Tod an der Gracht - Thomas Ebeling - E-Book

Tod an der Gracht E-Book

Thomas Ebeling

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Beschreibung

Die Schlagzeilen in der niederländischen Presse zwingen die Polizeiführung in Amsterdam zum Handeln. Ausgerechnet Kommissar Kies van Beek, ein Mann, der von seinem Vorgesetzten auf die Abschussliste gesetzt wurde, soll nun helfen eine Serie von Verbrechen in der Amsterdamer Unterwelt aufzuklären. Kies, der seit Jahren trauernde Witwer, der sich eigentlich nur noch für seine Kneipe und Fußball interessiert, bekommt eine letzte Chance. Die Ereignisse führen ihn nicht nur beruflich zu überraschenden Ergebnissen.

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ZU DIESEM BUCH:

Ein Mann, der alles verloren hat, sein Ziel, seinen Weg, seinen Lebensmittelpunkt. Seine Arbeit bleibt ihm, er macht sie auf seine Weise. Am Liebsten alleine, verbissen, getrieben. In einer Stadt, die mit tausend Klischees beladen ist, so schön, so kitschig, so romantisch, mit düsteren Abgründen hinter pittoresker Fassade. Einzige Lichtblicke: Sein Verein, seine Kneipe. Eine letzte Chance, das Ruder herumzureißen...

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Epilog

1

»Kies van Beek, 43, verwitwet, arbeitet seit 15 Jahren bei der Amsterdamer Polizei. Seine Methoden sind zuweilen, nun sagen wir, zumindest ungewöhnlich. Seine Kollegen beschreiben ihn als eigenwillig, einzelgängerisch und narzisstisch. Ein Teamplayer sieht anders aus, und Ermittlungsarbeit ist Teamwork. Ich hielt einmal große Stücke auf ihn, aber seit einiger Zeit lässt er sich sehr gehen. Muss wohl mit seinen privaten Problemen zusammenhängen.« Der Leiter der Mordkommission des Polizeibezirks Amsterdam Central, Hoofdcommissaris Jan Perkis, warf die Personalakte auf seinen Schreibtisch. Er war ein sehr gepflegter Mann Anfang Fünfzig, der stets gut gekleidet im Anzug mit Krawatte und Einstecktuch zur Arbeit erschien und auch seine Uniform, die er bei offiziellen Anlässen tragen musste, war maßgeschneidert. Er hatte bei seinen Untergebenen den Ruf eines absoluten Spießers und Pedanten. Persönliche Belange oder Befindlichkeiten seiner Kollegen interessierten ihn nicht. Allerdings hatte er eine gewisse Aura, die sofort Autorität ausstrahle.

»Warum wollen Sie unbedingt Van Beek?«

Generalstaatsanwalt De Groot lächelte.

»Haben Sie die Schlagzeilen gelesen? -Krieg in Amsterdams Unterwelt - Morde wie im Gangsterfilm - Wilder Kugelhagel - Drogenbanden rechnen ab, und so weiter und so fort. Ich brauche einen Mann, der das Milieu kennt, einen, der dahin geht wo es weh tut, einen, der nicht einknickt. Wie war das mit Ihrem Einser - Absolventen? Der sprach einmal mit einem verdächtigen Zuhälter und hat sich dann 2 Wochen krank gemeldet, letzte Woche bat er dann um Versetzung nach Den Haag. Kies van Beek ist der richtige Mann mit den richtigen Kontakten und der richtigen Erfahrung. Ich brauche Ergebnisse, wir stehen gewaltig unter Druck. Ich habe mich bereits mit dem ersten Hoofdcommissaris abgesprochen. Holen Sie ihn her!«

»Schwierig«, antwortete Perkis, »er arbeitet zur Zeit am Fall eines entführten und vermutlich ermordeten Wohnwagenbesitzers. Van Beek ist unterwegs, ich weiß gar nicht, wo er gerade ist.«

»Dann rufen Sie ihn an, verdammt nochmal! Dieser Fall ist doch was für Anfänger. Ein Wohnwagen wird gestohlen, und die Diebe merken nicht, dass der Besitzer seinen Rausch darin ausschläft. Das erledigt sich in ein, zwei Tagen von selbst und wenn nicht, kann das auch ein kleiner Inspektor übernehmen! Ich will Kies van Beek und dazu eine schlagkräftige Ermittlungstruppe. Ich will innerhalb von 72 Stunden Ergebnisse sehen!«

2

»Verboden toegang voor onbevoegden!«,stand auf dem Schild. Das hatte Kies van Beek nicht von einem Besuch am frühen Morgen um 4 Uhr abgehalten.

Jetzt war es 9 und ihm knurrte der Magen... Kies stand sehr günstig, er konnte gut in den Innenhof der Autoteilefirma blicken, ohne selbst zu sehr aufzufallen. Um das Gelände war ein Blechzaun gezogen, doch das Tor stand zu Straße hin offen.

Hier im Gewerbegebiet am Amsterdamer Westpoort gab es viele kleine Firmen, und nicht wenige davon sahen etwas heruntergekommen aus.

»Da passe ich ganz gut her«, musste Kies sich grinsend eingestehen. Er sah auch nicht gerade taufrisch aus, da er seit drei Tagen nicht mehr zu Hause gewesen war. Warum auch? Seit sein Kater Jack das Zeitliche gesegnet hatte, wartete niemand mehr auf ihn. Seine Freizeit verbrachte er mittlerweile lieber am Tresen als auf dem Sofa. Wozu auch einen eigenen Kühlschrank füllen, wenn der in der Kneipe immer mit so herrlichen Getränken wartete? Am Liebsten saß er in seiner Stammkneipe, dem Café Oranje in der Bilderdijkstraat. Vor allem heute Abend wäre er gerne da gewesen, denn heute war das Champions-League Spiel gegen Tottenham.

»Tja,« entfuhr es ihm, »erst die Arbeit.., Moment, da ist doch unser Freund!«

Aus der Halle der Schrottfirma kam ein großer, hagerer junger Mann mit rotblonden Haaren gelaufen. Er hatte es ziemlich eilig und überquerte hastig den Hof. Sein Ziel war scheinbar der silbergraue BMW auf der anderen Hofseite, denn das schien das einzig fahrbereite Auto auf dem ganzen Schrottplatz zu sein. Kies sprang aus seiner Deckung und lief in einem Bogen über die Straße zum Tor, in der Hand hatte er eine Eisenstange die er zuvor in einem Graben gefunden hatte. Am Tor angelangt, stellte er sich hinter den Pfosten und lauschte in den Hof. Eine Autotüre schlug zu.

»Vielleicht wird’s ja doch noch was mit dem Spiel«, dachte sich Kies. Dann hörte man, wie versucht wurde, den BMW zu starten, aber außer dem Anlasser ging da gar nichts. Jemand riss die Türe auf und schlug sie mit einem lauten »Verdammich!« wieder zu. Dann kamen eilige Schritte auf das Tor zu. In dem Moment, als der große Rothaarige das Tor passieren wollte, schwang Kies die Eisenstange in Oberschenkelhöhe gegen die Beine des Mannes. Mit einem klatschenden Geräusch knallte die Stange gegen seine Oberschenkel, der junge Mann brüllte laut auf und brach sofort zusammen.

Kies rollte den Verletzten auf den Rücken und fesselte ihn fluchs mit seinen Handschellen.

»Halt bloß die Fresse, sonst brech‘ ich Dir alle Knochen! Du bist verhaftet!«, brüllte er ihn an, bevor er ihm seinen Ajax-Schal als Knebel um den Mund wickelte. Vom Gebrüll angelockt kamen nun mehrere Männer aus der Halle gelaufen, aber Kies hatte seinen Gefangenen außen neben das Tor gerollt, so dass dessen Kollegen nicht erkennen konnten, woher die Schreie gekommen waren.

»Matz!« rief einer, »Was ist los, wo bist Du?«

Matz rollte vor Wut und Schmerzen schäumend die Augen und versuchte sich zu befreien, bekam dafür jedoch nur einen Tritt von Kies. Die Männer kamen nun langsam zum Tor, ihren Stimmen nach waren es vier. Kies zog seine Dienstwaffe.

»Scheiße«, dachte Kies, »laut meinem Informanten sollten es höchstens zwei sein.«

Doch dann wurden die Stimmen leiser und schienen sich wieder in Richtung Halle zu bewegen. Da klingelte Kies‘ Mobiltelefon...

3

»Kies! Telefon!« Mit der Telefonhörergeste winkten einige der Kollegen bei seinem Erscheinen Kies zu.

»Der Klassiker, lässt Du Dein Handy auch im Kino an? Da lacht doch die gesamte Nationale Politie!«

»Na, Kies, einen geklauten Wohnwagen gefunden aber vier schwer verletzte Kleinhehler und ein Versicherungsbetrüger im Krankenhaus. Das gibt eine super Presse!«

»Das Spiel kannst Du vergessen, dafür einen schönen Bericht verfassen und Dir einen Anschiss vom Chef abholen, die Reihenfolge ist aber noch zu klären.«

Kies war klar gewesen, dass die Kollegen mit Spott nicht sparen würden, aber jeder wusste doch über seine Arbeitsweise Bescheid und außerdem hatte keiner der Kollegen gewusst, dass Kies diesen Sonntag überhaupt ermittelte. Er hätte auch nicht gedacht, dass so viele heute, einen Tag nach dem Königstag, Dienst hatten. Schließlich war der Königstag auch einer der Tage, an denen die Amsterdamer Polizei Hochkonjunktur hatte, wenn auch sehr selten etwas Gravierendes geschah. Die meisten Kollegen jedoch waren gerade am Schreibtisch, um ihren Arbeitstag abzuschließen.

»Kies! Zum Chef!«, rief Matthijs Breuer durch die offene Bürotüre, »Alter, und zwar flott!«

»Hm«, brummte Kies. Er sah auf seine Uhr. Verdammt, nur noch 2 Stunden bis zum Anpfiff...

Im Büro des Leiters des Amsterdamer Polizeibezirks saß nicht nur sein Chef, Hoofdcommissaris Jan Perkis, sondern auch der Generalstaatsanwalt Jaap de Groot.

»Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Kies«, fing Perkis jovial das Gespräch an, »mein Anruf hat Sie ja ziemlich in die Bredouille gebracht. Das war natürlich nicht meine Absicht. Aber Sie haben die schwierige Aufgabe ja mit Bravour gelöst und den Fall gleich mit. Ein Versicherungsbetrüger, der seinen Komplizen und Hehlern nicht vertraut und sich mit einem gestohlenen Auto bezahlen lässt. Wie gut, dass der Wagen des Mannes im rechten Moment nicht angesprungen ist.«

»Und wie gut, dass man mit einem Schweizer Taschenmesser Benzinleitungen sehr leicht durchschneiden kann«, dachte Kies bei sich. Er hatte den Wagen zuvor manipuliert, dies aber in seinem Bericht nicht erwähnt.

»Jedenfalls sind wir sehr froh, dass Sie, als einer unserer besten Polizisten, diese brenzlige Situation gut lösen konnten.«

»Aha, und was kommt jetzt?«, fragte sich Kies.

»Hm..«, entfuhr es ihm nur.

»Ich habe gerade mit dem Generalstaatsanwalt gesprochen, wir gedenken, Sie für einen offizielle Belobigung vorzuschlagen. Außerdem. . . , wie man hört sind sie ein großer Ajax-Fan und ich bin der Meinung, dass Sie für heute wirklich genug geleistet haben, den Papierkram soll mal einer der Praktikanten erledigen. Schusswaffengebrauch hin oder her. Nehmen Sie sich doch auch morgen frei. Schließlich ist heute Sonntag und sie haben die letzten Tage hart gearbeitet.«

Kies traute seinen Ohren nicht. »Sind die bekifft? Da ist doch was faul!«, dachte er bei sich.

»Vielen Dank, äh, dass ist ja, äh...«, stammelte er einigermaßen überrascht.

Nun ergriff der Generalstaatsanwalt das Wort:

»Und da wäre noch was. In Anbetracht Ihrer Leistungen und Ihrer besonderen Fähigkeiten berufe ich sie hiermit zur Sonderkommission »Gracht«. Alles Weitere erfahren Sie übermorgen. Bitte kommen Sie am Donnerstag um 9:0Uhr direkt zu Hoofdcommissaris Perkis ins Büro.«

Kies nickte und wollte gehen.

»Ach, und Kies.« gab ihm de Groot noch mit auf den Weg während Van Beek kurz inne hielt, »Duschen Sie sich!«

Kies ging hinaus, schloss die Türe und roch in die Innenseite seines alten Militärparkas. Aber klar, das Polyestertrikot darunter stank furchtbar. »Naja, für die Kneipe geht’s«, murmelte er und machte sich auf den Weg.

4

Das Café Oranje war gesteckt voll. Kies drückte sich trotzdem hinein und orderte mit einem kurzen Winken ein Bier. Hinter der Theke quittierte Neeltje seine Bestellung mit einem Lächeln und nickte. Als seine Freunde ihn sahen, johlten sie auf und begannen, seinen Namen zur Melodie von »Stars and Stripes forever« zu skandieren.

»Kies van Beek, Kies van Beek, Kies van Beeeeek!«

»Alter, wo ist denn Dein Schal? Das ist das erste Mal, dass Du ohne Schal zu einem Spiel gehst«, brüllte sein Freund Gijs ihm ins Ohr.

»Weißt Du, den hab ich heute für einen Notfall im Geschäft gebraucht«, wich Kies aus, wohl wissend, dass man niemals seinen Schal für etwas anderes missbraucht, als damit die Liebe zu seinem Verein zu zeigen. Es war unter den Freunden aber auch ein ungeschriebenes Gesetz, Kies nie nach seiner Arbeit bei der Politie zu fragen.

»Na, hoffentlich nicht für ein Notfall-Geschäft!«

Wieder johlen alle und sein alter Freund Kerk hängte ihm seinen Schal um den Hals.

»Hier alter Freund, du bist auch ein Notfall und fast nackt!«

0:1 für Ajax! Die Kneipe stand Kopf.

Das wurde eine lange Nacht für Kies, Kerk und Gijs.

Kies wachte gegen 15 Uhr am nächsten Tag auf dem Sofa von Gijs‘ Hausboot auf. Gijs saß auf seinem Lieblingssessel und baute sich einen großen Joint.

»Kann sein, dass ich in der nächsten Zeit was von Dir brauche, Gijs. Da ist ne‘ große Sache am laufen bei uns.«

»Für Dich immer, für die Bullen nimmer!«, grinste Gijs und zündete sich die Tüte an.

»Damit meine ich, dass ich eventuell eine neue Bleibe auf Zeit brauche, du hast bestimmt die Zeitungen gelesen.«

Gijs konnte natürlich eins und eins zusammenzählen und wusste sofort, dass es bei Kies’ Anfrage um den Krieg der Drogenbanden ging.

»Meinst Du nicht, das ist ’ne Nummer zu groß?«

»Natürlich, mindestens zwei Nummern. Aber hab ich denn eine Wahl? Ich hatte eigentlich gedacht, die werfen mich nach der Verhaftung gestern direkt raus, natürlich habe ich wiedermal ein paar Dienstvorschriften missachtet und wenn die Jungs vom Schrottplatz gute Anwälte haben, kommt sofort raus, dass ich mich bei der Verhaftung weder als Polizist zu erkennen gegeben habe, noch irgendwen über irgendwelche Rechte aufklärte. Ich hab die fünf nach Wildwestmanier aus dem Verkehr gezogen und das bricht Dir heutzutage bei der Polizei lekker das Genick.«

Kies machte eine kurze Pause.

»Außerdem. . . , Du weißt ganz genau dass mir der ganze Polizeikram mittlerweile auf den Zeiger geht. Vielleicht wäre es echt besser, wenn sie mich rausschmeißen.«

Gijs war irritiert:

»Wieso das denn? Warum nimmst Du dann so einen scheiß Auftrag überhaupt an? Willst Du den Märtyrer spielen, oder was? Oder hast Du seit der Sache mit Lies und Marvin den Verstand verloren?«

Kies fuhr Gijs scharf an: »Halts Maul, Gijs! Halt einfach Dein blödes Maul!«

Gijs war zu weit gegangen. Seit dem Tod von Kies’ Frau und Ihrem gemeinsamen Kind befand sich Kies in einer seltsamen Abwärtsspirale. Vor drei Jahren waren beide mit dem Lastenfiets verunglückt, Marvin war gerade erst 4 Jahre alt geworden. Ein LKW hatte beide beim Rechtsabbiegen übersehen und überrollt. Kies hatte wegen Befangenheit nicht selbst ermitteln dürfen und der LKW-Fahrer wurde kurz darauf in seiner Wohnung in Bos en Lommer tot aufgefunden. Selbstmord. Seitdem ließ Kies sich gehen, ihm fehlte die Richtung. Klar, seine Freunde waren immer für ihn da und seine Arbeit war ebenfalls wichtig, um weiterzuleben. Aber es kam ihm oft vor wie ein hohles Funktionieren. Arbeiten, Saufen, Fußball. Alles Andere war ihm egal geworden. Die Anzahlung für das Häuschen war weg, das Häuschen sowieso, er hatte es wieder dem Immobilienhändler zurückgegeben. Die kleine Wohnung mit zwei Zimmern hatten ihm seine Freunde vermittelt. Die Miete war für Amsterdamer Verhältnisse bezahlbar und man konnte von dort aus schnell überall in der Stadt sein. Eingerichtet war sie wie eine Gefängniszelle. Ein Bett, ein Stuhl, ein Tisch, ein Regal. Klamotten noch immer in den Umzugskartons. Kies war nur zum Schlafen dort. Nur ein Bild hatte er aufgehängt. Es war eine Aufnahme aus einem anderen Leben. Es zeigte eine lachende Kleinfamilie: Lis, Marvin und Kies van Beek.

»Sorry, alter Freund. Es tut mir leid, das war unpassend, aber so geht’s nicht weiter.« Gijs zog kräftig an seiner Tüte und hielt die Luft an. Beim Ausatmen musste er so stark husteten, dass er hinterher nur ein gekrächztes »Godverdomme!« herausbrachte.

»Ja, Verdomme«, murmelte Kies, »ich muss was ändern.«

5

Zum erstem Mal seit fast einer Woche hatte Kies richtig lange geschlafen und sich ausgiebig geduscht und rasiert. Sogar die Wäsche hatte er gemacht und das Bett frisch überzogen.

»Wenn alle Stricke reißen und die mich feuern, kann ich doch noch gut als Hausmann gehen. Prinz Pantoffel«, sagte er sich grinsend.

Er betrachtete sich im Spiegel im Flur. Ein Mittvierziger mit einigermaßen sportlicher Figur, dunklem vollen Haar mit leicht ergrauten Schläfen, mittelgroß und, wenn gut gekleidet, sogar seriös wirkender Mann blickte ihn daraus an. Ein leicht melancholischer Blick, ein Grübchen am Kinn, eigentlich ein Frauentyp, dachte er sich. Genau das, was Lis im ersten Moment an ihm gefallen hatte... Er verwarf die Gedanken und schlug die Wohnungstüre im dritten Stock der Zocherstraat zu. Auf dem Tisch unter dem Bild seiner Familie stand ein Bierglas mit einem Tulpenstrauß.

Vor dem Haus hatte Kies sein Fiets etwas abenteuerlich auf dem Radweg abgestellt.

»Ach, Ihr Fahrrad ist das!«, rief eine Frau Anfang dreißig, die gerade vorbeifahren wollte und kurz gestoppt hatte. Kies sah auf und blickte ihr in die Augen: »Hm? Wie meinen Sie?«

»Na, das Rad, das sie gerade aufsperren. Ich musste gestern auf die Straße ausweichen, weil es so blöd abgestellt ist. Sie wissen schon, dass es nicht ungefährlich ist, wenn man schnell auf die Straße ausweichen muss!« Ihre Augen funkelten angriffslustig.

»Das tut mir leid, es war keine Absicht. Ich hab nicht aufgepasst. Aber danke für die Belehrung, ich werd versuchen mich zu bessern«, grinste Kies verlegen.

„Da werd ich aufpassen! Ich komme hier jeden Tag vorbei und hab keinen Bock, mein Leben wegen eines schlampig abgestellten Fiets zu riskieren. Wahrscheinlich haben Sie keine Ahnung, wie schnell man als Radfahrer unter die Räder kommen kann!« Kies sah sie traurig an:

»Doch leider schon. Es tut mir ehrlich leid. Wissen Sie was? Ich lade Sie als Wiedergutmachung auf einen Kaffee ein. Das ist das Mindeste.«

Die junge Frau lächelte:

»Kaffee ist gut. Aber heut’ grad’ nicht. Am Samstag um 10Uhr im Café Kiebert?«

»Ich werde da sein!« Kies lächelte: »Ich heiße übrigens Kies.«

»Hannah«, sagte die junge Frau und reichte ihm die Hand.

»Also gut, dann bis Samstag.« Sie stieg auf und fuhr mit Schwung in Richtung Innenstadt.

»Was war das jetzt?«, fragte sich Kies. »Ich bin doch kein Student mehr, der so einfach Mädels zum Kaffee einlädt. Das letzte Mal, dass mir so was passiert ist, ist sehr lange her. . . « Eine Fahrradklingel riss ihn aus seinen Gedanken, er war mitten im Weg mit seinem Rad und dem Schloss in der Hand stehengeblieben.

»He, aus dem Weg!«, rief der Radfahrer. Kies sprang zurück und musste lachen.

»Hannah.«, sagte er, »schön, Dich getroffen zu haben.« Gut gelaunt schwang er sich dann auch auf sein Rad und fuhr dann über Overtoom in Richtung Innenstadt zur Elandsgracht. Normalerweise schaffte er die Strecke in weniger als neun Minuten. Er hatte also noch gut Zeit, um sich in einem Stehcafé ein kleines Frühstück zu gönnen.

Entspannt und gut gelaunt kam er rund 30 Minuten später im Headquaters an. Im Büro des Hoofdcommissaris wurde er schon erwartet.

»Kies,« empfing ihn Perkis mit einem Lächeln: »Sie sind sehr pünktlich. Dann setzen Sie sich doch, möchten Sie Kaffee?«

Die geradezu schleimige Art von Perkis gefiel Kies gar nicht. Er lehnte dankend ab und Perkis begann sofort über das Spiel am vergangenen Sonntag zu referieren. Auch er war ein großer Fußballfan und verpasste kein Spiel von Ajax. Nach einem viertelstündigen Monolog über die Champions-League fing Perkis übergangslos an, über die neue Sonderkommission zu sprechen. Alle verfügbaren Ressourcen seien aufgefahren worden, um den Bandenkrieg im Drogenmilieu zu beenden. Man wolle sich nicht nachsagen lassen, dass man zusehe, wie sich die Gangs gegenseitig ausrotten, um sich dann hinterher mit dem Sieger zu arrangieren. Kies verfolgte gespannt den Ausführungen des Hoofdcommissaris, der immer mehr zu politischer Rhetorik griff.

»Schließlich hat die Nationale Politie einen Auftrag vom Bürger und dieser lautet Sicherheit!«

»Natürlich. Wie ist nun der Plan?«, wollte Kies endlich wissen, denn Konkretes kam bisher noch nicht von Perkis.

»Sie erhalten hier ein Dossier über ihre neuen Mitarbeiter, denen gegenüber Sie weisungsbefugt sind. Ich erwarte von Ihnen, dass sie daraus eine schlagkräftige Truppe formen. Leider bleibt keine Zeit, sich mit irgendwelchen pseudopsychologisch-pädagogischen, äh, Teambuildingmassnahmespielchen zu beschäftigen. Dafür sind alle sehr erfahrene und professionelle Ermittler, die schon einige Erfolge vorzuweisen haben. Und Sie werden deren neuer Leitwolf. Bringen Sie mir Ergebnisse, und Sie werden endlich in die höhere Liga aufsteigen. Staatsanwalt De Groot hält große Stücke auf Sie, sieht großes Potenzial bei Ihnen und möchte Sie gerne fördern. Andererseits, ich hab Sie im Auge, Kies! Bauen sie keinen Scheiß. Ich gebe Ihnen gute Leute zur Seite, alles keine Anfänger. Versauen Sie es nicht! Ich werde nicht den Kopf für Sie hinhalten. Die Verhaftung am Sonntag war ein echter Scheiß. Normalerweise bedeutet so was das Ende der Karriere. Dass das klar ist! Jeder kann verstehen, dass Sie eine schwierige Zeit hatten. Aber nun muss mal ein Neuanfang her, Kies. Nutzen Sie die Chance: Ihre Letzte!«

Kies sah Perkis scharf an, nickte aber dann, denn er wusste, dass Perkis Recht hatte, auch wenn Kies ihn schon immer nicht leiden konnte.

6

Das Büro lag im Jordaan, dem ausgewiesen schönsten Viertel der Amsterdamer Altstadt. Grachten, Brücken, Häuser wie gemacht für das Hochglanzprospekt. Eigentlich war das Büro viel zu teuer und vor allem zu eng. Das Haus war nur etwas über fünf Meter breit und neben dem schmalen Gang war das Büro gerade einmal drei Meter breit, nach hinten aber relativ lang, etwa acht Meter. Die Büroangestellte arbeitete im Souterrain und musste, um zu ihrem Chef zu kommen, über die Straße nach oben gehen. Das Haus lag an einen touristischen Hotspot an der Keizersgracht und war dermaßen exponiert, dass es eigentlich schon nicht mehr schön war. Aber Erik Vermeulen hielt als Top-Makler eben etwas auf Understatement. Seine Kunden waren reich, sie ließen sich am Liebsten mit dem Boot zu seinem Büro bringen, Erik hatte diesen Service einmal als Werbegag angeboten, jetzt wollten alle so zu ihm kommen und am Besten die Objekte, die selbstverständlich an einer Gracht, oder zumindest an einem Kanal liegen mussten, danach per Boot aufsuchen. Keine Staus, keine Parkplatzsuche, keine langen Wege und Champagner auf dem Boot. Er selbst fuhr lieber mit dem Fiets. . .

Direkt gegenüber am Homomonument legte Erik jede Woche ein kleines Sträußchen ab. Er lebte seine Homosexualität offen aus, was in dieser toleranten Stadt so normal war wie Blumengießen. Allerdings meinte er seit geraumer Zeit eine gewisse Ablehnung in Blicken und Gesten verschiedener Leute zu erkennen. »Paranoid«, sagte sein Lebensgefährte Frank. Aber gerade dieses Gefühl, die Fähigkeit Eriks Menschen emotional abzuholen und eine Verbindung zu ihnen aufbauen zu können, war einer seiner Erfolgsgaranten und diese Empathiefähigkeit war im Grunde sein Geschäftsgeheimnis.