Das Sprechen im Kopf bis die Landschaft wieder erscheint - Nicolaus Bornhorn - E-Book

Das Sprechen im Kopf bis die Landschaft wieder erscheint E-Book

Nicolaus Bornhorn

0,0

Beschreibung

Andere sahen ihn als immaterielles Bild, das man nicht berühren kann, als jemanden, der aufgehangen war in der Struktur seiner Bücher und Worte. Ein Junge von zehn Jahren, der zur Schule ging und mit seinen Kameraden in der Straße spielte. Er war immer in seiner Welt, die niemand betreten konnte (durfte?)

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 177

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Teil I: Das Sprechen im Kopf bis die Landschaft wieder erscheint

Teil II: Boulevard des Dames, Marseille

Teil III: Im Steinbruch Bruchstücke, Fundstücke, Blöcke...

Intermezzo I

Teil IV: Die Hütte

Intermezzo II

Teil V

Intermezzo III

Teil VI: Le cahier bleu/ Das blaue Heft

Epilog

Teil I

Das Sprechen im Kopf bis die Landschaft wieder erscheint

Journal 76 - 88

Andere sahen ihn als immaterielles Bild, das man nicht berühren kann, als jemanden, der aufgehangen war in der Struktur seiner Bücher und Worte.

Ein Junge von zehn Jahren, der zur Schule ging und mit seinen Kameraden in der Straße spielte. Er war immer in seiner Welt, die niemand betreten konnte (durfte?) Au fond, il était quelqu’un tourné vers le plaisir permanent.

Ende 76

(Vor der Mexikoreise)

Und langsam kristallisierte sich diese Einladung aus zu einem Plan, der Plan zur Aktion. A. hoffte, dort drüben eine Karriere zu beginnen. Sie musste diesen Traum vom Mannequin ausleben, damit später kein Bedauern bliebe. Solange ich sie kannte, war A. vom Beruf des Mannequins intriguée gewesen; und so würde sie endlich etwas tun.

Die mexikanische Gastfamilie: die Mutter malte, die eine Schwester war Photographin, die andere Mannequin. Und im ersten Stock des Hauses lag der Vater, ehemals erfolgreicher Komponist von Hollywoodfilmen, krank im Bett.

Sommer 77

Die blaugrüne See dämpft die Stimmen des Fleisches; jede Stimme hat sich einen halben Quadratmeter Sand erobert.

Le Clézio hat diese Unlandschaft beschrieben, er nannte sie „Abstieg in die Hölle“. Ihm fehlte der Wind, der die Geräusche verweht, der die Ereignisse streichelt.

An den Fassaden vom Beginn des Jahrhunderts hat die Zeit gearbeitet: die „italienischen“ Farben sind abgebröckelt, die schadhaften braunen Rolläden heruntergelassen. Als ich zum am Meeresufer gelegenen Restaurant kam, um mich einer Arbeit wegen vorzustellen, war ich, aus einem Missverständnis heraus, eine Stunde zu früh dort. Diese Stunde war leer. Weil ich aber wusste, dass der Augenblick der erzwungenen Bewegungen kommen würde, hörte ich das Brechen der Wellen doppelt gut. Bewegungslos sah ich ihnen zu, gegen einen Stein gelehnt, der einen spitzen Grat hatte, der sich in den Rücken bohrte.

14.7.77

Zum Solipsismus

Der äußeren Realität die Unabhängigkeit absprechen, würde bedeuten, sie von der Schöpfung des Subjekts abhängig zu machen. Die Macht des Intellekts reicht jedoch nicht aus; durch Arbeit und Experiment, die ihn wiederum prägen, schafft er sich langsam Kenntnis. Die Herr-Knecht-Relation, so wie sie in der Vorstellung des Solipsisten existiert, ist Illusion: er muss sowohl sich, dem Subjekt, als auch dem Objekt entweder Realität oder Nicht-Realität zusprechen, was das Gleiche ist.

Dem Objekt den Charakter einer Erscheinung zusprechen, es also als Konstruktion des Subjekts auffassen; dann dem Subjekt die Vergänglichkeit anmerken. Rückfall ins Nichts, keine bleibende Gewissheit.

Weihnachten 77

Wenn die Schwester die Tür des Zimmers schließt und diese dabei nicht klickend einrastet, so ist mir, als sei eine Schluckbewegung nicht zu Ende gebracht worden.

Des Öfteren ergreifen mich Bilder von der Reise zu Anfang des Jahres, vom Schneesturm in Ohio, von den stickigen, blumigen Stränden Mexikos.

Fast weinte ich am Stausee, als eine zweitklassige Band Chansons spielte, die mich an meine erste Liebe in der Bretagne erinnerten. Und durch das verschwommene Blickfeld wankten fellinische Figuren, eine überalte Frau, gestützt auf ihre Tochter, die ihr Gesicht mit Schminke zugekleistert hatte.

Es tut gut zu sehen, dass Leiden (die Trauer über den Tod seiner Mutter) den Vater verändert, ihn empfindsamer macht und duldsamer für das Leben anderer.

15.1.78

Vor zwei Jahren saß ich zur gleichen dunklen Morgenstunde in diesem café und schrieb. Damals kannte ich die Selbstverständlichkeit dieser Handlung noch nicht, die Gewohnheit werden kann, bewohnbar, und die das Gelände des Selbstgesprächs verläßt (jene Müllhalde der erstickten Schreie).

Beim Lesen von Handkes Journal verinnerliche ich seinen Stil so stark, dass ich mir nicht vorstellen kann, bei unserer nächsten Begegnung irgendeinen seiner Gedanken als fremd zu empfinden.

Das Lachen des Mannes am Nebentisch gelangt wie das Husten eines stark Erkälteten nicht aus der Kehle heraus.

Haikus zu schreiben, nur mit dem Zusatz des Ich, das als Summe der inneren und erinnerten Wahrnehmungen erscheint.

Das Schöne an Handkes Journal: dass zwischen den schwarzen, gedruckten Situationen viel Platz bleibt. Das einzelne Wort hat noch sein Gewicht und sein Recht.

Ich steige in den Vorortzug, den Handke immer nimmt, werde seinen Weg vom Bahnhof bis zum Haus gehen und betrachte schon alles mit seinen Augen.

Die Metro und ihre Musiker: Gesänge in den taglosen Schlünden.

Das Haus, das ich in Träumen schon zweimal besucht hatte, erwies sich als weiß und so leer, wie ich es mir vorgestellt hatte.

Auf der Toilette brach ich in das gewohnte freudige Zucken aus, das nach langem konzentrierten Dasitzen in der Anwesenheit des andern zum Zeichen des wiedergefundenen Alleinseins wird.

Zu fast jeder seiner Bewegungen, sei es das Weintrinken, das Säubern des Gemüses in der Küche, fiel mir eine Stelle ein aus seinem Journal, die seinen inneren, nun von mir erinnerten Kommentar zur Situation gab.

Die kurzen Zeiten seiner Abwesenheit benutzte ich dazu, die Dinge zu betrachten, die ihm Alltag bedeuten.

Januar 78

Das jugendliche Verlassen des (Eltern-)Hauses ist der Reise nach innen gewichen: die Ereignisse sind nicht mehr durch Chronologie verbunden, sondern durch Analogie, nach der Art des Erlebens.

14.2.78

Nachdem das weiße, brillante Licht des Südens mich erhellt, die klare, kalte Luft die Lungen gereinigt hat, und nachdem das dumpfe Paris verdämmert ist: eine Frau eilt mit wehendem Haar eine Treppe hinauf.

A. läuft von einem Arzt zum andern, um ihre vielen Leiden behandeln zu lassen. Ihr wirkliches Leiden: dass ihr eine Aufgabe, eine Tätigkeit fehlt. Das Laufen, um die Verabredungen einzuhalten, bringt ihr die Aktivität, die sie braucht, und also Heilung.

22.2.78

Die bleichgelbe Sonne, reflektiert auf dem mit Eis überkrusteten Schnee: so wurden Flächen aus Licht gebildet, die einen einzigen welligen See vorgaben. Vereinzelt darin die Bäume und Telegraphenmasten. Im Tal unten eine fein gerasterte Landschaft aus geometrischen Formen und zärtlichem Geäst, wie auf japanischen Zen-Stichen.

An A.: Ich brauche Deine Abwesenheit, aber nicht, um Dich zu idealisieren, sondern um Dich vom Täglichen gereinigt, abgehoben, in mir zu spüren. In der Entfernung kann ich Dich als mir wesentlich annehmen.

Ein kristallines Organ in meinem Innern, ein Schlucken oder das befreiende Weinen nach der Aufgabe allen Zögerns und Urteilens.

25.2.

Ich esse, doch die Nahrung befriedigt mich nicht. Meine Gedanken sind die des ewig Hungrigen, der kauend schon daran denkt, wie morgen das Essen beschafft werden soll. Die wirkliche Ursache dieses unersättlichen Hungers ist Furcht, die Furcht vor der Klarheit, die ich doch gleichzeitig wünsche (Klarheit durch Fasten).

Eine Quelle aus Furcht nährt den Hunger.

26.2.

Im Zug: ich sitze einer unbekannten - daher anziehenden - Frau gegenüber. Der direkte Zugang zu ihr ist durch das Ritual des Kennenlernens verlegt (versagt...)

27.2.

(Traum)

Ich suche im dunklen Wasser des Hafens. Nach einem Schatz? Beim Auftauchen drohen über und neben mir die Bordwände der Schiffe. Eisschollen treiben auf dem Wasser. Es gelingt mir, auf einen kleinen Schlepper zu klettern, meine Füße schauen aus einem weiten Gewand, sie sind nackt, und doch ist mir nicht kalt.

Türme und seltsame Formen aus Eis trotzen am Ufer. Mit weichem Schwung bringt die Führerin des Bootes dieses in eine Eismulde am Ufer ein.

Auf einer Balustrade, die steil und felsig zum Strand hin abfällt, harren alte Männer. Der Strand wimmelt von Lebewesen des Meeres, die die Kälte aus dem Wasser vertrieb.

28.2.78

Wenn sie heute, nach siebentägiger Trennung, die Tür dieses anonymen Hotelzimmers öffnen wird, dann tritt auch eine Fremde ein. Nach über drei Jahren dieses Staunen darüber, mit jemandem zu leben. Manchmal, wenn sie tätig ist oder mit jemandem spricht, schaue ich sie an und will ganz da sein, keine Selbstverständlichkeit aufkommen lassen.

März 78, Heidelberg

Ich sah aus dem Fenster des Wagens auf drei graue Hochhäuser, die Studentenwohnheime, und sagte zu A.: „Hier habe ich ein Jahr lang gelebt“. Der Regen, das äußere und innere Grau holten miserable Erinnerungen herauf. Alles schickte mich wieder fort, das leere, schmutzige Treppenhaus, der Blick vom Balkon auf den von Wasserlachen überzogenen Sportplatz.

Es gab wohl die kurzen, unwillkürlichen Erinnerungen: vor dem Fenster, wo der Freund, mit dem ich später nach Südfrankreich trampte, Gitarre spielte; oder vor der Tür im zwölften Stock, wo die Erinnerung an eine Freundin, die dahinter gewohnt hatte, wie eine kurze Wärme aufflackerte.

Nur sechzig Kilometer weiter und eine Stunde später und schon ist alles so weit. A. blieb bei mir durch das Wiedersehen hindurch. Aber was sollte dieses Suchen im Regen, das Ablaufen von Spuren, die acht Jahre zurückliegen. Der Aufenthalt in Heidelberg war so kurz, dass die Materie da draußen sich nicht im Innern verfestigen und dadurch Gegenwart werden konnte (oder war die Gegenwart gegenwärtiger durch das gleichzeitige Abspulen der Vergangenheit?)

6.7.78

Nachrichten von gestern

Das Weiß der Mauern, der helle Strand, blau das Meer, der Himmel: all diese Farben sind elementar, anorganisch und ermüden mich schnell. Die Haut der auf den Sand geklatschten Gestalten ist unlebendig, eine versessene Aneignung der Sonne.

Mein Denken ist wie eine Maschine, die aussetzen könnte und fürchtet, nicht mehr in Gang zu kommen. Die Sorglosigkeit der Kindheit ist nicht mehr einholbar, sie ist nach hinten davongelaufen.

Die Verliebtheit in die Vergangenheit ist ein Leiden, aber wer sagt, dass die Gegenwart nur sei, was sie sei, irrt. Das tonlose Sprechen im Kopf hält sich noch aufrecht mit der Zeit. Vorbei die Rituale der Selbsttäuschung, das Wahre, das nackt ist wie Wasser, verschließt mir den Mund mit seiner Überfülle. Was hinausgelangt, sind barocke Worte, die keiner mehr zu sagen wagt, weil sie verbraucht sein sollen. Noch glaube ich, wieder zur Erde zurückgelangen zu können, dass sie sich wieder verdichten möge, um die alten, bekannten Gefühle zuzulassen, doch die Spuren der Zukunft sickern ein, berennen das Gehäuse aus wild gewachsenem Trotz. Ich glaubte, essen zu müssen, lieben zu müssen. Den Tisch, den Stuhl will ich fassen, um mir ihr Da-Sein ausdrücklich vor Augen zu führen, sie sind da, kein Zweifel, in ihrem rosa Plastik, dieser Materie, die an America so misslungen auffiel; „I was born with a plastic spoon in my mouth.“

Ich hatte eine Geliebte, noch schläft sie neben mir, aber wir müssen andere Augen finden, um uns wieder erkennen zu können. Nichts scheint umkehrbar, und doch haben wir bis zur Geburt alles vergessen.

Angst ist eine Form der Energie: wenn ich sie ausspreche, zugebe, wandelt sie sich und gebiert Klarheit.

20.2.79

L’écrivain écrit à un lecteur qu’il voudrait être lui-même. Dans le miroir tu t’adresses à quelqu’un qui tu voudrais être. (Anm. s. Ende Teil I)

Elle ne voulait plus s’habiller en noir.

A: Je suis narcissique quand je ne vais pas bien. Je suis extérieur à moi-même, et je me perds dans des rêves de séduction.

C. : Je regarde ton image dans le miroir, et je voudrais prendre conscience du fait que je me trouve vraiment à Venise. Mais je suis partout et nulle part.

A., avant de s’étendre dans sa tombe, mettra, pour la dernière fois, du rouge aux lèvres.

Der Schriftsteller schreibt einem Leser, der er selbst sein möchte. Im Spiegel wendest du dich an jemanden, der du sein möchtest.

Sie mochte sich nicht mehr in Schwarz kleiden.

A.: Wenn es mir nicht gut geht, bin ich narzisstisch. Ich bin dann außer mir, außerhalb meiner selbst, und verliere mich an

Träume der Verführung.

C.: Ich sehe dein Bild im Spiegel, und ich möchte mir dessen bewusst werden, dass ich mich wirklich in Venedig befinde.

Aber ich bin überall und nirgends.

Bevor A. sich ins Grab legt, wird sie noch einmal Rot auf die Lippen auftragen.

21.2.

Welche Absurdität: aus Langeweile zum Mystiker werden; es wird langweilig zu denken.

22.2.

Eine Art innerer Montage: Die Frühlingsluft der jugoslawischen Berge verbindet sich mit der Atmosphäre des gerade gelesenen Buches. Aus der Synthese heraus entsteht eine Art des Denkens, das den Rhythmus des Buches übernimmt, das Material, die Erfahrung aber aus der Erinnerung holt, den Märztagen in Colorado, im Jahr 71, die „in der Luft liegen“, nah und fern zugleich. Dieser Rhythmus reizt zur Nachahmung, zeugt Inhalt und Form zugleich. Er ist nicht nur Bewegung, zu der ich noch Worte suchen müsste, sondern Bewegung und Worte zugleich: Bewegung, in Worte gefasst, Worte, in Bewegung geraten.

15.9.79

Während des Schreibens habe ich jetzt stärker als vorher das Gefühl, „mir über die Schulter zu schauen“, d.h. das Geschriebene schon gleich wie ein möglicher Leser zu betrachten. Dies kommt auch daher, dass ich den Beginn dieses Journals („Das Sprechen im Kopf bis die Landschaft wieder erscheint“) in Überarbeitung genommen habe, und die Verdoppelung in die Funktionen der Kritik und der Schöpfung sehr oft und rasch eintritt. Jede schließt die andere zwar aus, d.h. sie können nicht gleichzeitig auftreten, aber die eine kann die andere nach sehr kurzer Zeit ablösen. Den Beginn dieses Journals zu überarbeiten, bedeutet auch: die Modifikationen und Betrachtungen, die während des Überarbeitens „abfallen“, festzuhalten (z.B.: Warum schließe ich Teile der Träume aus dem Journal aus?)

28.8.79

(Zur Isolation des Schreibenden)

Jetzt weiß ich, warum nach langen Gesprächen mit meiner Schwester das Schreiben nicht möglich war: Da es möglich war, über alles (auf Deutsch) zu reden, die Worte und Gedanken frei aneinander zu reihen, so wie sie kamen, konnte es zu keiner inneren Sammlung, zu keinem Anstau von Material kommen. Ich weiß jetzt auch, warum sie das Reden dem Schreiben vorzieht: der Übergang von einer Rede- zu einer Schreibphase ist mühselig (nicht immer: Redemüdigkeit kann auch in die Freude, sich allein wiederzufinden, münden). Das Schreiben ist nur möglich, nachdem eine gewisse Isolation hergestellt, aus den eigenen Phantasien ein Kokon gesponnen ist. Einmal darin, erfahre ich den Schaffensprozess als befriedigend! Aber der Eintritt in diese Isolation ist schmerzhaft, weil der Bereich des andern, des Dialogs verlassen werden muss.

September 79

Cello und Gitarre ineinander verwoben: Suche nach Einzelheiten, dem konkreten Dialog, der alles andere außer Acht läßt, bis die Trance erscheint auf den Gesichtern, in den Augen.

Auf dem Platz draußen heulen die Hunde, der Regen erlöst nach Monaten der Trockenheit die Blätter und gibt mir jenen Himmel wieder, den ich aus der Jugend kenne: grau, niedrig, und ein Licht, das die Objekte näherrückt.

Oktober

Seit Beginn des Monats wohnen wir wieder in Aix, in einem großen Appartement, in einer Straße, die fast durchweg von Arabern bewohnt wird. Durch das Küchenfenster kann man sie in den Wohnungen gegenüber beobachten, wo sie zu fünft oder sechst die Zimmer behausen. Sie setzen die Wände und das Mobiliar nicht instand, weil sie soviel Geld als möglich nach Hause schicken wollen. Über den roten und beigefarbenen Ziegeln des Hauses steht die volle Kuppe einer Kastanie, deren Blätter sich schon färben und dahinschwinden.

Unsere Wohnung war früher Teil eines Nonnenklosters. Als einzige Überreste zeugen davon heute noch die Gitterstäbe vor den Fenstern, die auf den Innenhof hinausgehen. Zwei dieser Fenster sind zu hoch angebracht, als dass der Blick mehr als Himmel ergriffe. Der Innenhof, dessen Rosenbüsche und Zedern, Weinlaub und Blumenbeete noch fast gänzlich im Grün stehen, ist von schmalen Wegen durchzogen. Dahinter staffeln sich alte Häuser in Erdfarben, manche sind nur zwei oder drei Stockwerke hoch, andere vier oder gar fünf. Darüber dann die Landschaft aus Ziegeln, die ich so gut kenne, und die Fläche aus durchgängigem Blau.

Das Zimmer mit Blick auf den Innengarten enthält altes Mobiliar aus der Jahrhundertwende, ein wuchtiges Bett aus schwerem dunklen Holz, einen hohen Wandschrank, eine Kommode und einen Sekretär aus demselben Holz. Die Tapete ist grau, von rosa Blumen durchsetzt, und reicht hoch hinauf. Das ganze Zimmer wirkt wie ein Ruf aus der Zeit, da ich als Fünfjähriger bei den Großeltern auf dem Lande lebte. Es fehlen nur die rostbraunen Flecken getrockneter Feuchtigkeit an der Decke, um das Bild zu vervollständigen.

Wir sind jetzt zur Ruhe gekommen, und manchen scheint es eine so große Ruhe zu sein, dass für ihre Augen nichts mehr geschieht. Sie spüren wohl unsere Anwesenheit (présence), anscheinend fehlen ihnen aber die Begriffe, um sich den Sinn eines Zusammenseins mit uns klarmachen zu können.

November

Der Schwefelgeruch des erlöschenden Streichholzes; Tabakgeruch an den Fingern, die die Zigarette hielten; in den Tassen dampfender Tee. Mit Zwischenblicken auf die weiß-zerklüftete Wand der Ste Victoire lese ich in den Impressionen eines Mannes, der nach Hollywood zurückkehrte, um seinen Geburtsort zu suchen.

(Beim Rollen auf der Autobahn)

Zu denken, und der vorherige Gedanke ist schon vergessen.

Das Schweigen schluckt die Laute (als liefe die Zeit rückwärts).

Jede Situation gibt nur einen Bruchteil von sich frei an die Worte.

Wenn das Leben am lebendigsten ist, ist es am fremdesten und dem Tod am nächsten. Dann habe ich keine Angst vor dem Tod (auch weil es niemanden mehr gibt, der Angst haben könnte).

Sie (A.) möchte mich als Vater sehen können, als jemand, der Vertrauen gibt. In dieser Konstellation werden wir auch eine andere sexuelle Beziehung finden müssen. Bisher war ich, im Zustand des Begehrens, noch zu oft der Sohn, der von seiner Mutter das Gewünschte erbittet. Sie jedoch blieb unerfüllt. Sie sagt, daran sei vor allem schuld, dass sie sich bisher nicht habe hingeben können, aus Angst, dem anderen Macht über sich zu geben; oder aber, wenn sie Lust aus Egoismus heraus wolle (Lust um ihrer selbst willen), diese mit beliebigen Männern erreichbar werde.

Eine Zeitlang fand sie es befriedigend, masturbierend den Orgasmus zu erreichen. Dies gelang ihr jedoch nur, wenn sie zu Phantasien (phantasmes) griff: Phantasien der Vergewaltigung, des Angebunden- und Ausgepeitschtwerdens etc. Bis zu jenem Augenblick, als sie sich eingestand, dass sie eines Tages vielleicht diese Art der „Liebe“ erfüllender finden könne als es mit einer wirklichen Person zu tun. Da gab sie diese Praktiken auf.

1980

Dort, wo ich mit gekreuzten Beinen auf dem Felshaupt sitze, das taghelle, « märchenhafte » Tal von Tholonet unter mir, aus dem das Bellen der Hunde heraufklingt; dort, wo die wegen der Entfernung blaue Bergkette mit dem helleren Blau des Himmels zusammentrifft und zu Horizont wird; wäre ich dort ein anderer?

Aber auch hier, in den Straßen, bin ich frei, wenn ich frei bin. Die Geräusche bleiben im Vorraum der Denkbarkeit. Der kühle Wind des Morgens sät Kinderstimmen.

Eins werden mit dem Andern bedeutet nicht (nur)

Selbstauflösung, sondern (auch) Bewusstmachung derjenigen „Körperzone“, die dem Äußeren ent-spricht: eine Geste, ein Himmel mit untergehender Sonne, ein „totes“ Objekt sind auch in mir.

Der Sommerwind bläht mir das Hemd, durch die gefärbten Gläser gefiltert funkelt die Oberfläche des Wassers statt zu blenden. Die Kräne am gegenüberliegenden Ufer stehen schemenhaft im blauen, diesigen Licht.

In einem Andenkenladen steht eines jener Bilder zum Verkauf, die je nach Blickpunkt anderes zeigen: ein gekreuzigter Christus erhebt entweder die Augen mitleiderheischend gen Himmel, oder er ergibt sich mit gesenkten Lidern in sein Schicksal.

1981

Zum Verstehen einer Regel:

Es ist nur ersichtlich, ob jemand eine Regel verstanden hat, wenn er sie im Folgenden richtig anwenden kann (Wittgenstein).

Was aber, wenn jemand gelernt hat, Worte richtig anzuwenden, Ideen richtig zu handhaben, ich aber das Gefühl habe, dass er die benutzten Worte nicht so intensiv empfindet wie ich?

Eine Musik kann die Empfindungsweise des 16jährigen, des 22jährigen erwecken, doch für wie lange? Nach Minuten schon ist sie (die Empfindungsweise) abgeklungen, ausgelebt, und Sätze, die ihr gerecht werden wollten, bleiben nostalgische Skizzen einer Atmosphäre.

Die Art des Schilderns kann sich als Muster über das Erleben legen, z.B.: etwas wird gleich unter dem Gesichtspunkt erlebt, wie es den anderen am besten erzählt werden kann.

Oder das Beispiel Chris‘, den ich vor sieben Jahren kennenlernte, als er in einer Anstalt lebte: er erlebte etwas so, wie man dieses etwas eben erlebt, wenn man dreißig Jahre alt ist und als schizophren gilt. „Wir als Verrückte mögen die Krankenschwestern gern“ etc. So sah er sich also mit den Augen der andern.

Und die Haltung des Schriftstellers? Benutzt er die Worte nicht (u.a.) auch dazu, sich mit ihnen vor der Welt zu schützen, Neues auf Altes zu reduzieren? Worte über Worte aus Worten.

Das Fahrrad

Die beste Art, eine endlos erscheinende Steigung zu meistern, ist jene, wenige Meter vor sich auf den Boden zu schauen. Die Mühe wird erträglicher, wandelt sich gar zur Lust. Der Blick in die Ferne, auf den hoch gelegenen, immer gleich weit entfernt scheinenden Horizont entmutigt hingegen.

Vom Fahrtwind umhüllt, erlebe ich die Abfahrt als „Belohnung“, und die nach hinten fliehende Straße und der nun unter mir liegende Horizont „verlangen“ den Aufblick (Aufblicken wie Aufatmen).

Frankfurt, im Juni 83

Das Scharren eines Besens über den Boden draußen, ein morgendliches Geräusch, gibt mir plötzlich wieder Lebensvertrauen. Gerade die Einfachheit dieses Geräusches, das sich so wohltuend von dem Hintergrund der Motorengeräusche abhebt, läßt es vertraulich erscheinen.

Wie schwer erträglich ist es, wenn der Elan, der mich auf den andern zueilen läßt, der mich drängt, ihn in die Arme zu nehmen, im Raum der unbestimmten Gesten hängenbleiben muss, weil er den andern nicht offen findet, weil der andere ihn nicht spürt.

Zu lange schon ist es her, dass ich nicht mehr notiert habe, was mich „im Kleinen“, im Täglichen bewegt. So müsste ich ja den Eindruck erhalten, dass es zuerst einmal mir und dann erst recht den andern gleichgültig sein müsse.