Und dann kommt der Tod herbei - Mary Higgins Clark - E-Book
SONDERANGEBOT

Und dann kommt der Tod herbei E-Book

Mary Higgins Clark

3,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine Stewardess, die unter höchster Gefahr einen armen Flüchtling aus dem Land schmuggelt. Eine junge Frau, die auf der verzweifelten Suche nach ihrer Schwester, einem bekannten Model, in Lebensgefahr gerät. Eine frühere Putzfrau, die sich nach einem hohen Lottogewinn der Aufklärung von Kriminalfällen widmet – Mary Higgins Clark entwirft seit über fünfzig Jahren geniale Heldinnen und Plots. Diese Sammlung von spannenden Storys wird gekrönt von einem neuen Kurzroman.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 490

Bewertungen
3,0 (16 Bewertungen)
3
3
4
3
3
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Und dann kommt der Tod herbei bietet neun großartige Geschichten von Mary Higgins Clark, die zu ganz unterschiedlichen Zeiten entstanden sind. Denn schon seit über fünfzig Jahren entwirft sie geniale Heldinnen und Plots. Die Mehrheit der hier vereinten Storys sind auf Deutsch bislang gänzlich unveröffentlicht.

Gekrönt wird diese Sammlung von einem neuen Kurzroman. Der Tod trägt eine Maske spielt im Fashionmillieu New Yorks in den Siebzigerjahren. In dieser Zeit begann die Autorin mit dem Schreiben, diesen Roman aus ihren Anfangszeiten hat sie jedoch erst kürzlich fertiggestellt.

Nicht immer wird in den Geschichten von Mary Higgins Clark gemordet. Es findet sich auch eine echte Gruselgeschichte in dieser Sammlung, die in einem düsteren Kohlenkeller mit einem seelenverschlingenden Grammofon spielt. Oder eine psychologische Spannungsgeschichte um eine Mutter, die aufgrund des tragischen Tods ihres Sohnes mit dem Schicksal hadert.

Immer spannend, manchmal amüsant, manchmal skurril – Geschichten, die uns einladen, Mary Higgins Clarks Meisterschaft im Erzählen aufs Neue zu genießen.

Die Autorin

Mary Higgins Clark, geboren in New York, lebt und arbeitet in Saddle River, New Jersey. Sie zählt zu den erfolgreichsten Thrillerautorinnen weltweit. Mit ihren Büchern führt sie regelmäßig die internationalen Bestsellerlisten an. Sie hat bereits zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u. a. den begehrten Edgar Award. Zuletzt bei Heyne erschienen: So still in meinen Armen.

MARY HIGGINS CLARK

UND DANN KOMMT DER TOD HERBEI

STORYS

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel DEATH WEARS A BEAUTY MASK bei Simon & Schuster, New York

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte dieses E-Book Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung dieses E-Books verweisen.

Vollständige deutsche Taschenbuchausgabe 08/2016

Copyright © 2015 by Simon & Schuster

Copyright © 2016 der deutschen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81637 München

Published by arrangement with the original publisher, Simon & Schuster, Inc.

Redaktion: Claudia Alt

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

Umschlagfoto: © shutterstock/Balazs Kovacs Images

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-18870-2V001

www.heyne.de

In Erinnerung an Ann Mara,

der lieben Freundin und wunderbaren Frau

Inhalt

Der Tod trägt eine Maske

Der blinde Passagier

Wenn der Ast bricht

Die Stimme im Keller

Tödliche Maskerade

Verbrechen aus Leidenschaft

Der Nachbar

Sind wir uns nicht schon einmal begegnet?

Kürzlich ist etwas ganz Komisches passiert

Das verräterische Schnurren

Dank

Quellennachweis

Der Tod trägt eine Maske

Juni 1974

Donnerstag

Um acht Uhr morgens begann die Pan-Am-Maschine ihren Landeanflug auf den John F. Kennedy Airport. Janice drückte die Stirn ans Fenster und starrte angestrengt auf die graue Wolkendecke. Mike beugte sich zu ihr hinüber, schloss ihr den Sicherheitsgurt und klopfte ihr zärtlich auf den Oberschenkel. »Deine Schwester wirst du von hier oben kaum entdecken können, meine Liebe«, sagte er.

Er streckte die Beine aus, die viel zu lang waren für den wenigen Platz, den die Fluggesellschaft ihren Passagieren in der Touristenklasse zugestand. Michael Broad, dreißig Jahre alt und stellvertretender Bezirksstaatsanwalt in Los Angeles, hatte immer noch eine durchtrainierte Figur wie zu der Zeit, als er im Leichtathletik-Team seiner Universität aktiv gewesen war. Allerdings zogen sich erste graue Strähnen durch seine braunen Haare – das hatte er wohl von seinem Vater geerbt, was ihm aber insgeheim gefiel. Keiner, der ihn auch nur ein wenig kannte, ließ sich von seinem zurückhaltenden Wesen in die Irre führen. In seinen grauen Augen lag fast immer ein spöttisches Funkeln. Zeugen der Verteidigung, die von ihm ins Kreuzverhör genommen wurden, hatten die durchdringende Entschlossenheit dieses Blicks zu fürchten gelernt. Und nie hätten sie geglaubt, dass in diesen Augen auch eine Zärtlichkeit liegen konnte, die immer dann aufschien, wenn er die junge Frau neben sich ansah.

Die zweiundzwanzigjährige Janice, mit der er seit drei Wochen verheiratet war, hatte dunkelblonde, schulterlange Haare; sie war sonnengebräunt, schlank, hatte schmale Hüften und lange Beine. Sie hatten sich im Jahr zuvor kennengelernt, als sie ihn auf die Bühne der University of Southern California geführt hatte, wo er einen Vortrag über die Sicherheit auf dem Campus halten sollte.

Lächelnd lehnte sie sich zurück. »Man kann überhaupt nichts sehen«, beschwerte sie sich. »Alles ist voller Wolken oder Smog oder was auch immer. Ach, ich freu mich so auf Alexandra. Es ist jetzt fast ein Jahr her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben. Und sonst habe ich ja keine Verwandten mehr.«

Mike deutete auf den nagelneuen Ehering. »Ach, und was ist mit mir?«, fragte er trocken. Sie grinste ihn an, bevor sie sich wieder dem Fenster zuwandte. Natürlich konnte Mike ihre Ungeduld nur schwer nachvollziehen, aber er war ja auch in einer großen Familie mit insgesamt zwei Brüdern und zwei Schwestern aufgewachsen.

Bei ihr war es anders gewesen. Ihre Mutter war bei ihrer Geburt gestorben, worauf ihre sechs Jahre ältere Schwester Alexandra im Lauf der Jahre immer mehr die Rolle der Ersatzmutter übernommen hatte. Als Janice zwölf war, hatte Alexandra Oregon verlassen und war nach New York gegangen. In den darauffolgenden Jahren war sie regelmäßig alle paar Monate nach Hause gekommen, aber je erfolgreicher ihre Modelkarriere verlief, desto seltener wurden diese Besuche. Zum letzten Mal hatten sie sich im vergangenen Sommer in New York gesehen, als Janice sie für zehn Tage besucht hatte.

Eigentlich hatte Alexandra vorgehabt, an Janices College-Abschlussfeier teilzunehmen. Aber dann hatte sie angerufen und ihr mitgeteilt, dass sie für Werbeaufnahmen nach Europa müsse. Als Janice ihr erzählte, dass sie und Mike gleich nach ihrem Studienabschluss heiraten wollten – lediglich im kleinen Kreis, nur Mikes Familie und zwanzig der engsten Freunde würden während der Trauung in der Kirche in Los Angeles dabei sein –, musste Alexandra ihr versprechen, dass sie sie wenigstens während der letzten sieben Tage ihrer Flitterwochen zu sehen bekamen. Es wäre der ideale Zeitpunkt für einen Besuch bei ihr. Mikes Urlaub sei dann vorbei, und Janice wollte im Juli mit dem Masters-Studiengang in Englisch beginnen. Schon seit sie klein war, hatte sie Lehrerin werden wollen.

»Ich werde dich am Flughafen mit einer Blaskapelle empfangen«, hatte Alexandra gesagt. »Du fehlst mir. Dieser verfluchte Job … Ich hab sie angefleht, das Shooting zu verschieben, aber nein, es ist unmöglich. Jedenfalls freue ich mich auf dich und auf Mike, endlich werde ich ihn kennenlernen. Nach allem, was du mir erzählt hast, muss er ja ein ganz toller Kerl sein. Ich werde euch New York zeigen.«

»Mike kennt New York in- und auswendig«, erwiderte Janice. »Er hat nämlich an der Columbia University Jura studiert.«

»Gut, dann zeige ich euch das, was man als Student normalerweise nicht zu sehen bekommt. Dann also, am 24. Juni. Ich bin am Flughafen. Du musst nur nach der Blaskapelle Ausschau halten.«

Janice drehte sich zu Mike hin. »Ich kann es kaum erwarten, endlich wirst du Alexandra kennenlernen. Du wirst sie mögen.«

»Ich freue mich auch auf sie«, entgegnete Mike. »Obwohl ich dir gestehen muss, dass mir in den letzten Wochen eigentlich niemand gefehlt hat.«

Sie hatten die vergangenen drei Wochen in England und Frankreich verbracht. Janice dachte an die abgelegenen Gasthöfe in Devon und der Bretagne und auch an Mikes Umarmungen. »Mir auch nicht«, musste sie bekennen.

Eine halbe Stunde später standen sie ganz vorn in der Schlange. Der Zollbeamte prüfte ihre Pässe und stempelte sie ab. »Willkommen zu Hause«, sagte er mit dem Anflug eines Lächelns.

Sie eilten zur Gepäckausgabe. »Unsere werden bestimmt wieder als Letzte kommen«, beklagte sich Janice, während auf dem Förderband ein Koffer nach dem anderen an ihnen vorbeizog. Sie lag fast richtig. Ihre Koffer waren die vorletzten, die auftauchten. Als sie sich dann endlich den Türen zum Hauptgebäude näherten, rannte Janice schon ungeduldig voraus. Freunde und Verwandte der Mitpassagiere hatten sich in der Halle in kleinen Gruppen versammelt.

Alexandra hätte aus der Menge auf jeden Fall herausgeragt, man hätte sie unmöglich übersehen können. Aber sie war nirgends zu entdecken.

Janice konnte ihre Enttäuschung nicht verbergen. »Die Blaskapelle steckt wohl noch im Stau fest«, sagte sie traurig.

»Na, das scheint bei euch in der Familie zu liegen«, erwiderte Mike launig und spielte auf ihre Angewohnheit an, immer mindestens eine Viertelstunde zu spät zu kommen – was sich nur unmaßgeblich gebessert hatte, nachdem er ihr dazu einige Standpauken gehalten hatte.

Sein Kommentar jedenfalls schien sie etwas aufzumuntern. »Alexandra ist immer zu spät dran. Wahrscheinlich wird sie jeden Moment auftauchen.«

Aber dann verging eine halbe Stunde … dann eine Stunde. Dreimal rief Mike in Alexandras Wohnung an. Ein Telefonauftragsdienst bot an, eine Nachricht entgegenzunehmen. Mike holte ihnen einen Becher Kaffee, und sie wagten nicht, den Ankunftsbereich zu verlassen. Um Mittag sagte Mike schließlich: »Hör zu, Liebes, es ist doch sinnlos, noch länger zu warten. Wir hinterlegen für Alexandra eine Nachricht und nehmen ein Taxi zu ihrer Wohnung. Vielleicht lässt uns der Hausverwalter ja rein.«

Alexandra wohnte in einem Apartmentkomplex am Henry Hudson Parkway an der 74th Street. Ihre Wohnung verfügte über eine Terrasse mitsamt Privateingang. »Sie ist fantastisch«, beschrieb Janice sie Mike im Taxi. »Warte erst, bis du die Aussicht auf den Hudson gesehen hast.«

Die Entscheidung, zu ihrer Wohnung zu fahren, hatte ihre Laune sichtlich gehoben. Und er nickte bloß, als sie sagte, Alexandra habe sicherlich wegen eines Auftrags kurzfristig die Stadt verlassen müssen und ihnen wahrscheinlich eine Nachricht geschickt, die sie nur nicht erhalten hätten. Insgeheim aber befürchtete er, dass etwas nicht stimmte.

In der 74th Street lotste Janice den Taxifahrer zur Gebäuderückseite, wo sich die zum Fluss hin gelegenen Privateingänge befanden. »Vielleicht ist sie gerade aus Europa zurückgekehrt und hat verschlafen.«

Mike drückte auf die Klingel. Eine kleine, stämmige Frau öffnete ihnen die Tür. Sie hatte die Haare zu einem Knoten gebunden, und ihre blauen Augen funkelten wie Suchscheinwerfer.

»Sie müssen die Schwester sein«, begrüßte sie sie ohne Umschweife. »Kommen Sie rein, kommen Sie rein. Ich bin Emma Cooper.« Die Haushälterin, dachte Mike. Janice hatte von ihr erzählt, war ihr aber nie begegnet, weil die Angestellte während Janices letzten Besuchs gerade im Urlaub gewesen war.

Janice hatte mit ihrer Begeisterung über die Wohnung keineswegs übertrieben. Lindgrüne Wände und Teppichböden bildeten den eleganten Hintergrund für wunderbare Gemälde und ganz offensichtlich teure Möbel. Mike stieß einen Pfiff aus. »Nur schade, dass du so ein hässliches Entlein bist«, neckte er sie. »Sonst würde ich dich auch zum Modeln schicken.«

Aber Janice hörte ihm gar nicht zu. »Wo ist meine Schwester?«, fragte sie die Haushälterin.

Die Frau runzelte die Stirn, womit sie Missfallen oder auch nur ihre Sorge zum Ausdruck brachte. »Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass sie am Montag gelandet ist, aber sie ist nicht nach Hause gekommen und hat auch nicht angerufen. Sie hat sich doch so sehr auf Ihren Besuch gefreut, sie hat von nichts anderem mehr geredet. Ich weiß nicht, was sie von mir erwartet. Sie hat nämlich noch das Gästezimmer herrichten lassen, und vor zwei Tagen war der Maler da. ›Ist das die richtige Farbe?‹, hat er mich gefragt. Was hätte ich denn sagen sollen? Ja, nur zu, streichen Sie. Wahrscheinlich wird ihr das alles nicht gefallen. Und das Telefon treibt mich noch in den Wahnsinn. Alle zehn Minuten klingelt es. Ich gehe schon gar nicht mehr ran. Soll sich doch der Auftragsdienst darum kümmern. Gestern hat Mr. Wilson, der von der Agentur, mich sogar angebrüllt.«

»Sie meinen, meine Schwester ist vor drei Tagen in New York eingetroffen, und Sie haben sie seitdem nicht gesehen?«, fragte Janice.

Emma schüttelte den Kopf. »Am Montagabend ist sie von ihrem Beauty-Mask-Auftrag zurückgekommen. Dieser Wilson hat angerufen und gesagt, sie wären mit einer Chartermaschine geflogen und hätten sich am Flughafen getrennt. Der Besitzer der Charter-Fluggesellschaft sollte Miss Alexandra angeblich nach Hause bringen. Aber seitdem hat er sie nicht mehr gesehen. Keiner hat sie seitdem gesehen. Das ist aber nicht so ungewöhnlich. Manchmal, wenn ihr der Stress zu viel wird, gönnt sich Miss Alexandra eine Auszeit und verschwindet einfach, um sich zu erholen. Einmal war sie auf Cape Cod, ein anderes Mal in Maine. Irgendwann taucht sie dann wieder auf, so, als wäre nichts gewesen. Es ist nur ein bisschen verantwortungslos, wenn sie gleichzeitig auch noch Handwerker in der Wohnung hat.«

Mike fiel ihr ins Wort. »Ist es möglich, dass Miss Saunders zu einem anderen Auftrag weg musste?«

Emma schüttelte den Kopf. »In den letzten Monaten war sie nur mit dieser Beauty-Mask-Sache beschäftigt. Es mussten unzählige Fotos für Zeitschriften gemacht werden, dann noch die Werbespots fürs Fernsehen.«

»Wurde sie als vermisst gemeldet?«, fragte Mike.

Emma schüttelte noch vehementer den Kopf. »Natürlich nicht!«

»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte Janice.

»Nichts. Ich will damit nichts sagen. Bitte, erzählen Sie nicht weiter, dass Miss Alexandra vermisst wird. Wie gesagt, manchmal nimmt sie sich eine Auszeit und verschwindet, und keiner erfährt davon … Sie mag es nicht, wenn man ihr mit Fragen auf die Nerven fällt.«

Janice wandte sich an ihren Mann. »Mike, was sollen wir jetzt tun?«

»Als Erstes hören wir uns an, was beim Telefonauftragsdienst an Nachrichten für sie eingetroffen ist. Mal sehen, wer sie angerufen hat.«

Der Auftragsdienst weigerte sich zunächst, irgendwelche Auskünfte über Alexandras Anrufe zu erteilen. »Auch wenn Sie ihre Schwester sind«, erklärte der Angestellte kategorisch, »handelt es sich hier um Informationen, die wir nur an die Kundin persönlich weitergeben. Sie hat uns angewiesen, keinem, der behauptet, in ihrem Namen anzurufen, irgendetwas mitzuteilen.«

Mike nahm Janice den Hörer aus der Hand. »Hier ist Alexandra Saunders’ Schwager. Seit drei Tagen hat niemand mehr von ihr gehört, und die Familie macht sich große Sorgen. Sagen Sie mir wenigstens: Hat sie sich in den vergangenen drei Tagen bei Ihnen gemeldet und sich nach den eingegangenen Anrufen erkundigt?«

Es folgte eine Pause. »Ich weiß wirklich nicht, ob ich berechtigt bin …«

Mike unterbrach ihn. »Ich bin Anwalt. Wenn Sie es mir nicht sagen und mir auch nicht mitteilen wollen, wer für sie angerufen hat, werde ich einen richterlichen Beschluss erwirken. Miss Saunders wird vermisst. Verstehen Sie das? Sie wird vermisst! Ich rufe von ihrem Telefon aus an. Sie können mich zurückrufen, wenn Sie sichergehen wollen, dass ich mich in ihrer Wohnung aufhalte.«

Keine Minute später notierte er sich auf dem Block, der gleich neben dem Apparat lag, Namen und Telefonnummern der jeweiligen Anrufer für Alexandra.

Als er auflegte, sagte er: »Ein Grant Wilson hat durchschnittlich dreimal am Tag angerufen. Das gilt auch für einen Larry Thompson. Daneben sind noch von einem Mark Ambrose einige Anrufe eingegangen. Bei den übrigen handelt es sich meistens um Einladungen zu Wohltätigkeitsessen, um Friseurtermine und so weiter.«

Emma kannte die erwähnten Männer. »Grant Wilson, dem gehört die Wilson Model-Agentur, für die Miss Alexandra arbeitet. Larry Thompson macht die Fotoshootings und die Werbespots. Und Marcus Ambrose ist der Besitzer der Charter-Fluggesellschaft, mit der sie in Europa gereist sind.«

»Wir fangen mit Wilson an«, entschied Mike.

»Machen Sie sich keine Sorgen um Ihr Gepäck«, sagte Emma. »Ich bringe alles ins Gästezimmer.«

»Ich weiß ja nicht, wie Sie mit Alexandra abrechnen, aber ich möchte sichergehen …«

»Keine Sorge«, unterbrach Emma. »Ich werde am Monatsende bezahlt.«

Zwanzig Minuten später standen sie vor dem General Motors Building in der Fifth Avenue. Anerkennend ließ Mike den Blick in die Höhe schweifen. »Als ich hier studiert habe, ist das gerade erst gebaut worden.«

Janice lächelte wehmütig. »Vor sechs Jahren war ich mit Alexandra hier im Plaza beim Essen.« Sie sah zum glanzvollen alten Hotel auf der gegenüberliegenden Straßenseite. »Das hat großen Spaß gemacht. Ständig sind irgendwelche Stars an unseren Tisch gekommen.«

Grant Wilson saß an seinem wuchtigen Schreibtisch in einem Eckbüro, aus dem man einen atemberaubenden Blick über den Central Park hatte. Das Büro war wie ein Wohnzimmer eingerichtet: dunkelblauer weicher Teppichboden, Sofa und Stühle waren mit dem gleichen Brokat bezogen, aus dem die Vorhänge waren; wertvolle Gemälde, eine gut ausgestattete Bar, Bücherschränke. Wer in der Madison Avenue in einem solchen Büro saß, hatte es wirklich geschafft. Grant hatte Erfolg gehabt. Zwölf Jahre zuvor, mit achtundzwanzig, war er nach New York gekommen, danach hatte er sich zum stellvertretenden Leiter einer der wichtigsten Model-Agenturen New Yorks hochgearbeitet. Drei Jahre zuvor hatte er dann seine eigene Agentur gegründet.

Er hatte eine markante Nase, hellbraune Augen, noch volles Haar, das allmählich grau wurde, und die durchtrainierte Figur desjenigen, der regelmäßig ins Fitnessstudio ging.

Im Moment aber hatte er vor allem Angst. Er war im Four Seasons gewesen, hatte Lachs mit Salat gegessen und zwei Gin Martini getrunken. Die beiden Martini hatte er zur Beruhigung seiner Nerven gebraucht. Bei der Rückkehr ins Büro hatte ihm die Sekretärin mitgeteilt, dass mehrere Nachrichten eingetroffen seien. Die erste: Alexandras Schwester sei mit ihrem Mann auf dem Weg hierher, die beiden wollten ihn unbedingt sprechen. Was hatte das zu bedeuten? Er hatte ganz vergessen, dass Alexandra eine verheiratete Schwester hatte. Er hatte immer gedacht, sie besuche noch irgendwo das College. Und was wollten die beiden über Alexandra erfahren? Was sollte er ihnen sagen? Er würde ihnen erklären, es sei ihm schleierhaft, dass jemand, der so bekannt sei wie Alexandra, einfach spurlos verschwinden könne. Er würde ihnen sagen, dass man doch keine Zeitschrift aufschlagen könne, ohne auf ihr Gesicht zu stoßen. Sie war in diversen bekannten Talkshows aufgetreten. Egal wo sie sich aufhielt, irgendjemand würde sie unweigerlich erkennen. Aber momentan war sie wie vom Erdboden verschluckt.

Darüber hinaus waren andere Nachrichten eingegangen. Ken Fowler von Fowler Cosmetics, der Firma, die Beauty Mask herausbrachte, habe dreimal angerufen. Fowler hatte immer noch nicht die letzten Rechnungen bezahlt. Wenn sie nicht sofort den letzten Werbespot in Venedig neu drehten, würde er sich weigern, noch irgendeine der ausstehenden Rechnungen zu begleichen.

Die Gegensprechanlage summte. Es war die Rezeptionistin. »Mr. und Mrs. Broad sind eingetroffen. Mrs. Broad ist Alexandra Saunders’ Schwester.«

»Ich weiß, wer sie ist«, blaffte Grant. »Führen Sie sie herein.« Er knallte den Hörer auf, rieb sich die schweißnassen Hände trocken und wartete.

Als seine Sekretärin mit den Besuchern erschien, erhob er sich und gab den zuvorkommenden, freundlichen Chef, ging Janice entgegen und fasste sie an beiden Händen. »Sie sind ja das wahre Ebenbild Ihrer Schwester, ich hätte Sie überall erkannt«, schmeichelte er ihr, bevor er Mike mit einen herzlichen Händedruck begrüßte.

Die äußere Erscheinung des jungen Paars brachte ihn allerdings etwas aus dem Konzept. Weiß Gott, was er erwartet hatte – zwei verwahrloste Studenten mit Zottelhaaren, Blumen zwischen den Zehen und Nickelbrille. Aber diesen Mike Broad konnte man nicht einfach so abtun. Und die Schwester … Er betrachtete sie eindringlich. Sie sah einfach umwerfend aus; sie hatte nicht das ätherische Wesen von Alexandra, sondern ihre Schönheit war natürlicher. Ein wenig größer … vielleicht zwei, drei Kilo mehr auf den Rippen, aber es passte. Er hatte Alexandra immer gewarnt, dass sie es mit dem Abnehmen nicht übertreiben sollte.

Janice protestierte. »Oh, ich bin überhaupt nicht wie Alexandra. Kein Vergleich, ganz und gar nicht.« Neben Alexandras anmutiger Schönheit war sie sich immer wie ein Trampel vorgekommen. »Wissen Sie, wo meine Schwester steckt?«

Sie hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, da fragte Grant Wilson an sie gewandt: »Sie haben doch hoffentlich Neues über Alexandra zu berichten?«

Grant bemerkte, wie Michael Broad kaum merklich die Augen zusammenkniff, ebenso wenig entging ihm die große Enttäuschung im Gesicht der jungen Frau. Ihm war unbehaglich zumute.

»Nehmen wir doch Platz.« Er deutete zum Sofa. Sie setzten sich, und er beschloss, direkt zum Thema zu kommen.

»Ich will Ihnen nichts vormachen«, begann er. »Ich bin um Alexandra besorgt. Anfangs dachte ich noch, sie wäre abgetaucht, um sich mit den Vorbereitungen auf Ihren Besuch zu beschäftigen.« Mit einem Kopfnicken deutete er auf Janice.

Mike beugte sich vor. »Mr. Wilson, wann haben Sie Alexandra zum letzten Mal gesehen?«

Kurz hatte Grant das Gefühl, als befände er sich im Zeugenstand. Die Frage, der Tonfall, das alles hatte etwas sehr Professionelles an sich. Er sah zu Mike.

»Vor drei Tagen, am Montagabend, da sind wir in einer Chartermaschine aus Venedig zurückgekommen. Wir haben in Europa Fernsehspots gedreht und Fotos für eine sehr wichtige Werbekampagne gemacht. Fowler Cosmetics, wie Sie wahrscheinlich wissen, gehört zu den größten Kosmetikunternehmen der Welt und steht auf einer Stufe mit Elizabeth Arden und Helena Rubenstein. Beauty Mask, so der Name für eine neue Schönheitsmaske, ist das neue Produkt der Firma. Wahrscheinlich ist es das aktuell aufregendste Produkt in der Kosmetikindustrie … die, wie ich vielleicht anfügen darf, mehrere Milliarden im Jahr umsetzt.«

Wieder deutete er auf Janice. »Manchmal, Sie wissen wahrscheinlich ein Lied davon zu singen, sieht eine Frau einfach nicht so gut aus, wie sie aussehen könnte. Sie hat Augenringe, weil sie vielleicht aus war oder noch bis spät in die Nacht für Prüfungen lernen musste, vielleicht hat sie auch Sorgenfalten. Es gibt zahlreiche Cremes auf dem Markt, die diese Fältchen und Schatten kaschieren können. Aber Beauty Mask ist anders. Sie entfernt sie vollständig. Gesichtsmasken sind nicht immer einfach anzuwenden, man muss sie mindestens eine halbe Stunde einwirken lassen, damit sie ihre Wirkung entfalten. Beauty Mask wird in einem Glastiegel angeboten. Sie wird wie eine ganz normale Creme aufgetragen und zieht in Sekundenschnelle ein. Sie lassen sie beim Duschen noch drauf, dann waschen Sie sie mit warmen Wasser und einem Lappen ab, und ihr Gesicht sieht aus, als hätten Sie eine Woche auf einer Schönheitsfarm verbracht. Sie sehen, meine Begeisterung kennt keine Grenzen.«

»Aber was hat das mit Alexandra zu tun?«, fragte Janice.

Grants Ton gab deutlich zu verstehen, dass er es nicht gewohnt war, unterbrochen zu werden. »Ganz einfach. Meine Agentur wurde damit beauftragt, die Models auszusuchen und die Markteinführung von Beauty Mask zu betreuen. Wir haben Werbestrecken in Zeitschriften und TV-Werbespots vorbereitet. Der Kunde hat meinen Vorschlag angenommen, Alexandra als Model für die gesamte Kampagne zu nehmen. Allein die TV-Wiederholungsgagen sind für sie ein Vermögen wert. Aufgrund des hohen Betrags, den Fowler für die Kampagne lockermacht, sind die Beauty-Mask-Leute allerdings auch sehr anspruchsvoll. Bereits jetzt mussten wir unter hohen Kosten einige Spots nachdrehen. Die Arbeiten in Venedig, die wir eben abgeschlossen haben, waren ziemlich schwierig. Wir hatten Probleme mit dem Wetter … mit der Kamera … und Alexandra kommt auf den Aufnahmen nicht so rüber wie sonst. Bei der Landung in New York war Ihre Schwester sehr müde und angespannt. Ich war für den Abend noch zum Essen verabredet, daher musste ich sofort los, sobald ich mein Gepäck hatte. Als ich gehört habe, dass Alexandra vermisst wird, dachte ich zunächst, sie hätte sich mal wieder zurückgezogen, um sich für ein paar Tage zu erholen, vielleicht in eines der schicken Resorts an der Küste. Aber das glaube ich nicht mehr.«

»Was glauben Sie denn?«, fragte Mike.

Grant Wilson drehte nachdenklich den Briefbeschwerer auf seinem Schreibtisch hin und her. »Ich weiß es nicht. Ich weiß es einfach nicht.«

»Woher haben Sie erfahren, dass sie vermisst wird?« Mike ließ nicht locker.

»Sie hätte am Dienstagmorgen zusammen mit dem Fotografen und dem Art Director bei mir im Büro erscheinen sollen, um die Aufnahmen durchzugehen. Aber sie ist nicht aufgetaucht.«

»Soweit ich weiß, haben Sie meiner Schwester einige sehr dringende Nachrichten hinterlassen. Warum?« Janice konnte nur mit Mühe ihre Stimme unter Kontrolle halten.

»Weil dem Kunden der in Venedig gedrehte Spot nicht gefällt. Weil wir aller Wahrscheinlichkeit nach noch mal drehen müssen. In den ersten drei Werbespots sieht Alexandra einfach fantastisch aus, für den abschließenden, letzten gilt das leider nicht. Dabei sind die ersten drei bloß die Hinführung, und deswegen kann sie im letzten, dem Höhepunkt der gesamten Beauty-Mask-Kampagne, nicht müde und abgespannt aussehen. Wir müssen sofort nachdrehen. Zum Glück haben wir genügend Bildmaterial aus Venedig, um alles in New York machen zu können. Für den Start der Kampagne ist die Augustausgabe von Vogue vorgesehen, da bleibt nicht mehr viel Zeit. Und wir können niemand anderen nehmen als Alexandra, sie ist ja auf den Printanzeigen und den ersten drei Fernsehspots zu sehen. Allerdings besteht der Kunde darauf, dass er erst dann die noch ausstehenden Rechnungen bezahlt, wenn er sein Okay für den VenedigSpot gegeben hat. Im Lauf der Werbekampagne wurde in New York, Paris und Rom und schließlich in Venedig gedreht.«

»Was passiert, wenn Sie Alexandra nicht mehr rechtzeitig für den Nachdreh erreichen?«, fragte Mike.

Grant erhob sich und umfasste mit beiden Händen die Schreibtischkante. »Der Kunde droht damit, die gesamte Kampagne zu annullieren. Dann will er sein Produkt erst zu Weihnachten lancieren und mit einer neuen Agentur und einem neuen Model arbeiten … und uns keinen Cent zahlen.«

Auch Mike stand jetzt auf, fasste Janice am Ellbogen und zog sie mit sich hoch. »Ich denke, es ist an der Zeit, die Polizei einzuschalten«, sagte er.

»Das können Sie nicht tun«, kam es entschieden von Grant. »Ist Ihnen bewusst, welchen Skandal das nach sich ziehen würde? Was würden die Klatschblätter schreiben, wenn jemand wie Alexandra Saunders offiziell als vermisst gilt? Ich habe es Ihnen doch schon erklärt, es ist nicht das erste Mal, dass sie für ein paar Tage verschwindet, weil sie etwas ausspannen möchte.«

»Sollte das der Fall sein«, sagte Mike, »würde ich davon ausgehen, dass Alexandra sehr bald auftaucht. Es besteht jedenfalls kein Zweifel, dass sie Janice sehen und sich mit uns treffen wollte.«

»Das ist die letzte Hoffnung, die uns noch bleibt«, stimmte Grant zu.

»Gut, dann schlage ich – gegen jedes bessere Wissen – vor, dass wir weitere vierundzwanzig Stunden warten, bevor wir die Polizei verständigen«, sagte Mike. »Aber keine Minute länger.«

Janice streckte Grant die Hand hin. »Auf Wiedersehen, Mr. Wilson«, sagte sie und wandte sich bereits zur Tür. Sie wollte raus aus dem Büro, wollte allein sein mit Mike, damit sie in aller Ruhe nachdenken konnte.

»Meine Freunde nennen mich Grant.« Er bemühte sich zu lächeln. »Noch etwas: Ich bin fürchterlich in Alexandra verliebt und liege ihr seit geraumer Zeit in den Ohren, von mir einen Verlobungsring anzunehmen. Sie und ich sind wie füreinander geschaffen. Sie vertröstet mich immer, sie sei noch nicht bereit für die Ehe. Offen gesagt, Ihre Heirat hat sie vielleicht zum Nachdenken gebracht. Ich habe sie in London gefragt und in Venedig wieder. Aus diesem Grund habe ich mir nach ihrem Verschwinden keine allzu großen Sorgen gemacht. Ich wusste, sie wollte für sich sein … um sich über ihre Gefühle klar zu werden. Ehrlich gesagt, ich glaube, dass sie diesmal Ja sagen wird.«

»Ich kann nachvollziehen, warum Sie gezögert haben, die Behörden einzuschalten«, antwortete Mike. »Lassen wir es vorerst dabei bewenden. Wir sind in Alexandras Wohnung. Melden Sie sich, wenn Sie etwas Neues erfahren oder von ihr hören … und wir halten es natürlich ebenso.«

»Einverstanden.«

Sie wandten sich zum Gehen. Erst jetzt bemerkte Janice das große Porträt von Alexandra, das neben der Tür an der Wand hing. Alexandra trug auf dem Gemälde ein blassgrünes wallendes Gewand, und ihre langen blonden Haare reichten ihr bis zur Hüfte; sie sah bezaubernd aus. Grant betrachtete es zusammen mit ihnen. »Das Bild wurde vor ein paar Jahren aufgenommen. Larry Thompson hat die Fotos gemacht. Er ist ein großartiger Fotograf und ein begnadeter Künstler. Dieses Porträt hat er nach den Fotos angefertigt, und auf meine Bitte hin hat er mir ebenfalls eins gemalt.«

Larry Thompson, der Fotograf. Er war der Nächste auf ihrer Liste derer, die sie aufsuchen wollten. Als Regisseur war er auch zuständig für sämtliche TV-Werbeaufnahmen der Beauty-Mask-Kampagne.

Sie verabschiedeten sich von Grant Wilson, gingen durch den langen Flur und bogen nach rechts zu den Aufzügen ab. Sie wollten bereits auf den Knopf drücken, als Mike abrupt stehen blieb. »Einen Moment. Ich will nur noch schnell was fragen.«

»Was?«

»Nur eine Kleinigkeit. Bin gleich wieder da.« Er eilte zum Büro zurück, dessen Tür noch einen Spaltbreit offen stand.

Durch den Spalt sah er Grant Wilson, der immer noch vor Alexandras Porträt stand, aber nun mit beiden Händen den Bilderrahmen umfasst hielt. Plötzlich aber ballte er die Faust und schlug gegen die Wand.

Mike eilte zu Janice und den Aufzügen zurück. »Was sollte das denn?«

»Ich wollte nur nach dem letztmöglichen Termin für den Nachdreh des Venedig-Spots fragen, habe es mir dann aber anders überlegt.«

Mit einem Lächeln nahm er Janice an der Hand und überlegte, was ihn mehr beeindruckt hatte: Alexandras schönes Gesicht auf dem Porträt – ein Gesicht, das dem von Janice so ähnlich war – oder die Verzweiflung im Blick von Alexandras Möchtegern-Bräutigam, als er auf das Bild gestarrt hatte.

Als sie wieder unten vor dem Gebäude standen, erwartete Janice, dass Mike ein Taxi anhalten würde, stattdessen lotste er sie über die Straße ins Plaza Hotel. »Wir haben noch gar nichts gegessen. Und das Frühstück im Flieger war doch sehr kümmerlich«, sagte er.

Eine Stunde später standen sie vor dem kleinen Namensschild, das über der Klingel an Lawrence Thompsons Stadthaus in der 48th Street angebracht war, und betrachteten die Sandsteinfassade, das elegante Gitterwerk an den Fenstern und die kleinen Balkone mit ihren Geranien.

»Wir sind hier im Turtle-Bay-Viertel«, erzählte ihr Mike. »Einer der Jura-Dozenten an der Columbia hat hier gewohnt. Gleich im nächsten Block. Er hat das immer Pseudo-Turtle-Bay genannt. Dieses Haus hier kostet wahrscheinlich zwanzig- bis dreißigtausend Dollar.«

»Ich würde es aber nicht haben wollen«, entgegnete Janice. »Es wirkt so düster.« Zögernd drückte sie auf die Klingel. Nichts geschah. Sie sah zu Mike, der mit einem Schulterzucken am Knauf drehte und die Tür öffnete. Vor ihnen lag ein kleiner, unaufgeräumter Empfangsraum. In einer Ecke gab es einen wackligen Tisch, auf dem Model-Aufnahmen lagen. Zusammengeklappt an der Wand lehnten Campingstühle, einige wenige standen mitten im Raum und boten die einzige Sitzmöglichkeit. Ein großes Schild verkündete: EMPFANG VON MODELS NUR NACH TERMINVEREINBARUNG. BITTE NICHT KLINGELN. LASSEN SIE IHRE MAPPE HIER. WIR RUFEN ZURÜCK.

»Ich kann dir jetzt schon sagen, dass ich diesen Larry Thompson nicht mag«, raunte Janice ihm zu. Sie beugte sich über den Tisch und drückte auf den Summer. Irgendwo im Haus ertönte ein leises Klingeln und bestätigte ihnen, dass das Gerät funktionierte. Hinter den massiven Doppeltüren, die in den nächsten Raum führten, hörten sie Kindergeschrei und einen bellenden Hund.

Einige Minuten vergingen, aber niemand kam. »Nun denn, wenn einem beim ersten Mal kein Erfolg beschieden ist«, murmelte Mike, fasste an ihr vorbei und drückte energisch auf den Summer.

Schließlich öffnete sich eine der Doppeltüren, und eine zerstreut aussehende Mitvierzigerin mit einer großen Brille, die ihr etwas Eulenhaftes verlieh, steckte den Kopf durch den schmalen Spalt.

»Herrgott, haben Sie das Schild nicht gelesen?«, herrschte sie die beiden an. »Lassen Sie Ihre Bewerbungsunterlagen hier. Wir sind mitten in einem Shooting. Keiner hat Zeit, Sie zu empfangen.«

»Na, heute werden wir aber ausnahmslos freudig begrüßt«, flüsterte Janice.

Mike ging auf die Frau in der Tür zu. »Wir würden gern Larry Thompson sprechen. Wenn nötig, warten wir auch bis Mitternacht. Und es geht nicht um Models.«

Die Frau musterte die beiden Besucher mit ihren Eulenaugen, bis ihr Blick schließlich an Janice hängen blieb.

»Sie kommen mir irgendwie bekannt vor. Haben Sie schon mal für uns gearbeitet?«

»Richten Sie Mr. Thompson bitte aus, Alexandra Saunders’ Schwester möchte ihn sprechen«, sagte Mike.

Die Frau schnappte hörbar nach Luft, obwohl hinter ihr Lärm aus der halb geöffneten Tür drang. »Ich dachte … ja, aber sicher.« Sie wirkte erschüttert. »Ich bin Peggy Martin. Natürlich wird Larry Sie empfangen. Wir haben Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um Alexandra zu finden. Hören Sie, kommen Sie rein, nehmen Sie irgendwo in der Ecke Platz, wenn Sie nichts dagegen haben, bis wir mit dem Shooting fertig sind.«

Sie schwang die Tür auf. »Wir machen Werbung für Bohnerwachs. Der ganze Morgen ist damit draufgegangen, das Set mit dem Zeug einzulassen. Dann hat eines der Mädchen zu früh die Flasche Milch verschüttet, weil der Hund sie ihr aus der Hand geschlagen hat, und wir mussten noch mal von vorn anfangen. Es hat zwei Stunden gedauert, bis der Boden wieder so weit war … es hat ja alles vor Milch geklebt. Und als wir fertig waren, hat der Hund draufgepinkelt. Mein Gott, was für ein Tag.«

Sie folgten ihr. Das Studio bestand aus einem riesigen, höhlenartigen Raum. An einer Seite, vor einer Küche, waren Kameras aufgebaut. Vier kleine Jungen und drei Mädchen in Regenkleidung und Gummistiefeln tummelten sich am Rand des Sets. Zwischen ihnen tollte ein übermütiger Bernhardiner hin und her und bellte sich die Seele aus dem Leib.

Peggy scheuchte sie zu den Stühlen. »So, Kinder. Larry möchte endlich fertig werden. Also macht hin und beruhigt euch.«

Vier Frauen saßen in der Ecke neben den Kameras. Eine von ihnen erhob sich mit einem Mal und marschierte mit einem Waschlappen in der Hand auf die Kinder zu. Von hinter den Kameras ertönte ein lauter Ruf. »Was haben Sie da vor, Lady?«

Die Frau drehte sich um und reckte das Kinn vor. »Harold hat sich das Gesicht schmutzig gemacht. Ich dachte mir, ich mach ihn schnell sauber.«

Peggy stellte sich ihr in den Weg. »Mrs. Armonk, bitte. Harold soll in dieser Einstellung schmutzig aussehen. Wir wollen doch zeigen, dass Ihr mit Superb-Wachs gebohnerter Boden immer glänzt, ganz egal, wie viele verdreckte Kinder und Hunde durch Ihre Küche toben. Was natürlich völliger Quatsch ist. Vielleicht wollen Sie solange mit den anderen Müttern in der Garderobe warten … sie alle.«

Grummelnd machte die Frau kehrt und verschwand mit den anderen Müttern widerstrebend durch die schmale Tür an der Rückseite des Sets.

»Licht ist okay, Larry«, kam es fast schon resignierend von einem grauhaarigen Mann mit zerknittertem Gesicht und Augenschirm.

Die Kamera war nun auf das Set gerichtet. Der Mann dahinter trug ein Sporthemd. Er war etwa ein Meter achtzig groß, hatte dunkelbraune Haare, ein attraktives Gesicht mit einem kantigen Kinn und vermittelte einen recht energischen Eindruck.

»Okay, Kinder, jetzt ist aber Schluss mit dem Herumgealbere. Diesmal packen wir die Szene in den Kasten. Also, alle zur Tür, und wenn ich rufe, kommt ihr alle reingelaufen. Aber achtet darauf, dass der Köter auf der Seite von der Kamera ist. Harold, du hältst die Leine. Kathy, du trägst die Milchflasche, aber lass sie nicht wieder fallen.«

»Okay, Larry«, riefen die Kinder fröhlich im Chor. Dann wurde es mucksmäuschenstill, bis sich ein kleines Mädchen meldete. »Larry, kann ich vorher noch aufs Klo?«

»Mein Gott …« Der Beleuchter schluchzte fast.

Larry kam hinter seiner Kamera hervor. »Liebes, wenn du es noch fünf Minuten aushältst, habe ich ein ganz tolles Geschenk für dich, diesen Teddy nämlich, den du so gerne magst.«

»Gut, dann warte ich noch.«

Larry sah in die Kamera, nahm noch eine kleinere Korrektur vor und rief dann: »Okay, und jetzt … LOS!«

Schreiend und drängelnd stürmte die kleine Meute über das Set, der Hund zwischen ihren Beinen bellte ausgelassen. Janice und Mike sahen zu, während Larry Thompson wiederholt auf den Auslöser in seiner Hand drückte.

»Wunderbar«, rief er, »ihr seid große Klasse. Und jetzt von der anderen Seite. Schneller. Der Hund … nimm ihn nach rechts, Harold. Kathy, lass jetzt die Flasche fallen … okay … gut … das war’s. Ihr wart ganz toll. Und jetzt raus mit euch.«

Er wandte sich an seine Assistentin. »Sorge ja dafür, dass wir dieses grottenschlechte Wachs niemals kaufen, ja?«

Mike beugte sich zu Janice hin. »Da bekommt man ja glatt Lust, ein Verfahren zum Wahrheitsgehalt von Werbung in die Wege zu leiten.«

Janice lächelte verhalten, versteifte sich aber gleich wieder. Peggy war an Larry Thompson herangetreten und flüsterte ihm etwas zu.

Für Mike war es interessant zu beobachten, wie verwirrt sich viele zeigten, wenn sie erfuhren, dass Alexandra Saunders’ Schwester anwesend war. Larry Thompson richtete sich auf, sah kurz in ihre Richtung und wandte schnell den Blick wieder ab. Dann ging er zu einer weiteren Tür und verließ das Studio. Peggy Martin kam zu ihnen herüber.

»Larry wird gleich für Sie da sein. Er muss vorher noch ein Telefonat führen, eigentlich sollte er jetzt nämlich zu einem Treffen mit der Agentur.«

Die Kindermodels kamen alle wieder aus der Garderobe. Peggy Martin eilte zu ihnen, und an die Mütter gewandt, sagte sie: »Vergessen Sie nicht, die Quittungen zu unterschreiben. Das sind dann … ab wann waren Sie gebucht … acht Uhr morgens … das sind acht Stunden zu je dreißig Dollar.«

»Scotts Stundenhonorar beträgt aber vierzig Dollar«, mäkelte eine der Frauen.

»Ja«, widersprach Peggy kühl, »aber wir haben dreißig Dollar als Obergrenze vereinbart, weil wir schon gewusst haben, dass es den ganzen Tag dauern würde. Fragen Sie bei Ihrer Agentin nach, die wird Ihnen das bestätigen.«

Und dann zogen sie ab, wobei die Kinder Janice und Mike freundlich zuwinkten. »Zweihundertvierzig Dollar«, murmelte Mike. »Ich habe während des Studiums im Sommer immer auf dem Bau gearbeitet, da war ich froh, wenn ich in der Woche hundert bekommen habe … dafür, dass ich mich krumm geschuftet habe. Und die verdienen diese Summe in noch nicht mal acht Stunden.«

»Vergiss nicht, Scotts üblicher Honorarsatz liegt bei vierzig Dollar die Stunde«, erinnerte Janice ihn. »Seine Mutter dürfte sehr enttäuscht sein, dass er heute nicht dreihundertzwanzig verdient hat.«

Ungläubig schüttelte Mike den Kopf. Peggy kam zu ihnen zurück. Ohne die Kinder und den Hund war es in dem großen Raum plötzlich sehr leer und sehr still. Sie nahm die Brille ab und ließ sich auf einen der Stühle neben ihnen fallen. »Ihre Schwester gehört zu den Menschen, die ich wirklich mag.«

Janice beugte sich vor. »Sie kennen sie gut?«

»O ja. Larry arbeitet ständig mit Alexandra. Wie Sie vielleicht wissen, macht er viel für exklusive Modefirmen, mittlerweile dreht er auch TV-Werbung. Er war mit den Beauty-Mask-Leuten in Europa, Alexandra ist das Model für die große Kampagne. Sie ist unglaublich nett. Die meisten Models, die in der Branche Erfolg haben, nehmen sich selbst doch viel zu ernst, aber bei Alexandra ist das anders. Nur, wo zum Teufel steckt sie bloß? Ich muss Sie warnen. Larry ist ziemlich nervös, die Aufnahmen in Venedig müssen nämlich nachgedreht werden. Der Kunde tobt, und Grant Wilson ist völlig fertig. Wenn es um die Arbeit geht, versteht Larry keinen Spaß.«

Janice sah zu Mike. »Ich fürchte, wir werden Mr. Thompson nur die Zeit stehlen, wenn wir uns jetzt mit ihm treffen.«

Peggy wirkte beunruhigt. »Sie dürfen auf keinen Fall gehen, ohne ihn gesehen zu haben. Er würde einen Anfall bekommen. Ich frage mal nach, wie lange es noch dauert.«

Sie wollte zum Hörer greifen, aber in diesem Moment summte die Gegensprechanlage. »Das ist Larry.« Sie nahm ab. »Ja, ich schicke sie hoch.«

»Larry erwartet Sie«, sagte sie zu ihnen. »Er bewohnt die oberen beiden Stockwerke. Nehmen Sie den Aufzug. Die Stufen sind ziemlich steil.«

Der Aufzug befand sich im Foyer. Sie traten ein. Peggy fasste an ihnen vorbei und drückte für sie auf den Knopf. »Ich mach mich dann mal auf den Weg. Es war ein anstrengender Tag. Sagen Sie Larry, er kann mich zu Hause erreichen, falls noch irgendwas ansteht. Und richten Sie Alexandra meine Grüße aus, wenn Sie sie sehen.«

Larry Thompson aß gerade sein Sandwich, das ihm als spätes Mittagessen dienen musste. Das Surren des Aufzugs zeigte ihm an, dass seine Gäste auf dem Weg nach oben waren. Er saß in seinem Arbeitszimmer, das so gar nichts gemein hatte mit dem hektischen Chaos unten im Studio. Eichendielen verströmten ihren seidenen Glanz, dunkelbraune Bärenfellläufer lagen vor dem offenen Kamin. Hohe Fenster gingen zu einem Balkon hinaus, davor standen Lehnsessel im spanischen Stil. Die weißen Wände bildeten den ruhigen Hintergrund für zahlreiche Ölgemälde und Aquarelle. Die meisten hatte er selbst gemalt. Das Bild über dem Kamin zeigte Alexandra.

ENDE DER LESEPROBE

Quellennachweis

Der Tod trägt eine Maske/Death Wears a Beauty Mask

Copyright © 2015 by Nora Durkin Enterprises, Inc.

Copyright © 2016 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München

Aus dem Amerikanischen von Karl-Heinz Ebnet

Der blinde Passagier/Stowaway

Copyright © 1958 by Nora Durkin Enterprises, Inc., (ursprünglich veröffentlicht unter dem Titel Last Flight from Danubia)

Copyright © 2016 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München

Aus dem Amerikanischen von Karl-Heinz Ebnet

Wenn der Ast bricht/When the Bough Breaks

Copyright © 1960 by Nora Durkin Enterprises, Inc.

Copyright © 2016 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München

Aus dem Amerikanischen von Karl-Heinz Ebnet

Die Stimme im Keller/Voices in the Coalbin

Copyright © 1989 by Nora Durkin Enterprises, Inc.

Copyright © 1993 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München

Aus dem Englischen von Liselotte Julius, durchgesehen von Claudia Alt.

(Die Geschichte erschien bereits in der Allgemeinen Reihe in dem Band Der verlorene Engel)

Tödliche Maskerade/The Cape Cod Masquerade (ursprünglich veröffentlicht unter dem Titel Death on the Cape)

Copyright © 1994 by Nora Durkin Enterprises, Inc.

Copyright © 1993 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München

Aus dem Amerikanischen von Liselotte Julius, durchgesehen von Claudia Alt. (Die Geschichte erschien bereits in der Allgemeinen Reihe mit dem Titel Ausgetrickst in den Bänden Sechs Richtige, Fürchte dich nicht und Der verlorene Engel)

Verbrechen aus Leidenschaft/Definitely, a Crime of Passion

Copyright © 1996 by Nora Durkin Enterprises, Inc.,

Copyright © 1999 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München

Aus dem Amerikanischen von Karin Dufner, durchgesehen von Claudia Alt. (Die Geschichte erschien bereits in der Allgemeinen Reihe unter dem Titel

Der verlorene Engel)

Der Nachbar/The Man Next Door

Copyright © 1997 by Nora Durkin Enterprises, Inc.

Copyright © 2016 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München

Aus dem Amerikanischen von Karl-Heinz Ebnet

Sind wir uns nicht schon einmal begegnet?/Haven’t We Met Before?

Copyright © 2000 by Nora Durkin Enterprises, Inc.

Copyright © 2016 by Wilhelm Heyne Verlag

Aus dem Amerikanischen von Andreas Gressmann

Kürzlich ist etwas ganz Komisches passiert/The Funniest Thing Has Been Happening Lately

Copyright © 2002 by Nora Durkin Enterprises, Inc.

Copyright © 2016 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München

Aus dem Amerikanischen von Karl-Heinz Ebnet

Das verräterische Schnurren/The Tell-Tale Purr

Copyright © 2009 by Nora Durkin Enterprises, Inc.

Copyright © 2016 by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München

Aus dem Amerikanischen von Karl-Heinz Ebnet