken, doch es gelang ihm nicht. Das Treffen mit Valborg ging ihm nicht aus dem Sinn, ihr Gespräch, ihr trauriges Anliegen und die Abfuhr, die er ihr erteilt hatte. Warum hatte er sie nicht etwas aufgebaut, ihr gesagt, er würde zumindest überlegen, ob ihm dazu nicht doch noch etwas einfallen würde? Stattdessen hatte er den einfachsten Weg gewählt und so getan, als ginge ihn das alles nichts an. Nun plagte ihn jedes Mal, wenn er an Valborg dachte, sein schlechtes Gewissen.