Trilogie der Transparenz - Nicolaus Bornhorn - E-Book

Trilogie der Transparenz E-Book

Nicolaus Bornhorn

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Beschreibung

Gehen wir auf den Grund des Subjekts, so stoßen wir auf die Welt. Gehen wir auf den Grund der Welt, stoßen wir auf das Subjekt. Aus dieser Dialektik entstehen "die zehntausend Dinge". (Daodejing)

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Trilogie der Transparenz (Inhalt)

Buch I: An den Ufern der Stille (Bericht und Gesang)

Teil I: Diachronie

Einstimmung

Die Erfahrung

Das Heilige

Von der Erfahrung zu Erfahrungen: Verästelungen

Genius loci

Versuche zur Erinnerung

Teil II: Synchronie

Das Paradox des Weges

Der Leib

Das Mantra

the flash oder la mémoire involontaire de Proust

Spiele

Das Ich und seine Rede (Es spricht)

Spiralen

Spirales (französischer Originaltext)

Buch II: Himmel küsst Erde (Roman)

Frühling

Sommer

Herbst

Winter

Buch III: Das Weiße Denken (Essai)

Ouvertüre:

Heft I

Heft II

Durchführung:

Erster Teil SEIN DENKEN

Der Grundwiderspruch

Wirklichkeit

Diesseits – Jenseits

Dieser Wunsch nach Selbstauslöschung...

Der Signifikant “Tod“ – Der Tod des Signifikanten

Die/der Andere

Die Stimme

Der Leib II

Das Weiße Denken

Zweiter Teil SPRACHE DENKEN

Sinn(e)

ZEICHENsetzung

ZeichenSETZUNG

Selbstreferenz

Lektüren

Reprise

Transparenz I

An den Ufern der Stille

(Bericht

und Gesang)

Gewidmet Georges Batailles „l’expérience intérieure“

Teil I

Diachronie

Einstimmung - von der Geburt der Stimme

Ich bin müde geworden der Suche, der Hast in den Ghettos. Sie haben ihre Ziele noch. Was bleibt: das Aufgeben, die Hingabe, und sie ist einfach geworden. Willenlos wohne ich in den U-Bahn-Schächten. Das Martyrium der Masken trübt leise die Oberflächen. Bisweilen singe ich ihnen: vom Flug über das große Wasser, vom Jüngling, der seinem Gott folgen wollte. Doch meine Stimme ist schwach und ihre Ohren so fern. Bisweilen bleibt einer unter ihnen stehen, Misstrauen und Mitleid in den Augen. Ahnen sie so wenig von diesem Glück, dass sie nach unten sehen müssen, um sich erhaben zu fühlen?

the day rose into midnight

gave free the children’s eyes

the morning flowered endlessly

upon the cristal sky

my woman did I scream out loud

you have not heard my whisper

your body guards the secret still

a face among the crowd

Es sind Geschichten von seltsamen Begebenheiten, in denen ein anderer, schon abgetrennter, der Liebe, der Trauer und dem Hass begegnet, oder auch dem Mund einer kindlichen Frau.

Die Zeit stirbt in den Höfen, den Palästen, den Kirchen und Säulengängen. Sie leben dort wunschlos, seit langem. Der blanke Chrom putzt ihnen die Nacht nicht aus den Augen. Die Trauer fließt zäh. Die Maschine ist ihnen in die Muskeln gekrochen, hat ihnen das Blut ausgesaugt.

Die Erfahrung

Wir waren Könige im eigenen Reich

The words of the prophets are written on the subway walls

(Simon & Garfunkel)

Als ich nicht suchte, fand ich. –

Jetzt, wo Geist und Körper willig sind zu empfangen, jetzt, wo ich zu wissen glaube, wonach ich suche, muss ich das Warten lernen.

...in jener Nacht, als ich zum ersten Mal rauchte und das Feuer des Begehrens mich reinigte, als die ursprüngliche Macht des Phallus aufbrach und ein seliger Fluss die Zellen tränkte, in jener Nacht, als die Magie des Schwebens die Gesetze der Körper neu deutete und der Physik Hohn sprach, als der Orgasmus der Herkömmlichkeit sein Ende fand und sich als Schatten der Wahrheit erwies, in jener Nacht, als ich in der Fülle des Glücks keine Zukunft kannte und um den Namen des Schöpfers bat, um ihn preisen zu können, als das Ichbewusstsein außer sich war und endlich ein Zuhause fand, in jener Nacht, als das Kind die Eltern verlor und in die Raumzeit explodierte, als das Begehren sein Objekt vergaß und sich genügte wie nie zuvor, in jener Nacht, als die Logik ihren Platz einnahm und, erstaunend, das Erleben freigab, als das Paradies sich ständig erneuerte und der Flug immer höher trug, in jener Nacht, als die Erfahrung jeden Zweifel besiegte und das Glück durch ein Mittel einholbar schien, in jener Nacht, als über alle Maßen gegeben wurde und der Spiegel der Analyse zerbrach, als die Gedanken in die Musik einflossen und Klänge und phallischer Strom sich vereinten, in jener Nacht, als das Bewusstsein der Getrenntheit verschwand, als jeder Moment als der höchste erschien und doch die Steigerung endlos neu begann...

I

Jene Nacht, in einem weißen Holzhaus des amerikanischen Midwestens (aber was zählt die genaue Ortsangabe?), jene Nacht, hätte sie auch durch einen „natürlichen“ Sprung des Bewusstseins eintreten können? Und wann? Gewiss ist, dass zu jenem Zeitpunkt der Sprung nur möglich war durch ein Mittel, von außen kommend. Zu stark schon hatten die ersten zwanzig Jahre die Denk- und Sehgewohnheiten, das mögliche Erleben, das als möglich Denkbare festgelegt.

In den Wochen und Monaten, die der „Initiation“ folgten, suchte ich nicht die Erfahrung zu erneuern, vielmehr „kam“ sie in unregelmäßigem Abstand „zu mir“. Hatte ich mit einem Freund das „Sakrament“ geteilt - das erste wirkliche, wahr-genommene, nach jenen der Kirche, deren ritualisierte Abläufe nur von schwachem inneren Erleben begleitet gewesen waren -, so zog mich das Wissen von ihm fort, dass ich bald wieder auf einem „Lager“ liegen könne, ungestört von der Außenwelt, ganz hingegeben an das machtvolle Pulsieren des Energiefeldes in mir, an das Strömen durch mich hindurch.

Ich glitt über das leere nächtliche Pflaster hinweg, zwischen Spielzeughäusern hindurch. Die Füße setzten sich voreinander, ohne dass die üblichen Merkmale einer Ortsveränderung, die vom Willen erzeugten Muskelanspannungen, bemerkbar wurden. Stand ich still, auch nur für Sekunden, so tauchte ich ein in die Ruhe einer Körperlosigkeit, in der das gewohnte Raumgefühl verschwand.

In meinem Zimmer angekommen, entglitt ich dann in „meinen“ Raum. Es konnte geschehen, dass die Energie (oder: Kraft, oder: Gnade) so intensiv strömte, dass mir war, als seien alle Zellen des Körpers durch ein ungeheures Magnetfeld ausgerichtet; ich lag dann bewegungslos (mit größter Mühe hätte ich mich bewegen können, aber wozu?), bis das Feld schwächer wurde.

An einem dieser Abende begann ich zu „sehen“:

Über Kopfhörer kommende Klänge breiteten sich aus in meinem Innern, bildeten mit dem Zustand des Schwebens eine Synthese, so dass mir war, als werde ich von der Musik getragen, in unbekannte Bereiche meines Selbst, wo die Gefühle zart und gleichzeitig so intensiv „aufblühten“ (der Entfaltung eines Blütenkelches gleich), dass mir die Tränen kamen. Der Schmerz, der mich zum Weinen drängte, wurde durch dieses gelindert. Als ich hinaufschaute auf ein die Decke verhängendes Tuch, das in der Mitte ausgebaucht und mit Farbtupfern übersät war, sah ich plötzlich anders. Es war noch „dasselbe“ Tuch, aber auf andere Weise wahrgenommen; als seien die vorher als Hintergrund betrachteten Farbtupfer nun Vordergrund geworden und umgekehrt; als sei das Bild durch sich selbst geklappt, oder als sei das Innere eines Handschuhs nach außen gestülpt worden, nur dass es sich hier nicht um einen Handschuh, sondern um die Hand selbst handelte. Ich befand mich auf der anderen Seite eines „Cocteauschen“ Spiegels, und das, was ich bisher für Realität gehalten hatte, wurde zum Traum, an den ich ständig geglaubt hatte. Ich war „heimgekehrt“ in ein „zeitloses“ Sein, das ich sofort und un-bedingt, überzeugt durch die Direktheit der Erfahrung, als die eigentliche Realität erkannte und anerkannte.

Es war in einem wilden, verwachsenen Garten nahe der Stadt T., auf halbem Weg zwischen Columbus und Cleveland. Das Licht war hell, bis an die Grenze des Erträglichen. Ich hatte begonnen, hinauszugehen im Zustand des „Andersseins“, wollte nun sehen und hören, riechen und fühlen mit diesem anderen Innern als Erlebnis(hinter)grund. Die Einzelheiten standen so deutlich hervor, beschienen von einem unirdischen Licht, dass ich alles außer dem jeweils gegenwärtigen Anblick vergaß.

Die Worte Sprechender kamen von weither; als ich mich umsah nach ihnen, waren sie nur wenige Meter entfernt. Die Worte kamen wie Sprechblasen aus ihren Mündern, Sprechblasen, die auch ich ausstülpte, weit vorn, dort, wo die Lippen, fast nicht mehr zum Gesicht gehörig, selbsttätig handelten. Kaum war etwas gesagt und von mir verstanden, intuitiv, und ohne dass ich darüber nachdachte, so war es auch schon vergessen. Manches Mal hatte ich am Ende eines Satzes seinen Anfang schon verloren.

Ich saß auf der Kuppe eines Hügels, im vom Blatt- und Astwerk gefilterten Licht, sah hinunter auf fließendes Wasser, auf silbern reflektierende Blattflächen. Ich (er)lebte diese bewegungsvolle Ruhe als Übereinstimmung von Innen und Außen, konnte also für (so empfundene) Stunden in ihr verharren, ohne den Wunsch nach einer Veränderung zu spüren. - Erst mit Abklingen der Wirkung begannen begrenzende, einengende Gedanken Gestalt anzunehmen und Gewicht zu bekommen; Gedanken, die mit dem Überleben zu tun hatten, mit der Einsamkeit, mit den Aufgaben, die auf mich warteten.

Die Erfahrungen einer anderen Seinsart, die ich in jenen Wochen und Monaten machte, schienen Veränderungen selbst und gerade auf mikroskopischer Ebene mit sich zu bringen: als habe jede Zelle eine neue Form der In-formation, der Energie, der Bewusstheit aufgenommen, um danach diese Er-innerungen unvergessbar zu speichern.

Da ich kein Vorwissen von dem „anderen“ Zustand gehabt hatte, war das erste, ekstatische „high“ sprachlos verlaufen. Vor jeder erneuten „Hingabe“ erfasste mich später, war ich doch der kommenden „Seligkeit“ gewiss, ein Fieber, eine physische Vorahnung des Glücks, die mich zittern ließ.

Dieses Drängen hin zum Glück war begleitet von Denkformen, die im Zwielicht abliefen, im Raum zwischen Bewusstem und Unbewusstem, denn ich war, fühlte mich isoliert, konnte meine Gedanken anderen nicht mitteilen, und so mussten sie also auch für mich undeutlich bleiben. Wohl gab es Worte der anderen Sprache, „high“, „stoned“ (zum Stein werden, gebannt in Bewegungslosigkeit), die mir halfen, mein Erleben zu benennen, es der Sprachlosigkeit zu entreißen, aber sie blieben Annäherungen an das wirkliche Geschehen.

II

Unter dem Einfluss bewusstseinserweiternder Mittel begehrte ich die Frau wie ich noch nie begehrt hatte, begehrte insbesondere jene, die im „Rausch“ ebenfalls zur Begehrenden würde. Diese Dialektik äußerte sich als der Wunsch, dass der Andere, dass sie nicht anders könne, als immer mehr wollen, war also auch aus auf Macht über sie; eine Macht, die ich ihr aber ihrerseits ebenfalls zugestanden hätte, da auch ich nichts sehnlicher wünschte, als immer stärker zu begehren.

Suchte ich, glaubte ich, in der ekstatischen Vereinigung, durch das Teilen des „Sakraments“, dieses erst eigentlich zur Vollkommenheit zu erheben, in der gegenseitigen „Anbetung“ des Schönen, der Verkörperung des „Göttlichen“?

Der Durchbruch, das Verlassen der Einsamkeit, geschah, als ich Ele („ailée“: die Beflügelte) kennenlernte, die mir wie eine Schwester entsprach. Sprach ich zu ihr, so sprach ich halb zu mir. In ihrer Nähe fühlte ich mich erkannt - jenseits der Worte. Mit ihr erfuhr ich den Beweis, dass unsere Leiber (der Leib der beseelte, bewohnte Körper) miteinander verschmelzen können, durchdringbar sind füreinander, und die Festigkeit der Materie ein Schein:

An einem hellen Herbstnachmittag, an dem die Sonne durch die hohen Fenster eines alten, roten Backsteingebäudes am Hamburger Fischmarkt fiel, tanzten wir ein Ballett zweier „Energiewolken“ (wo die Begriffe finden, die hier vonnöten wären, Begriffe, die eigentlich der Sprache der Molekularphysik entstammen müssten, aber wer verstünde sie noch?) Was war geschehen mit der - furchtbaren - Grenze der Haut? Die uns sonst zu Verlorenen macht, das Bewusstsein einkapselt und sich von Worten nährt? Die Arme, das Geschlecht, selbst die knochigen Massen der Schädel flossen ineinander.

Wir gingen hinaus und „liebten“ uns inmitten der Menge, fühlten uns „nackt“, hautlos aber geschützt, kamen bald zu einem grauen, riesigen Turm. Ich umfasste, so schien mir, den Koloss aus Beton und sah in der Ferne, dort oben, ein gläsernes Karussell. Aber war es noch oben? Schwebte ich nicht vielmehr auf einem gigantischen Raumschiff im All? Und die Schwerkraft war nur mehr Legende: Fahrt in das endlose Blau. Wir glitten hinauf in das gläserne Karussell, sahen hinab auf das Spielzeug der Menschen, sahen die blutrote Mutter am Horizont untergehen.

Beim nächsten Mal jedoch hatte ich Angst, hatten wir Angst. Wir lasen in unseren Augen die Angst vor dem „Draußen“, der Welt, wussten sie eine „Illusion“ und konnten doch mit diesem Wissen nicht leben. Vielleicht hätten wir gleichwohl hinausgehen sollen, den Horizont suchen, statt im dunklen Innern einer Winterwohnung zu verbleiben. (Sagten nicht die Erfahrenen, man müsse auf das „setting“ achten?)

Ich wusste nicht, was tun mit all den Gedanken im Kopf, dieser endlosen Poesie. Nur Bruchstücke davon drangen nach außen, konnten nach außen gelangen, geflüstert in ihr Ohr. Waren wir Fremde füreinander? Auf immer im eigenen Monolog gefangen? Warum nur konnte ich mir ihrer Gedanken nicht bewusst werden? – Und doch spürte ich wieder ihren Leib mit dem meinen vereint, verwoben.

In derselben Stadt – früher oder später? – sollte ich auch den Anteil der Projektion erfahren, der mit dem auf Verehrung ausgehenden Drang verbunden war. Ich hatte mit B. eine Aufführung besucht, wo wir inmitten der ganz in Schwarz gekleideten Schauspieler saßen, die mit einer Folge von religiösen, kathartischen Szenen mich innerlich derart aufrührten, dass ich schon zur Pause dieser Intensität nicht mehr standhalten konnte. Auf fremdem Bett dann mündeten unsere Gesten in den sich selbst bestätigenden und aufrechterhaltenden Zyklus aus Rausch, verstärkter Erfahrung der Einsamkeit, der Nicht-Mitteilbarkeit und erneutem Rausch. Eine Flucht? War es also ein gesunder Reflex, dies Zurückschrecken vor der völligen Hingabe an das Nicht-Mitteilbare? Wie hätte ich mich auch in diesem Alleinsein zurechtfinden sollen, in dem die „eigenen“ Gedanken herrenlos, unkontrolliert dahin- und davonschwebten. Es fehlten der Dialog und die schützende Wärme einer Geliebten/Liebenden.

Neben dieser ersten, offensichtlichsten Ursache schien es noch weitere zu geben, so etwa eine Erwartungshaltung, die sich bei jeder erneuten Einnahme des „Sakraments“ genauer abzeichnete, die das Selbstvergessen, das Aufgehen in der Erfahrung, das sich bei den ersten Malen ereignet hatte, nicht mehr zuließ. Aus Angst vor dem Verlust der den andern verständlichen Rede wollte, musste ich begreifen, was geschah, es in Worte fassen, und die gefundenen Begriffe dienten mir bei den späteren „highs“ als Muster, Orientierungshilfen..

(Als weiterer Grund erwies sich später die Vernachlässigung des Körpers und, damit einhergehend, jene des Geistes, Vernachlässigungen, die darin bestanden, „unreine“ Materien und Gedanken aufzunehmen, zuzulassen, und das feine, schwingende Feld, zu dem ich hätte werden können, durch die Einführung zu „grober“ Stoffe schon im Entstehen zu verhindern.)

Nur wenige Zeit später, aber aus meinem jetzigen Bewusstsein heraus gesehen schon in einer anderen Zeit, in einer Zeit, in der ich wesentlich nicht mehr allein war, in der ich die Andere gefunden hatte, die verschieden genug war, um mich anziehen zu können, und doch gleich genug, um nicht eine Fremde zu bleiben, in diese Zeit also fiel der Höhepunkt der Erforschung anderer Bewusstseinsarten mit Hilfe künstlicher, von außen kommender Mittel.

Ich hatte Anna in dem Kontext einer bevorstehenden Reise kennengelernt, einer Reise, die sie in das mythische Schottland führen sollte, wo sie ein tibetisches Kloster aufsuchen wollte. Zu Beginn dieser Reise, auf der ich nur ihr „Begleiter“ sein sollte, verlor sie kurz hinter der deutschen Grenze ihre Papiere, so dass unser Weg in der nur als Zwischenstation gedachten Stadt H. im Norden abbrach. - Vor dem Hintergrund dieser nicht fortführbaren Reise und aus dem beidseitig bestehenden Wunsch heraus, „woandershin“ zu gelangen, fiel die Entscheidung, unsere erste „Reise“ nicht zu „machen“, sondern zu „nehmen“:

...ein summendes, surrendes Geräusch kam nah und näher, drang bis in die Eingeweide, entfernte sich wieder. Während das Zentrum dieses Geräusches sich entfernte, sandte es weiterhin das Surren aus, in konzentrischen Kreisen, die nach außen hin schwächer wurden. Ich öffnete die Augen: es war eine Fliege. Darüber musste ich lachen, ein wildes Lachen, das den ganzen Körper schüttelte. Das Lachen kam aus der Körpermitte, verspannte Muskeln lösten sich, entließen über lang aufgebaute Spannungen. Das Lachen wurde unabhängig vom Willen und wechselte über ins Weinen. Den Grund aber, aus dem Lachen und Weinen stammten, empfand ich als gleichen.

Musik zerknüpfte das Netz aus Worten und Bedeutungen. Der Atem säugte mich. Auf der Erde ausgestreckt, die Finger in sie gekrallt, saugte ich an ihrem Duft. Sobald das Auge an etwas haften blieb, sich versenkte, stand jedes Objekt überdeutlich heraus. Jede Geste stand für sich, drückte nur sich selbst aus. Im grünblauen Schimmer einer Baumrinde, dem fahlen Glanz eines Blattes: Ausgedehntheit, Tiefe fielen aus der Perspektive, einer Sehgewohnheit, in die Flächigkeit zurück.

Ich suchte in Annas Gesicht nach dem „Geist“ und fand nur Ausdrücke, Oberflächen. Dieses Gesicht brannte sich mir ein, wurde zu flüssigem Gold. „Ich“ bestand noch fort als Wunsch, sie zu lieben; dann musste ich lachen über dies als sinnlos erkannte Bemühen, war ich doch schon seit geraumer Zeit mit ihr verschmolzen. Zwei Leiber in einem Fluss, und nur im Denken, weil „ich“ die Gedanken annahm als das, was ich sei, war ich noch von ihr getrennt, und sie von mir.

Der graugerasterte Himmel bedrängte mich und in der Krümmung am Ende der Straße, dort, wo sie sich in den Bäumen verlor, erblickte Anna ein Symbol für den schmerzlosen Tod. Eine roter, vibrierender Punkthaufen wurde zu einer Masse aus Blech: ein vorüberfahrender Wagen. Mein Sehen war es, das ihm die Festigkeit nahm. Als ob ein kosmischer Wind nicht Ähren- sondern Materiefelder durchwehte.

Am Morgen „danach“ (wir hatten nicht geschlafen) blickte ich aus dem Fenster, auf die Sommerblumen, den Himmel: das Bild war durchrastert wie auf den Photos der Zeitungen. Musik webte sich in den grünen, grasverwehten Hügel vorm Haus. Anna saß am Kamin und hinter ihren geschlossenen Lidern sah ich die zweiten Augen, die weit offen standen...

Freunde aus Aix, Yvette und Jacques, hatten diese Reise mit uns gemacht, sowohl die geographische als auch die nächtliche, die jetzt ausklang. Yvette, die „Busenfreundin“ Annas, und Jacques der „Clown“, dessen Lachen ich liebte. Wir redeten über die verflossene Nacht, zerredeten sie aber nicht, längst schon war sie eingeschrieben in unsere Zukunft. Am nächsten Tag fuhren wir, aus uns „banal“ erscheinendem, aber drängendem Grund in die Stadt: den Freunden fehlte es an Mitteln zur Rückreise...

...der Sommer überflutete die Zimmer, offene Türen, Blumen und starke Farben überall. Die Instrumente lagen bereit. Der Clown suchte seinen Weg zurück in die Heimat, doch die Taschen waren leer. Anna forderte das Wagnis mit jener Selbstverständlichkeit, die Mut gibt. Sie gab den Schauspielern ihre Bühne. Die wenigen Übungen zum Rhythmus waren bald beendet, die Stücke lagen als Muster im Gehirn bereit.

Die Tore des Zuges schlossen sich wie immer, saugten die Ratlosen, Wartenden ein, die auf dem Weg zur Wiederholung sich selbst nicht mehr glaubten.

Wir blieben zurück, von den Frauen, den guten Geistern, verlassen. Die Bahnhofsschächte drohten uns zu erdrücken. Sie saugten die Namenlosen an in den Rausch der bezifferten Dinge. Gebückte Fresken zogen vorbei, scheue Schemen, behangen mit den Gütern der Überproduktion, vor Wänden, auf denen die Sprüche der unerhörten Propheten standen.

Wir begannen zu spielen, zaghaft, ungläubig unserer selbst. Mancher stand, huschendes Zucken im Gesicht. Gitarre und Flöte formten ein sangloses Duo. Der Lärm zerbrach die Laute, ließ sie dumpf zurück. Den Clown verließ die Eingebung, die dunkle, hastige Trauer, aus der das Lachen stammt. Etwas musste geschehen.

Wir kletterten hinauf in die riesige Halle, wo von jeher die Hast der Schritte einkehrt. Unsere Einsamkeit nahm groteske Formen an, fast war sie ein Schutz. Mit ungeübtem Ohr und Blick suchten wir einen Ort, um die Noten in Metall zu verwandeln.

Beginnender Tanz, Eintritt in das Echo, vibrierender Metallstab. Die Halle wird Kirche, Kathedrale, sie kommen zur Messe. Das Schließen der Klappen kanalisiert Ströme, die eine Wüste aus Lärm und Schmutz bewässern. Der Puls der Schöpfung jagt in den Hohlräumen eines Steinriesen, der mir Inneres wird. Musik, die aus sich lebt, in sich zurückkehrt, befruchtet vom Atem.

...und du, Jacques, sei Clown du und traurig, aber spiel, spiel immer weiter. Muster- woher? - stülpen sich in die Zukunft, wachsen, umschlingen einander, Harmonien, die unerhört in den inneren (T)Räumen umher trieben, geschleudert, frei.

Öffnen der Augen. Verwandlung. Tanzende Abendruhe. Vierzig, fünfzig Tagesreisende, müde, gelockt in die melancholische Fremde, umstehen uns. Sehnsucht, Traum in der Stunde der Ruhe vor Sonnenuntergang. Reisende aller Länder, vereinigt unter dem Zeichen des Pan. Durch den Atem geschöpfte Transparenz verwandelt, verklärt das Sehen. Die Beladenen zeigen stärker ihr Wesen. Ihnen zu geben, scheint einfach.

Jäher Rückfall ins Ego. Fieber bricht den Zauber. Der Magen stolpert. Versagen. Die Faszination steckte an, nun liegt sie brach. Der Liebende gab aus keinem Grund, der Geforderte verstummt.

Im letzten Schimmer der Magie trete ich zu Anna, meiner Gefährtin mit den hundert Gesichtern, ihrem stillen Lächeln, das strahlt. In die bekannte Heimat zwischen Schulter und Haupt berge ich meine Unsicherheit. Untergetaucht. Sie ist mir Mutter, die den Sohn entließ, in Wagnis, Abenteuer, die Welt. Der „Krieger“ kehrt heim.

...und du, uralt-komischer Vogel, dein Gesang, rauh, unbeholfen, das Lachen lockend, der Komik verfallen. Du bleibst standhaft, dich so zu lassen, schmerzt zuerst. Bist du dem Sturz entgangen? Mutig bricht die Stimme zum Wohlklang durch, Heiteres, Schelmisches aus Israel, dein Ursprung verlangt sein Tribut. Anonym stehe ich, horche, geschützt, frei, der Einsamkeit des Vortragenden entronnen.

III

Später erfuhr ich, dass die Verschmelzung auch möglich ist ohne Mittel von außen:

Eines Morgens war ich viel früher aufgewacht als Anna, als der Tag kaum graute. Ich gab mich der über Kopfhörer einströmenden Musik hin, nutzte sie als Mantra, als dem inneren Sprechen unterliegenden Ruf, immer erneut in die Gegenwart des Gehörten zurückzukehren. Als das innere Sprechen so zusammenhanglos wurde, dass ich es nur noch als „räumlich“ verteilte Deutungsimpulse der Situation erfuhr, trat der Umschwung ein und der Körper wurde zum „mir“ schon bekannten Feld, in dem keines seiner Organ mehr isoliert wahrnehmbar war. Als ich die inzwischen erwachte Frau neben mir umarmte, verschmolz ich, zu meinem Erstaunen, erneut mit ihr, ohne dass sie jedoch ihrerseits Gleiches erlebte.

Langsam verlor sich, in der Klarheit immer bewusster erlebter Tage, der Wunsch nach dem im Rausch begehrenden Andern. An seine Stelle trat das Bedürfnis, ihn täglich, in seiner schon ausreichend komplexen Vielfalt zu erfahren. Das letzte Mal, dass Anna und ich den Versuch unternahmen, meinen aus der Zeit der „Ekstasen“ und der Einsamkeit stammenden Wunsch zu erfüllen, fiel auf das Ende einer „wirklichen“ Reise, einer geographischen Ortsveränderung:

Es war im New Yorker Winter, und über Nacht war Schnee gefallen. Die Vorstadtlandschaft lag leer und beruhigend, nur selten und gedämpft klang ein Geräusch auf. Beim Aufwachen sagte Anna, sie habe geträumt, dass wir uns vom Rauch emporgehoben, von seinen Schwingen getragen, geliebt hätten. Mild stand noch der Ausklang dieser Liebe in ihren Augen. Tastend, sanft beugte sie sich über mich, und wir beschlossen, den „Traum“ zu verwirklichen. Doch als sich der inhalierte Stoff in uns ausgebreitet und seine Wirkung begonnen hatte, wurde sie von der „Nacht des Unbewussten“ überschwemmt. Sie fühlte sich aufs Heftigste zu mir hingezogen, um nur Sekunden später eine gleich starke Abneigung zu spüren. Sie war sich meiner Liebe nicht sicher und auch der Anziehung nicht, die sie auf mich ausübte, die sie in ihrem Verständnis erst zur Frau machte. Ihrem Zwiespalt ausgesetzt, von ihm angesteckt, sah ich ihr lockendes „Spiel“ bald als Versuch, mich zu beherrschen, bald als Suche nach wahrer Verständigung. Zum Schluss standen wir voreinander wie zwei verlassene Kinder, unfähig, einander zu trösten.

Nach Abklingen der Wirkung erinnerte sie insbesondere die Zweideutigkeit des Denkens: dass sie gleichzeitig einen Gedanken und sein logisches Gegenteil für wahr habe halten können, den Widerspruch wohl wahrnehmend, ohne ihn aber deshalb ausräumen zu können. Der Widerspruch sei vielmehr dadurch möglich gewesen, dass der Gedanke und sein verneinendes Gegenteil in Bruchteilen von Sekunden aufeinander folgten, sich abwechselten, sich gegenseitig ausschlossen, jeweils in dem Augenblick ihres Gedachtwerdens aber als schlüssig und einzig gültig erlebt wurden. Sie habe unter dieser Zweideutigkeit des Denkens gelitten.

Noch zwei, drei Mal sollte ich eine „Reise“ wiederholen, aber die zweite ist nicht die erste, und mir war bewiesen worden, was möglich war, möglich ist. Von der ersten, Ekstase auslösenden Einnahme des „Sakraments“, während der ich, gerade weil ich ohne Erwartung gewesen war, staunend hatte in das Neue fallen können, das „zeitlose Gegenwart“ heißt, bis hin zum relativen Höhepunkt und Abschluss der „Reisen“, erlebte ich den Bewusstseinsbereich nicht als Kontinuum, sondern als aufgebrochen in das Gewöhnliche und Außergewöhnliche: das „Paradies“ war zugänglich geworden, und mit wiederholtem Zugang verweltlichte ich es, es schien (re)produzierbar.

Lange glaubte ich, dass diese Form der ausschließlichen Gegenwart nur außerhalb meines alltäglichen Bewusstseins möglich sei - war dies nicht gerade eine ihrer wesentlichen Definitionen? Sie schien nur möglich in Form eines von außen kommenden Stoffes. Der zeitlose Zustand schien jederzeit realisierbar: als mir diese Möglichkeit völlig bewusst wurde, war der Keim der Abhängigkeit gelegt.

Dass diese Abhängigkeit sich nicht entfaltete, dass ich der Isolation des Süchtigen entging, war dies mehr als Zufall? Zweifellos war das im „anderen“ Bereich gelebte Bewusstsein ein „Führer“; einmal in ihm, wurde es einfacher, nach den Ursachen, den Hindernissen zu forschen, die es mir nicht erlaubten, ständig in ihm zu verweilen.

Ein Weg wurde sichtbar, der sich bei weiter voranschreitendem Übersetzen des fast Unnennbaren in das lineare, „normale“ Denken immer deutlicher abzeichnete. Auch in jenem Bereich gibt es Denken, aber es verläuft in anderer Form, es wird, wie alles andere, „tiefer“ empfunden. Denken und Sein sind enger verflochten, jedes Wort kann vielschichtig erfahren werden und assoziativ eine ihm eigene Welt auftun. Sätze werden, wie auch im Traumgeschehen, auseinander gezerrt, zusammengepresst, ein einziger dichter, vielleicht nur sehr kurzlebiger Komplex kann eine Fülle von Einsichten, Gefühlen, Wünschen enthalten. Dieses, sich in Blöcken ereignende, Verstehen ist beeinflussbar, plastisch: ein chanson, einen song hören, und schon, sich in sie einfühlend, gänzlich an ihre Aussagen zu glauben; einen Text lesen und, sich in ihn einlebend, ihn verkörpernd, mehr in ihn hineinzulegen, als der Autor „sich hat träumen lassen“.

Ich sah, dass das, was an Energie einfloss, ein Zuviel war, nicht täglich lebbar, obgleich es jederzeit, „dort draußen“, darauf wartete, dass Körper, Geist und Handlungen so klar wurden, dass dem Einfluss nichts mehr im Wege stand.

Zuviel bedeutete auch: zu viele negative Erfahrungen wurden mit erschreckender Deutlichkeit erinnert, wiedererlebt; gedankliche, gefühlsmäßige, körperliche Probleme (Knoten) ungeheuer intensiviert. Manchmal wurden die kleinsten Handlungen - Nahrung holen, Wäsche waschen - zu lähmenden, fast unlösbaren Aufgaben.

Der Weg, Arbeit der nächsten Jahre, würde sein, diese, die Energie blockierenden Knoten aufzulösen, den ich- weil schmerzlosen Zustand anzustreben. Die wenigen Male die ich nach den „Reisen“ noch geraucht habe, waren Überprüfungen, Katharsis, waren auch erneutes Durchleben von Kindheits- und Jugendmustern. Immer trieb es mich dann hinaus in die Natur, an den Strand, wo ich, parallel zum Laufen entlang sich brechender Wellenkämme, Denkschritte ausführte, an der Auflösung der Knoten arbeitete, mich mit Worten an ihnen abarbeitete, sie gleichsam ab-schritt. War dann, durch das und in dem Auflösungsvermögen des Denkens, das Abarbeiten - für dieses Mal - beendet, so war auch schon halbwegs das übliche Ichgefühl wieder entstanden, „ich“ sah die Welt im Zustand zwischen Nicht mehr und Noch nicht, ein Zustand, der noch keinen Glauben erforderte an die Möglichkeit des anderen Seins, in dem es so nahe war, dass es noch gewusst wurde, und nicht, wie später dann, nur erinnert. Gleichzeitig war es ein freudvoller Zustand, in dem viele der Probleme, deren Lösung kurz vorher noch lebenswichtig erschienen war, mit befreiendem Lachen als Scheinprobleme entlarvt wurden. Nach der Auflösung der vergangenen Stunden, dem Verschmelzen mit größeren, „komischen“ Kräften, war es ein Leichtes, das Wiedereintauchen in der Atmosphäre der eigenen Identität, des - sowohl schützenden als auch einengenden - „Ichs“ zu bejahen.

Das Heilige

Altissimus creavit de terra la medicinam 1

Petrus Lombardus

Wie hatte das Bedürfnis entstehen können, das im „Rausch“ Erfahrene in die Begriffe des Heiligen, eines sinnlich vermittelten Heiligen, und der Anbetung zu bringen? Welche Vorstellungen, Gedanken und Gefühle bildeten den Hintergrund, vor dem der persönliche “Mythos eines Paradieses“ sich abzeichnen konnte?

Erinnerung tendiert dahin, Schönes hervorzuheben, Unschönes aber, selbst wenn es objektiv, chronologisch gesehen weit länger gedauert haben mag, zu verflachen, zu unbedeutenden Momenten zu reduzieren. Und jene langen Passagen des Undifferenzierten, des weder Heiß noch Kalt, fallen in das Nichts zurück, das ihnen wohl schon während ihrer schattenhaften Existenz anhaftete.

Vergangenheit als Grundmuster, das sich ausdifferenziert: eine Art, sich zu sehen. Ein von Gefühlen durchwobenes Muster, Gefühle, die ich später mit „Naivität, Gläubigkeit, Verliebtsein, Anbetung“ bezeichnete (und abtat).

Eine andere, zeitlos(er)e Art zu sehen, scheint von jeher mitzuexistieren, ein Bewusstsein, das wahrnimmt ohne zu urteilen, das wie unberührt bleibt von den Ereignissen.

Rote Johannisbeeren

Durch das hohe, halb geöffnete Fenster gab der Sommermorgen ein gedämpftes, freundliches Licht. Meine Großtante „Teita“, wie sie von allen genannt wurde, war schon auf. Sie stand in dem knöchellangen, weißen Nachthemd in der Mitte des Zimmers und flocht das graue Haar, das geöffnet bis zur Taille hinabfiel, zu einem Zopf, den sie mit Hilfe von Spangen zu einer Krone aufsteckte. Um sich zu waschen, schüttete sie kaltes Wasser in das Becken aus hellem Porzellan, das mit Feldblumen geschmückt war.

Die Großtante war in das Netz der Tage versponnen, nützlich, hilfreich, liebenswert, und unscheinbar. Tageweise fuhr sie zu den umliegenden Bauerngehöften, um dort Näharbeiten gegen Kost und Lohn auszuführen. Sie hatte nie geheiratet, lebte „seit ewigen Zeiten“ mit ihrem Bruder und dessen Frau, meinen Großeltern väterlicherseits, zusammen.

Zwischen Bett und Türrahmen war ein weißes Laken aufgespannt, saftig und blutrot, ausgebaucht von einer Ernte roter Johannisbeeren. Auf der Unterseite des Lakens rann Saft in dünnen Fäden zur Mitte, tropfte dort in eine graublaue Zinkwanne.

Das dunkle feste Holz des Bettgestells und das bauschige Federbett, das mich jeden Abend „verschlang“, gaben mir Sicherheit. Über dem Bett hing ein Bild, goldgerahmt: knapp über der Erde schwebte ein Engel in weißem Gewand, mit riesigen, ausgebreiteten Flügeln. Er schützte zwei Kinder, die viel kleiner waren als er, vor einem Abgrund; jeden Abend betete ich vor dem Einschlafen zu ihm.

Einmal aufgestanden, lief ich durch die weite, warme Küche, das Nähzimmer, die breite Holztreppe hinunter zu Renate, der ersten „Geliebten“. (Wann immer ich später die zur Frau Heranwachsende sah, ließ das so vertraute, tief in mich eingesunkene Gesicht ein sanftes, mildes Gefühl, eine Wärme in mir entstehen, als sei ich heimgekehrt.) Beim Murmelspiel auf dem Hof aus festgestampfter Erde, unter dem hoch aufragenden Birnbaum, dessen Früchte noch grün und fest verbunden mit den Ästen hingen, hatte sie die schnelleren, genaueren Finger. Auch wenn wir um die Wette liefen, hinaus durch das halb offen stehende Tor im Zaun, den die Durchgangsstraße säumenden Bürgersteig entlang, bis hin zum Krämer, bis hin zur mit Glockenschlag zufallenden Tür, war sie die Schnellere, um ein oder zwei Körperbreiten voraus.

Mit den anderen Kindern spielten wir Schnitzeljagd auf dem Friedhof, wo der Teich im Abendlicht lag, die Stille wurde vom Quaken der Frösche noch verstärkt. Algen und Laich, die auf der Oberfläche trieben, riefen Erinnerungen wach an Muhmen und verwunschene Prinzen aus den Märchen, die ich begonnen hatte zu lesen. Durch dunkle Gräben, von Holzbrücken überspannt, sickerte ein blaugrünes, fast stehendes Wasser. Die Umrisse der Zypressen und Wacholderalleen standen gegen den tiefblauen Himmel. Der strenge Geruch dieser Bäume, die auf den Grabsteinen eingravierten Zeichen, die Marmorengel waren die erste Begegnung mit dem Tod.

Begleitet vom Sohn des Nachbarn lief ich in die Wälder, in ihr kühles Halbdunkel. An moosgrünen Ufern schnitzten wir Schiffe aus Borke, ließen sie vom Wasser tragen, kletterten bis in die Baumspitzen, um in der Ferne die blauen Umrisse der Dammer Berge zu sichten; tief unter uns ein Teppich aus Grün und dem Rot der Blutbuchen, Waldbodenlaub, das nach dem Abstieg unter unseren Schritten raschelte.

Am Ostersonntag blies ich zwischen die goldgeränderten Blätter meines ersten Gebetbuchs, um die knisternden, fast transparenten Seiten voneinander zu trennen. Tausende von Stimmen sangen: „Das Grab ist leer, der Held erwacht“, kräftig, voll und überzeugt die Männer, die Frauenstimmen tanzten, schwebten darüber. Ich wurde davon getragen von einer Welle der Freude, die Zustimmung kam von Herzen, einfach und klar. Die Orgel vereinigte sich mit der Masse der Stimmen, das hohe Gewölbe warf den Gesang zurück, verstärkte ihn.

Geduldig, mit gefalteten Händen, reihte ich mich ein in den Gang zur Kommunion, auf den blanken Fliesen das Scharren der Füße. Überall der Duft frischer, gereinigter Kleidung. Ich ging auf die Knie, spürte den Marmor unter dem Kissen, verbarg die Hände unter dem gestärkten weißen Leinen, wartete auf die Hostie. Ich hatte am Morgen noch nichts gegessen, so wollte es die Regel. Auf dem Rückweg durch den Mittelgang war ich bemüht, die Hostie nicht zu kauen, sondern sie am Gaumen zerschmelzen zu lassen.

Am Ostermontag zog eine Prozession zur Burg, die außerhalb der Ortschaft lag. Dem Priester mit der Monstranz folgten die Ministranten in weißroten Gewändern, mit Schellen und Weihrauchfässern, die sie an langen Ketten schwenkten; dahinter die Menge der Gläubigen. Sie begaben sich auf diesen Weg zur Erinnerung an den Gang des Herrn mit seinen Jüngern nach Emmaus. Wir schritten aus dem Dorf hinaus, durch die Felder mit junger Saat, an Weiden vorbei, die erste Kätzchen trugen, und der Weg wurde lang. Frühlingswind verwehte den Singsang und das Gemurmel der Wallfahrenden.

Vor dem Altar des frühen Tages

Seitdem wir in der „Diaspora“ wohnten, inmitten der Protestanten, erachtete ich es als meine Pflicht, meinen, unseren Glauben gegen „die anderen“ zu verteidigen. In dem Dorf D., wo der Vater und auch ich geboren waren, wurden die wenigen Nichtkatholiken fast wie Ungläubige angesehen. Der einfache Kinderglaube blieb den Bauern und Handwerkern bis ins hohe Alter erhalten. Von den Vereinzelten, die zur Universität gingen und begannen, über ihre Herkunft nachzudenken, sagten sie: „Der hat das Glauben verlernt“ und wollten nichts mit seinen Meinungen zu tun haben; denn „in den Bergwerken, bei Grubenunglücken oder im Krieg, da lernen sie wieder das Beten“, so war die allgemeine Ansicht.

Ich hatte das Alter erreicht, in dem ich der Gemeinde und dem Herrn dienen konnte. Klaus L., rothaarig und einige Jahre älter als die übrigen Ministranten, in deren Mitte ich nun aufgenommen werden sollte, weihte mich ein in die lateinische Sprache. Während der Sommerwind in den Fenstern die Vorhänge aufblähte und die Sonne helle Trapeze auf den Boden des länglichen Saals warf, saß ich unruhig und begierig neben ihm am Tisch und unterging den Initiationsritus, erlernte die Strophen, die ich später an der Gemeinde Statt aufsagen würde und deren Reihenfolge sich am leichtesten nach den Anfangsbuchstaben merken ließ. „Suscipiat...“, „Mea culpa...“, Sanctus, Sanctus...“ waren die Titel der auswendig gelernten und dennoch unbekannten, darum geheimnisvoll bleibenden Gebetsverse, die in bestimmten Positionen, nahe dem Altar, stehend, auf den Altarstufen, kniend, und vor, während oder nach bestimmten Handlungen, dem Schellenläuten, dem Schwenken des Weihrauchfasses, dem Hin- und Hertragen des Messbuches, aufgesagt wurden. Der scheue R.. mager und vornüber gebeugt, der einzige verlässliche Freund in der Klasse, den ich aber nicht in vollem Maße anerkannte, anerkennen konnte, weil er meinem Ideal eines starken, unabhängigen Geistes nicht entsprach, war der treue Begleiter in diesen grauen Morgenstunden, die wir vor fast leerem, ungenügend ausgeleuchtetem Kirchenschiff dem Glauben opferten. Dem jeweiligen liturgischen Anlass gemäß schlüpften wir in schwarze, weiße, rote oder violette Messgewänder, und bald waren unsere Bewegungen so einstudiert und synchronisiert, dass wir sie wie in einer Verlängerung des Schlafes hätten ausführen können.

Eines Nachmittags bestellte der Pater, der die Missionswoche durchführte, alle Jungen eines Alters zu sich, und ich quetschte mich zu den anderen in die Bank. Die weibliche, warme Stimme des Priesters mahnte, es wurde keine Rede sondern ein Gesang in Worten, die ineinander flossen. Je länger er von der Liebe, der menschlichen Fortpflanzung sprach, desto weniger fleischliches Leben ließ er den Körpern. Er sprach von der Aufbewahrung für die Ehe, von der reinen Hingabe an die eine Frau. Wie oft hatte ich diese Hingabe schon im voraus mit „unkeuschen Handlungen und Gedanken beschmutzt“! Am Ende der Aufklärung kniete ich weinend im Beichtstuhl, trat dann unter dem Geläut der Glocken ins helle Licht des Nachmittags, und hinter mir schnappte die schwere Holztür zu.

Die Revolte

Ich war siebzehn, als der Gott der Kindheit „starb“, geopfert auf dem Altar der rationalen Erkenntnis. Bis dahin hatte ich, wann immer besessen von den Gedanken an Tod und Unendlichkeit, alles für sinnlos erklärt, wenn es Ihn nicht gäbe. Der Weg, der vom Glauben zum Nichtglauben führte, hatte Zwischenstationen: