Am Scheideweg - Nicolaus Bornhorn - E-Book

Am Scheideweg E-Book

Nicolaus Bornhorn

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Beschreibung

Es gibt mehrere Modelle, nach denen man die Erinnerung ordnen könnte. Das einfachste wäre jenes der chronologischen Vorgehensweise: strikt geradeaus, linear. Bei der „topologischen“ Vorgehensweise hingegen, die assoziativ Themen, Orte, Namen verknüpft, laufen die Fäden des Netzes, das die Zeit einfängt, in der Gegenwart zusammen. Wenn ich hier also Ereignisse aus jenen Jahren rekonstruiere (modischer: dekonstruiere), inneren Erfahrungen nachsinne, nachfühle...(Wer spricht hier? Wer spricht wo? Wer spricht wann?) Eine Dreiecksgeschichte, ein Mann zwischen zwei Frauen, zwischen Marseille und Moskau. (Liebe als einzige Antwort auf das tägliche Kriegsgeschehen). Eine Liebesgeschichte also: Zerrissenheit, Aufgewühltsein, Rausch, dem Alltag zeitweise enthoben, eine Geschichte von„Liebe und Tod“ (die Versuchung zu sagen: noch eine).

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Am Scheideweg

(vom vierdimensionalen Erzählen)

Inhaltsverzeichnis

I. Der Traum vom Weizenfeld

II. Le tombeau

III. Der Tod des Vaters

post skriptum

Das Ende der Projektion

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

II

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Epilog

Nostalghia

Kapitel I

Kapitel II

Das Haus im Pinienwald

Katalyse oder Die unreinen Motive

Kapitel I: Frühling

Kapitel II: Briefe

Kapitel III: Sommer

Kapitel IV: Briefe

Kapitel V: Herbst

Kapitel VI: ...und Frühling

I

Der Traum vom Weizenfeld

Es gibt mehrere Modelle, nach denen man die Erinnerung ordnen könnte. Das einfachste wäre jenes der chronologischen Vorgehensweise: strikt geradeaus, linear. Bei der „topologischen“ Vorgehensweise hingegen, die assoziativ Themen, Orte, Namen verknüpft, laufen die Fäden des Netzes, das die Zeit einfängt, in der Gegenwart zusammen.

Zu beginnen mit Sätzen wie: „Ich wohnte damals in Frankfurt, in der Elkenbachstraße 10, in der Nähe des chinesischen Gartens. Mein Mitbewohner, Rolf Stein...“ ist mir nicht mehr möglich.

Die eingestreuten Tagebuchnotizen aus jener Zeit (1988, 89) gehören der physikalischen, vierdimensionalen Raumzeit an, Ort und Zeitangabe sind genau bestimmt (Man denke nur an den Anfang des „Mannes ohne Eigenschaften“).

Eine Falle, Färbung bei jeglicher Form der Erinnerung ist das, was oberflächlich mit „Nostalgie“, „Melancholie“ bezeichnet wird.

Wenn ich hier also Ereignisse aus jenen Jahren rekonstruiere (modischer: dekonstruiere), inneren Erfahrungen nachsinne, nachfühle...(Wer spricht hier? Wer spricht wo? Wer spricht wann?)

Eine Dreiecksgeschichte, eine Liebesgeschichte, also Zerrissenheit, Aufgewühltsein, Rausch, dem Alltag zeitweise enthoben, eine Geschichte von „Liebe und Tod“ (die Versuchung zu sagen: noch eine).

Die einzige Möglichkeit, dies alles (alles?) zu erzählen, ist die offene Form, so offen wie nur möglich (selbst dann ist die Motivation noch nicht ganz geklärt, erklärt).

November 88

Elkenbachstraße

Mir gegenüber sitzt Stefan B., mein (junger) Verleger. Kennengelernt haben wir uns zwei Jahre zuvor, im Jardin du Luxembourg. Er hörte Derrida, seine Freundin, Hutmacherin, durchlief eine Ausbildung in Paris...

Stefan sitzt in dem einzigen Prunkstück des Zimmers, einem altrosa bespannten Ohrensessel. Der Raum ist zu klein für zwei Personen (es sei denn, sie liebten sich: was sich später, mit Natascha, erfüllen sollte). Das kreischende, sich im Gehirn einnistende Sägen, Singen (Oskar!) der Glasschneiderei unten im Hof hat ausgesetzt, wie jeden Abend. Stefan fragt mich, ob ich eine Wohnung wisse, wo ein polnisches Künstlerehepaar für einige Tage unterkommen könne, die Zeit, die sie für die Hängung der Werke und die Vernissage benötigten. Ich biete ihm mein, dies Zimmer an, Teil der kleinen Wohnung, die ich mit einem älteren, beleibten Mann teile. Derweil könne ich zu einem Freund ziehen... Das Karma (der guten Tat) nimmt seinen Lauf...

Stefan B. und andere, besser: anderswo auftretende Personen werden im Verlauf des sich vertiefenden, verdichtenden Netzwerks an Kontur, an Schärfe gewinnen.

Das Erzählen mitzuerzählen, in dem Maße, in dem die Erzählung voranschreitet, macht für mich, den Autor, vielleicht den größten Reiz aus. (Es kann, im Bedarfsfall, die Erzähl“maschine“ wieder in Gang gesetzt werden; vor allem erlaubt das Miterzählen aber, jederzeit einzugreifen, erlaubt das Zitat, gewährt größtmögliche Freiheit: ein Balanceakt, der nicht in Bevormundung des Lesers umschlagen darf).

Und dies: In dem Maße, in dem der Erzählstrom einsetzt, ein existentielles Aufgehobensein, ein Beisichsein. Von jetzt an erzählt „es“ sich, erzählt es sich „von allein“; ein Wort gibt das andere.

Oft gefallen mir die Skizzen und Vorstudien eines Malers besser als das „endgültige“ Bild, sie sind spontaner, immaterieller, transparenter. (So wurde das Portrait, das Michael K. im Château Noir nahe Aix-en-Provence von mir anfertigte, im Verlauf mehrerer Sitzungen von Mal zu Mal pastoser. Zum Glück hielt ich die verschiedenen Stadien des Portraits photographisch fest.) Der Eindruck existentiellen Aufgehobenseins mag damit zusammenhängen, dass die Erzählung auf das „Seelenniveau“ einstimmt. Dort fließen „vergangene“ und gegenwärtige Erfahrungen zusammen, Verästelungen tun sich auf. Ereignisse aus der „Außenwelt“ werden einbezogen, finden ihren Platz in einer sich vertiefenden, „magischen“ Weltsicht, Weltwahrnehmung. Tout tombe en place. Things are falling into place. Alles findet/hat seinen Platz.

Galerie am

Palmengarten

Vorweihnachtszeit

Vernissage des humorvollen, teilweise an Kinderzeichnungen erinnernden Werkes des polnischen Ehepaars (sie sind jung, voller esprit...) Natascha, eine junge Russin (sechsundzwanzig Jahre ist sie alt, erfahre ich im Verlauf der nächsten Tage), in einem folkloreartigen, eher rigiden Kostüm. Diese Rigidität fällt mir auch in ihrer Sprechweise, ihrem Verhalten auf. Schon an diesem ersten Abend werde ich sie deshalb necken...

Der Abend geht zu Ende, die meisten Besucher sind gegangen, übrig sind: Jutta K. und ihr Freund, bei denen Natascha wohnt während ihres Frankfurtaufenthalts, das polnische Paar, der Galerist, die Russin und ich. Wir sitzen auf dem Teppichboden, an die Galeriewände gelehnt. Natascha möchte wissen, wie lange ich in Frankfurt bin, bevor ich in die Provence fahre (ich habe ihr von meiner bevorstehenden Reise erzählt). Wir verabreden uns für den nächsten Abend im Bockenheimer Depot.

Bockenheimer

Depot

Sie isst wenig, trinkt viel Kaffee, raucht lange, starke Zigaretten (Yves Saint Laurent? Davidoff?), nicht diese feinen, langfiltrigen, die das weibliche Gewissen beruhigen sollen. Haben die Zigaretten zu ihrem späteren kurzzeitigen Herzversagen beigetragen? Erste längere Gespräche. Ihr englischer Wortschatz ist reich an Vokabeln, ihre Aussprache „gepflegt“ (ihre Mutter ist Englischlehrerin). Beziehungen zur Familie Tarkowskijs (dessen Filme ich liebe), das Leben in Moskau, Fahrten auf der Wolga...

El Pacifico

Ein Tag geht über in den nächsten, genauer wäre: Eine Nacht folgt der andern, die Tage sind kurz, das Dunkel verstärkt die Intimität, hilft mir, ihrem Wesen näher zu kommen. Wir haben „unsere“ Bar gefunden, sie ist bis weit in die Nacht geöffnet, mexicanische Tacos, wiederum Kaffee, Zigaretten...

Was geschieht mit den Erinnerungen, während wir von ihnen erzählen? Werden sie lebendiger, nur um dann ihr Leben auszuhauchen, nachdem sie es an die Schrift abgegeben haben? Ist es so? Gibt es sie danach nur noch auf dem Papier, auf der Festplatte? Befreiung und Verlust zugleich. So erlischt ganz allmählich (aber ganz anders als in der Alzheimerschen Krankheit) das persönliche Gedächtnis. Die Spuren werden gelöscht, die Neuronen und Synpasen werden frei für andere Botschaften

86?

Am Ende der Tagesschau (es muss die Weihnachtszeit sein) Bilder vom verschneiten Roten Platz in Moskau. Dazu Stings Song: „The Russians love their children too“ Mir kommen dabei die Tränen (wie überhaupt bei jeglicher Form der Versöhnung mir leicht die Tränen kommen). Eine Vorahnung der Begegnung mit Natascha? Versöhnung, Aussöhnung: ein Leitmotiv, das mein Leben durchzieht.

Atemlos schreiben, so atemlos wie mein Vater das letzte Jahrzehnt seines Lebens durchlebte? Nach seinem Tod sagte die Ärztin, er müsse schon vorher, vor dem alles zerreißenden Infarkt, einen stillen Infarkt gehabt haben. In der Zeit, in der ich seine Notizen überarbeitete, nahm er beständig blutverdünnende Mittel.

Erinnerungen: sie mit einem Netzwerk einfangen

sie wie ein Mosaik zusammensetzen

sie (teilweise) erfinden

Merianplatz

Mitternacht

zwischen

Weihnachten und

Neujahr 88/89

Der Platz liegt auf halbem Weg zwischen der Wittelsbacher Allee (wo sie bei den Freunden nächtigt) und der Elkenbachstraße. Ich halte sie umfangen, trage sie, so will mir jetzt scheinen, bis ins Zimmer hinauf (sie war ohnehin ein Leichtgewicht), es wird unsere erste Nacht. Morgen muss sie sehr früh raus, sie hat ein Interview im Hessischen Rundfunk.

Als mein Vater begann, seine Erinnerungen an die Jugendtage im Südoldenburgischen, insbesondere aber an die Jahre im besetzten Paris 40 bis 42 zu notieren (ich komme darauf zurück), stellte er mit Erstaunen fest, dass im Verlauf des Sich-Erinnerns die Erinnerungen immer zahlreicher und präziser wurden.

Birkenallee

Bundeswehrlazarett

96

Hier, mit Blick auf die Allee und den Trakt, in dem mein Vater seine letzten Tage verbrachte, habe ich nach dem Armbruch Streckübungen gemacht. So oft ich auch hier vorbeikam, zu Fuß oder mit dem Rad, habe ich an ihn gedacht. Den Friedhof hingegen, wo seine „sterblichen Überreste“ ruhen, besuche ich nur ungern. Wichtig ist nur der Ort, an dem ich ihn zuletzt lebend sah...

Kehl

Sommer 88

Beim Warten auf den Anschlusszug nach Offenburg (und dann nach Frankfurt) komme ich ins Gespräch mit einem spitzbärtigen, beleibten, schon älteren Mann. Schwul, links (ehemals links? Er hat Fischer, Cohn-Bendit gekannt), spricht er ununterbrochen; dies sollte auch später so bleiben). Da er Geld benötigt, und ich eine Bleibe, sind wir uns schnell einig.

Frankfurt

88, 89

In seinem Zimmer hängen Photographien, auf denen er selbst abgebildet ist, in unterschiedlichen Posen. Ein Narziss. Er raucht Zigarette auf Zigarette, selbst im Bad riecht es nach altem Rauch. Er sitzt stundenlang in der Küche, schreibt an seinen latin lover, einen jungen Brasilianer, den er überzeugen will, nach Deutschland zu kommen und mit ihm zu leben. Vierzehn Seiten lang wird der auf Englisch geschriebene Brief. Wenn er eine Wendung, eine Vokabel nicht kennt, hat er einen Übersetzer im Haus, mich. Da er immer noch in Geldnöten ist, besorge ich ihm einen Job bei dem Taxiunternehmen, für das ich zeitweise arbeite. Er verdient Tag und Nacht, verdient viel, sehr viel. Monate später, als er meinen Mietbeitrag nicht mehr braucht, setzt er mich auf die Straße.

Aix

Dezember 88

Sarah Sonthonnax, Sarah mit den großen dunklen Augen, den großen Brüsten (die tieferen Schichten ihres Leibes habe ich nie erkundet), eine Frau des Theaters, Regisseurin. Sie wähle ich zur Vertrauten, zur Zeugin meines désarroi, meiner Unfähigkeit zu wählen. Sarah wird dann, im Sommer 90, zum Vor-bild für Françoise, eine der Hauptpersonen im „Gnom“. Sie hat mit mir nach Spanien, nach Barcelona reisen wollen, ein Angebot, das ich Annas wegen nicht annehmen konnte, nicht annehmen wollte.

Reillanne

Sommer 90

Die Reise habe ich nachgeholt, im Imaginären. Barcelona wird zu einem zentralen Ort im „Gnom“. (Dass dies ein Nachholen war, wird mir erst jetzt bewusst, Jahre später, man schaut dem Unbewussten bei der Arbeit zu.)

Die vorläufig einzige „Regel“, dir ich mir auferlege (Im allgemeinen ändern sich Regeln während eines Spieles nicht. Tun sie es doch, ändert sich das Spiel, oder ein anderes Spiel entsteht. Kinder sind Meister im Erfinden von Regeln und Spielen): die Reihenfolge der Assoziationen, so wie sie auftreten, einzuhalten. Für die Tagebuchaufzeichnungen trifft dies nicht zu, sie sollen, dürfen, müssen „passen“, ihren Platz auf andere Art finden. Sie werden jedoch wiederum Assoziationen, Kommentare, Interpretationen nach sich ziehen. Die Reihenfolge mag an sich noch nicht aussagekräftig sein (vielleicht tritt die Aussage im Verlauf des Schreibens oder im Nachhinein zutage), aber sie hilft dabei, den Erzählfluss nicht ins Stocken kommen zu lassen.

Zwischen den Assoziationen: die Stille. Und das Tagewerk: Holzhacken, Essen zubereiten, telefonieren...

Bretagne

Juli 66

Beginn einer Liebe, der Liebe zu einem Land. Der Zug über Köln, Paris, Rennes läuft in Douarnenez (Finistère) ein. Wochen vorher war ich mit den Eltern zusammen bei der Vorbesprechung gewesen. Ein Jugendaustausch der Arbeiterwohlfahrt, subventioniert, möglich geworden durch den von de Gaulle und Adenauer initiierten deutsch-französischen Vertrag von 63. Rolf, ein „schneidiger“ Ex-Unteroffizier der Bundeswehr, und Ulla, schlank, Anfang zwanzig, sollen die Bedenken der Eltern zerstreuen, sie werden die Gruppe begleiten.

Sechsundzwanzig Jahre zuvor war mein Vater auf derselben Bahnstrecke unterwegs gewesen, als begleitender Sanitäter eines Zuges mit OP-Material; die Fahrt von Glückstadt in Schleswig Holstein bis nach La Baule hatte drei Wochen gedauert.

Der Bus, der uns vom Bahnhof abholt, hält in einem Dorf im Landesinnern. Wir sind in der Schule untergebracht, aus grobem Stein gesetzte Mauern, das Eingangstor geht auf das Kopfsteinpflaster der Dorfstraße hinaus, die nach wenigen hundert Metern in eine Graslandschaft übergeht. Frauen, selbst junge, in Trachten, mit den hohen Hüten, vor allem am Sonntag. Abends das Ritual der „bises“, die jungen Französinnen und Franzosen stehen aufgereiht an der Schulwand, daneben die Deutschen, unsicher am ersten Abend, angesichts dieses Rituals, dann jedoch schnell überzeugt, Küsschen links, Küsschen rechts. Die Schlafsäle sind nach Geschlechtern getrennt. Der Weg zum Strand ist steinig, das Wasser eisig, nur erträglich im Brechen der hohen Wellen.

Mysteriöse Bretagne, ein anderer Kontinent (wie es später der Midwesten der USA noch einmal sein sollte). Damals also begann ich, auf den Spuren des Vaters zu wandeln, er hatte die Reise für mich gebucht (und selbst heute noch, wenn ich mit dem Campingbus in Frankreich unterwegs bin, bin ich in gewisser Weise sein Stellvertreter, führe fort, was er begann, tue, was er gern getan hätte).

15. Dezember 88

Tagebuch

Ist Natascha in mein Leben getreten, als eine (gefühlsmäßige oder spirituelle) Öffnung sich ereignen sollte? Ich sitze im Zug von Strasbourg nach Marseille, immer wieder blitzt die „alte“ Identität auf, der unabhängige Mann, geist- und humorvoll, eine leichte, wahrscheinlich leichtfertige, da leicht gefertigte Identität; doch die „Grundschwingung“ ist eine andere, es ist eine Gewissheit, die sich vom Bauch her ausbreitet. Konnte ich so nicht weitermachen? Musste das Gehäuse aufbrechen? Es „positiv“ aufzubrechen, gelang Anna nicht; nur ihr Leiden, ihr Zorn, ihre Resignation erreichten mich, während die Nachtschwingung Nataschas, die „russische Seele“, mich mit ihrer Langsamkeit, ihrem fast rauschhaften Schwebezustand fast mühelos öffnete. Bei Antritt der Reise glaubte ich, dass dieser „Bauchzustand“ mit der geographischen Entfernung verblassen würde, doch bin ich mir dessen nicht mehr so sicher. Ist es „nur“ ein Verliebtsein, wird die Wirkung sich im Lauf der Woche in der Provence abschwächen; ist es (gegenseitige) Liebe, „verschlimmert“ sich die Lage...

Hier ein erstes Stocken. Ist es überhaupt sinnvoll weiterzuschreiben? Beim Lesen dieser alten Aufzeichnungen das Gefühl, an Dinge zu rühren, die vielleicht besser ruhen sollten. Kann man vom Verliebtsein und vom Sterben reden, wenn man nicht mehr beteiligt, nicht mehr dabei ist? Ist man jedoch beteiligt, dabei, kann man nicht darüber schreiben. Es ist gut möglich, dass ich diesen Versuch abbreche...Große Gefühl machen, wie man weiß, nicht schon große Literatur. Doch zuviel Abstand auch nicht...Vielleicht sollten gewisse Ding im Leben nur gelebt sein, und nicht auch noch beschrieben, kommentiert, interpretiert...

Nachdem dieser Impetus, den Versuch abzubrechen, ausgelebt, von allen Seiten betrachtet ist, verwerfe ich ihn: der Wunsch weiterzuschreiben, ist stärker. La jouissance du texte. Die Lösung: Im Folgenden werde ich mich immer wieder auf die Tagebucheintragungen beziehen, ohne sie jedoch als solche, in ihrer damaligen Form, zu übernehmen. Zuviel Gefühl des Augenblicks, Glück aber auch Leid, tritt mit ihnen, durch sie hindurch, auf. Hier also ein Filter: ich ziehe die jetzige (Form der) Erinnerung dem damals beschriebenen Erleben vor. Schutz? Abgeklärtheit? Respekt für die Würde der Intimität. Sicherlich von all dem etwas. Es wird nicht mehr lange dauern und ich singe das Loblied des Vergessens. Freud und Leid, Glück und Unglück erneut anzufachen ist nur sinnvoll im Hinblick auf eine Katharsis, eine Reinigung. Jegliches Schwelgen, Suhlen sollte privater Natur bleiben. Vergessen als Voraussetzung dafür, die Frische der Gegenwart zu erleben. – Und die Verdrängung?

Beim Hören einer Radiosendung, in welcher eine Autorin von ihrer Klosterzeit erzählt, die sie in ihrem Buch „verarbeitet“ hat, und dann auf ihr zweites Buch, eine Fiktion, zu sprechen kommt: Solange die Menschen - mehr oder minder authentisch - von sich erzählen, kann ich zuhören, sehr lange zuhören. Sobald sie jedoch - als Autor(in) - von ihren (Roman-)Figuren zu sprechen beginnen, will ich nicht mehr folgen. Warum sich der Vorstellungswelt eines andern aussetzen? Da setzt doch nur eine Wortproduktionsmaschine ein. Oder anders gesagt: das Imaginäre des andern ist nur ein anderes Imaginäre, noch eins. Dichter sind ausgenommen. Aber Dichter schreiben auch keine Romane.

Gerbermühle

Vorweihnachtszeit

Ich bin um einundzwanzig Uhr mit Natascha verabredet. Nach einem tagsüber geführten Telefongespräch mit Anna plagen mich die sogenannten „Gewissensbisse“. Ich lasse die Zeit verstreichen, einundzwanzig Uhr zehn, fünfzehn. Dann siegt die geographische Nähe über die Ferne. Um zwanzig nach neun stehe ich vor der Wohnungstür. Volker, der Freund Juttas, schaut uns hinterher, während wir die Treppe hinabsteigen. Im Restaurant sagt Natascha später: „Ten minutes more, and I would have been gone.“

Wir fahren zur Gerbermühle, einem Ort, an dem schon Goethe gespeist hat und die Schönheit einer Wirtstochter gepriesen haben soll. Wie üblich isst Natascha wenig, eins der zwei Medaillons bleibt auf dem Teller zurück. Nach Dessert und Rechnung gehen wir hinüber zum Main. Sie lehnt sich an mich, aus der Nähe wird nächste Nähe, der erste Kuss. Ich muss mich hinabbeugen, ist sie doch einen Kopf kleiner.

Marseille

Vorweihnachtszeit

Nach der Ankunft des Zuges schließe ich Anna in die Arme, heftig, umschlinge sie geradezu. Ist das noch ein Rest des „russischen“ Elans oder schon Kompensation für das Ungesagte, le non-dit, das uns auch in den nächsten Tagen begleitet, ob im Restaurant mit Blick auf den festlich erleuchteten Vieux Port oder beim Betrachten der santons, der Krippenfiguren auf der Canebière.

19. Dezember 88

Tagebuchauszug

Ich spreche nicht von Natascha, um kein Leiden zu verursachen. Aber mehr als einmal, da ich Annas Vertrauen, ihre Lebensfreude neben mir spüre, sehe, bin ich versucht, die „Wahrheit“ zu sagen, aus Liebe sozusagen. Aber wäre diese Liebe wahrhaft Liebe? Wenn ich dem andern Leiden zufüge durch das Sagen der Wahrheit, ist diese Wahrheit dann befreiend, kathartisch? Würde sie uns helfen, besser zu leben? Ich bezweifle es.

Gegenwärtig weiß es die eine, und die andere nicht. Die „Geliebte“ weiß es, und nicht die „Gattin“, très classique. Natascha hat mich vor der Abreise gebeten, nicht von ihr zu erzählen.“Telling is the first step towards forgetting.“

Aix-en-Provence

Vorweihnachtszeit

An einem von Annas letzten Arbeitstagen fahre ich hinüber nach Aix, zu Sarah. Die Regisseurin in ihr ist fasziniert von meinem „Auftritt“, die Frau in ihr erregt: „Je ne t’ai jamais vu dans cet état!“ Aber ich mache keine dritte „Baustelle“ auf, dies wäre noch eine Verschiebung mehr.

Marseille

Tagebuchauszug

Ein Telefonat mit Natascha verläuft enttäuschend. Sie ist für diese Kommunikationsform nicht gemacht, zumindest nicht auf Englisch. Wieder spielt die geographische Entfernung hinein. Ich würde gewiss nicht in Moskau anrufen wollen: zu viel Raum für Missverständnisse, zu viele mögliche Interpretationen. Die französische Identität wirkt wie ein Vorhang, hinter dem die Frankfurter Geschichte sich gedämpft und undeutlich abzeichnet. Zudem stellt sich allmählich die alte Vertrautheit Anna gegenüber wieder ein, ja, ich spüre sie noch deutlicher vor dem Hintergrund der anderen Geschichte.

Tagebuchauszug

Ich beginne, mich in der Lektüre einzurichten, also auch im Begehren zu schreiben. Innerhalb weniger Tage hat sich der Übergang von der aktiven zur passiven Phase vollzogen. Die Reflexion ist verwandt mit jener anderen Distanz, welche die Verliebtheit hervorruft. Beiden genügt der Alltag nicht; einmal ist es die Leidenschaft, die als Heilmittel dient, dann wieder die Schrift.

Aber ich werde Marseille verlassen (müssen), habe Eltern und Schwester im Norden zugesagt, sie über Weihnachten zu besuchen. Auch feiert Anna im Kreis der erweiterten Familie, in den ich nicht geladen werde, da wir nicht verheiratet sind, très classique.

Marseille

Der Abschied am Bahnhof, das Winken am Quai, die kleiner werdende Gestalt: herzzerreissend. Ein Vorzeichen des Großen Abschieds, eine Einübung?

Im Zug nach

Strasbourg

Tagebuchauszug

In dem Maße, in dem der Zug in der Nacht voranglitt, in dem die Stationen, die er eine Woche zuvor in umgekehrter Richtung durchfahren hatte, auftauchten und wieder verschwanden, verblassten die Erinnerungen an seinen Aufenthalt in der Provence und gaben der nächtlichen Gegenwart Raum, der Gegenwart jener Nacht, die er mit Natascha gekannt hatte. Nacht gegen Tag, Mond gegen Sonne: ließ der Zwiespalt sich auf so einfache Bilder bringen?

Und die Zeichen, die in Bezug standen zu Russland, Zeichen, die seinen Hinweg punktiert hatten, dann verschwunden waren, tauchten wieder auf: Zeitungsartikel, die von der neuen Politik in Russland berichteten, eine im Abteil aufgeschnappte Unterhaltung, bei der es um Erdbeben im Süden des Landes ging. Er war sich jetzt sicher, dass er Natascha noch am selben Abend wiedersehen würde.

Frankfurt

Anruf bei Jutta und Volker, Natascha ist unterwegs. Jedoch ist ein weihnachtliches Diner für den Abend vorgesehen, im italienischen Restaurant Leon d’Oro. Übernächtigt, die Zugreise zirkuliert noch in meinem Blut, betrete ich das Restaurant. Natascha sitzt zwischen den Freunden. Während des Essens haben wir kaum Gelegenheit, uns auszutauschen. Fremd kommt sie mir vor zu Anfang, mein französischer Blick ist zurück. Dann aber geht der Abend über in die Nacht und der Schwebezustand stellt sich ein...

(Hier setzt die präzise Erinnerung aus, Bilder aus den verschiedenen Phasen überlagern sich, Details wären somit Erfindung, bestenfalls Verdichtung. Natürlich frage ich mich, fragt man sich: ist es möglich, innerhalb eines Tages von den Armen der einen in jene der andern zu wechseln? Die Antwort ist eindeutig: es ist möglich.)

Der Aufenthalt in Frankfurt ist nur kurz, ein, zwei Tage, dann der nächste Zug, in den Norden des Landes. Doch Natascha bleibt bis Ende des Monats in Frankfurt, wir werden uns wiedersehen.

Bad Zwischenahn

Weihnachten

Der Vater überreicht mir zwei weitere besprochene Kassetten, wiederum Erinnerungen an die Kriegsjahre im besetzten Paris. Acht Kassetten sind es inzwischen. Er nimmt nun ständig blutverdünnende Mittel, die Atembeschwerden sind heftiger geworden, er geht kaum noch nach draußen, an die feuchtkalte Winterluft. Die Mutter hört, sagt sie, tagsüber seine Stimme aus dem „Arbeitszimmer“, dem Ort, wo er jahrzehntelang den Unterricht vorbereitet und Arbeiten der Schüler korrigiert hat. „Ich kenne die Geschichten ja alle, er hat sie mir nach dem Krieg, nach der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft erzählt.“

Ich ahne nicht, dass es die letzten Gespräche mit ihm sind, dass ich ihn bei der nächsten Begegnung im Bundeswehrlazarett vorfinde, verkabelt, am Tropf, nicht mehr in der Lage zu sprechen.

Hier, im Elternhaus, habe ich einen dieser Träume, aus denen man nicht aufwachen möchte, weil die Realität dagegen schal erscheint. Seltsamerweise stimmt das stärkste Bild mit dem Anfangsbild aus einem von Tarkowskijs Filmen („Der Spiegel“) überein: Ich sitze auf der obersten Latte eines Zaunes, es ist Sommer, die Luft mild, und vor mir erstreckt sich ein gelbes Weizenfeld, dessen Halme sich im Wind wellen. Eine zeitlose, nostalgische Schönheit eignet diesem Bild, als sei man endlich zu Hause angekommen. Nehme ich Kontakt mit der von Natascha repräsentierten „russischen Seele“ auf?

Frankfurt

Zwischen Weihnachten und

Neujahr 88/89

Zurück in Frankfurt bleiben uns nur wenige Tage, bevor Natascha zurückfliegt nach Moskau. Am letzten Abend sitzen wir in meinem Zimmer, ich im Ohrensessel, sie am Boden zwischen meinen Beinen. Uns ist nicht nach körperlicher Liebe zumute. Schlagartig, und doch als habe sie sich lange vorbereitet, kommt mir die Einsicht, dass ich die tausend Kilometer bis Marseille nicht eintauschen werde gegen die zweitausend Kilometer bis Moskau. Zu oft und zu lange schon habe ich Entfernungen zurückgelegt. Mir scheint, ich würde nur ein „Modell“ gegen ein anderes tauschen. Obgleich ich nichts von diesen Gedanken erwähne, spürt Natascha mein verändertes Verhalten. Es muss ihr so vorkommen, als ob ich innerlich schon Abschied genommen hätte von ihr. Doch bleibt dies ungesagt.

U-Bahnstation Zoo

Das letzte, pathetische Bild: wie sie die metallene, endlos lange Rolltreppe hinunterfährt, kleiner wird. Zurück bleibt eine gähnend leere Station, in die ich hinunterstarre.

II

Le tombeau

Frankfurt