Scarborough fair - Thomas Ebeling - E-Book

Scarborough fair E-Book

Thomas Ebeling

0,0

Beschreibung

1778 Molly und Ben gehen getrennte Wege. Während sie unter dem Pseudonym Marian Wallace Erfolge als Sängerin feiert, arbeitet Ben als Assistent von Adam Collins bei der Londoner Polizei. Dabei entfernt sich das Paar nicht nur räumlich von einander. Mit »Scarborough fair« erscheint der sechste Band der Benjamin Jenkins Reihe und schließt diese vorerst ab.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 154

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



ZU DIESEM BUCH:

Die Handlung in diesem Buch ist frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist Zufall. Historische Persönlichkeiten wurden erwähnt, ihre charakterlichen Eigenschaften sind aber von mir interpretiert oder angedichtet. Ihr Andenken soll in keiner Weise gestört werden.

Inhaltsverzeichnis

1.

Gefängnis von New Gate, London

2.

Die Richtstätte

3.

Fieber

4.

Bath

5.

Rache

6.

Konzerte in Prior Park House

7.

Der unbekannte Verehrer

8.

8Emily und Ben

9.

Die Tote im Bach

10.

Entführt

11.

Der Tod der Marian Wallace

12.

Liebesnacht

13.

Obduktion

14.

Das letzte Konzert

15.

Die Jagd beginnt

16.

Soiree

17.

Nächtlicher Besuch

18.

Das Haus von Mrs. Fraser

19.

Die Frau im Bach

Anhang:

1 Gefängnis von New Gate, London

»Der Mann ist doch schon seit Tagen tot! Wieso ist das niemandem aufgefallen? Die Vorschrift lautet, dass jeder Gefangene stündlich angesprochen wird, zwei Mahlzeiten am Tag erhält und die Zelle sauber gehalten werden muss! Was ist denn das für eine verdammte Schlamperei?«, schrie der Gefängnisleiter Walter Higghamm die beiden Wärteran. Dann hielt er sich wieder sein lavendelgetränktes Schnupftuch vor die Nase. Der Gestank nach Fäkalien, Tod und Verwesung war bestialisch. Die Wärter blickten nur beschämt zu Boden. Sie wagte keine Widerrede.

»Leuchten Sie mal hierher, ich kann kaum etwas erkennen!«, befahl der Vorgesetzte barsch. Einer der beiden Wärter ging mit seiner Tranlampe um den Toten herum. Higgham ging in die Hocke, um mehr zu erkennen.

Als er das Gesicht des Toten sah, erschrak er und sprang auf. Schon oft hatte er Leichen in allen Stadien der Zersetzung gesehen, aber das hier war außergewöhnlich grausig.

»Oh, mein Gott!«, stieß er hervor.

Viel konnte man hier nicht erkennen, die Gänge und Zellen des Gefängnisses Newgate waren nur unzureichend mit einzelnen Tranlampen beleuchtet. Die Zelle des Toten selbst war spärlich eingerichtet und schmutzig, obwohl sich der Mann eine besondere Behandlung erkauft hatte.

Die drei Männer standen vor dem Leichnam eines Mannes, dessen Gesicht von den allgegenwärtigen Ratten angefressen worden war. Die Gesichtszüge des Gefangenen waren kaum mehr zu erkennen. Auch die Hände waren von den Nagetieren nicht unberührt gelassen worden. Im Fleisch des Mannes tummelten sich Maden.

Doch Körpergröße und Kleidung des Verstorbenen waren eindeutig dem zum Tode durch den Strang verurteilten ehemaligen Anwalt Horatio Ryker zuzuordnen. Niemals hätte er seine Zelle oder diesen Teil des Gefängnisses unbemerkt verlassen können, obwohl sich Teile des Gebäudes noch in Bau befanden. Für den Aufseher bestand kein Zweifel, dieser Mann musste bereits seit Tagen tot sein.

Übermorgen war die Hinrichtung angesetzt, der Galgen in Tyburn war aufgebaut und die besten Plätze für Zuschauer waren bereits verkauft. Wie viele Verurteile vor ihm, hatte auch Ryker eine Abschiedsrede vorher drucken lassen, was die Bevölkerung als sehr nobel ansah. Dieser selbstverfasste Nachruf sollte vor der Exekution als »Programmzettel« verkauft werden. Das war durchaus üblich und gehörte zum makaberen Schauspiel einer Hinrichtung in Tyburn. Der Haftleiter Higgham selbst hatte Ryker diesen Dienst angeboten und würde nun auf den Kosten sitzen bleiben. Er war ausser sich vor Wut.

»Dafür werden Sie büßen! Alle beide! Das ist ein absolutes Versagen! Noch dazu hier in der Master‘s side!«

Es gab in jedem Gefängnis eine »Master‘s side«, die mit einigen Annehmlichkeiten aufwartete, die allerdings vom Gefangenen selbst bezahlt werden mussten. Die »Common-« oder »Poor-side« bot dies nicht.

Natürlich kam es immer wieder vor, dass Rationen für die Gefangenen von den Aufsehern verkauft wurden und die Inhaftierten nie erreichten. Die Aufseher wurden einfach zu schlecht bezahlt und nutzten jede Gelegenheit, um eine Münze zu machen. Sie waren bestechlich und korrupt. Konnte man es ihnen verübeln? Schließlich sagte bis in die höchsten Kreise niemand nein, wenn sich die Möglichkeit eines Nebenverdienstes bot. Wenn ein Gefangener nicht von selbst seine Bedürfnisse kund tat und die Wärter ansprach, konnte es schon vorkommen, dass man sich lieber um Leute kümmerte, die jede Dienstleistung mit barer Münze zahlten.

»Nun, Sir, der Mann wollte nicht gestört werden. Er hat sogar extra dafür bezahlt«, sagte einer der Wärter.

Higgham schüttelte nur den Kopf. Im Gegensatz zu seinem Personal kam Higgham nur selten in die Zellen und Gänge. So lange es gut lief war das auch nicht nötig.

»Lächerlich! Dann hätte er ja auch dafür zahlen können, dass Sie ihn frei lassen. Das verstößt eindeutig gegen die Vorschriften, Mann!«

»Äh, könnten wir den Mann nicht trotzdem hängen, Sir? Ich meine, man hat doch auch schon Todkranke aufgeknüpft, die nicht einmal mehr gehen konnten«, fragte der andere kleinlaut, als Versuch, sich aus der Affäre zu ziehen.

Das bleich gepuderte Gesicht des Oberaufsehers war trotz der schlechten Beleuchtung im Halbdunkel der modrigen Zelle gut zu erkennen. Er war sehr wütend.

»Verdammter Dummkopf! Der Tote war nicht irgendwer! Das war Horatio Ryker. Ein Hochverräter, Betrüger und Mörder aus Irland. Seit einem Jahr wartet er auf seine Hinrichtung. Viele Lords und Ladys hatten sich angekündigt, nicht nur das einfache Volk und Schaulustige! Da kann der Henker doch keine Leiche mit zerfressenem Gesicht an den Strick hängen!«

Nein! Walter Higgham, der Gefängnisleiter und oberster Aufseher in Newgate, dem Gefängnis von London, musste diese Sache dem zuständigen Richter melden und die beiden Verantwortlichen ebenfalls in eine Zelle werfen lassen. Er konnte nur hoffen, seinen Posten behalten zu dürfen und einer Bestrafung zu entgehen. Einen Toten hängen? Sicherlich, einen Betrug mit einer gut aussehenden, frischen Leiche konnte man vielleicht riskieren. Er selbst hatte schon des öfteren todkranke Gefangene, die nicht einmal mehr in der Lage gewesen waren zu gehen, zum Schafott führen lassen. Aber einen Kadaver ohne Gesicht?

Nonsens!

Zum Glück war für den gleichen Tag die Hinrichtung eines gewissen William Dodd angesetzt, einem angesehenen Geistlichen und Literaten, der sogar Hofprediger gewesen war. Dieser saß ebenfalls in Newgate ein und wartete auf seinen Tod. Im Vergleich zu Ryker, den man wegen mehrfachen Mordes, Betruges und Erpressung verurteilt hatte, war sein Vergehen, die Fälschung eines Schuldscheines, geradezu lächerlich. Trotzdem stand auch darauf der Tod durch die Hand des Henkers. Er sollte kurz nach Ryker an den Galgen gehen, damit waren die geschäftlichen Verluste für Higgham, der auch hier seine Finger im Spiel hatte, Gott sein Dank überschaubar.

Aber die Hinrichtung Rykers war natürlich hinfällig. Nach Vorschrift musste nun sein Leichnam von zwei weiteren Beamten begutachtet und identifiziert werden. Erst dann konnte man ihn aus der Zelle entfernen. Higgham überlegte bereits, wen er hier hinzuziehen konnte. Er brauchte jemanden, der keine unnötigen Fragen stellte.

Später würde man die sterblichen Überreste des Gefangenen Ryker in einer Ecke des Hofes der Festung verscharren. Kein Grabstein und kein Hinweis sollte auf den Mann deuten, der hier seine letzte Ruhe finden würde.

2 Die Richtstätte

In Tyburn war das Spektakel in vollem Gange. Um den markanten, dreibeinigen Galgen des kleinen Vorortes von London hatte sich eine große Menschenmenge versammelt und wartete auf die Ankunft der Karren, mit denen die Todeskandidaten zum Galgen gefahren wurden. Diese wurden von einem Trupp Soldaten bewacht, die allerdings weniger wegen der Fluchtgefahr der Delinquenten dabei waren, als vielmehr zum Schutz von dem Mob. Seit Jahrhunderten diente dieser Platz als Hinrichtungsstätte für die City of London. Am »triple tree«, dem dreibeinigen Galgen, der im Volksmund auch die »dreibeinige Gaul« oder der »dreibeinige Schemel« genannt wurde, konnten mehrere Menschen gleichzeitig hingerichtet werden. Es gab Buden mit allen möglichen Speisen, Bier und andere alkoholische Getränke wurden ausgeschenkt, Waren feilgeboten. Es gab Logenplätze auf einer extra errichteten Tribüne und einfach Bänke und Tische, von denen aus man bequem zusehen konnte, wie die Verurteilten hingerichtet wurden. Dabei konnte man sich bedienen lassen und angenehm speisen.

Gerade wurde die letzte Ansprache des ersten Delinquenten für den heutigen Tag verlesen. Der Speaker sprach langsam, deutlich und mit lauter Stimme die dramatischen Worte, betonte an den richtigen Stellen und ließ dramaturgische Pausen, damit das Publikum mit »Ohh!« und »Ahh!«, Buh-Rufen oder kurzem Beifall reagieren konnte. Das ganze zog sich derart in die Länge, dass der Henker, der am Galgen wartete, schon ungeduldig von einem Fuß auf den anderen trat. Wollte dieser Mann sein Leben durch ein paar Zeilen um lächerliche fünf Minuten verlängern? Oder sollte man ihn ob dieser ergreifenden Rede einfach besser in Erinnerung behalten? Jedenfalls stand der Mann breitbeinig und selbstgefällig auf dem Karren, und man konnte den Eindruck haben, dass er stolz auf seine Tat sei. Dabei war er nichts anderes als ein niederträchtiger Frauenmörder. Aber hier wurde seine Tat als eine Folge von wiederholtem Ungehorsam und Respektlosigkeit ihm gegenüber dargestellt. Dazu wurde ein Bild einer schweren Kindheit mit gnadenloser Ungerechtigkeiten und noch dazu schwerer Schicksalsschläge im Leben des Verurteilten gezeichnet, welches so übertrieben schien, dass jeder vernünftige Mensch ob dieser Darstellungen zweifeln musste. Doch dem Publikum gefiel das anscheinend gut, nicht wenige der Wachsoldaten fürchteten, der Mob könnte alsbald den Galgen stürmen, um den armen Elenden zu retten. Doch soweit ging das Mitgefühl der Menge nicht. Als der Speaker geendet hatte, applaudierte die Menge. Aber die Hauptattraktion war schließlich nicht die Rede, sondern der Tod dieses Mannes. Man erwartete, dass der Verurteile in möglichst lässiger Haltung zum Galgen ging, vielleicht noch einen letzten markanten Spruch von sich gab, und dass dann der Henker professionell sein Handwerk ausübte. Dafür würde es dann noch einmal ausgiebigen Applaus geben.

Benjamin Jenkins, der mit seinem Vorgesetzten Adam Collins ebenfalls diesem makaberen Schauspiel beiwohnte, schüttelte nur den Kopf. Das hier war nichts anderes als eine Show. Abschreckend war eigentlich nur das Verhalten der Zuschauer. Die beiden hatten keinen der Logenplätze, sondern standen in der drängelnden Menge, die gerade eben den Karren mit dem Verurteilten vorbeigelassen hatte. Makaberer weise lag der Sarg für den Delinquenten gleich mit auf dem Wagen, was dem Umstand zu verdanken war, dass man den Leichnam nach dem Ableben zeitnah vom Galgen abnehmen und in der Kiste zum Friedhof weitertransportieren würde. Das ersparte Zeit und Geld.

Als nächstes verlas der Speaker das Urteil:

»Harold Manson, Schneider zu London, wurde für schuldig befunden, seine Ehefrau Eleonore schwer verletzt und ihren Tod billigend in Kauf genommen zu haben!«

Wieder machte er eine Pause, damit die Menge mit »Buh«-Rufen, Pfiffen und anderen Bekundungen auf das Urteil reagieren konnte.

»Darum wurde er nach gerichtlicher Prüfung zum Tode durch den Strang verurteilt!«

Dafür gab es Applaus.

Dann trat der Henker einen Schritt vor, stieg auf den Karren hinauf und legte den sauber geknoteten Galgenstrick um den Hals des Todeskandidaten, der kurz vorher von einem Priester die letzten Sakramente zugesprochen bekommen hatte. Dann blickte der Henker noch einmal zum Richter, der kurz nickte. Der Karren fuhr dann einfach ein Stück weiter, bis der Verurteilte den Boden unter den Füssen verlor und zwei Fuß tief fiel. Mit einem Ruck blieb er am gestreckten Seil hängen. Das brach ihm das Genick, er war sofort tot. Dies galt als gnädig, weil es keinen längeren Todeskampf gab. Wieder applaudierte und jubelte die Menge, nun als Beifall für den Henker.

Collins empfand diese Bestrafung als viel zu milde, im Gegensatz zu dem, was der Mann getan hatte. Er hatte seine eigene Ehefrau auf bestialische Weise ermordet, nachdem er sie zunächst mit einem Messer schwer verletzt hatte, hatte er sie stundenlang malträtiert, bis sie schließlich verblutet war.

Den Umstand, daß man seinen Ausführungen über den Speaker und sogar auf gedruckten Flugblättern solches Gehör schenkte, hielt Collins schlichtweg für skandalös. Er und seine Kollegen vom London Metropolitan Police Service hatten den Mann überführt, er hatte ohne Folter gestanden. Nur deswegen war der Polizist mit seinem jungen Kollegen heute gekommen: Um zu sehen, wie dieser Verbrecher seine gerechte Strafe erhielt. Eine weitere Hinrichtung, die des Anwalts Horatio Ryker, war ausgefallen, der Mann war kurz zuvor in Haft gestorben. Die Umstände waren durchaus geheimnisvoll gewesen, aber eine Untersuchung war von vorne herein als unnötig erachtet worden. Schließlich ging man davon aus, dass der Mann nun bekommen hatte, was er verdiente. Der letzte und prominenteste Verurteilte an diesem Tag war ein gewisser William Dodd, nach einer kurzen Pause sollte dieser ebenfalls gehängt werden. Dodd war bei der Bevölkerung durchaus bekannt, war er doch Hofprediger seiner Majestät gewesen. Collins blickte sich um, im Publikum waren alle Gesellschaftsschichten anwesend. Darunter illustre Persönlichkeiten. Für einen kurzen Moment sah er einen einzelnen Offizier in roter Uniform, der ihm, obwohl mit Perücke und gepudertem Gesicht, seltsam bekannt vorkam. Aber es waren so viele Menschen anwesend, das er ihn gleich wieder aus den Augen verlor.

Benjamin hatte seinen Vorgesetzten und Mentorwohl oder übel zu dieser Hinrichtung in Tyburn begleiten müssen, er hatte keine andere Wahl gehabt. Sicherlich, Rykers Hinrichtung hätte sich Ben wohl angesehen, denn schließlich hatte er ihn gekannt und war mit ihm verfeindet gewesen. Das er so lange vor seiner Hinrichtung in Haft geblieben war, war äusserst seltsam.

In Gedanken war er aber ganz woanders. Seit vier Wochen war er nun wieder alleine, seine Frau Molly hatte es vorgezogen, ohne ihn ihre Konzertreisen fortzusetzen. Die gemeinsame Tochter Amanda Rose, die alle nur Rosie nannten, hatte sie bei ihm zurückgelassen. Ben war entsetzt gewesen, mit welcher Kälte Molly das getan hatte. Aber sie schien nur noch ihre Karriere verfolgen zu wollen. Schon seit längerer Zeit hatte sie sich mehr und mehr verändert. Der Gedanke, dass sie ihn und ihr gemeinsames Kind für immer verlassen könnte, zog auch ihm den Boden unter den Füssen weg. Er war nicht in der Lage gewesen, sie aufzuhalten. Vielleicht hatte sie recht gehabt, als sie ihn als »Waschlappen« und »Weichling« bezeichnet hatte. Sein Wiedersehen mit seiner Jugendliebe Emily hatte bei Molly etwas in Gang gesetzt, dass er nur als einen Bruch interpretieren konnte. Es was seine Schuld. Das Arbeitsangebot von Collins bei der Londoner Polizei hatte er im letzten Jahr annehmen müssen, da Lord Dunmore ihm von heute auf morgen seine Stelle als Hauslehrer gekündigt hatte. Lady Dunmore hatte es als nicht besonders schicklich empfunden, den Mann einer Sängerin als Lehrer ihrer Kinder zu beschäftigen.

Ben starrte auf den am Strang baumelnden Leichnam. So gesehen fühlte er sich auch hängen gelassen. Doch eine Scheidung von Molly kam für ihn nicht in Frage. Irgendwann im Herbst oder Winter würde die Konzertreise zu Ende sein und er und Molly könnten wieder zusammen leben. Vielleicht in einem kleinen Cottage, wie damals in Airth, wo Rosie vor eineinhalb Jahren zur Welt gekommen war? Diese Erinnerungen an die glücklichen Tage waren es, an denen Ben sich festhielt. Er würde die Hoffnung nie aufgeben.

»Kommen Sie, Jenkins! Hier gibt es nichts mehr für uns zu tun. Wir gehen zurück nach Whitehall!«, sagte Collins und riss damit Ben aus seinen Gedanken,

»Im Büro wartet jede Menge Arbeit auf uns. Sie und Black müssen heute noch einige Dinge für mich erledigen!«

Benjamin Jenkins wußte nicht so recht, ob er Collins dafür dankbar sein sollte, dass er ihn vor fast einem Jahr bei den Bow-Street-Runners, wie man die Londoner Polizeitruppe auch nannte, untergebracht hatte. Nach beinahe einem Jahr hatte er erst den Rang eines Sergeants erreicht. Sein Kollege Mortimer Black war bereits Inspector und, obwohl jünger, ihm weisungsbefugt. Collins war damals selbst erst ein halbes Jahr dabei gewesen. Aufgrund seiner Erfahrung, seiner früheren Erfolge, seines früheren militärischen Ranges und, wie Ben vermutete, wahrscheinlich auch durch Protektion, hatte er hier sofort eine leitende Stelle als Chief Superintendent erhalten.

Der junge Mann aus Irland hatte aber keine Wahl gehabt. Nur mit einem festen Gehalt und einer sicheren Anstellung war es ihm möglich, hier in London eine kleine Wohnung zu unterhalten und sogar ein Kindermädchen zu finanzieren, welches sich tagsüber um Rosie kümmerte. Das Angebot von Emily, der Tochter Collins‘, bei der Kinderbetreuung auszuhelfen, hatte Ben abgelehnt. Zu sehr fürchtete er die Eifersucht seiner Frau.

Überhaupt ging er Emily aus dem Weg, wann immer er konnte. Dass er mit ihr vor Jahren eine von großer Zuneigung geprägte, freundschaftliche Verbindung unterhalten hatte, die das Potenzial einer Liebesbeziehung gehabt hätte, hatte sie nie vergessen. Doch Ben war fortgegangen, hatte in Dublin Molly kennengelernt und sich in sie verliebt. Er hatte sie gerettet, geheiratet, und war mit ihr nach Amerika geflohen. Über Umwege war das Paar aus dem dortigen Revolutionskrieg wieder zurück nach Britannien gekommen und hatte zunächst von Lord Dunmores Gnaden in Schottland gelebt. Dank des Konzertmeisters Thomas Pimble hatte Molly eine Karriere als Sängerin begonnen, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt schon mit Rosie schwanger war. Pimble hatte erkannt, dass Molly ein außerordentliches Talent hatte, traditionelle irische und schottische Volksweisen vorzutragen. Dabei profitierte man von der zu dieser Zeit aufkommenden Mode, heimatliche Gefühle romantisch zu verklären. Seit den Geschichten von James Macpherson, vor allem seinem gälisch keltischen Epos um Ossian, interessierten sich immer mehr Menschen für dieses Thema. Dies bezog sich natürlich hauptsächlich auf die feine Gesellschaft und gehobene Bürgerschaft. Plötzlich waren traditionelle schottische und irische Lieder in gewissen Kreisen en vouge.

3 Fieber

Collins und Jenkins verließen die Hinrichtungsstätte. Sie bahnten sich einen Weg durch die Menschenmenge und gingen zurück in Richtung London. Von weitem hörten sie noch den Jubel der Menge, als der nächste Kandidat sterben musste. Bis nach Whitehall war es ein gutes Stück Weg. Ben war froh, von diesem Ort fortzukommen. DerLärm und der Gestank, die gesamte Atmosphäre, die von solchen Orten ausging, waren ihm ein Graus. Bald wurden die Straßen auf ihrem Weg leerer und sie konnten weiterlaufen, ohne im Zickzack den Händlern und herumstehenden Gruppen ausweichen zu müssen. Kurz bevor sie das Eckgebäude an der Kreuzung Whitehall – Great Scotland Yard erreichten, rief sie jemand von hinten an.

»Mister Collins, Mister Jenkins, Sir! Warten Sie bitte!«

Die beiden Polizisten drehten sich um und erkannten Noris Gunners, den Leibwächter Emilys, den Collins zum Schutz seiner Tochter eingestellt hatte.

»Gunners! Was machen Sie hier? Sie sollten doch heute Vormittag mit Miss Emily unterwegs sein?«, fragte Adam Collins verwundert.

»Ja, Sir, das war ich auch! Doch gewisse, äh, Umstände erforderten mein sofortiges Kommen!«

»Was erzählen Sie da? Welche Umstände? Mein Gott, Gunners, reden Sie doch nicht so gestelzt daher! Was ist los? Wo ist Emily?« sagte Collins nun wirsch.

»Sie ist bei Rosie. Ich soll Ihnen, Mr. Jenkins, Bescheid geben, dass das Kindermädchen krank ist. Sie hat hohes Fieber. Miss Emily hat sie nach Hause geschickt, damit sie das Kind nicht ansteckt!«

»Was? Wieso denn das? Ich meine, was tut Miss Emily bei uns zu Hause? Woher wußte sie, dass Mary krank ist?«, fragte Benjamin nun aufgeregt.

»Ach, wußten Sie nicht, dass Miss Emily jeden Vormittag bei Rosie vorbeikommt? Sie ist ganz vernarrt in das Kind. Wissen Sie, diese Mary ist vollkommen unfähig, sagt Miss Emily. Man kann sie nicht mit einem Kleinkind alleine lassen.«