Irish Rover - Thomas Ebeling - E-Book

Irish Rover E-Book

Thomas Ebeling

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Beschreibung

1806. Für England eine Phase des Friedens während kriegerischer Zeiten in Europa. Aus den Koalitionskriegen auf dem Kontinent halten sich die Briten weitestgehend heraus, nachdem man ein Jahr zuvor die Vorherrschaft auf See errungen hatte. Die Dreimast- Handelsbark »Irish Rover« des Reeders Samuel Hatch geht im Sturm vor der Küste Irlands verloren. Benjamin Jenkins wird vom Reeder beauftragt, den einzigen Überlebenden, den Schiffskoch Peter Smith, zu verhören, um die Unglücksursache zu erforschen. Dabei erfährt er unerwartete Hilfe. Smith, der dem Wahnsinn verfallen scheint, zeichnet ein bizarres Bild des Unterganges. Seine Aussagen bringen kaum Licht in die Angelegenheit. Aber seinen Hinweisen zu Folge gibt es einen weiteren Überlebenden.

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ZU DIESEM BUCH:

Benjamin Jenkins ist in die Jahre gekommen. Er leidet unter Arthritis, ist in langen Jahren als Beamter zu einem zynischen, alten Mann geworden. Nun soll er noch einmal nach Irland reisen, um einen Schiffbruch zu untersuchen. Dabei wird ihm unerwartete Hilfe zuteil. Der siebte Teil der Benjamin Jenkins Geschichten, inspiriert vom Folk-Song »Irish Rover«. Diese Geschichte ist frei erfunden, handelt aber vor einem historischen Hintergrund. Jede Ähnlichkeit der dargestellten Charaktere mit lebenden Personen ist Zufall.

Inhaltsverzeichnis

Überfahrt

Der Kapitän

Toe Head

Seegang

Home Again

Striche im Sand

Die Kiste

Musketen und Pistolen

Verhandlungen

Der Reiter

Die Festung

Sturm auf Toe Head

Castle Donavan

Husaren

Verbündete

Was man sich eingebrockt hat, ...

Am Kaminfeuer

Glossar

Überfahrt

Die bleigraue irische See zeigte sich von ihrer unangenehmen Seite, die Gischt auf den Wellenkämmen zog im starken Wind Fäden. Der Wind riss an den Segeln und der Takelage des Zweimasters aus Bristol, der in diesem Herbststurm schwer auf und ab stampfte. Fast alle Segel hatte man geborgen, nur zwei Sturmsegel hielten das Schiff in Fahrt und damit steuerbar auf Kurs. Benjamin Jenkins klammerte sich mit beiden Händen an eine Want, sein Magen schien sich mit jedem Stampfen des Schiffes umzudrehen. Er wußte aber, an Deck bleiben und sich im Notfall mit dem Wind zu übergeben war besser, als in der Kajüte herumgeschleudert zu werden und sich womöglich in alle Richtungen erbrechen zu müssen. Nicht selten erlitten Passagiere dabei auch andere Blessuren bis hin zu Knochenbrüchen. Ausserdem wirkten Wind, der Regen und die eisige, spitzende See trotz allem erfrischend. Die Kälte nahm Ben in Kauf. Nie würde er sich an diese verdammte Seekrankheit gewöhnen, niemals würden ihm Seebeine wachsen. Nicht in diesem Leben. Ben wußte aus Erfahrung, dass dieses Wetter für die Seemänner an Bord noch lange kein gefährlicher Sturm war. Er wußte auch, dass sie hinter seinem Rücken sein Leiden mit einem hämischen Grinsen quittierten. Die erfahrenen Seefahrer kannten die See und ihr Schiff und jedes ächzende Geräusch, das der Rumpf von sich gab, sagte ihnen, dass alles in Ordnung war. Es gab für sie keinen Grund zur Panik. Wind und Gezeiten standen günstig, das Schiff konnte auf Kurs gehalten werden. Erst in Landnähe würde ein einziger Fehler genügen, die Brigg zu verlieren. Und da es noch früh am Tag war und sie einigermaßen gute Sicht hatten, würden sie keine Probleme haben, an der Küste entlang navigieren zu können. Der starke Wind kam aus der richtigen Richtung. Schon bald würden sie Land sehen.

Die Brigg »Mary Rose« fuhr im Linienverkehr zwischen Bristol und Cork. Je nach Wetter benötigte das Schiff für diese Fahrt zwischen zwei und vier Tagen. Dieses Mal waren es wohl drei. Die britischen Postschiffe waren stark und solide gebaut, nicht Schnelligkeit war hier gefragt, sondern Langlebigkeit und geringe Unterhaltskosten. Nur 10 Mann Besatzung waren nötig, diese Maschine aus Holz und Leinwand zu bedienen.

»Sie sollten besser unter Deck gehen, Sir! Bei diesem Wetter kann ich hier oben nicht für Ihre Sicherheit garantieren!«, hörte Ben den ersten Offizier hinter sich sagen. Ben drehte sich zu ihm um. Er sah den Mann mit starren Augen an. Bens Gesicht war blass, seine Wangen schimmerten grünlich. Er musste sich zusammenreißen, damit er sich beim Sprechen nicht übergab.

»Scheren Sie sich zum Teufel, Owens!«, presste er heraus.

Echauffiert wandte sich der Mann ab. Immerhin war er nach dem Kapitän der ranghöchste Offizier dieses Schiffes. So ein Affront! Was bildete sich der Kerl ein? Aber dieser Jenkins war ein hoher Inspektor der Regierung. Diese verdammten königlichen Beamten! Ein Federstrich von so jemanden konnte Karrieren beenden. Der Offizier biss wütend die Zähne zusammen und kämpfte sich auf dem schwankenden Deck zurück auf seinen Posten neben dem Steuerrad. Wie gerne wäre er wieder bei der Navy gegen Napoleon gesegelt. Aber besser dieser Posten als mit Halbsold an Land festzusitzen.

Trotz der Übelkeit funktionierte Bens Kopf wie ein Präzisionsuhrwerk. Seine Gedanken wanderten in dieVergangenheit.

Irland. 1775 hatte er es fluchtartig verlassen müssen. Seitdem hatte er keinen Fuß mehr auf diese Insel gesetzt. Viele Erinnerungen kamen in ihm hoch. Hier war er vor mehr als einen halben Jahrhundert geboren worden. In Cork und Killarney war er aufgewachsen, hatte dort seine Jugend verbracht. Seine beiden Ehefrauen hatte er hier kennengelernt. Von der ersten hatte er sich nach einer kurzen, intensiven Zeit getrennt, mit der zweiten war er nun schon seit sehr langer Zeit verheiratet.

Über 30 Jahre! Wie schnell die Zeit vergangen war! So viele Jahre, wie im Fluge verstrichen. Benjamin hatte sich in die Arbeit gestürzt, war bei den »Bow street runners«, der Londoner Polizeitruppe, aufgestiegen. Dann, mit Beginn der Kriege gegen die Franzosen nach der Revolution, war er in das Innenministerium gewechselt. Er hätte auch seinen Vorgesetzten und Mentor Adam Collins beerben können, aber mit dem Tod von Sir John Fielding hatten sich die Verhältnisse bei der Polizei in London geändert und ohne die Protektion dieses famosen Herren war auch seine Karriere gefährdet gewesen. Die meisten Männer aus Fieldings ehemaligem Dunstkreis hatten den Polizeidienst einige Jahre später nach Auflösung der Runners verlassen, hatten zu Marine Police gewechselt, oder waren wie Jenkins dem Ruf ins Ministerium gefolgt. Henry Fielding, eigentlich Friedensrichter, aber auch Journalist und Schriftsteller, und sein jüngerer Bruder John Fielding waren Collins und auch Bens große Vorbilder gewesen. Obwohl schon im Jugendalter erblindet, hatte John Fielding sozusagen nur durch die Kraft seines Verstandes Veränderungen in Gang gesetzt, die bis heute nachwirkten. So hatte er in Zusammenarbeit mit seinem berühmten Bruder Henry an der Bow Street den Londoner Police Service, die sogenannten »Bow-street-runners« mit späterem Sitz am Scotland Yard in Whitehall begründet, sich konsequent gegen die Korruption im Gerichtswesen gestemmt und sich als einer der ersten für die Resozialisierung jugendlicher Straftäter eingesetzt. Zusätzlich hatte er seine guten Beziehungen benutzt, um präventiv der Kriminalität zu begegnen. Er setzte sich dafür ein, Schulen in den ärmsten Gegenden Londons zu gründen, in der festen Überzeugung, dass alleine Bildung und Ausbildung junge Menschen davor bewahren kann, auf die schiefe Bahn zu geraten.

Als John Fielding 1780 starb, begann eine Zeit des Umbruchs. Zwar wurde seine Arbeit einige Jahre erfolgreich weitergeführt, aber die alte Korruption kehrte langsam wieder zurück. Wie ein unsichtbarer Mechanismus übernahmen Habgier und Gewinnsucht wieder die Kontrolle. Fieldings Nachfolger waren nicht in der Lage, die Reformen weiterzuführen. Jenkins‘ Schwiegervater, der geniale Ermittler Adam Collins wurde wenige Jahre später aus dem Dienst entlassen. Stets hatte er sich gegen diese Entwicklungen gestemmt, und sich dabei viele Feinde gemacht. Seine letzten Monate im Dienst hatte er weitestgehend isoliert verbringen müssen. Nur kurze Zeit danach war er als gebrochener Mann desillusioniert gestorben.

Schließlich begann Ende der 1780er Jahre in Frankreich die Revolution, und spätestens ab diesem Zeitpunkt verdächtigte man alle Reformversuche als mutmaßlichen Angriff auf die öffentliche Ordnung. Das Angstgespenst der Revolte ging beim Adel um. Tausende französischer Aristokraten verließen ihr Land, viele von ihnen gingen ins Exil nach England. Es waren schwere, komplizierte Jahre. Die meisten davon verbrachte Benjamin mit der Arbeit, für das Innenministerium Spione und Agenten unter den französischen Adeligen und deren Gefolgschaft auszumachen, oder ebensolche für die Sache Englands zu rekrutieren. Ausgerechnet Ben, der immer davon geträumt hatte, wissenschaftlich zu arbeiten und zu forschen, war gezwungen gewesen, im Dienste Englands Menschen zu manipulieren, unter Druck zu setzen und Agenten zu rekrutieren. Ben verabscheute seine Arbeit. Doch er hatte es all die Jahre nicht geschafft, eine andere Beschäftigung zu suchen und sich aus der gewohnten Sicherheit zu lösen. In dieser Zeit wurde er aber auch fünfmal Vater, leider überlebten zwei seiner Kinder die ersten Jahre nicht. Amanda Rose, seine älteste Tochter aus erster Ehe, war glücklich mit einem Anwalt verheiratet, lebte in Newcastle und hatte selbst drei Kinder. Sie schrieb ihm regelmäßig, wenigstens hier schien das Leben sich gut entwickeln zu dürfen. Zu ihrer Mutter Molly, die als Sängerin berühmt geworden war, war der Kontakt bereits 1779 abgebrochen. Niemand wußte, was aus ihr geworden war. Ben hatte sich von ihr scheiden lassen und Emily geheiratet. Ihr erstes Kind überlebte nicht, doch ihre beiden Söhne Charles und Adam waren erwachsen und Soldaten des Königs, sie dienten bei Marine und Armee. Beide hatten das Offizierspatent erreicht, doch nun im Frieden sollten sie zunächst heimkehren. Die jüngste Tochter Beatrice, die alle nur Becky nannten, war erst 1793 geboren, sie war mit 13 Jahren das Nesthäkchen der Familie. Eine weitere Tochter, Mary, war nur ein Jahr alt geworden.

Dieser Auftrag nun, in Irland die Ursache eines Schiffsverlustes zu klären, kam Ben sehr ungelegen. Er hatte so viele Verdachtsfälle wegen Spionage auf dem Schreibtisch wie noch nie. Die Arbeit stapelte sich in Bens Büro. Doch die Sparmaßnahmen der Regierung betrafen auch das Innenministerium und somit auch seine Abteilung, und der Reeder Samuel Hatch verfügte über gute Verbindungen. So hatte dieser bewirkt, dass eine offizielle Untersuchung des Schiffsverlustes vorgenommen wurde. Um dies zu erreichen, hatte er zusätzlich eine mögliche französische Sabotage oder Verschwörung als mutmaßliche Ursache für den Untergang angegeben. Benjamin Jenkins wurde wegen seiner Kenntnisse der irischen Sprache, die er in seiner Jugend erworben hatte und wegen seiner ermittlerischen Fähigkeiten ausgewählt, in den Westen der grünen Insel zu reisen und die Hintergründe des Unglücks zu recherchieren. Ob der Untergang wirklich mit Spionage oder Sabotage zu tun hatte, war unklar. Es gab lediglich Hinweise. Ben war zu sehr Ermittler, um solche Dinge als bewiesen hinzunehmen. Einige Indizien, hätte Adam Collins gesagt, mehr nicht. Nur stichhaltige Beweise zählten. Er musste sich also selbst vor Ort ein Bild machen. Nach den letzten Berichten lag die »Irish Rover«, ein Handelsschiff aus Cork, auf einem Riff im Süden der Insel. Es sei zur Zeit wohl noch erreichbar und man würde versuchen, soviel Fracht und Gebrauchsgegenstände aus dem Wrack zu bergen, wie möglich. Zudem gab es einen Überlebenden, der allerdings nicht transportfähig war. Ihn wollte Ben als erstes verhören, denn es war unklar, ob der Mann die erlittenen Verletzungen lange überleben würde. Das Wrack interessierte Ben eigentlich gar nicht, wahrscheinlich war es bis zu seiner Ankunft in den Herbststürmen endgültig zerborsten. Und falls nicht, er war nicht der Fachmann für Wind, Gezeiten, Navigation oder Schiffbau. Bei der Einschätzung, ob hier höhere Gewalt oder ein schuldhaftes Verhalten der Crew, beziehungsweise der Schiffsführung das Unglück herbeigeführt hatte, war er auf die fachlichen Kompetenzen anderer angewiesen. Hier zu sollte er einen ranghohen Marineoffizier in Irland treffen, der im Moment wegen des Friedens kein eigenes Kommando inne hatte.

Ein lauter Ruf vom Ausguck holte Ben aus seinen Gedanken.

»Land in Sicht! Zwei Strich backbord voraus!«

Der Kapitän

»Mr. Jenkins, nehme ich an?«, sagte der Marineoffizier freundlich und reichte Ben die Hand. Er trug einen tadellosen dunkelblauen Uniformrock, dazu weiße Brechees und sehr sauber geputzte schwarze Schuhe mit goldenen Schnallen. Seinen Zweimaster, wie die Marineoffiziere ihren Hut nannten, hatte er unter den linken Arm geklemmt. An seiner Seite trug er einen Säbel mit goldenem Griff. Sein dunkles Haar trug er nach der neuesten Mode kurz geschnitten. Dazu hatte er Koteletten an den Backen, die exakt gleich getrimmt waren. Er legte anscheinend sehr großen Wert auf sein Äußeres. Ben war aufgestanden, als der Mann sein provisorisches Arbeitszimmer im Gasthaus »Lions Head« betreten hatte. Er war auf die Minute pünktlich.

»Sehr erfreut, Kapitän Medocks. Bitte, nehmen Sie doch Platz, Sir!«

Der Marinemann nahm seinen Säbel ab, der ihn beim Hinsetzen gestört hätte und setzte sich elegant in den bereitstehenden Sessel auf der anderen Seite des Tisches. Seine Uniform war tadellos.

»Ich bin gerade erst angekommen, verzeihen Sie die Unordnung hier. Aber ich gedenke, umgehend weiterzureisen, damit wir an den Ort der Tragödie kommen, bevor das Wrack endgültig verloren geht, wenn Sie nichts dagegen haben.«, sagte Ben gleich. Er wußte, dass man höflicher Weise erst einmal Belanglosigkeiten austauschte, bevor man zum geschäftlichen kam. Doch all das gehört bereits zu Bens Taktik, einen Fremden einzuschätzen.

»Nun, das liegt auch in meinem Interesse. Ich möchte so schnell wie möglich wieder zurück nach England. Immerhin warte ich schon zwei Tage auf Sie. Eigentlich hätte ich noch etwas Urlaub. Ich war vor dem Friedensschluss drei Jahre auf See, wissen Sie? Diese Angelegenheit ist nicht gerade das, was sich ein Kapitän als Aufgabe wünscht!«

Medocks kam also ebenfalls gleich zur Sache.

»Sir, ich verspreche, Ihre Dienste nicht länger als unbedingt nötig in Anspruch zu nehmen. Ich benötige Ihre Einschätzung als Fachmann. Aber das wissen Sie ja bereits.«

»Korrekt. Nun, wann wollen Sie morgen aufbrechen?«

»So früh wie möglich. Ich schlage vor, dass wir Pferde nehmen. Das Gepäck soll in einer Kutsche folgen. Ich möchte keine Zeit verlieren. Hier sind alle Berichte, die wir zu der Sache haben, einschließlich des Zustandsberichtes, den ich erst vorhin erhielt. Das Boot scheint immer noch einigermaßen in Takt. Schlechter steht es mit dem Überlebenden. Ich hoffe, wir treffen rechtzeitig vor Ort ein.«

Medocks runzelte die Stirn.

»Mit Respekt, das »Schiff«, Sir. Die »Irish Rover« hat durchaus die Größe, um als Schiff bezeichnet zu werden«, gab Medocks besserwisserisch kund.

»Äh, ja, sicherlich.«, gab Ben kleinlaut zurück. Auch das war Taktik. Sollte sich dieser Kapitän ruhig wissender als Ben wähnen.

Ben überreichte dem Offizier Abschriften der Berichte. Ben hatte sie gerade eben erst verfasst.

»Verzeihung, Sir, wann sind Sie angekommen? Diese Abschriften sind sehr umfangreich. Ich dachte, Ihr Schiff hätte erst vor zwei Stunden festgemacht?«

»Ja, und?«, sah Ben seinen Gast fragend an.

Eine leichte Unsicherheit huschte über dessen Gesicht.

»Ich, äh, wollte Sie noch zu den Hinweisen über einen möglichen Aufstand befragen, Sir. Womöglich besteht hier ein Zusammenhang. Es heißt, die »Irish Rover« habe Waffen oder gar Truppen befördert. Wir sollten die Möglichkeit einer Verschwörung immer in Betracht ziehen!«

Benjamin runzelte die Stirn. Woher hatte Medocks diese Informationen? Ben hatte klare Anweisungen vom Ministerium. Keinerlei Aufsehen!

»Das ist mir neu, Sir! Aber ich danke für die Informationen, auch wenn diese Hinweise sicherlich nur Gerüchte sind. Die Leute reden viel. Wenn sie genug Gin oder Whiskey im Schädel haben, erzählen sie Ihnen, dass Seeungeheuer das Schiff versenkt, oder auf die Küste geschleudert hätten. Soll ich das dann in den Bericht für den Reeder und die Admiralität schreiben?«, lenkte er ab. »Aber lassen wir das. Morgen früh, bei Sonnenaufgang? Ich würde Sie gerne zu Frühstück eine Stunde vorher einladen, Kapitän. Ist Ihnen das möglich? «

Ben konnte Medocks ansehen, dass er nun etwas beleidigt war.

»Natürlich, Sir! Wie Sie wissen, sind uns Seemännern alle Tages- und Nachtzeiten als Dienstbeginn vertraut!«, sagte er etwas pikiert.

»Gut. Dann ist alles besprochen. Morgen früh um Sechs. Sonnenaufgang ist um sieben. Für Pferde ist gesorgt.«

Mit diesen Worten stand Ben auf. Medocks tat es ihm gleich, nahm seinen Säbel und sie verabschiedeten sich. Die ganze Unterhaltung hatte nur ein paar Minuten gedauert. Das war Ben nur recht. Medocks hatte seine Hausaufgaben erhalten, die Berichte konnte er ja nun studieren. Sie waren langatmig und nichtssagend. Ben würde nun noch eine Kleinigkeit essen und dann zu Bett gehen. Er fühlte sich müde und ausgelaugt. Diese Seereise wirkte bei ihm noch nach. Obwohl bereits am Vormittag Land in Sicht gekommen war, hatte es bis zum Abend gedauert, bis das Postschiff im Hafen angekommen war. Und ein langer Ritt morgen früh würde bestimmt nicht zu einer besseren körperlichen Verfassung beitragen. Zumal er seit Jahren nicht mehr geritten war. Ausserdem würde er gleich seine Medizin nehmen, es war seit langer Zeit eine Art Ritual geworden, dies jeden Tag stets zur gleichen Abendstunde zu tun. Ohne sie würde er überhaupt keinen Schlaf finden können.

Wenig später, Ben hatte sich gerade bis auf sein Hemd ausgezogen und müde in das Bett gelegt, um nun endlich seine Tropfen einzunehmen, klopfte es erneut an der Türe.

»Herein, verdammt!«, brummte er und stellte die Phiole mit der Tinktur wieder auf den Nachttisch zurück.

Der Hausdiener kam mit einer Kerze in der Hand schüchtern herein und verneigte sich ungelenkig. Mit seiner eigenartig hohen Fistelstimme tat er sein Anliegen kund.

»Sir, verzeihen Sie bitte die Störung, aber hier ist eine Dame, die sie unbedingt sprechen möchte. Sie ließ sich nicht abweisen.«

»Ich habe doch gesagt, dass ich niemanden vor morgen früh sprechen will. Sie soll bis morgen waren! Und, nur für den Fall, das es sich um eine von den Huren unten im Gasthaus handelt: Ich habe kein Interesse!«

»Oh, nein, Mister Jenkins, Sir! Die Dame kam gerade an und sagte, sie sei mit ihnen verwandt.«

Ben stutzte. Verwandtschaft? Hier in Irland? Womöglich jemand aus der Familie seiner Mutter? Aber, ihm waren diese Leute unbekannt. Ausserdem, woher sollte jemand wissen, dass er heute für eine Nacht hier war? Ben war nun hellwach.

»Himmelherrgottnochmal! Also gut. Ich komme. Die Dame soll unten warten!«, herrschte er den Diener unfreundlich an. Er besann sich aber eines Besseren, denn der Mann konnte schließlich nichts für den Besuch. Wie oft hatte ihn seine Frau Emily wegen solcher cholerischer Ausfälle ermahnt. Etwas milder fügte er hinzu:

»Bieten Sie ihr etwas zu trinken an. Für mich bitte einen Tee. Und lassen Sie mir die Kerze da.«

Ben stieg in seine Hose und stopfte das Hemd notdürftig hinein. Auf die Socken verzichtete er und schlüpfte barfuß in die schweren Lederstiefel. Dann sah er in den Spiegel. Sein ehemals schwarzes Haar war von grauen Strähnen durchzogen. Es war strubbelig vom Salzwasser und somit unkämmbar. Die verhasste Perücke hatte er gar nicht ausgepackt. Er dachte daran, ab sofort auch die Haare kurz zu tragen, wie dieser Medocks. Doch im Moment konnte er nichts für seine Frisur tun. Die ganze Zeit dachte er, welche Verwandtschaft das wohl sein könnte. Womöglich eine Cousine zweiten oder dritten Grades? Gedankenverloren wanderte sein Blick zu der Phiole auf dem Nachttisch. Wie gerne hätte er jetzt ein paar Tropfen genommen und sich dann hingelegt. Er atmete tief durch und nahm den kleinen Kerzenleuchter in die Hand. Dann ging er mit schweren Schritten aus dem Zimmer und polterte die Treppe hinunter in die Gaststube des »Lions head«.

Es waren nur noch wenige Gäste da, und Ben musste nicht lange suchen. An einem der besseren Tische wartete eine Person in Frauenkleidern mit einem Kapuzenumhang. Auf dem Tisch standen zwei Tassen und in der Mitte eine Teekanne mit dampfendem Inhalt. Ben konnte die Frau im spärlichen Kerzenlicht der Gaststube nicht sofort erkennen. Als Ben nun näherkam, schob sie die Kapuze zurück. Die Frau war schon älter, aber nicht älter als er. Über ihrem Kleid trug sie einen dunkelgrünen Umhang, der vom Regen durchnässt war. Sie hatte graues, noch etwas rotblond schimmerndes Haar, das streng gebürstet in einem zwiebelartigen Dutt am Hinterkopf endete. Ihr Gesicht war faltig. Nur ihre Augen verrieten Ben, wer diese Frau war. Ben erschrak.

»Molly! Was tust Du hier?«, entfuhr es ihm.

»Guten Abend, Ben. Ich freue mich auch, Dich zu sehen.«

Ben rang Sekunden um Fassung.

»Ich weiß nicht, ob ich mich freuen soll, Molly. Oder soll ich Marian sagen? Oder lieber Miss Wallace?«, sagte Ben schließlich mit einem spöttischen Unterton.

»Nun, als »Miss« gehe ich wohl nicht mehr durch. Aber Du kannst Molly sagen.«, antwortete die Frau mit einem sanften Lächeln.

»Also schön. Dann hätten wir das geklärt. Und nun zur anderen Frage: Was willst Du?«, fauchte er.

»Ich brauche Deine Hilfe, Ben. Es geht um Leben und Tod!«

Ben runzelte die Stirn. Wie melodramatisch! Ihm fiel nichts anderes als eine zynische Antwort ein:

»Ach, was? Und warum sollte ich Dir helfen? Du hast Rosie und mich damals im Stich gelassen. Schon vergessen? Du wolltest die gefeierte Künstlerin sein! Damals waren wir Dir anscheinend im Weg!«

»Das ist lange her, Ben. Ich musste meine Karriere aufgeben. Glaube mir, ich hatte schlimme Jahre danach.«

»Hm«, brummte Ben. Er wußte nicht so recht, was er von diesem Treffen halten sollte. Erinnerungen schossen in seinen Kopf. Oft hatte er an Molly gedacht. Meistens, wenn es in der Beziehung zu seiner Frau Krisen gab. Aber schließlich hatte Molly ihn verlassen. Nicht er sie!

»Wie konntest Du wissen, dass ich heute hierherkomme? Ich meine, kaum jemand weiß von meinem Auftrag.«

»Eine weise Frau hat es mir gesagt. Ich soll hierherkommen.«

»Eine weise Frau? Das soll ich glauben, Molly? Du weißt, ich bin ein Mann der Wissenschaft. Ich glaube nicht an diesen Hokuspokus. Es gibt keine übernatürlichen Erscheinungen, auch wenn Ihr hier in Irland in und hinter jedem seltsamen Felsen Riesen, Feen oder Elfen vermutet. Es gibt für alles wissenschaftliche Beweise. Wir haben nur noch nicht alle Erklärungen entdeckt!«

»Sie hat es mir gesagt. Den Tag, die Stunde. Und dass Du nach verlorenen Seelen suchst. Und Beweise für die Schuld an deren Verlust.«

Ben runzelte die Stirn. Das war unmöglich. Er hatte seinen Auftrag direkt vom Reeder. Niemand ausser diesem und seinem Vorgesetzten wußte, dass Ben für diese Aufgabe abgestellt worden war. Wie hätte Molly davon erfahren können? Nur Kapitän Medocks war vorher informiert worden. Und der war seit zwei Tagen hier in Cork.

»Du weißt es von Kapitän Medocks, oder? Woher kennst Du ihn?«

»Wie gesagt, Ben, eine weise Frau...«