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William Warwick, der aus bestem Hause kommt, ist von einem Wunsch erfüllt: In seinem Streben nach Gerechtigkeit möchte er die Karriereleiter des britischen Polizeiapparats durchlaufen – vom einfachen Streifenbeamten bis zum Commissioner.
London, 1988: Ganz Großbritannien ist im Royal-Fieber. Die Prinzessin der Herzen steht im Fokus der Öffentlichkeit wie kein Mitglied der Königsfamilie vor ihr. Ihre Sicherheit liegt in den Händen des Royal Protection Command - aber kann sich der Scotland Yard wirklich auf die Integrität der Personenschützer verlassen? Detective Chief Inspector William Warwick und seine Team erhalten die Aufgabe, die Einheit zu durchleuchten. Und sehen sich plötzlich mit einer unglaublichen Bedrohung konfrontiert.
Dieser Roman ist der fünfte Teil der großen Warwick-Saga des internationalen Bestsellerautors Jeffrey Archer.
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Seitenzahl: 528
»Wenn Sie uns über Ihre Ankunft informiert hätten, Chief Inspector, hätte ich Sie selbst willkommen geheißen«, sagte Milner. Er versuchte nicht, seine Verärgerung zu verbergen.
»Das hätte den Zweck unseres Hierseins wohl eher zunichtegemacht, Sir«, sagte William, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Und worin könnte dieser Zweck bestehen?«
»Einfach darin zu beweisen, dass Ihre Einheit, um die Anweisungen des Commissioners zu zitieren, für ihre Aufgabe geeignet ist.«
»Ich bin überzeugt, Sie werden erkennen, dass genau das der Fall ist. Sie sollten jedoch gleich von Anfang an begreifen, dass das Royalty Protection Command eine Einheit ist, die man nicht mit anderen vergleichen kann und in der normale Regeln keine Geltung haben. Sie sollten nicht vergessen, Warwick, dass wir nur der königlichen Familie gegenüber verantwortlich sind und niemandem sonst.«
»Wir alle sind Diener der Krone, Superintendent. Ich jedoch bin darüber hinaus Commander Hawksby gegenüber verantwortlich, der seinerseits dem Commissioner untersteht.«
Milners Miene verriet, dass er genau wusste, welchen Ruf Hawksby hatte.
»Ich bin sicher, dass wir einigermaßen miteinander auskommen werden«, sagte er.
Jeffrey Archer zählt zu den erfolgreichsten Schriftstellern der Welt. Seine Bücher sind in 97 Ländern erschienen und erreichen eine Gesamtauflage von 275 Millionen Exemplaren. Archer ist ein akribischer Arbeiter, der von einem einzigen Roman bis zu vierzehn Fassungen zu Papier bringt. Dabei schöpft er aus einem ungeheuren Erfahrungsschatz – seine bewegte Karriere in der Politik kommt ihm ebenso zugute wie seine Begeisterung für die Künste und sein langjähriges Netzwerk an Freunden mit außergewöhnlichen Biografien. Seit über fünfzig Jahren ist er mit Dame Mary Archer verheiratet. Das Paar hat zwei Söhne und fünf Enkelkinder. Archer lebt abwechselnd in London, Grantchester in Cambridge und auf Mallorca, wo die erste Fassung jedes seiner Romane entsteht.
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JEFFREY ARCHER
ÜBER DEM GESETZ
TEIL 5 DER WARWICK-SAGA
ROMAN
Aus dem Englischen
übersetzt von Martin Ruf
WILHELMHEYNEVERLAG
MÜNCHEN
Die Originalausgabe Next in Line erschien 2022 bei HarperCollins, London.
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Copyright © 2022 by Jeffrey Archer
Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Thomas Brill
Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design
unter Verwendung von Motiven von
© Trevillion Images (CollaborationJS); Shutterstock.com (55th)
Satz: KCFG–Medienagentur, Neuss
ISBN: 978-3-641-29411-3V001
www.heyne.de
Für Janet
Ist das eine wahre Geschichte?
Ein Kradbegleiter der Special Escort Group fuhr mit hohem Tempo vor Scotland Yard vor, dicht gefolgt von einem grünen Jaguar und einem unmarkierten Land Rover sowie zwei Polizisten auf Motorrädern, die als Nachhut den königlichen Konvoi vervollständigten. Alle Fahrzeuge kamen zum Stehen, als Big Ben halb zwölf schlug.
Ein Personenschützer sprang vorn aus dem Jaguar und öffnete die hintere Tür. Sir Peter Imbert, der Commissioner der Metropolitan Police, trat heran und verbeugte sich. »Willkommen bei Scotland Yard, Eure Königliche Hoheit«, sagte er, was mit jenem warmen, schüchternen Lächeln erwidert wurde, das der Öffentlichkeit inzwischen so sehr vertraut war.
»Vielen Dank, Sir Peter«, erwiderte sie, als die beiden einander die Hand gaben. »Es war sehr freundlich von Ihnen, meiner ungewöhnlichen Bitte nachzukommen.«
»Es ist mir ein Vergnügen, Ma’am«, sagte Sir Peter und wandte sich dem Empfangskomitee aus hochrangigen Beamten zu, die in einer Reihe hinter ihm standen und warteten. »Darf ich Ihnen den stellvertretenden Commissioner vorstellen…«
Die Prinzessin gab jedem der Beamten die Hand, bis sie das Ende der Reihe erreicht hatte, wo ihr der Leiter der Mordkommission der Met vorgestellt wurde.
»Commander Hawksby, auch bekannt als ›Mord eins‹«, erklärte ihr der Commissioner. »Sowie Chief Inspector William Warwick, der heute Ihr Führer sein wird«, fügte er hinzu, als ein kleines Mädchen vortrat, knickste und der Prinzessin einen Strauß rosafarbener Rosen reichte. Das Mädchen erhielt das breiteste Lächeln überhaupt.
Die Prinzessin beugte sich herab und sagte: »Vielen Dank. Wie heißt du?«
»Artemisia«, flüsterte das Mädchen, den Kopf zum Boden geneigt.
»Was für ein hübscher Name«, sagte die Prinzessin.
Sie wollte eben weitergehen, als Artemisia aufsah und sagte: »Warum tragen Sie heute keine Krone?«
William wurde knallrot, während Ross Hogan – der Ermittler, der ihm direkt unterstellt war – ein Lachen unterdrückte, was dazu führte, dass Artemisia in Tränen ausbrach. Die Prinzessin beugte sich noch einmal zu ihr herab, umarmte das kleine Mädchen und sagte: »Weil ich keine Königin bin, Artemisia, sondern nur eine Prinzessin.«
»Aber Sie werden eines Tages Königin sein.«
»Und dann werde ich eine Krone tragen.«
Das schien Artemisia zufriedenzustellen, denn sie lächelte, als ihr Vater den königlichen Gast der Met in das Gebäude führte.
Ein junger Kadett öffnete die Tür, und die Prinzessin hielt kurz inne, um ein paar Worte mit ihm zu wechseln, bevor William sie zu einem bereitstehenden Fahrstuhl führte. Vor dem Besuch der Prinzessin hatte es eine lange Diskussion über die Frage gegeben, ob sie die Treppe in den ersten Stock nehmen oder mit dem Aufzug fahren sollte. Der Aufzug hatte mit fünf zu vier Stimmen gewonnen. Eine ebenso angespannte Diskussion hatte der Frage gegolten, wer sie in den Aufzug begleiten sollte. Der Commissioner, Commander Hawksby und William schafften es in die engere Auswahl, während die Hofdame der Prinzessin zusammen mit Inspector Hogan und Detective Sergeant Roycroft den zweiten Aufzug nehmen würde.
William hatte sich sorgfältig auf alles vorbereitet, was er sagen wollte, doch bereits mit ihrer ersten Frage brachte Ihre Königliche Hoheit ihn von seinem geplanten Kurs ab.
»Ist Artemisia zufällig Ihre Tochter?«
»Ja, Ma’am«, sagte William. »Aber was lässt Sie darauf schließen?«, fragte er, denn er hatte einen Augenblick lang vergessen, dass er sich nicht an einen ihm untergebenen Beamten richtete.
»Wenn sie nicht Ihre Tochter wäre, wären Sie nicht rot geworden«, lautete die Antwort, als sie den Aufzug betraten.
»Ich habe ihr gesagt, dass sie Sie nicht ansprechen und Ihnen ganz gewiss keine Fragen stellen soll«, sagte William.
»Die Tatsache, dass sie nicht auf Sie gehört hat, bedeutet wahrscheinlich, dass sie der interessanteste Mensch sein dürfte, dem ich heute begegnen werde«, flüsterte Diana, als sich die Türen schlossen. »Warum haben Sie ihr den Namen Artemisia gegeben?«
»Sie ist nach Artemisia Gentileschi benannt, der großen italienischen Barockmalerin.«
»Dann mögen Sie also Kunst?«
»Eine Leidenschaft von mir, Ma’am. Aber es war meine Frau Beth, die Kuratorin der Gemälde im Fitzmolean ist, die den Namen ausgesucht hat.«
»Dann werde ich eine weitere Gelegenheit haben, Ihre Tochter zu treffen«, sagte die Prinzessin. »Denn wenn ich mich recht erinnere, werde ich nächstes Jahr die Frans-Hals-Ausstellung eröffnen. Ich werde wohl darauf achten müssen, wenigstens eine kleine Krone zu tragen, wenn ich vermeiden will, dass ich wieder gescholten werde«, fügte sie hinzu, als sich die Aufzugtüren im ersten Stock öffneten.
»Das Kriminalmuseum, Ma’am«, sagte William, indem er zu seiner vorbereiteten Rede zurückkehrte, »besser bekannt unter der Bezeichnung ›Schwarzes Museum‹, geschaffen aufgrund der Idee eines gewissen Inspector Neame, der 1869 den Eindruck hatte, es würde seinen Kollegen bei der Aufklärung und sogar der Verhinderung von Verbrechen helfen, wenn sie die Möglichkeit bekämen, bekannte Fälle zu studieren. Unterstützt wurde er dabei von einem gewissen Constable Randall, der Material über verschiedene berüchtigte Kriminelle und Tatorte zusammentrug, welche die ersten Ausstellungsstücke in dieser Verbrechergalerie bildeten. Das Museum wurde fünf Jahre später, im April 1874, eröffnet. Doch es ist der Öffentlichkeit bis heute verschlossen.«
William warf einen Blick zurück und sah, dass Ross mit der Hofdame der Prinzessin plauderte. Er führte seinen Gast durch einen langen Flur zu Zimmer 101, wo eine weitere Tür für die königliche Besucherin geöffnet wurde. William fragte sich, ob die Prinzessin jemals selbst eine Tür öffnete, doch rasch schob er den Gedanken beiseite und kehrte zu seinem vorbereiteten Text zurück.
»Ich hoffe, Sie finden das Museum nicht zu verstörend, Ma’am. Gelegentlich sind schon Besucher in Ohnmacht gefallen«, sagte er. Sie betraten einen Raum, dessen spärliche Beleuchtung sehr zur makabren Atmosphäre beitrug.
»Es kann nicht schlimmer sein als vier Tage in Ascot«, erwiderte die Prinzessin, »wo mich regelmäßig der Wunsch überkommt, in Ohnmacht zu fallen.«
William hätte am liebsten gelacht, aber es gelang ihm, sich zu beherrschen.
»Das erste Ausstellungsstück«, sagte er, als sie sich einer großen Glasvitrine näherten, »enthält frühe Erinnerungsstücke, die von Neame und Randall gesammelt wurden.«
Die Prinzessin betrachtete aufmerksam eine Sammlung von Waffen, mit denen Kriminelle im siebzehnten Jahrhundert ihre Opfer ermordet hatten, darunter ein Spazierstock, der sich durch die Drehung seines Knaufs in einen Degen verwandelte, sowie verschiedene Klappmesser, schwere Holzknüppel und Schlagringe. Rasch ging William weiter zur nächsten Vitrine, die Jack the Ripper gewidmet war und unter anderem den handschriftlichen Brief enthielt, den dieser 1888 auf dem Höhepunkt der Serienmorde an die London Central News Agency geschickt hatte, um die Polizei mit der Aussage zu provozieren, dass er nie geschnappt werden würde. Aber das war, so rief William seinem Gast in Erinnerung, bevor die Met damit begonnen hatte, Fingerabdrücke zur Identifizierung von Kriminellen einzusetzen, und mehr als ein Jahrhundert bevor der DNA-Abgleich zu einer Möglichkeit bei den Ermittlungen wurde.
»Bisher bin ich noch nicht in Ohnmacht gefallen«, sagte die Prinzessin, als sie zur nächsten Vitrine weitergingen, die ein altes Fernglas enthielt. »Was ist daran so besonders?«, fragte sie.
»Es wurde nicht für Ascot hergestellt, Ma’am«, sagte William. »Es war ein Geschenk von einem ausgesprochen unangenehmen Individuum an seine Verlobte, nachdem sie diesem Herrn den Laufpass gegeben hatte. Als sie es vor ihre Augen hielt und die Schärfe einstellte, schossen zwei Nägel heraus und blendeten sie. Im Prozess wurde der Angeklagte vom Anwalt der Krone gefragt, warum er etwas so Bösartiges getan hatte, und er antwortete nur: ›Ich wollte nicht, dass sie jemals wieder einen anderen Mann ansieht.‹«
Diana bedeckte ihre Augen, und William ging rasch weiter.
»Das nächste Ausstellungsstück ist besonders faszinierend, Ma’am«, sagte er und deutete auf eine kleine, einfache Metallkiste. »Es lieferte den entscheidenden Hinweis im ersten Fall, den die Met durch die Verwendung von Fingerabdrücken als Beweismittel gelöst hat. Im Jahr 1905 wurden die Brüder Alfred und Albert Stratton wegen Mordes an dem Ladeninhaber Thomas Farrow und dessen Frau Ann festgenommen. Sie wären damit durchgekommen, wenn Alfred nicht diesen einzigen Daumenabdruck auf der leeren Bargeldkiste hinterlassen hätte. Sie wurden beide schuldig gesprochen und gehängt.«
Sie gingen weiter zur nächsten Vitrine, wo die Prinzessin einen kurzen Blick auf ein Foto warf, bevor sie sich William zuwandte und sagte: »Erzählen Sie mir von ihm.«
»Am achtzehnten Februar 1949 tötete John Haigh die reiche Witwe Olive Durand-Deacon, als sie seine Ingenieurswerkstatt in Crawley besuchte. Nachdem Haigh ihr alles abgenommen hatte, was sie an Wertgegenständen bei sich trug, löste er ihre Leiche in einem Fass Schwefelsäure auf, denn er glaubte, dass man ihn nicht des Mordes würde anklagen können, wenn die Polizei keine Leiche vorweisen konnte. Er hatte jedoch nicht mit der fachlichen Kompetenz eines gewissen Dr. Keith Simpson gerechnet… ein Pathologe, der drei Gallensteine und ein paar der falschen Zähne des Opfers in einem Haufen Abfall hinter der Werkstatt fand. Haigh wurde festgenommen, verurteilt und gehängt.«
»Sie genießen es anscheinend außerordentlich, ein Mädchen bei der ersten Verabredung an einen romantischen Ort auszuführen, nicht wahr, Chief Inspector?«, sagte die Prinzessin, woraufhin William sich entspannte und zum ersten Mal lachte.
»Ein weiteres Beispiel in einer langen Reihe späterer Erfolge«, fuhr er fort, als sie vor der nächsten Vitrine stehen blieben, »stellte die Festnahme von Dr. Hawley Harvey Crippen dar, einem amerikanischen Homöopathen, der seine Frau Cora in London ermordet hatte, bevor er in Begleitung seiner Geliebten Ethel Le Neve nach Brüssel floh. Von Brüssel aus ging es für die beiden nach Antwerpen, wo Crippen zwei Tickets für die SSMontrose besorgte, einen Ozeandampfer, der nach Kanada fuhr. Ethel verkleidete sich als Knabe, sodass die beiden als Vater und Sohn auftreten konnten. Bevor das Schiff in See stach, hatte man dem Kapitän ein Fahndungsplakat gezeigt, und er wurde misstrauisch, als er sah, wie Crippen und Le Neve sich bei den Händen hielten und einander küssten. Er telegrafierte Scotland Yard, und Chief Inspector Walter Dew, der die Ermittlungen leitete, fuhr sofort nach Liverpool und ging an Bord der SSLaurentic, die Kanada noch vor der Montrose erreichte. Als Lotse verkleidet betrat er das Schiff, als dieses den Sankt-Lorenz-Strom hinauffuhr, nahm Crippen und Le Neve fest und brachte sie nach England zurück, wo ihnen der Prozess gemacht wurde. Die Geschworenen brauchten nur eine halbe Stunde, um Crippen des Mordes für schuldig zu befinden.«
»Also kam auch er an den Galgen«, sagte die Prinzessin in vergnügtem Ton. »Aber was ist mit Le Neve?«
»Sie wurde vom Vorwurf der Hilfe bei der Vertuschung einer Straftat freigesprochen, aber die Geschworenen brauchten viel länger, um zu einem Urteil zu kommen.«
»Interessant, dass Frauen am Ende so oft straflos davonkommen«, sagte die Prinzessin, als sie den nächsten Raum betraten, der kaum einladender aussah als derjenige zuvor.
»Sie werden jetzt einigen bekannten East-End-Gangstern begegnen«, erklärte William. »Ich beginne mit den berüchtigtsten von allen, den Kray-Brüdern Reggie und Ronnie.«
»Sogar ich habe von ihnen gehört«, sagte die Prinzessin, die vor einer Reihe von Schwarz-Weiß-Fotos der berüchtigten Zwillinge stand.
»Obwohl sie über viele Jahre hinweg zahllose schwere Straftaten begangen hatten, darunter Mord bei mehr als einer Gelegenheit, war es fast unmöglich, sie anzuklagen, geschweige denn zu verurteilen, weil keiner bereit war, gegen sie auszusagen. Denn die Leute hatten zu große Angst vor den Folgen.«
»Wie wurden sie dann geschnappt?«
»Die Polizei nahm sie schließlich fest, nachdem Reggie 1967 einen Komplizen namens Jack ›The Hat‹ McVitie ermordet hatte. Beide Krays wurden zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.«
»Und derjenige, der gegen sie ausgesagt hatte?«
»Bekam keine Gelegenheit mehr, seinen nächsten Geburtstag zu feiern, Ma’am.«
»Ich stehe immer noch, Chief Inspector«, neckte die Prinzessin, als sie in den nächsten Raum gingen, in dem sie die Präsentation einer Reihe von Juteseilen verschiedener Länge und Dicke erwartete.
»Bis ins neunzehnte Jahrhundert kamen jedes Mal sehr viele Leute in Tyburn zusammen, um sich die öffentlichen Hinrichtungen anzusehen«, sagte der Commissioner, der den beiden in kurzem Abstand gefolgt war. »Dieser barbarischen Form der Unterhaltung wurde im Jahr 1868 ein Ende gesetzt. Von da an fanden Hinrichtungen nur noch hinter den Gefängnismauern statt, ohne Beisein der Öffentlichkeit.«
»Waren Sie als junger Beamter jemals bei einer Hinrichtung zugegen, Sir Peter?«, fragte die Prinzessin.
»Nur ein einziges Mal, Ma’am, und Gott sei Dank nie wieder.«
»Helfen Sie mir auf die Sprünge«, sagte die Prinzessin, indem sie sich wieder an William wandte. »Wer war die letzte Frau, die gehängt wurde?«
»Sie sind mir einen Schritt voraus, Ma’am«, sagte William und trat vor die nächste Vitrine. »Ruth Ellis, eine Bardame, wurde am dreizehnten Juli 1955 gehängt, nachdem sie ihren Geliebten mit einem .38er Smith & Wesson erschossen hatte. Hier können Sie den Revolver sehen.«
»Und der letzte Mann?«, fragte die Prinzessin, während sie die Waffe anstarrte.
William zermarterte sich das Gehirn, denn das gehörte eigentlich zu seinem Vortrag. Er wandte sich dem Commissioner zu, doch dieser reagierte nicht.
Der Kurator des Museums rettete sie, indem er vortrat und sagte: »Gwynne Evans und Peter Allen, Ma’am, wurden am dreizehnten August 1964 wegen Mordes an John Alan West gehängt. Im Jahr darauf wurden Hinrichtungen auf die Gesetzesinitiative eines einzelnen Abgeordneten hin abgeschafft. Es dürfte Sie jedoch interessieren, Ma’am, dass man immer noch wegen Verrat oder Piraterie unter Einsatz von Gewalt gehängt werden kann.«
»Ich glaube, Verrat wäre in meinem Fall wahrscheinlicher«, sagte die Prinzessin, was allgemeines Gelächter auslöste.
William führte seinen Gast durch den letzten Raum auf ihrem Rundgang, in dem Diana eine Reihe von Flaschen gezeigt wurden, die verschiedene Gifte enthielten. William erklärte, dass dies die bevorzugte Mordmethode von Frauen war, besonders wenn es um ihre Ehemänner ging. Kaum dass William diese Worte ausgesprochen hatte, bereute er sie.
»Und damit, Ma’am, wären wir am Ende unserer Tour angelangt. Ich hoffe, Sie fanden sie…« Er zögerte und ersetzte dann das Wort »angenehm«, das er hatte benutzen wollen, durch »interessant«.
»›Faszinierend‹ wäre eine bessere Beschreibung der letzten Stunde, Chief Inspector«, erwiderte die Prinzessin, und William begleitete sie aus dem Museum.
Sie gingen zurück durch den langen Flur in Richtung Aufzug, wobei sie an einem Waschraum vorbeikamen, der für die königliche Besucherin reserviert worden war. Zwei junge Polizistinnen standen Wache, doch ihre Dienste waren nicht vonnöten, weshalb sie enttäuscht wirkten. Die Prinzessin spürte das und blieb kurz stehen, um ein paar Worte mit ihnen zu wechseln, bevor sie weiterging.
»Ich freue mich schon darauf, Sie wiederzusehen und Ihre Frau kennenzulernen, wenn ich die Frans-Hals-Ausstellung eröffnen werde, Chief Inspector«, sagte die Prinzessin, als sie in den Aufzug trat. »Das dürfte gewiss eine vergnüglichere Angelegenheit werden.«
William gelang es zu lächeln.
Als sich die Aufzugtüren im Erdgeschoss öffneten, übernahm der Commissioner wieder die Führung und begleitete den königlichen Gast zu der bereitstehenden Limousine, wo der Personenschützer der Prinzessin die hintere Tür aufhielt. Diana hielt inne, um der Menge zuzuwinken, die sich auf der anderen Straßenseite versammelt hatte.
»Mir ist aufgefallen, dass du keine Zeit verloren und sofort mit ihrer Hofdame geplaudert hast«, sagte William, als Inspector Hogan zu ihm trat.
»Ich glaube«, sagte Ross ohne das geringste Zögern, »dass ich Chancen bei ihr habe.«
»Ich würde meinen, du trittst in einer Gewichtsklasse an, die weit über deiner eigenen liegt«, erwiderte William.
»Das war für dich selbst nie ein Problem«, sagte Ross grinsend.
»Touché«, sagte William und deutete seinem Freund gegenüber eine Verbeugung an.
»Lady Victoria hat mir gesagt, dass der Personenschützer der Prinzessin Ende des Jahres in Pension geht und sie bisher noch keinen Ersatz gefunden haben. Also habe ich gehofft, du könntest ein gutes Wort für mich einlegen.«
»An welches Wort hattest du dabei gedacht? Unzuverlässig? Berüchtigt? Promiskuitiv?«
»Ich glaube, das entspricht so ziemlich dem, was sie sucht«, sagte Ross, als die Hofdame in den Fond des Fahrzeugs vor der Limousine der Prinzessin stieg.
»Ich werde darüber nachdenken«, sagte William.
»Hast du nicht mehr zu sagen nach allem, was ich über die Jahre für dich getan habe?«
William versuchte, nicht zu lachen, als er daran dachte, wie ihre jüngste Eskapade geendet hatte. Er und Ross waren gerade aus Spanien zurückgekommen, wo sie Miles Faulkner auf der Spur gewesen waren. Schließlich hatten sie ihre alte Nemesis in Barcelona gefasst und gewaltsam nach Belmarsh zurückgebracht – in jenes Gefängnis, aus dem Faulkner im Jahr zuvor ausgebrochen war. Trotz ihres Triumphs waren sich William und Ross der unvermeidlichen Konsequenzen bewusst, denen sie sich würden stellen müssen, nachdem sie jede offizielle Regel gebrochen hatten, wie der Commander sich ausdrückte. William erinnerte seinen Vorgesetzten daran, dass es bei Miles Faulkner keine offiziellen Regeln gab und dass er, hätten sie nicht die eine oder andere Vorschrift ignoriert, ihnen erneut entwischt wäre.
»Ein doppeltes Unrecht ist noch kein Recht«, hatte sie der Commander ermahnt.
Doch wie lange, fragte sich William, konnten sie darauf hoffen, dass Faulkner hinter Gittern bleiben musste, wenn dessen korrupter Anwalt nur zu gerne genau jene Regeln beugte, bis sie fast brachen, sofern das seinen »hoch angesehenen Mandanten« von allen Vorwürfen freisprach und dieser ohne den geringsten Fleck auf seiner weißen Weste aus dem Gefängnis entlassen würde? Die beiden hatten sich auch damit abgefunden, dass Kronanwalt Booth Watson sich erst zufriedengäbe, wenn William und Ross sich einer disziplinarischen Anhörung stellen mussten, in deren Folge sie wegen inakzeptablen Verhaltens unehrenhaft aus dem Polizeidienst entlassen würden. William hatte seine Frau bereits davor gewarnt, dass ihnen während der nächsten Monate ein Aufenthalt in unruhigem Fahrwasser bevorstünde.
»Und gibt es auch noch irgendetwas Neues?«, hatte Beth ihn gefragt, bevor sie hinzufügte, sie würde sich erst zufriedengeben, wenn Booth Watson zusammen mit seinem »hoch angesehenen Mandanten« hinter Gittern saß, wo beide auch hingehörten.
Mit einem Ruck kam William in die Gegenwart zurück, als Ihre Königliche Hoheit im Fond der Limousine Platz nahm und die Polizisten ihre Motorräder starteten, um das königliche Gefolge von Scotland Yard in die Victoria Street zu führen.
Die Prinzessin winkte aus ihrem Auto heraus der Menge zu, und alle winkten zurück – außer Ross, der immer noch ihrer Hofdame zulächelte.
»Dein Problem ist, dass deine Eier größer sind als dein Hirn«, sagte William, als der Konvoi langsam davonfuhr.
»Wodurch das Leben bei Weitem interessanter wird«, erwiderte Ross.
Sobald der Konvoi der Prinzessin verschwunden war, traten der Commissioner und Hawksby zu den beiden. »Das war eine gute Idee von Ihnen«, sagte Sir Peter, »nicht uns alte Säcke, sondern zwei junge Beamte unsere Gäste durch das Museum führen zu lassen, besonders da einer von ihnen so offensichtlich seine Hausaufgaben gemacht hat.«
»Vielen Dank, Sir«, sagte Ross, was dem Commander ein schiefes Lächeln entlockte.
»Ich finde, Warwick hat es verdient, sich den Rest des Tages freizunehmen«, schlug Sir Peter vor und machte sich auf den Weg zurück in sein Büro.
»Kommt nicht infrage«, murmelte Hawksby, sobald der Commissioner außer Hörweite war. »Genau genommen möchte ich Sie beide und den Rest des Teams so bald wie möglich in meinem Büro sehen – und so bald wie möglich bedeutet sofort.«
Der Commander nahm seinen Platz am Kopfende des Tisches ein, nachdem sich die engsten Mitarbeiter versammelt hatten, die zu seinem Team gehörten – einer Einheit, die er über fünf Jahre hinweg aufgebaut hatte und die jetzt zu den angesehensten im Yard gehörte. Aber die größte Glanzleistung bestand zweifellos darin, Faulkner nach seiner Flucht aus dem Gefängnis in Spanien aufgespürt und ihn zurück nach England gebracht zu haben, wo er sich vor Gericht würde verantworten müssen.
Hawksby fragte sich jedoch, wie viele seiner Mitarbeiter in diesem besonderen Fall würden aussagen müssen. Gewiss mussten sich William und Ross einem Kreuzverhör durch Faulkners Anwalt stellen, der vor nichts zurückschreckte. Booth Watson würde nicht zögern, den Geschworenen gegenüber zu betonen, dass zwei der erfahrensten Beamten der Met seinen Mandanten illegalerweise während einer Reise nach Barcelona festgenommen hatten. Aber Hawksby hatte noch ein Ass im Ärmel – er wusste etwas über Booth Watson, das die Anwaltskammer nach Ansicht des führenden Kronanwalts gewiss nicht erfahren sollte. Trotzdem war der Prozessausgang völlig offen.
Hawksby betrachtete die Beamten, die um den Tisch saßen, eher als Familienmitglieder und weniger als Kollegen, zumal er keine eigenen Kinder hatte. Doch wie in allen Familien gab es Probleme und Meinungsverschiedenheiten, und er fragte sich, wie seine Leute auf das reagieren würden, was er ihnen zu sagen hatte.
Detective Chief Inspector Warwick war zwar der jüngste DCI der Met, aber niemand nannte ihn mehr »Chorknabe«, es sei denn DI Ross Hogan, der ihm gegenübersaß. Ross war zweifellos das schwarze Schaf der Familie – ein Einzelgänger, der mehr daran interessiert war, Kriminelle hinter Schloss und Riegel zu bringen, als endlose Formulare auszufüllen, und der zahlreiche Zusammenstöße mit Vorgesetzten nur deshalb überstanden hatte, weil Hawksby ihn für den besten verdeckten Ermittler hielt, mit dem er je zusammengearbeitet hatte.
Rechts neben Ross saß DS Roycroft, eine der vielen ehemaligen Geliebten des DI – sie war wahrscheinlich das mutigste Mitglied an diesem Tisch. Nachdem sie gerade erst ihre Ausbildung in Hendon beendet hatte und Police Constable geworden war, hatte sie einen über ein Meter achtzig großen algerischen Waffenhändler angegriffen, zu Boden geschleudert und ihm Handschellen angelegt, bevor der nächste Beamte vor Ort erschienen war. Doch bei ihren Kollegen war Jackie wahrscheinlich vor allem dafür bekannt, dass sie einen Inspector niedergeschlagen hatte, weil dieser ihr im Dienst eine Hand aufs Bein legte. Niemand verteidigte sie, als sie den Vorfall meldete, da der fragliche Inspector der einzige Zeuge war. Danach waren ihre Aufstiegschancen zu einem abrupten Stillstand gekommen, bis der Commander ihr Potenzial entdeckt und sie gebeten hatte, sich seinem Team anzuschließen.
Ihr gegenüber saß DS Adaja. Als kluger, einfallsreicher und ehrgeiziger Mitarbeiter wusste er die Vorurteile gegenüber jemandem mit seiner Hautfarbe innerhalb wie außerhalb der Polizei mit Würde und Geschick zu ertragen. Hawksby zweifelte nicht daran, dass Paul es eines Tages als erster Schwarzer bis zum Commander bringen würde. Und es amüsierte ihn, dass auch Paul ebenso wenig daran zweifelte.
Schließlich war da noch DC Pankhurst, das neueste Mitglied des Teams. Niemals erwähnte sie, eine Privatschule besucht und ihren Abschluss mit »sehr gut« gemacht zu haben, und ganz gewiss sprach sie nicht darüber, dass eine ihrer berühmtesten Vorfahrinnen im Gefängnis gewesen war – und das mehr als einmal. Rebecca war möglicherweise das scharfsinnigste Mitglied des Teams, und der Commander hatte bereits beschlossen, dass sie schon bald befördert werden sollte, obwohl er ihr das noch nicht gesagt hatte.
Die Schwierigkeit, eine so aufgeweckte und engagierte Truppe zu führen, bestand darin, dass man früh – sehr früh – am Morgen aufstehen musste, wenn man hoffen wollte, den anderen einen Schritt voraus zu sein. Diesmal jedoch war der Commander zuversichtlich, dass er bereits auf der Rennbahn voranstürmte, bevor die anderen noch den Startschuss gehört hatten.
»Zunächst«, sagte er, »möchte ich Ihnen allen zu der Rolle gratulieren, die Sie bei der Lösung der sogenannten Cold Cases gespielt haben, um deren Bearbeitung uns der stellvertretende Commissioner gebeten hat. Doch das ist jetzt Vergangenheit, und wir müssen in die Zukunft schauen.«
Er blickte auf und stellte fest, dass ihm alle aufmerksam zuhörten. »Der Commissioner hat in seiner unendlichen Weisheit entschieden, unsere Einheit von der Ermittlung in Mordfällen abzuziehen und uns vor eine sogar noch größere Herausforderung zu stellen.«
Er ließ die anderen einen Augenblick lang warten, bevor er fortfuhr. »Das Royalty Protection Command, dessen Aufgabe der Schutz der königlichen Familie und ihrer Residenzen ist«, er ließ die Worte kurz in der Luft schweben, »spielt nach Ansicht des Commissioners nur noch nach eigenen Regeln. Der leitende Beamte, ein gewisser Superintendent Brian Milner, gibt sich der Illusion hin, dass seine Einheit unantastbar ist, sich niemandem außer der königlichen Familie gegenüber zu verantworten hat und deshalb auch nicht mehr einen Teil des Metropolitan Police Service darstellt. Wir sollen ihn von dieser irrigen Vorstellung befreien. Seit einiger Zeit hat sich Milner keinen Kandidaten von außerhalb mehr angesehen, wenn einer seiner Beamten auf eine andere Stelle wechselt oder in Pension geht. So verliert er niemals die Kontrolle über die Einheit, was für sich genommen bereits ein Problem ist, denn als Folge der jüngsten Terroranschläge überall auf der Welt hat das MI6 Kontakt zu uns aufgenommen und uns davor gewarnt, dass der nächste Anschlag durchaus einem Mitglied der königlichen Familie gelten könnte, da sie nach Überzeugung des MI6 bei vielen Gelegenheiten ein leichtes Ziel darstellt. Und dazu gehört auch die Queen.«
Eine Weile lang brach keiner das Schweigen, bis Paul schließlich fragte: »Und von woher würde ein solcher Angriff nach Ansicht des MI6 kommen?«
»Wahrscheinlich aus dem Nahen Osten«, sagte Hawksby. »Die Terrorabwehr hat ein Auge auf jeden, der aus dem Irak, dem Iran oder Libyen ins Land kommt, um nur die drei naheliegendsten Kandidaten zu nennen. Der stellvertretende Commissioner Harry Holbrooke hat mir unmissverständlich klargemacht, womit wir es zu tun haben. Er hat mir gegenüber drei Terrororganisationen genannt, die bei ihm unter ständiger Beobachtung sind, weil sie eine unmittelbare Bedrohung darstellen.«
Alle am Tisch fuhren fort, sich Notizen zu machen.
»Holbrooke glaubt nicht, dass sie die Sicherheit ihrer eigenen Länder verlassen werden, aber ebenso zweifelt er nicht im Geringsten daran, dass alle drei überall bei uns Zellen von Schläfern platziert haben, die in kürzester Frist aktiv werden können. Er hat bereits mehrere Überwachungsteams eingesetzt, um mehr als einem Dutzend der gefährlichsten Individuen auf den Fersen zu bleiben. Aber er musste zugeben, dass ihm für eine lückenlose Beobachtung nicht genügend Beamte zur Verfügung stehen, da seine personellen Möglichkeiten bis aufs Äußerste angespannt sind. Vor diesem Hintergrund hat er uns gebeten, ihm alle Informationen, auf die wir vielleicht stoßen, zugänglich zu machen – unabhängig davon, wie unwichtig sie uns zum gegebenen Zeitpunkt erscheinen mögen.«
»Räuber und Gendarm zu spielen ist sicher etwas, das der Vergangenheit angehört«, sagte Ross wehmütig.
»Einer dunklen und fernen Vergangenheit«, sagte Hawksby. »Und es ist auch nicht gerade eine Hilfe, dass Holbrooke genauso wie einige andere das Vertrauen in Superintendent Milner als dem Leiter der Royalty Protection verloren hat und will, dass er so rasch wie möglich ersetzt wird.«
»Gibt es irgendeinen ganz konkreten Grund?«, fragte Ross.
»Ja. Als er bei Milner in Buckingham Gate angerufen und ihn gebeten hat, sich so schnell wie möglich bei ihm zu melden, hat Milner erst eine Woche später reagiert. Und nachdem Holbrooke ihn ausführlich über die jüngste terroristische Bedrohung informiert hatte, wusste Milner nicht mehr über dieses Thema zu sagen als… ich zitiere: ›Machen Sie sich keine Sorgen, alter Junge, wir haben alles unter Kontrolle.‹«
»Was mich zu folgender Frage bringt, Sir«, sagte Jackie und sah von ihrem Notizbuch auf. »Ist die Tatsache, dass der Commissioner Milner nicht für dessen Aufgabe geeignet hält, der einzige Grund, warum wir alle der Royalty Protection zugeteilt wurden?«
Commander Hawksby schwieg eine ganze Weile, bevor er schließlich sagte: »Nein, das ist nicht der einzige Grund. Genau genommen kennt nicht einmal Holbrooke die ganze Geschichte, denn ich betrachte sie immer noch als eine interne Angelegenheit.«
Er schloss die Akte, die vor ihm lag, und sagte: »Hören Sie auf mitzuschreiben.« Alle folgten seiner Anweisung, ohne nachzufragen. »Der Commissioner hat darüber hinaus Grund zu der Annahme, dass Milner und einige Männer aus dessen innerem Kreis korrupt sind und zwar nicht zuletzt deshalb, weil Milner anscheinend das Leben eines nachgeordneten Mitglieds der königlichen Familie führt – und das bei dem Gehalt eines Superintendents. Sollte sich dies als wahr erweisen, benötigen wir unwiderlegbare Beweise für das, was er während der letzten zehn Jahre getan hat, bevor wir auch nur daran denken können, ihn festzunehmen. Was, wenn ich ausnahmsweise das Offensichtliche aussprechen darf, unter anderem daran liegt, dass er Freunde in hohen Positionen hat, mit denen er teilweise schon mehrere Jahre lang zusammenarbeitet. Deshalb wird Milner in naher Zukunft vier neue Rekruten bekommen, aber DI Hogan wird nicht dazugehören, denn er wird mir unmittelbar Bericht erstatten.«
»Werde ich wieder als verdeckter Ermittler arbeiten?«, fragte Ross.
»Nein«, sagte Hawksby. »Ihre Position könnte nicht noch sichtbarer sein«, fügte er ohne weitere Erklärung hinzu.
Keiner von ihnen stellte die naheliegende Frage oder unterbrach den Leiter der Einheit, nachdem dieser erst einmal in Schwung war.
»DCI Warwick wird der Royalty Protection als unmittelbar nachgeordneter Mitarbeiter von Superintendent Milner beitreten – aber erst, wenn alle anderen sich gründlich mit den Problemen vertraut gemacht haben, die vor uns liegen, was mindestens einige Monate beanspruchen wird. Und denken Sie stets daran: Wir wollen nicht, dass Milner herausfindet, was wir vorhaben. Also achten Sie darauf, außerhalb dieses Büros keine anderen Ansichten zu äußern als Ihre Kollegen. Wir können es uns nicht leisten, diesem Mann auch nur die geringste Möglichkeit zu geben, seine Spuren zu verwischen, bevor wir überhaupt dort auftauchen. DCI Warwick wird beträchtliche Freiheiten bekommen, um jedweden anderen Beamten aus dem Dienst zu entfernen, der glaubt, er stünde über dem Gesetz, während er gleichzeitig herausfinden soll, ob die Royalty Protection die terroristische Bedrohung überhaupt ernst nimmt.«
Der Commander wandte sich William zu. »Das erste Problem, mit dem Sie es wahrscheinlich zu tun bekommen werden, dürfte Milner selbst sein. Wenn der größte Apfel im Fass verrottet ist, welche Hoffnung gibt es dann für die Sämlinge? Vergessen Sie niemals, dass Milner die Einheit schon länger als ein Jahrzehnt befehligt und Ihre Majestät, die Königin, für den einzigen Menschen hält, dem er Rede und Antwort schuldet. Sie werden sehr vorsichtig vorgehen müssen, wenn Sie lange genug dortbleiben wollen, um herauszufinden, wie er mit so einer Haltung durchkommt«, fügte Hawksby hinzu und reichte gleichsam den Stab an den einzigen Mitarbeiter an diesem Tisch weiter, der über den Auftrag bereits vollständig informiert war.
»Während der nächsten Wochen«, sagte William, »möchte ich, dass Sie alle gründliche Nachforschungen darüber anstellen, wie die königliche Familie ihren öffentlichen Pflichten nachkommt, wobei Sie so tun sollen, als hätten Sie noch nie von diesen Personen gehört. Beginnen Sie gewissermaßen mit einem leeren Blatt und behandeln Sie sie, als seien sie allesamt Kriminelle, gegen die eine Ermittlung durchgeführt werden muss.«
»Das dürfte sicher Spaß machen«, sagte Jackie.
»Sie können damit anfangen, eine Führung durch Windsor Castle zu buchen – an einem Tag, wenn kein Mitglied der königlichen Familie im Schloss ist. Dabei sollte Ihr einziges Ziel zunächst darin bestehen, sich einen Überblick über die Gegebenheiten vor Ort sowie einen Eindruck von den Sicherheitsmaßnahmen zu verschaffen. Bis zu dem Tag, an dem Sie Ihren Dienst bei der Royalty Protection antreten, sollten Sie alle einen Meter Vorsprung haben und nicht einen Meter im Rückstand liegen.«
»Will irgendjemand gegen mich wetten, wenn es darum geht, unbeobachtet in das Schloss zu gelangen?«, fragte Ross.
»Denken Sie nicht mal dran«, sagte Hawksby. »Sie stecken schon in genug Schwierigkeiten. Aber wenn Sie zufällig einem kürzlich pensionierten Beamten des Protection Command begegnen sollten, steht es Ihnen frei, bei ihm nach Informationen zu fischen. Sie sollten nur darauf achten, dass Sie nicht als Köder enden, denn Sie können sicher sein, dass der nächste Anruf des Betreffenden an Milner gehen wird und Sie von dem Fall abgezogen werden müssen.«
»Wenn Sie sich schließlich zum Dienst melden«, sagte William, »sollten Sie jedoch damit rechnen, von Beamten, denen nicht klar ist, dass sie in wenigen Monaten vielleicht nicht mehr dabei sind, ignoriert, beleidigt und sogar verspottet zu werden. Versuchen Sie dann daran zu denken, dass nicht alle korrupt sind. Einige empfinden Milner gegenüber wahrscheinlich dasselbe wie der Commissioner, obwohl ich befürchte, dass andere nicht mehr zu erreichen sind. Auch weiterhin werden die Teambesprechungen hier im Yard jeden Morgen zwischen acht und zehn stattfinden, wo wir unsere neuesten Ermittlungsergebnisse teilen können und hoffentlich herausfinden, womit genau wir es zu tun haben, noch bevor wir überhaupt bei der neuen Einheit erscheinen. Irgendwelche Fragen?«
»Ich habe nichts darüber gehört, welche Rolle ich spielen werde«, sagte Ross und versuchte, gekränkt auszusehen.
»Das hängt davon ab, ob sie Ihnen die Stelle anbietet.«
»Sie?«, fragte Ross.
»Ihre Königliche Hoheit, die Prinzessin von Wales«, sagte William, wobei er sich direkt an seinen alten Freund wandte, »hat darum gebeten, dass wir sie morgen um drei Uhr nachmittags im Kensington Palace zum Tee aufsuchen.«
Das brachte Ross einen Augenblick zum Schweigen, denn er war sich nicht sicher, ob William die Bemerkung als Scherz gemeint hatte.
»Bedauerlicherweise werde ich es nicht schaffen«, sagte er schließlich. »Morgen Nachmittag habe ich einen wichtigeren Termin. Ich muss zum Friseur.«
Die übrigen Mitglieder des Teams warteten auf Hawksbys Reaktion.
»Der einzige wichtige Termin, den Sie morgen Nachmittag haben werden, falls Sie nicht im Kensington Palace erscheinen, Inspector, wird Sie in den Tower of London führen, wo Sie herausfinden werden, dass ich DCI Warwick damit beauftragt habe, Sie zu foltern. DS Roycroft wird die Streckbank bedienen und DS Adaja die Daumenschrauben, während DC Pankhurst sich um die schwierige Aufgabe kümmern wird, einen Richtblock zu finden, der groß genug ist, um Ihren Kopf darauf zu legen. Und Sie brauchen erst gar nicht zu fragen, wer der Scharfrichter sein wird. Noch weitere Fragen, DI Hogan?«
Diesmal folgte Gelächter und ein lautes Klopfen auf den Tisch. William war der Erste, der wieder etwas sagte, nachdem es verklungen war.
»Sie alle können sich den Rest des Tages freinehmen, bevor wir uns unserem neuen Auftrag widmen werden. Ich erwarte Sie jedoch morgen um acht Uhr früh in meinem Büro, damit ich Sie über die genaue Rolle informieren kann, die jeder Einzelne spielen wird. Bis dahin brauchen Sie nichts weiter zu tun, als das hier sorgfältig durchzulesen.« Er reichte jedem von ihnen eine dicke Akte.
Paul warf einen kurzen Blick auf sein Exemplar und sagte dann: »Chief, dürfte ich um der Genauigkeit der Beweisführung willen, auf die Sie stets selbst so großen Wert legen, darauf hinweisen, dass wir in Wahrheit überhaupt keine Freizeit haben werden, wenn wir morgen um acht hier erscheinen, nachdem wir unsere Akten sorgfältig gelesen haben?«
»Da haben Sie durchaus recht«, sagte William, ohne sich aus dem Konzept bringen zu lassen. »Aber sollten Sie nicht pünktlich erscheinen, DS Adaja, oder die Dokumente nicht gelesen haben, wird es zwei Detective Constables in unseren Reihen geben, und ich könnte zu dem Schluss kommen, dass einer überflüssig…«
»Ich werde pünktlich sein«, sagte Paul und griff nach seiner Akte, bevor William den Satz beenden konnte.
»Das freut mich zu hören«, sagte Hawksby. »Aber nun dürfen Sie, Jackie und Rebecca uns verlassen, während ich mit DCI Warwick und DI Hogan noch etwas zu besprechen habe.«
Hawksby fuhr erst fort, nachdem die Tür wieder geschlossen war. »Nun, wie Sie beide wissen, gibt es da noch eine ernstere Angelegenheit, die wir diskutieren müssen. Miles Faulkner ist wieder im Gefängnis, um seine Strafe wegen Betrug und Irreführung abzusitzen, die er vor seiner Flucht angetreten hatte. Aber es wird einige schwerwiegende Fragen darüber geben, wie Sie ihn von Spanien nach Belmarsh geschafft haben. Ich vermute«, sagte er, indem er sich vorbeugte und sich mit den Ellbogen auf den Tisch stützte, »dass Sie beide eine überzeugende Erklärung für Ihre außerplanmäßigen Aktivitäten in Spanien vorweisen können, die Booth Watson in einem Prozess gegenüber den Geschworenen zweifellos als Entführung und Diebstahl darstellen würde, ganz zu schweigen von der krassen Verletzung der Grundrechte seines Mandanten?«
»Juristisch gesprochen, Sir, liegt ein Diebstahl vor, wenn Sie jemandem etwas wegnehmen und nicht die Absicht haben, es seinem rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben«, sagte William. »Ich gestehe die Entfernung eines Porträts von Frans Hals aus Faulkners Wohnung in Spanien, aber ich habe es sofort seinem rechtmäßigen Besitzer in England zurückgegeben. Diese Tatsache wurde schriftlich von Faulkners früherer Ehefrau Christina bestätigt«, fuhr er fort und reichte dem Commander den entsprechenden Brief.
»Und wo ist das Bild jetzt?«, fragte Hawksby, nachdem er den Brief gelesen hatte.
»Im Fitzmolean Museum, wo es als Teil der Frans-Hals-Ausstellung im kommenden Jahr gezeigt werden soll.«
»Es ist nicht gerade eine Hilfe, dass Ihre Frau die Kuratorin dieser Ausstellung ist«, sagte Hawksby, wobei er William direkt ansah.
»Sie und Christina sind seit mehreren Jahren befreundet«, rief William ihm in Erinnerung. »Aber Beth sieht eben immer das Beste in den Menschen.«
»Mrs. Faulkner ist eine Freundin, die nur zu einem hält, solange es keine Probleme gibt«, sagte Hawksby. »Wenn sie einen Nutzen davon hätte, würde sie die Seiten schneller wechseln, als man eine Münze werfen kann.« Keiner der beiden Mitarbeiter Hawksbys äußerte sich dazu. »Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass immer noch der Vorwurf der Entführung im Raum steht. Wäre es zu viel verlangt, wenn Sie dafür auch noch eine glaubwürdige Erklärung hätten?«
»Ich habe Faulkner das Leben gerettet«, sagte Ross emphatisch. »Was will er denn noch?«
»Eine Sie-kommen-aus-dem-Gefängnis-frei-Karte, vermute ich«, erwiderte Hawksby wie aus der Pistole geschossen. »Was auch immer geschehen mag, die Geschworenen werden wissen wollen, wie und warum Sie dazu kamen, Faulkner das Leben zu retten.«
»Faulkner hat es irgendwie geschafft, sich in seinem eigenen, mannsgroßen Safe einzuschließen, und ich war der einzige andere Mensch, der wusste, wie man diesen Safe öffnet«, sagte Ross. »Genau genommen kam ich gerade noch rechtzeitig, denn sonst wäre Faulkner bedauernswerterweise verstorben«, fügte er in einem Ton hinzu, der keinerlei Bedauern verriet.
»Und ich werde die Geschworenen darauf hinweisen, dass Faulkner bewusstlos war, als wir den Safe geöffnet haben«, sagte William und warf einen Blick auf seinen Bericht. »Leutnant Sanchez von der spanischen Polizei musste eine Mund-zu-Mund-Beatmung durchführen, um ihn wieder ins Leben zurückzuholen.«
Hawksby sagte: »Booth Watsons nächste Frage wird lauten: ›Warum haben Sie nicht unverzüglich einen Krankenwagen gerufen?‹«
Ross dachte einen Augenblick über die Frage nach und sagte dann: »Das wollte ich gerade, als Faulkner zu sich kam und mühsam ein paar Worte herausbrachte. Sie waren unzusammenhängend, doch er beschwor mich…«
»›Er bestand darauf‹ würde überzeugender klingen«, schlug Hawksby vor.
»Er bestand darauf, von seinem eigenen Arzt behandelt zu werden. Ich nahm an, es würde sich dabei um einen Spanier handeln, doch Faulkner sagte mir, sein Name sei Dr. Simon Redwood, und seine Praxis befinde sich in der Harley Street Nummer 122.«
Hawksby wandte sich an William. »Und was ist dann passiert?«
»Wir brachten Faulkner zum Flughafen, wo sein Privatjet schon startbereit auf ihn wartete.«
»Wie passend«, sagte Hawksby. »Aber der Pilot hat Sie doch zweifellos gefragt, warum Sie Faulkner nicht in die nächstgelegene Klinik gebracht haben? Und bevor Sie antworten: Wir müssen davon ausgehen, dass Booth Watson ihn in den Zeugenstand rufen wird.«
»Er hat diese Frage in der Tat gestellt«, sagte Ross in selbstzufriedenem Ton. »Und ich habe ihm gesagt, dass ich nur Faulkners Anweisungen befolgen würde. Ich sagte, er könne seinem Arbeitgeber gegenüber gerne seine eigenen Ansichten dazu äußern, wenn er das wollte. Aber das wollte er nicht.«
»Welch ein Glück, nicht wahr, Inspector?«, sagte Hawksby, der sich keine Mühe gab, seinen Sarkasmus zu verbergen. »Trotzdem werden Sie den Geschworenen immer noch erklären müssen, warum Sie Faulkner nach Ihrer Landung in Heathrow nicht unverzüglich in die Harley Street gebracht haben, sondern nach Belmarsh, Londons Hochsicherheitsgefängnis.«
»Es war fünf Uhr morgens«, sagte William. »Ich habe noch aus dem Auto in der Praxis angerufen, aber leider nur den Anrufbeantworter erreicht, dessen automatische Ansage mir erklärte, dass die Praxis um neun Uhr öffnen würde.«
»Wurde der Zeitpunkt des Anrufs festgehalten?«, wollte Hawksby wissen.
»Ja, Sir. Es war 5:07 Uhr. Ich habe kurz nach neun Uhr noch einmal angerufen und Dr. Redwood mitgeteilt, dass er jederzeit seinen Patienten in der Krankenstation der Haftanstalt aufsuchen könne, um eine vollständige Untersuchung durchzuführen. Genau das tat er dann auch etwas später an jenem Vormittag.«
»Gott sei Dank hat wenigstens einer von Ihnen nachgedacht«, sagte Hawksby. »Ich würde trotzdem vorschlagen, dass Sie beide sich abstimmen und zwar lange bevor dieser Fall vor Gericht kommt. Denn ich kann Ihnen versichern, dass Booth Watson, sobald er aus Spanien zurück ist und die Möglichkeit hatte, seinen Mandanten zu beraten, sehr schnell begreifen wird, dass ihm mehr als genügend Munition zur Verfügung steht, um mit einer Kutsche samt Pferden durch Ihre Darstellung hindurchzupflügen. Sie beide werden darum beten müssen, dass die Geschworenen eher Inspector Hogans als Faulkners Version akzeptieren. Denn wenn sie herausfinden, dass Sie Miles Faulkner illegal festgenommen und ihn gewaltsam zurück nach England geschleppt haben, könnte es sein, dass Sie beide am Ende eine Zelle teilen werden.«
Das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte. Hawksby griff nach dem Hörer und schrie fast: »Ich hatte doch gesagt, keine Anrufe, Angela.« Er hörte einen Augenblick lang zu und sagte dann: »Stellen Sie ihn durch.«
Der Kapitän von Miles Faulkners Jacht spürte, dass etwas nicht in Ordnung war, als er den Kurs noch einmal überprüfte. Dieses Gefühl hatte er seit dem Beginn der Reise gehabt, als er ungläubig Zeuge davon wurde, wie Angestellte der Villa alle Bilder auf die Jacht brachten und in den Frachtraum luden. Da sein Arbeitgeber nirgendwo zu sehen war, rührte er keinen Finger, um ihnen zu helfen.
»Wird Mr. Faulkner zu uns stoßen?«, fragte er, als Booth Watson auf die Brücke kam.
»Nein«, antwortete Booth Watson. »Er wurde unvorhergesehenerweise aufgehalten. Aber seine Anweisungen könnten nicht klarer sein.«
Kapitän Redmayne glaubte ihm nicht, da er nie zuvor erlebt hatte, dass Mr. Faulkner sich von seiner Kunstsammlung getrennt hätte. Ihm war mehrfach eingeschärft worden, dass sein Arbeitgeber es nicht wagen würde, ein Auto oder sein Privatflugzeug zu benutzen, wenn er rasch verschwinden musste, solange nur die geringste Möglichkeit bestand, dass man ihn festnehmen würde. Das war auch der Grund, warum die Jacht stets kurzfristig einsatzbereit sein musste. Wo also war er? Das war eine Frage, die der Kapitän Booth Watson lieber nicht stellte, denn er rechnete nicht damit, eine ehrliche Antwort zu bekommen. »Welchen Hafen werden wir als Nächstes anlaufen?«, war seine einzige Frage.
Booth Watson hatte bereits über mehrere Alternativen nachgedacht, und ihm war klar, dass er das eine oder andere Risiko eingehen musste. Schließlich sagte er: »Irgendwo an der Südküste Englands, wo die Zollbeamten nichts gegen einen kleinen Bonus einzuwenden haben, wenn sie sich die Ladung nicht allzu genau ansehen.«
Kapitän Redmayne wirkte unsicher, denn das war nicht das Ziel, das Mr. Faulkner ihm ausdrücklich genannt hatte, sollten sie zu einem ungeplanten Aufbruch gezwungen sein. Er wollte protestieren, musste aber einsehen, dass er nicht die Befugnis hatte, dem Menschen zu widersprechen, der seinen Arbeitgeber auf dieser Erde vertrat.
»Ich wüsste einen idealen Hafen«, sagte Kapitän Redmayne schließlich, »und ich kann Ihnen auch den Namen nennen. Doch ich muss Sie warnen. Sie werden Tausende von Pfund in bar brauchen, wenn Sie darauf hoffen wollen, dass jemand einen Gummistempel auf alle notwendigen Papiere drückt.«
Booth Watson warf einen Blick in die Gladstone-Tasche, ohne die er nur selten anzutreffen war. Wenn man lange genug für Miles Faulkner arbeitete, hatte man immer genügend Bargeld bei sich, um auf solche Eventualitäten vorbereitet zu sein. Als sie den verborgenen Meeresarm verließen, drehte er sich kein einziges Mal nach dem Chaos um, das er zurückließ.
Als Booth Watson am Tag zuvor in Faulkners Villa angekommen war, hatte Collins, der Butler, ihm besorgt mitgeteilt, dass sein Arbeitgeber seit mindestens drei Stunden in seinem mannsgroßen Safe eingeschlossen war. Booth Watson war zu dem Schluss gekommen, dass Faulkner zweifellos tot war: Es wäre unmöglich, so lange im Safe eingeschlossen zu überleben, da es einfach nicht genügend Luft gäbe.
Das war der Augenblick, in dem ihm zum ersten Mal eine Idee gekommen war. Trotzdem hatte er noch eine weitere Stunde gewartet und erst dann die Anweisung gegeben, die legendäre Kunstsammlung seines Mandanten zu verpacken und in den Frachtraum der Jacht zu laden.
Wenn es ihnen gelang, in See zu stechen, bevor die spanische Polizei in der Villa erschien, würden die Beamten, so war er überzeugt, den Mann, für den sie einen Haftbefehl hatten, beim Öffnen des Safes nur noch tot vorfinden. Und es würde ein langer und qualvoller Tod gewesen sein, dachte Booth Watson. Doch er vergoss keine Träne, als er in Faulkners Arbeitszimmer auf und ab ging, wobei er den Safe nur selten aus den Augen ließ.
Nachdem die zusätzliche Stunde endlich vorüber war, ging er immer zuversichtlicher davon aus, dass Faulkner unmöglich überlebt haben konnte. Während der nächsten Stunde begann er, einen Plan auszuarbeiten, und als es sechs Uhr schlug, war er bereit, diesen in die Tat umzusetzen. Er würde nach England zurückkehren und die Bilder an einem sicheren Ort unterbringen. Und da er immer noch der offizielle Anwalt seines Mandanten war – seines verstorbenen Mandanten –, würde er systematisch alle Vermögenswerte von dessen verschiedenen Banken auf sein bereits vor Jahren eingerichtetes eigenes Offshore-Konto in Hongkong transferieren. Etwas, das Faulkner ihn durch sein eigenes Beispiel gelehrt hatte.
Danach würde er alle drei bedeutenden Immobilien von Faulkner zum Verkauf anbieten, und da er es nicht eilig hatte, zu einem Abschluss zu kommen, durfte er damit rechnen, dass sie einen guten Marktpreis erzielen würden. Danach würde er Kontakt zu einem chinesischen Sammler aufnehmen, der sich kürzlich bei ihm wegen des Erwerbs der Sammlung gemeldet hatte und von Faulkner schroff zurückgewiesen worden war. Booth Watson würde Mr. Lee jedoch erklären, dass nach dem bedauerlichen Dahinscheiden seines Mandanten dessen Nachlassverwalter (also er selbst) gewillt wäre, noch einmal über den Verkauf der Werke nachzudenken, sofern man sich über den Preis einigen könnte. Als einziges Problem mochte sich Faulkners frühere Ehefrau Christina herausstellen, die zweifellos ihren Anteil verlangen würde, sobald sie herausfand, was er vorhatte. Vielleicht hätte sie gerne eine Luxusjacht, für die er dann keine Verwendung mehr haben würde?
Daraufhin würde er einige Wochen ins Land ziehen lassen, um danach seinen Anwaltskollegen gegenüber anzudeuten, dass er daran denke, in Pension zu gehen – und schließlich würde er, nachdem er die Anhörung hinter sich gebracht hätte, unauffällig das Land verlassen, ohne irgendwo eine Nachsendeadresse zu hinterlegen.
Miles Faulkner schlenderte in die Gefängniskantine und hatte nicht die geringste Ahnung davon, was sein Anwalt auf hoher See gerade ausheckte. Er war erfreut darüber, seinen alten Zellengenossen Tulip zu sehen, der am üblichen Tisch der beiden saß.
»Morgen, Boss«, sagte Tulip, als sich Miles ihm gegenüber setzte.
Ein Gefängnisbeamter schenkte Miles seinen Morgenkaffee ein, als wäre er niemals weggewesen, und er nahm einen Schluck, bevor er einen Artikel im Daily Telegraph zu lesen begann. Der Bericht war ziemlich unangenehm, und das Foto dazu, das zeigte, wie seine Nemesis DCI Warwick mit der Princess of Wales scherzte, erinnerte ihn unweigerlich daran, wer dafür verantwortlich war, dass er wieder hinter Gittern saß.
Tulip, der als Miles’ Augen und Ohren im Gefängnis diente, hatte versucht, sämtliche Zeitungen aus der Gefängniskantine zu entfernen, da fast alle von ihnen das Foto auf der Titelseite brachten.
Was alles nur noch schlimmer machte, war die Tatsache, dass der Hofkorrespondent des Telegraph erklärte, Warwick sei »ein herausragender junger Beamter, der kürzlich dafür gesorgt hat, dass sich der Kriminelle Miles Faulkner nach seiner Flucht inzwischen wieder im Gefängnis befindet«. Die Sun – die beliebteste Zeitung in jedem Gefängnis – hatte die Bemerkung »wo er auch hingehört« hinzugefügt. Miles schleuderte die Zeitung beiseite. Er wusste, dass er der Presse schon bald eine noch größere Story liefern würde. Aber alles zu seiner Zeit.
»Ich könnte jederzeit arrangieren, dass man ihm das Licht ausbläst, Boss«, sagte Tulip und deutete auf das Foto.
»Nein«, sagte Miles entschieden. »Ich möchte, dass meine Rache dauerhafter ist.«
»Was könnte dauerhafter sein als der Tod?«
»Bei der Polizei rausgeschmissen zu werden«, sagte Miles. »Wegen Entführung und Diebstahl angeklagt zu werden und den Rest des Lebens in Ungnade zu verbringen«, fügte er hinzu, als ein Gefängnisbeamter einen Teller mit Speck und Eiern vor ihn stellte. »Mit etwas Glück endet er vielleicht sogar hier.«
»Sehr gut, Boss. Aber wie wollen Sie das durchziehen?«
»Ich habe so das Gefühl, dass die Geschworenen bei meinem Prozess im Bailey fasziniert sein werden, wenn sie hören, welchen Aufwand Warwick und Hogan getroffen haben, um mich ohne Auslieferungsbeschluss aus Spanien herauszuschmuggeln. Ich kann dir jetzt schon versichern, dass Booth Watson das Wort ›Kopfgeldjäger‹ in seinem Anfangs- und seinem Schlussplädoyer ständig wiederholen wird.«
»Haben Sie schon mit Ihrem Anwalt gesprochen, seit Sie gekidnappt wurden?«, fragte Tulip.
»Nein. Ich habe seine Kanzlei letzte Woche mehrmals angerufen. Doch seine Sekretärin meinte, er sei im Ausland, und sie würde ihm bei seiner Rückkehr sofort mitteilen, dass ich mich gemeldet hätte. Das bedeutet wohl, dass er noch in Spanien ist und sich um ein paar lose Enden kümmert. Im Augenblick gibt es jedoch ein drängenderes Problem, um das ich mich kümmern muss.«
»Was könnte drängender sein als die Vorbereitung auf Ihren Prozess?«
»Meine frühere Ehefrau«, sagte Miles, wobei er die Worte fast ausspuckte, während ein Gefängnisbeamter ihm Kaffee nachschenkte. »Gott allein weiß, was Christina jetzt, da ich aus dem Weg bin, vorhaben mag.«
»Meine Quellen verraten mir, dass sie Ihr Geld ausgibt, als gäbe es kein Morgen«, sagte Tulip. »Sie speist regelmäßig im Ritz, geht in der Bond Street shoppen und genehmigt sich einen nicht abreißenden Strom von jungen Liebhabern, die sich ihre Dienste großzügig vergüten lassen.« Er warf einen verstohlenen Blick auf sein Gegenüber. »Sie könnte einen unglücklichen Unfall auf dem Weg in die Bond Street haben?«, sagte er in fragendem Ton. »Während der Geschäftsstunden herrscht dort wirklich viel Verkehr, Boss.«
»Nein«, sagte Miles ebenso entschieden wie zuvor schon. »Wenigstens nicht, bevor der Prozess zu Ende ist, wenn ich die Geschworenen davon überzeugen will, dass ich mich grundlegend geändert habe und unrechtmäßig festgenommen wurde. Deshalb muss ich während der nächsten Monate wie Cäsars Gattin sein – ›über jeden Verdacht erhaben‹.«
Tulip wirkte verwirrt.
»Ich habe jedoch die Absicht, dafür zu sorgen, dass Christina bereits lange vor der Gerichtsverhandlung ohne einen Penny dasteht und Warwick sich glücklich schätzen kann, wenn er noch eine Stelle als Wachmann im Fitzmolean bekommt«, fügte er hinzu und schob Speck und Eier beiseite.
»Was ist mit Inspector Hogan?«
»Um ihn kannst du dich kümmern, wann und wie du willst. Aber sorg dafür, dass es allen noch lange im Gedächtnis bleibt«, sagte Miles und warf noch einmal einen Blick auf die Titelseite des Telegraph. »Denn ich möchte, dass man später von mir mehr als nur ein Regal im Schwarzen Museum besichtigen kann.«
»Das war Leutnant Sanchez von der Polizei in Barcelona«, sagte Hawksby, als er den Hörer auflegte. »Er meinte, Booth Watson habe sich an Bord von Faulkners Jacht begeben, kaum dass seine Männer aufgetaucht sind.«
»Interessant«, sagte William. »Welches Ziel hat die Jacht?«
»Sie wurde zuletzt in der Bucht von Biscaya gesehen. Interpol behält sie genau im Auge.«
»Dann muss Booth Watson auf dem Weg zurück nach England sein – im Glauben, dass sein Mandant noch immer im Safe eingeschlossen war, als er aufgebrochen ist, und unmöglich überlebt haben kann.«
»Da könnten Sie recht haben, William, denn Sanchez sagte ebenfalls, dass er nur eines an den Wänden hängen gelassen hat – nämlich die Haken – und alle Bilder entfernt haben muss.«
»In diesem Fall, Sir, würde ich vorschlagen, dass wir die Küstenwache bitten, Ausschau nach ihm zu halten, damit wir ihn lange vor dem Erreichen der Hoheitsgewässer im entsprechenden Hafen erwarten können.«
»Gut mitgedacht«, sagte Hawksby und griff nach dem Telefonhörer.
»Mrs. Christina Faulkner ist auf Leitung eins, Sir Julian«, sagte seine Sekretärin.
»Stellen Sie sie durch«, sagte der Kronanwalt ohne jede Begeisterung. Obwohl ihm nicht viel an Mrs. Faulkner lag, genoss er jedes Mal die Begegnungen mit ihr. Sie hatte das Leben seines Sohnes über Jahre hinweg schwieriger gemacht, und er wusste, dass William wegen Christinas Freundschaft zu seiner Frau Beth besorgt war. Doch sie glich einem guten Roman, bei dem man nicht wissen kann, wie er endet, und der immer dann eine neue Richtung einschlägt, wenn man es am wenigsten erwartet.
»Guten Morgen, Mrs. Faulkner«, sagte er. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Mein Ex-Ehemann ist wieder im Gefängnis, Sir Julian. Aber ich bin sicher, das wissen Sie bereits.«
»Ich habe davon gehört.«
»Was Sie aber vielleicht nicht wissen, ist, dass seine Jacht Kurs auf England genommen hat. An Bord befinden sich Booth Watson und einhunderteinundneunzig Ölgemälde, deren Herkunft nicht unbekannt ist.«
»Wie ist es möglich, dass Sie von so etwas Kenntnis haben?«
»Weil Miles’ Butler mich gestern Abend angerufen und mir gesagt hat, dass die Jacht vor über einer Woche in See gestochen ist. Er wollte wissen, wie man mit Miles Kontakt aufnehmen kann.«
»Was hat er Ihnen noch gesagt?«, fragte Sir Julian, griff nach einem Füllfederhalter und begann, sich Notizen zu machen.
»BW hat nicht nur alle Bilder von Miles entfernt, sondern den Butler ebenso angewiesen, das Haus in Spanien zum Verkauf auszuschreiben.«
»Und hat er das getan?«
»Keineswegs. Im Gegenteil, sobald er begriffen hatte, dass Miles noch am Leben und zurück in England im Gefängnis ist, hat er sich hektisch bemüht, Kontakt zu ihm aufzunehmen, was auch der Grund dafür ist, warum er sich schließlich bei mir gemeldet hat.« Sie hielt kurz inne. »Und was glauben Sie wohl, wer mich danach mitten in der Nacht angerufen hat?«
Sir Julian antwortete nicht, denn er war sich bewusst, dass Mrs. Faulkner darauf brannte, es ihm sogleich selbst zu sagen.
»Kein anderer als der Kapitän der Jacht.« Christina verriet ihm nicht den Grund, denn sie wusste, dass er nicht widerstehen konnte, sie danach zu fragen.
»Und was hatte er selbst zu sagen?«, fragte Sir Julian schließlich, indem er seinen Widerstand aufgab.
»Sie sind auf dem Weg zurück nach England, nach Christchurch, um genau zu sein, und rechnen damit, in Kürze anlegen zu können.«
»Trotzdem würde ich gerne erfahren, warum er ausgerechnet Sie angerufen hat.«
»Ich bin das kleinere von zwei Übeln«, erklärte Christina. »Ehrlich gesagt misstraut Kapitän Redmayne Booth Watson so sehr, dass ich glaube, er würde ihn am liebsten über Bord werfen, wenn er die Gelegenheit dazu hätte.«
Das würde alle unsere Probleme mit einem Schlag lösen, dachte Sir Julian, verzichtete jedoch darauf, sich dazu zu äußern.
»Wenn Sie also in der Lage wären, Kontakt zum Hafenmeister in Christchurch aufzunehmen und herauszufinden, wann die Jacht anlegen soll«, sagte Christina, »könnten wir im Hafen den eminenten Kronanwalt in Empfang nehmen und ihm keine andere Wahl lassen, als mir meine Hälfte der Bilder zurückzugeben, wie es in der Scheidungsvereinbarung festgelegt wurde, welche Sie selbst aufgesetzt haben.«
Sir Julian war stets aufs Neue fasziniert davon, dass es sich bei Miles und Christina Faulkner um zwei Menschen derselben Art handelte, und er war sich nicht einmal sicher, wer von beiden hinterhältiger war. Er musste jedoch zugeben, dass die Aussicht, Booth Watson und Miles Faulkner gleichzeitig das Handwerk zu legen, verlockend war – vorsichtig ausgedrückt.
»Ich glaube, das wäre möglich, Mrs. Faulkner«, sagte Sir Julian, der sie mit dieser Bemerkung noch immer auf Distanz hielt.
»Wenn Sie mir Bescheid geben könnten, sobald die Jacht unsere Hoheitsgewässer erreicht hat, würde uns das, wie mir der Kapitän versichert hat, mindestens ein paar Stunden Zeit geben, um pünktlich vor Ort zu sein und ihm einen königlichen Empfang zu bereiten.«
Es amüsierte Sir Julian immer wieder, wie Mrs. Faulkner davon ausging, dass er stets auf der Stelle verfügbar wäre – jedenfalls dann, wenn sie zur Stelle war. Doch er musste sich eingestehen, dass sich diese Sache weitaus interessanter anhörte als der Fall von Steuerhinterziehung, bei dem er gegenwärtig vor Gericht die Anklage vertrat und mit dem seine Tochter Grace problemlos zurechtkäme. Und obwohl er es nie zugeben würde, konnte er es kaum erwarten herauszufinden, wie Booth Watson Faulkner erklären wollte, warum er dessen Bilder zurück nach England gebracht und das Haus in Spanien zum Verkauf angeboten hatte, ohne ihn zu konsultieren. Besonders nachdem Faulkner wahrscheinlich während der letzten zehn Tage immer wieder versucht hatte, Kontakt zu ihm aufzunehmen.
Sir Julian war sich jedoch bewusst, dass er sich auf weitere Überraschungen gefasst machen musste. Denn sein alter Rivale Booth Watson war in jeder Hinsicht genauso gerissen wie Christina Faulkner und würde ohne zu zögern beide gegeneinander ausspielen, wenn es seiner eigenen Sache dienen konnte.
»Wir bleiben in Verbindung«, sagte er und legte auf.
William griff nach dem Telefonhörer, schaltete aber nicht das Licht ein, als die Anzeige des Digitalweckers auf seinem Nachttisch von 5:17 auf 5:18 sprang.
»Der Hafenmeister hat gerade angerufen«, sagte eine hellwache Stimme. »Die Jacht wurde gesichtet, und er schätzt ihre Ankunftszeit auf etwa neun Uhr.«
William sprang aus dem Bett, stürzte zu Boden und weckte Beth auf. Kein guter Anfang für diesen Tag.
Der zweite Anruf des Hafenmeisters an diesem Morgen galt Sir Julian Warwick, der die Nachttischlampe einschaltete, bevor er den Hörer abnahm. Er war bereits wach. Er bedankte sich bei dem Hafenmeister, legte auf, streifte einen Morgenmantel über und zog sich in sein Arbeitszimmer zurück. Dort schlug er eine Nummer nach, die zu wählen ihm beträchtliches Vergnügen bereitete. Das Telefon läutete eine Weile, bevor schließlich jemand abnahm.
»Wer ist dran, verdammt noch mal?«, wollte eine Stimme wissen.
»Sir Julian Warwick«, sagte er ohne die leiseste Andeutung des Bedauerns darüber, dass er seine Mandantin zu einem Zeitpunkt geweckt hatte, der für sie mitten in der Nacht liegen durfte. Er gab die Nachricht des Hafenmeisters weiter, und zu seiner Überraschung sagte seine Mandantin: »Mein Fahrer ist in zwanzig Minuten bei Ihnen.«
Nachdem er aufgelegt hatte, eilte er zurück nach oben ins Bad, warf Morgenmantel und Pyjama ab, stieg unter die Dusche und fluchte laut, als die kalten Wasserstrahlen über seinen kahlen Kopf strömten.
William traf kurz nach sechs in Scotland Yard ein. Er war nicht überrascht, Commander Hawksby im Fond eines Streifenwagens sitzen zu sehen, wo dieser ungeduldig mit den Fingern gegen den Vordersitz trommelte. William sprang neben ihn ins Auto. Sein Fahrer Danny startete, noch bevor er Zeit gehabt hatte, die Tür zu schließen.
Es war nicht zwanzig, sondern eher vierzig Minuten später, als Christina Faulkners Chauffeur in den privaten Abschnitt von Lincoln’s Inn Field fuhr und vor Sir Julians Wohnung hielt. Sir Julian, der während der letzten zwanzig Minuten unruhig auf und ab gegangen war, nahm rasch neben seiner Mandantin auf der Rückbank Platz.
»Guten Morgen, Mrs. Faulkner«, sagte er. Als er sah, welche Kleidung sie trug, war er nicht ganz sicher, ob sie in der gerade zurückliegenden Nacht überhaupt zu Bett gegangen war.
»Guten Morgen, Sir Julian«, erwiderte Christina, als der Chauffeur die hintere Tür schloss und dann auf seinen Platz zurückkehrte, um nach Christchurch aufzubrechen.
Der Commander und William waren die Ersten, die im Hafen ankamen. Sie meldeten sich sofort beim Hafenmeister.
»Die Jacht wird in etwa vierzig Minuten an Liegeplatz Nummer vierzehn anlegen«, sagte er, als er den beiden die Hand gab. »Zögern Sie nicht, sich bei mir zu melden, wenn Sie irgendwelche Hilfe brauchen, mental oder physisch.«