Verborgen im Gletscher - Arnaldur Indriðason - E-Book
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Verborgen im Gletscher E-Book

Arnaldur Indriðason

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Beschreibung

In den Tiefen des Langjökull-Gletschers wird die Leiche eines seit Jahrzehnten vermissten Geschäftsmanns entdeckt. Damals wurde die Suche nach ihm eingestellt. Zwar war ein Kollege des Mannes des Mordes verdächtigt worden, aber die Beweise fehlten. Kommissar Konráð blieb jedoch stets von dessen Schuld überzeugt. Inzwischen ist Konráð pensioniert, aber der Fund des Vermissten lässt die Erinnerungen wieder wach werden. Und Konráð beschließt, den Fall noch einmal aufzurollen. Mit dramatischen Folgen ...

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Inhalt

CoverÜber das BuchÜber den AutorTitelImpressumKarte IslandKarte ReykjavíkZitatEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzigDreiundzwanzigVierundzwanzigFünfundzwanzigSechsundzwanzigSiebenundzwanzigAchtundzwanzigNeunundzwanzigDreißigEinunddreißigZweiunddreißigDreiunddreißigVierunddreißigFünfunddreißigSechsunddreißigSiebenunddreißigAchtunddreißigNeununddreißigVierzigEinundvierzigZweiundvierzigDreiundvierzigVierundvierzigFünfundvierzigSechsundvierzigSiebenundvierzigAchtundvierzigNeunundvierzigFünfzigEinundfünfzigZweiundfünfzigDreiundfünfzigVierundfünfzigFünfundfünfzigSechsundfünfzigSiebenundfünfzigAchtundfünfzigNeunundfünfzigSechzig

Über dieses Buch

In den Tiefen des Langjökull-Gletschers wird die Leiche eines seit Jahrzehnten vermissten Geschäftsmanns entdeckt. Damals wurde die Suche nach ihm eingestellt. Zwar war ein Kollege des Mannes des Mordes verdächtigt worden, aber die Beweise fehlten. Kommissar Konráð blieb jedoch stets von dessen Schuld überzeugt. Inzwischen ist Konráð pensioniert, aber der Fund des Vermissten lässt die Erinnerungen wieder wach werden. Und Konráð beschließt, den Fall noch einmal aufzurollen. Mit dramatischen Folgen …

Über den Autor

Arnaldur Indriðason, 1961 geboren, graduierte 1996 in Geschichte an der University of Iceland und war Journalist sowie Filmkritiker bei Islands größter Tageszeitung Morgunbladid. Heute lebt er als freier Autor mit seiner Familie in Reykjavík und veröffentlicht mit sensationellem Erfolg seine Romane. Arnaldur Indriðasons Vater war ebenfalls Schriftsteller. 1995 begann er mit Erlendurs erstem Fall, weil er herausfinden wollte, ob er überhaupt ein Buch schreiben könnte. Seine Krimis belegen allesamt seit Jahren die oberen Ränge der Bestsellerlisten. Seine Kriminalromane »Nordermoor« und »Todeshauch« wurden mit dem »Nordic Crime Novel’s Award« ausgezeichnet, darüber hinaus erhielt der meistverkaufte isländische Autor für »Todeshauch« 2005 den begehrten »Golden Dagger Award« sowie für »Engelsstimme« den »Martin-Beck-Award«, für den besten ausländischen Kriminalroman in Schweden. Arnaldur Indriðason ist heute der erfolgreichste Krimiautor Islands. Seine Romane werden in einer Vielzahl von Sprachen übersetzt. Mit ihm hat Island somit einen prominenten Platz auf der europäischen Krimilandkarte eingenommen.

Arnaldur Indriðason

Verborgen im Gletscher

Island Krimi

Übersetzt aus dem Isländischenvon Anika Wolff

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

  

Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen.

  

Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

  

Titel der isländischen Originalausgabe:

»Myrkrið veit«

Für die Originalausgabe:

  

Copyright © 2017 by Arnaldur Indriðason

Published by arrangement with Forlagið, www.forlagid.is

  

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Anja Lademacher, Bonn

Umschlaggestaltung: Jeannine Schmelzer

Unter Verwendung von Motiven von © steho / depositphotos und © shutterstock: Nejron Photo | Vitalii Matokha | MAGNIFIER

 

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

 

ISBN 978-3-7325-7778-1

 

www.luebbe.de

www.lesejury.de

 

Die Dunkelheit weiß allerhand

– und mein Gemüt ist schwer.

Oft sah ich, wie der schwarze Sand

die grünen Wiesen steckt in Brand.

Todestief dröhnen die Spalten vom Gletscher her.

Jóhann Sigurjónsson

Eins

Das Wetter war perfekt, und sie hatte schon eine Weile bei den anderen gesessen, sich von der Wanderung ausgeruht, im Rucksack nach dem Proviant gekramt und die Aussicht vom Gletscher bewundert, als sie den Blick über den Firn wandern ließ und auf einmal meinte, dort im Schnee ein Gesicht zu erkennen.

Es dauerte einen kurzen Moment, bis ihr wirklich klar wurde, was sie da sah. Entsetzt sprang sie auf und zerriss mit ihrem Schrei die Gletscherstille.

Die deutschen Wanderer zuckten zusammen, saßen dort und verstanden nicht, was los war, als die isländische Reiseleiterin, eine gestandene Frau, die sie bislang ausschließlich ruhig und gelassen erlebt hatten, auf einmal so schrie.

Am Vortag waren sie auf den Eyjafjallajökull gefahren. Seit dem berühmten Ausbruch vor ein paar Jahren, bei dem eine Aschewolke aus einem der Vulkane, den dieser Gletscher bedeckte, den kompletten Flugverkehr in Europa lahmgelegt hatte, war dieser Ort eine beliebte Touristenattraktion. Von der dicken Ascheschicht, die sich auf die gesamte Umgebung gelegt hatte, war inzwischen so gut wie nichts mehr zu sehen, teils war sie weggeweht, teils ausgewaschen worden. Die Berghänge hatten wieder ihre ursprüngliche Farbe angenommen, das Land hatte sich von der Katastrophe erholt.

Die Reise sollte zehn Tage dauern, und es waren Touren auf vier Gletscher geplant. Vor gut einer Woche war die Gruppe mit speziell für solche Gletschertouren ausgerüsteten Fahrzeugen von Reykjavík aufgebrochen. Übernachtet wurde in guten Hotels in Südisland. Die Gruppe war gut drauf, es waren Leute aus Wolfsburg, alle aus demselben Freundeskreis und gut situiert. Sie bekamen exquisite Mahlzeiten auf den Gletschern serviert, und abends wurde unten gefeiert. Die Wanderungen übers Eis waren auf die Gruppe zugeschnitten, und zwischendurch wurde Rast gemacht. Mit dem Wetter hatten sie richtig Glück: Tag für Tag strahlend blauer Septemberhimmel. Die Leute löcherten ihre Reiseleiterin mit Fragen zum Thema »Global Warming«, wollten wissen, welche Auswirkungen der Treibhauseffekt auf Island habe. Sie sprach fließend Deutsch, da sie vor Jahrzehnten einige Jahre Literaturwissenschaft in Heidelberg studiert hatte, und es wurde ausschließlich Deutsch gesprochen, abgesehen von den beiden englischen Wörtern global und warming.

Sie schilderte ihnen, wie sich das Wetter in den letzten Jahren verändert hatte. Die Sommer seien wärmer geworden, es würden mehr Sonnenstunden verzeichnet, worüber sich aber niemand beklage. Die isländischen Sommer seien immer sehr unbeständig gewesen, aber jetzt könne man sich eigentlich auf tage- oder sogar wochenlang gutes Wetter verlassen. Auch die Winter seien milder und es gebe weniger Schnee, was die dunkle Jahreszeit aber nicht weniger trostlos mache. Die größte sichtbare Veränderung in der Natur ließe sich an den Gletschern beobachten. Mit beängstigender Geschwindigkeit würden sie dahinschmelzen, der Snæfellsjökull beispielsweise sei nur noch ein Schatten seiner selbst.

Der letzte Gletscher auf ihrer Tour war der Langjökull, der auch schon deutlich bessere Zeiten gesehen hatte. Innerhalb kurzer Zeit war er mehrere Meter kleiner geworden. Allein zwischen 1997 und 1998 ganze drei Meter, wie sie der Gruppe berichtete, und in den letzten Jahren sei der Gletscher um dreieinhalb Prozent geschrumpft. Solche Zahlen parat zu haben, hatte sie auf der Reiseleiterschule gelernt. Sie erzählte den Deutschen, dass Gletscher elf Prozent der gesamten Fläche Islands ausmachten und das in ihnen enthaltene Wasser der Regenmenge von fünfundzwanzig Jahren entspreche.

Sie hatten in Húsafell übernachtet und sich gegen elf Uhr in Richtung Gletscher aufgemacht. Die Gruppe war sehr angenehm, die meisten waren fit und bestens ausgerüstet, mit guten Wanderschuhen und Funktionskleidung. Es hatte keine Komplikationen gegeben, niemand war krank geworden, hatte sich wegen irgendetwas beschwert oder für Unmut gesorgt, alle wollten diese Reise einfach nur genießen. Sie waren eine Weile am Gletscherrand entlanggelaufen und hatten sich erst dann an den Aufstieg gemacht. Bei jedem Schritt knirschte es unter den Sohlen, und die Schneefläche war von kleineren und größeren Bächen durchzogen. Sie ging voran, spürte im Gesicht die Kälte, die der Gletscher ausstrahlte. Es war einiges los. Sie hatten Jeeps und Motorschlitten über das Eis brettern sehen. Die Deutschen wollten wissen, ob das ein beliebter Sport bei den Isländern sei, was sie weder bestätigen noch verneinen konnte. Sie stellten überhaupt oft Fragen, auf die sie nicht gleich eine Antwort wusste, obwohl sie gut vorbereitet war. Zuletzt noch beim Frühstück: Wird auf Island eigentlich Käse hergestellt?

Den Reiseleiterkurs hatte sie gemacht, nachdem der Tourismusboom eingesetzt hatte. Damals war sie seit acht Monaten arbeitslos gewesen. Ihre Wohnung hatte sie in der Finanzkrise verloren, als sie die Raten nicht mehr zahlen konnte. Ihr damaliger Freund war nach Norwegen ausgewandert, hatte als Schreiner kein Problem, Arbeit zu finden. In dieses Scheißland, das absolute Idioten einfach in den Bankrott geführt hätten, wollte er nie wieder zurückkehren. Irgendwer sagte ihr, der Tourismus werde florieren. Die Krone sei im Keller und Island für die Touristen spottbillig. Als der vorausgesagte Boom tatsächlich einsetzte, belegte sie den Kurs und lernte, dass die Touristen Island liebten – die Landschaft, die saubere Luft und die Stille.

Über in Gletscher eingefrorene Leichen hatte sie nichts gelernt.

Die Deutschen scharten sich um sie und folgten ihrem Blick zu der Stelle, wo sich ein Menschenkopf abzeichnete, der aussah, als wollte er aus dem Eis herausbrechen.

»Was ist das?«, fragte eine der Frauen und ging näher heran.

»Ist das ein Mensch da im Eis?«, fragte eine andere, die neben sie trat.

Das Gesicht war größtenteils von einer dünnen Schneeschicht bedeckt, aber Nase, Augenhöhlen und die halbe Stirn waren deutlich zu erkennen. Mehr war vom Kopf nicht zu sehen, und auch den Körper sah man nicht.

»Was ist wohl mit ihm passiert?«, überlegte ein Dritter aus der Gruppe. Sie wusste, dass er pensionierter Arzt war.

»Ob er da schon lange liegt?«, fragte jemand.

»Sieht so aus«, sagte der Arzt und kniete sich neben das Gesicht. »Der ist nicht erst gestern hier erfroren.«

Vorsichtig wischte er mit bloßen Händen den Schnee weg, bis das ganze Gesicht frei lag.

»Du darfst aber nichts verändern«, ermahnte ihn seine Frau.

»Ist schon gut, mehr mache ich ja nicht«, antwortete der Arzt.

Er stand auf, und sie blickten in das Gesicht eines Mannes, das aussah, als hätte jemand eine hauchdünne, glänzend weiße Porzellanhaut darübergelegt, die bei der geringsten Berührung zerbrechen würde. Es war nicht auszumachen, wie lange der Mann auf dem Gletscher gelegen hatte, doch das Eis war behutsam mit ihm umgegangen, hatte ihn gut erhalten und vor Verwesung und Zerfall bewahrt. Sie schätzten den Mann auf um die dreißig. Er hatte ein eher breites Gesicht, einen großen Mund und große Zähne und tiefliegende Augen über einer hübschen Nase. Auf dem Kopf dichtes blondes Haar.

»Solltest du nicht die Polizei informieren?«, sagte die Frau des Arztes in Richtung Reiseleiterin.

»Doch, natürlich«, antwortete sie geistesabwesend. Sie konnte sich von diesem Gesicht nicht losreißen. »Natürlich. Das mache ich jetzt sofort.«

Sie nahm ihr Handy heraus, wusste, dass es auf diesem Teil des Gletschers Empfang gab, das hatte sie vorher recherchiert. Sie achtete darauf, immer Handy- oder wenigstens Funkempfang zu haben, falls etwas passieren sollte. Beim Notruf meldete sich sofort jemand, und sie schilderte, was sie gefunden hatten.

»Wir sind in der Nähe des Geitlandsjökull«, sagte sie mit Blick auf den Tafelvulkan, nach dem der Südwestteil des Gletschers benannt war.

Der Gletscher schrumpfte unaufhörlich. Bei der Vorbereitung auf die Reise hatte sie irgendwo gelesen, dass er, wenn es in dieser Geschwindigkeit weiterging, zur nächsten Jahrhundertwende so gut wie verschwunden sein würde.

Zwei

Er hatte ganz schön einen sitzen, als er raus in den Schneesturm trat. Seinen Freund hatte er schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen, wahrscheinlich hatte er die Bar schon früher verlassen und war nach Hause gegangen. Sie waren wie immer früh in der Sportbar gewesen und hatten ein spannendes Spiel gesehen, und danach hatte er sich mit ein paar Jungs unterhalten, die er nicht kannte, woraufhin Ingi schweigsam geworden war. Das wurde er oft, wenn er trank. Sagte kein Wort mehr.

Er zog den Kopf ein, schlug die Jacke fester um seinen hageren Körper und lief gegen den Sturm an. Der Schnee blieb an seiner Kleidung hängen, ihm war eiskalt, und er verfluchte sich dafür, dass er nicht den Schneeanzug angezogen hatte, den er bei der Arbeit trug. Der war dick und warm und trotzte jedem Wetter. Im Winter kostete es oft große Überwindung, den warmen Bauwagen zu verlassen und raus auf die Baustelle zu gehen. Zwei Becher Kaffee, ein Kippchen und der blaue Schneeanzug halfen da sehr. Das war kein Hexenwerk. Man musste nur wissen, wie man sich diese einfachen Dinge zunutze machte. Fußball und ein Bierchen vom Fass. Kaffee und Zigaretten. Und im Winter der Schneeanzug.

Schnell lief er den Gehweg entlang, und seine Gedanken machten ähnliche Schlangenlinien wie seine Spur im Schnee.

Er hatte diesen Mann nie vergessen können und sofort das Gefühl gehabt, ihn zu kennen, als sie an der Bar ins Gespräch kamen, doch es brauchte eine Weile, bis ihm klar wurde, um wen es sich handelte, denn es war dunkel dort drinnen und der Mann trug eine Schirmmütze und saß mit gesenktem Blick. Sie hatten kurz über das Spiel geredet, und es hatte sich gezeigt, dass sie für dieselbe Mannschaft waren. Irgendwann hielt er es nicht mehr aus und begann von der Öskjuhlíð zu sprechen, fragte den Mann geradeheraus, ob er derjenige sei, dem er dort oben auf der Anhöhe begegnet war. Ob er sich nicht an ihn erinnere.

»Nein«, sagte der Mann und blickte kurz unter seiner Mütze hervor, und sofort war er sich ganz sicher, dass es sehr wohl dieser Mann war.

»Doch, das warst du, stimmt’s?«, sagte er triumphierend. »Das warst du. Erinnerst du dich nicht mehr an mich? Ich glaub’s nicht! Hat die Polizei sich irgendwann mal bei dir gemeldet?«

Der Mann antwortete nicht, sondern verkroch sich noch tiefer unter seiner Mütze. Doch er gab nicht auf, sagte, er habe vor einigen Jahren der Polizei davon erzählt, doch die hätten ihn nicht ernst genommen. Bei denen seien Millionen solcher Hinweise eingegangen und er sei damals noch ein Junge gewesen, daher war das vielleicht …

»Lass mich in Frieden«, sagte der Mann.

»Was?«

»Ich weiß nicht, wovon du redest, lass mich in Frieden!«, schnaubte der Mann, sprang auf und stürmte aus dem Laden.

Er blieb allein an der Bar zurück und konnte es immer noch kaum fassen, dass es tatsächlich dieser Mann gewesen war, als er wankenden Schrittes die Sportbar verließ. Man sah kaum bis zur nächsten Laterne, und als er auf die Lindargata trat, nahm er sich vor, bei nächster Gelegenheit mit der Polizei zu sprechen. Kurz vor Erreichen der anderen Straßenseite bekam er plötzlich das Gefühl, in großer Gefahr zu schweben. Durch das Sturmbrausen hörte er ein Fahrzeug heranrasen, Scheinwerfer blitzten auf. Im nächsten Augenblick riss es ihn von den Beinen, sein Rumpf schmerzte höllisch, und er schlug mit dem Kopf hart auf den nackten, vom Schnee befreiten Gehweg.

Das Auto entfernte sich, und es wurde wieder still, nur der Wind heulte. Über und um ihn tosten Schnee und Kälte und krochen in seine Jacke. Er konnte sich nicht bewegen, alles tat ihm weh, am meisten der Kopf.

Er wollte um Hilfe rufen, doch er brachte kein Wort heraus.

Er wusste nicht, wie lange er dort lag. Bald spürte er nichts mehr. Ihm war nicht mehr kalt. Der Alkohol benebelte. Er dachte an den Mann in der Sportbar und an die Tanks auf der Öskjuhlíð und wie toll man dort spielen konnte und was er als Junge dort oben gesehen hatte.

Er hatte keinen Zweifel mehr. Sie waren sich schon einmal begegnet.

Das war derselbe Mann.

Ganz sicher.

Drei

Konráð öffnete die Augen, als er sein Handy klingeln hörte. Er war noch nicht eingeschlafen. Schaffte es mal wieder nicht. Tabletten. Rotwein. Ungerichtete Meditation. Nichts half gegen die Schlaflosigkeit.

Er wusste nicht gleich, wo er das Handy gelassen hatte. Manchmal lag es auf dem Nachttisch. Manchmal steckte es in irgendeiner Hosentasche. Einmal hatte er es mehrere Tage nicht finden können und schließlich im Kofferraum entdeckt. Er stand auf, ging ins Wohnzimmer und folgte dem Klingeln in die Küche, wo das Handy auf dem Tisch lag. Vor dem Fenster stockfinstere Herbstnacht.

»Entschuldige, Konráð, ich habe dich sicher geweckt«, flüsterte eine Frauenstimme ins Telefon.

»Nein.«

»Ich glaube, du solltest ins Leichenschauhaus kommen.«

»Warum flüsterst du?«

»Tu ich das?«

Die Frau räusperte sich. Sie hieß Svanhildur und war Rechtsmedizinerin an der Uniklinik.

»Hast du die Nachrichten nicht gehört?«, fragte sie.

»Nein«, sagte Konráð und war jetzt hellwach. Er hatte sich mit alten Dokumenten aus dem Nachlass seines Vaters beschäftigt, was auch ein Grund gewesen war, warum er in dieser Nacht nicht hatte schlafen können.

»Gegen acht haben sie ihn hergebracht«, sagte Svanhildur. »Sie haben ihn gefunden.«

»Ihn gefunden? Wer hat wen gefunden?«

»Deutsche Touristen. Auf dem Langjökull. Ist aus dem Eis aufgetaucht.«

»Auf dem Langjökull?«

»Es ist Sigurvin, Konráð. Sigurvin ist gefunden worden. Sie haben seine Leiche gefunden.«

»Sigurvin?«

»Ja.«

»Sigurvin! Nein, das … Was soll das heißen?«

»Nach all den Jahren, Konráð. Stell dir mal vor. Ich wollte wissen, ob du ihn sehen willst.«

»Ist das wirklich wahr?!«

»Ich weiß, das ist unglaublich, aber er ist es. Das steht außer Frage.«

Konráð war völlig überrumpelt. Svanhildurs Worte drangen wie aus weiter Ferne zu ihm, wie aus einem merkwürdigen, längst verblassten Traum. Er hatte aufgehört daran zu glauben, dass er diese Worte jemals hören würde. Das alles war einfach zu lange her. Und trotzdem hatte er diesen Anruf irgendwie jederzeit erwartet. Auf diese Nachricht aus der Vergangenheit gewartet, die nie vergangen war, sondern ihn wie ein Schatten begleitet hatte. Als es jetzt endlich so weit war, traf es ihn wie ein Donnerschlag.

»Konráð?«

»Das gibt’s doch nicht«, sagte er. »Sigurvin? Sigurvin wurde gefunden?«

Er sank auf einen Stuhl am Küchentisch.

»Ja. Sigurvin.«

»Deutsche Touristen?«

»Auf dem Langjökull. Wissenschaftler sagen, der Gletscher ist seit Sigurvins Verschwinden erheblich geschrumpft. Hörst du denn nie Nachrichten? Das ist der Treibhauseffekt. Ich dachte, du willst ihn vielleicht sehen, bevor hier morgen früh der Betrieb losgeht. Das Eis hat ihn gut erhalten.«

Konráð wusste überhaupt nichts mehr.

»Konráð?«

»Ja?«

»Du glaubst nicht, wie gut er aussieht.«

Geistesabwesend zog Konráð sich an. Bevor er zum Auto ging, warf er einen Blick auf die Uhr. Schon weit nach zwei. Er fuhr durch die leeren Straßen von Árbær. Svanhildur arbeitete seit mehr als dreißig Jahren an der Uniklinik. Sie kannten sich schon lange, und er war ihr dankbar, dass sie sich gemeldet hatte. Während der Fahrt dachte er an den Gletscher und Sigurvin und die Zeit seit seinem Verschwinden. Sie hatten Häfen, Küsten, Gräben und Schluchten, Häuser und Autos abgesucht, doch an die Gletscher hatte niemand gedacht. Er ging alle Personen durch, mit denen die Polizei seinerzeit gesprochen hatte, doch spontan konnte er sich nicht daran erinnern, dass es irgendeine Verbindung zu den Gletschern gegeben hätte.

Er bog auf die Miklabraut. Kein Auto war unterwegs. Anfang der Siebziger waren Erna und er in das kleine Reihenhaus in Árbær gezogen, doch er hatte sich dort nie wirklich wohlgefühlt. Er war eine Stadtratte, war im Schattenviertel im Zentrum von Reykjavík aufgewachsen. Erna aber war zufrieden und ihr gemeinsamer Sohn auch, er ging auf eine gute Schule im Viertel, fand Freunde und schuf sich eine Abenteuerwelt zwischen dem Hügel Ártúnsbrekka und dem Fluss Elliðaár. Konráð fand die Gegend zu vorstadtmäßig. Er sagte immer, das Viertel stünde mit nichts und niemandem in Verbindung, sei wie eine Insel im Hauptstadtgebiet, eine Siedlung der Gestrandeten. Auch der Kiosk-Kultur im Viertel konnte er nichts abgewinnen, obwohl das das Einzige war, was man überhaupt als eine Art Kultur bezeichnen konnte. Gemessen am Müll auf den Straßen wurden nirgendwo im Land mehr Lion-Riegel gegessen als in Árbær. Wenn Erna die Nase voll hatte von seinem Genörgel, ließ er grummelnd gelten, dass die schöne Flusslandschaft die triste Hauptverkehrsstraße, die um den Hügel führte, samt all den Abgasen und dem Lärm, fast wieder wettmache.

Er parkte vor dem Leichenschauhaus. Svanhildur erwartete ihn bereits an der Tür, hielt sie ihm auf und führte ihn schweigsam und mit ernstem Blick zu dem Raum, in dem die Leichen aufbewahrt wurden. Sie trug einen Kittel, eine weiße Schürze und eine Kopfbedeckung aus Netzstoff und Papier, die eher nach Bäckerei als nach Krankenhaus aussah. Während Konráðs Zeit bei der Kriminalpolizei hatten sie oft zusammengearbeitet.

»Sie haben das Eis um ihn herum mit ausgesägt und den kompletten Block hergebracht«, sagte sie und trat an einen der Obduktionstische.

Darauf lag ein großer Eisbrocken, der schnell schmolz und einen völlig unversehrten Körper freigab, als wäre der Mann gerade erst gestorben, wenn man von seiner merkwürdig fest wirkenden, glänzenden, nahezu weißen Haut absah. Die Arme lagen am Körper an, und der Kopf war leicht auf die Brust gesunken. Auf dem Boden hatte sich eine Pfütze aus Gletscherwasser gebildet, die über eine Rinne ablief.

»Wirst du ihn untersuchen?«, fragte Konráð.

»Ja«, antwortete Svanhildur. »Sobald das Eis geschmolzen und der Mann aufgetaut ist, schneide ich ihn auf. Ich gehe davon aus, dass er innerlich genauso unversehrt ist wie äußerlich. Es muss ein komisches Gefühl für dich sein, ihn mit eigenen Augen zu sehen.«

»Wurde er mit einem Hubschrauber geholt?«, fragte Konráð.

»Nein, sie haben ihn mit einem Wagen hergebracht«, sagte Svanhildur. »Die Umgebung der Fundstelle wurde auch abgesucht, das wird in den nächsten Tagen fortgesetzt. Hat sich denn niemand von der Polizei bei dir gemeldet?«

»Noch nicht. Das tun sie sicher morgen. Danke, dass du angerufen hast.«

»Das ist dein Mann«, sagte Svanhildur. »Keine Frage.«

»Ja, das ist Sigurvin. Komisch, ihn nach all den Jahren zu sehen, als wäre nichts geschehen.«

»Während wir gealtert sind«, sagte Svanhildur, »ist er irgendwie mit jedem Tag jünger geworden.«

»Verrückt«, murmelte Konráð. »Hast du eine Ahnung, wie er umgekommen ist?«

»Es könnte ein Schlag gegen den Kopf gewesen sein.« Sie zeigte auf den Kopf der Leiche, wo das Eis schon größtenteils geschmolzen war. Am Nacken war eine Verletzung zu sehen.

»Wurde er auf dem Gletscher getötet?«

»Das finden wir hoffentlich heraus.«

»Lag er genau so, flach auf dem Rücken?«

»Ja.«

»Ist das nicht merkwürdig?«

»Alles an diesem Fall ist merkwürdig«, sagte Svanhildur. »Das müsstest du doch am besten wissen.«

»Sieht nicht aus, als wäre er für eine Gletschertour gekleidet gewesen.«

»Nein. Was hast du jetzt vor?«

»Wie meinst du das?«

»Wirst du ihnen helfen, oder mischst du dich nicht ein?«

»Das kriegen die schon hin«, sagte Konráð. »Ich bin in Rente. Das solltest du eigentlich auch sein.«

»Ich langweile mich«, sagte Svanhildur. Sie war getrennt und sagte, der Gedanke, nicht mehr zu arbeiten, mache ihr Angst. »Wie geht es dir?«

»Gut. Abgesehen davon, dass ich nicht schlafen kann.«

Schweigend sahen sie dem Eis beim Schmelzen zu.

»Hast du mal von der britischen Franklin-Expedition gehört?«, fragte Svanhildur unvermittelt.

»Franklin …?«

»Die Briten haben im neunzehnten Jahrhundert viele misslungene Expeditionen gestartet, um Segelpassagen durch das Eis nördlich von Kanada zu finden. Die berühmteste war die Franklin-Expedition. Hast du noch nie davon gehört?«

»Nein.«

Svanhildur fing sofort an, die Geschichte zu erzählen: Franklin war ein britischer Admiral, der mit zwei Schiffen zu jener Expedition aufbrach. Doch die Schiffe froren im Eis fest und verschwanden mit Mann und Maus. Zuvor waren bereits drei Matrosen an Bord gestorben und auf einem Geröllfeld im Permafrost begraben worden. Vor etwa dreißig Jahren wurden die Gräber der drei Männer gefunden, und als sie geöffnet wurden, stellte sich heraus, dass die Leichen außergewöhnlich gut erhalten waren. Sodass sie Informationen über das Leben auf See im neunzehnten Jahrhundert lieferten, worüber man bis dahin noch wenig wusste. Untersuchungen der sterblichen Überreste bestätigten bestehende Theorien über ein bekanntes Phänomen auf langen Seefahrten, das auch auf der Franklin-Expedition aufgetreten war. Man wusste, dass Matrosen auf solchen Fahrten, die oft länger als zwei oder drei Jahre dauerten, zunehmend kraftlos und matt wurden und irgendwann einfach zusammenbrachen und starben, ohne dass man eine Erklärung dafür fand. Dafür gab es unzählige, gut dokumentierte Beispiele, und es wurde über die unterschiedlichsten Ursachen spekuliert. Es entstanden verschiedene Theorien, darunter auch die Vermutung, dass es sich um eine Bleivergiftung handeln könnte. Die Leichen, die dort im Eis gefunden wurden, bestätigten diese Theorie: Bei der Obduktion zeigten sie Symptome einer schweren Bleivergiftung. Der Grund hierfür war die neue Konservierungsmethode der Lebensmittelhersteller, die im neunzehnten Jahrhundert in Mode kam: Eingemachtes in Dosen.

Svanhildur blickte auf die Leiche.

»Das ist eine dieser interessanten Geschichten aus der Forensik«, sagte sie. »Die Schiffe fuhren beladen mit Konserven los, die vergiftet waren, weil das Blei aus den Deckeln ins Essen überging.«

»Warum erzählst du mir das?«

»Als sie mit Sigurvin vom Gletscher kamen, musste ich an die Franklin-Expedition denken. Er erinnert mich an die Matrosen, die man im eisigen Boden gefunden hat. Es ist, als wäre er erst gestern gestorben.«

Konráð trat näher an die Leiche heran und sah sie sich lange an, staunte darüber, wie gut das Gletschereis sie konserviert hatte.

»Vielleicht sollten wir unsere Toten auf den Gletschern beerdigen«, überlegte Svanhildur. »Die Friedhöfe nach dort oben verlegen, wenn wir den Gedanken an wurmzerfressene Leichen nicht ertragen.«

»Wenn die Gletscher nicht nach und nach verschwinden würden …«

»Leider«, seufzte Svanhildur, während ein großer Eisbrocken auf den Boden fiel und in tausend Stücke zersprang.

Durch pechschwarze Nacht fuhr Konráð nach Hause und legte sich müde ins Bett, doch der Schlaf hatte kein Erbarmen mit ihm. Er lag wach und dachte an all das Tragische dieses Falls. Sigurvin im Gletschereis war das Einzige, an das er denken konnte, sein gefrorenes Gesicht das einzige Bild, das er vor Augen hatte.

Es schauderte ihn.

Auf dem Obduktionstisch hatte es so ausgesehen, als grinste Sigurvin. Unter den Lippen, die wie brüchiges Leder wirkten, blitzten seine Zähne hervor, als lachte er Konráð ins Gesicht, um ihn daran zu erinnern, wie gründlich er damals an diesem Fall gescheitert war.

Vier

Zwei Tage später klingelte spätabends das Telefon. Unter normalen Umständen wäre Konráð erschrocken gewesen, denn seit seiner Pensionierung rief zu solchen Zeiten eigentlich niemand mehr an. Das war die größte Veränderung gewesen, seit er aufgehört hatte zu arbeiten. Abgesehen von der Stille. Doch jetzt klingelte es ständig. Diesmal war es eine Freundin und ehemalige Kollegin von der Kriminalpolizei. Er hatte schon damit gerechnet, dass sie sich melden würde.

»Er will dich sprechen«, sagte die Frau. Sie hieß Marta und leitete die Kriminalabteilung der Reykjavíker Polizei.

»Er hat nicht vor, zu gestehen, oder?«, sagte Konráð, der im Internet gelesen hatte, dass nach dem Leichenfund ein Mann verhaftet worden war. Es überraschte ihn nicht, dass es sich um Hjaltalín handelte. Der ganze Zirkus ging wieder von vorne los, aber diesmal wollte Konráð sich davon fernhalten. Die Medien hatten schon versucht, ihn zu einem Statement zu drängen, doch er wollte sich nicht zu Sigurvin äußern. Er arbeite nicht mehr bei der Polizei. Jetzt seien andere dran.

»Er sagt, er will dich sehen«, sagte Marta. »Mit uns will er nicht reden.«

»Du hast ihm aber gesagt, dass ich raus bin, oder?«

»Das weiß er. Aber er will trotzdem mit dir reden.«

»Wie steht er zu der Sache?«

»Unverändert. Er sagt, er ist unschuldig.«

»Er hatte einen geländetauglichen Jeep.«

»Ja.«

»Mit dem er auf den Gletscher hätte fahren können.«

»Ja.«

»Darf er denn Besuch empfangen? Er ist doch in Untersuchungshaft, oder?«

»Wir könnten eine Ausnahme machen«, sagte Marta. »Du würdest für dieses befristete Projekt für uns arbeiten. Als Berater.«

»Ich habe kein Interesse daran, mich da wieder reinziehen zu lassen, Marta. Jedenfalls im Moment nicht. Können wir später noch mal reden?«

»Uns bleibt nicht viel Zeit.«

»Nein, schon klar.«

»Ich hätte nie geglaubt, dass Sigurvin nach all den Jahren noch gefunden wird.«

»Dreißig Jahre sind eine lange Zeit.«

»Willst du die Leiche denn gar nicht sehen?«

»Habe ich schon«, sagte Konráð. »Es ist, als wäre er gestern gestorben.«

»Natürlich, Svanhildur hat sich bei dir gemeldet. Willst du Hjaltalín sehen?«

»Ich bin raus.«

»Ja, darauf musst du nicht so herumreiten.«

»Wir hören uns«, sagte Konráð und verabschiedete sich.

Sigurvin und der Besuch bei Svanhildur im Leichenschauhaus gingen ihm nicht aus dem Kopf, doch den ehemaligen Kollegen gegenüber wollte er möglichst wenig Interesse signalisieren. Er sei raus, sagte er allen, die sich bei ihm meldeten, und habe nicht vor, wieder einzusteigen – was auch passiere. Gut dreißig Jahre waren seit Beginn der Suche nach Sigurvin vergangen. Zahllose Menschen waren verhört worden. Aber niemand verurteilt. Die Ermittlungen hatten sich schnell auf einen Mann konzentriert, besagten Hjaltalín, doch man hatte ihm nichts nachweisen können. Hjaltalín stritt eisern ab, Sigurvin etwas angetan zu haben, und wurde schließlich freigelassen. Die Leiche wurde nie gefunden. Sigurvin blieb spurlos verschwunden.

Und jetzt lag er dort im Leichenschauhaus, als wäre nichts gewesen. Svanhildur hatte nicht übertrieben, als sie sagte, der Körper sei gut erhalten. Sigurvin trug noch dieselben Sachen, die er angehabt hatte, als ihn sein Schicksal ereilte, Turnschuhe, Jeans, Hemd und Jacke. Die Todesursache schien ein schwerer Schlag mit einem gewölbten Gegenstand an den Hinterkopf gewesen zu sein. Die Wunde war aufgeplatzt. Am Hinterkopf und der Kleidung hatte man Blut gefunden.

Konráð dachte an die Jahre, die seit dem Verschwinden des Mannes vergangen waren. Er hatte sich oft vorgestellt, wie er sich fühlen würde, wenn Sigurvin wiederauftauchte. Er hatte schon vor Langem aufgehört zu suchen, aber er hatte diesen Fall nie gänzlich aus dem Kopf bekommen. Immer war da dieser Gedanke im Hinterkopf, dass eines Tages das Telefon klingeln könnte und ihm diese Nachricht überbracht werden würde. Unvorstellbar, dass dies nun tatsächlich geschehen war. Jahrzehntelang hatte niemand etwas über Sigurvins Schicksal sagen können, und auf einmal schien alles klar. Sein Tod war nie aufgeklärt worden – es war noch nicht einmal bewiesen, ob er überhaupt tot war. Und jetzt wusste man, wie und wann er gestorben war. Es war unklar gewesen, wie er gekleidet gewesen war, jetzt wusste man es. Die Leiche würde den Ermittlern weitere Informationen liefern. Sie konnten sich ein Bild von der Mordwaffe machen. Die Puzzleteile, die immer gefehlt hatten, verbanden sich endlich zu einem großen Ganzen.

Konráð saß bei einem Glas Rotwein in der Küche und steckte sich ein Zigarillo an. Er war kein großer Raucher, rauchte nur manchmal, wenn er das Bedürfnis hatte. Wieder klingelte das Telefon. Diesmal war es seine Schwester Elísabet, die wissen wollte, wie es ihm ging.

»Ganz gut«, sagte er und zog am Zigarillo. »Das Telefon klingelt ununterbrochen.«

»Jetzt flammt diese verfluchte alte Sache wieder auf …«, sagte Elísabet, die aber alle immer nur Beta nannten. Auch sie hatte die Nachrichten verfolgt.

»Hjaltalín versucht, mich da wieder reinzuziehen«, sagte Konráð. »Sie haben ihn für ein paar Tage in U-Haft genommen, und er will mich sehen. Sie haben ihm gesagt, dass ich aufgehört habe, aber das interessiert ihn nicht.«

»Kann man denn bei so einem Fall jemals wirklich aufhören?«

»Darüber habe ich auch nachgedacht.«

»Willst du denn nicht wissen, was er zu sagen hat?«

»Ich weiß genau, was er zu sagen hat, Beta. Er ist unschuldig. Dass die Leiche gefunden wurde, ändert nichts. Wir konnten ihm vor dreißig Jahren nichts nachweisen, und das werden wir auch jetzt nicht, weil er unschuldig ist. Das wird er sagen. Keine Ahnung, warum ich mir diese Leier noch mal anhören soll.«

Beta sagte nichts. Die beiden verband keine enge Geschwisterbeziehung. Nach der Trennung der Eltern war jeder für sich aufgewachsen, das versuchten sie seitdem irgendwie wiedergutzumachen, jeder auf seine Art. Was mal mehr, mal weniger gut gelang.

»Du warst damals nicht hundertprozentig überzeugt, dass er der Täter ist«, sagte sie schließlich.

»Nein, im Gegensatz zu allen anderen. Aber er war immer der Hauptverdächtige.«

Auch Beta wusste, dass Hjaltalín 1985 der Einzige gewesen war, der als Verdächtiger einige Zeit in U-Haft gesessen, aber nie gestanden hatte. Der Polizei war es nicht gelungen, seine Beteiligung an Sigurvins Verschwinden zu beweisen. Er war der Letzte, mit dem er gesehen worden war, und man wusste, dass die beiden in den Tagen vor Sigurvins Verschwinden heftig gestritten hatten und Hjaltalín ihn bedroht hatte.

»Haben sie dich um Hilfe gebeten?«, fragte Beta.

»Nein.«

»Aber sie wollen, dass du Hjaltalín triffst?«

»Sie glauben, dass er mir vielleicht etwas sagt, was er ihnen nicht sagen will. Er redet nicht mit ihnen.«

»Dreißig Jahre sind eine lange Zeit.«

»Er hat Sigurvin gut versteckt. Ist davongekommen, weil wir die Leiche nicht finden konnten. Die Frage ist, ob ihm das ein weiteres Mal gelingt.«

»Ihr hattet nichts gegen ihn in der Hand.«

»Wir hatten einiges in der Hand. Das reichte nur nicht. Der Staatsanwalt hat sich damit nicht vor den Richter getraut.«

»Lass dich nicht wieder in diesen Fall reinziehen. Du bist raus.«

»Ja, ich bin raus.«

»Wir hören wieder voneinander.«

»Ja, bis bald.«

Die Medien waren voll von Berichten zum Leichenfund. Svanhildur hatte Konráð alles haarklein geschildert. Vier Leute von der Spurensicherung der Kriminalpolizei befanden sich seit dem Leichenfund auf dem Gletscher. Die Polizei von Borgarnes war nach dem Anruf der deutschen Reisegruppe als Erste vor Ort gewesen. Die schlecht ausgerüsteten Polizeibeamten waren auf den Gletscher gekraxelt und hatten den Rettungsdienst in Borgarnes informiert. Bald witterten die ersten Journalisten, dass dort oben etwas passiert sein musste. Die Polizei bestätigte, dass die Leiche eines circa dreißigjährigen Mannes auf dem Gletscher gefunden worden sei und vermutlich schon lange dort gelegen habe. Niemand durfte etwas verändern, keiner in die Nähe der Leiche, Schaulustige sollten ferngehalten werden. Die Spurensicherung in Reykjavík wurde informiert. Zu diesem Zeitpunkt war die Rettungsmannschaft in speziell ausgerüsteten Jeeps bis zum Gletscherrand vorgedrungen. Sie brachten die deutschen Wanderer und ihre Reiseleiterin, eine Frau um die sechzig namens Aðalheiður, die die Leiche entdeckt hatte, runter nach Húsafell, von wo aus die Gruppe am Abend nach Reykjavík aufbrach. Bis dahin hatte die Polizei die Frau vernommen und mit ihrer Hilfe auch die Deutschen. Ein betagter Teilnehmer, offenbar ein Arzt, sagte, er habe Schnee und Eis aus dem Gesicht der Leiche gewischt, ansonsten sei aber nichts verändert worden.

Man beschloss, die Leiche so wenig wie möglich zu bewegen, und so wurde ein fast zweihundert Kilo schwerer Brocken aus dem Eis geschnitten und auf einen Pick-up des Rettungsdienstes geladen. Ein Mitglied der Spurensicherung begleitete den Eisbrocken nach Reykjavík und sicherte alles, was im Tauwasser zum Vorschein kam. Spät am Abend fuhr der Großteil der Polizisten und Rettungskräfte nach Húsafell und übernachtete dort, während einige Leute auf dem Gletscher blieben und aufpassten, dass niemand sich dem Fundort näherte.

Einer der führenden Glaziologen Islands sagte in einem Radiointerview, die Eisdecke sei seit 1985, als Sigurvin vermutlich auf den Gletscher gebracht worden war, um mehr als sieben Kubikkilometer geschmolzen. Aktuell sei sie circa 600 Meter dick. Man gehe davon aus, dass der Gletscher im kommenden Vierteljahrhundert um fast zwanzig Prozent schrumpfen werde. Das sei auf die veränderte Wetterlage im Land zurückzuführen: weniger Regen, mehr Sonne.

»Und da bezweifeln immer noch viele, dass der Treibhauseffekt menschengemacht ist«, hörte Konráð den Glaziologen im Morgenradio sagen.

»Wurde die Leiche einfach auf dem Gletscher abgelegt oder irgendwie tiefer ins Eis eingebracht?«

»Schwer zu sagen. Möglicherweise wurde er in eine Gletscherspalte geworfen. Er verschwand im Februar. Zu dieser Jahreszeit ist es nicht einfach, ein Loch ins Eis zu graben. Es ist davon auszugehen, dass er binnen kurzer Zeit von Schnee bedeckt war. Oder es hat sich ein Riss gebildet, und er ist darin verschwunden, im Gletscher versunken und jetzt wiederaufgetaucht.«

»Weil das Eis über ihm geschmolzen ist?«

»Das muss natürlich noch untersucht werden, aber das scheint mir plausibel. Das ist die einfachste Erklärung dafür, dass er jetzt gefunden wurde. Die Gletscher schmelzen rasant. Das ist bekannt.«

Schon wieder zerriss Konráðs klingelndes Handy die Stille in Árbær. Es war Svanhildur, die wissen wollte, was er nun vorhabe. Sie habe gehört, dass Hjaltalín ihn sehen wolle.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Konráð. »Vielleicht sollte ich wirklich mit ihm sprechen. Mir anhören, was er zu sagen hat.«

»Du musst doch sterben vor Neugier. Es geht um Sigurvin! Das muss dich doch interessieren.«

»Hjaltalín war noch keine dreißig, als wir ihn verhaftet haben«, sagte Konráð.

»Ich erinnere mich noch gut daran.«

»Jetzt wird er bald sechzig. Ich habe ihn zig Jahre nicht gesehen.«

»Glaubst du, er hat sich sehr verändert?«

»Ich glaube, er ist immer noch derselbe Idiot wie damals.«

»Ihr wart nicht gerade dicke Freunde.«

»Nein«, sagte Konráð. »Er dachte, wir wären das. Ich weiß nicht, worüber er mit mir reden will. Ich glaube ihm kein Wort. Er hätte nicht in U-Haft gemusst, aber sie glaubten, er wollte abhauen. Er war dabei, das Land zu verlassen, als sie ihn verhaftet haben. Einen Tag nachdem Sigurvin identifiziert war. Er behauptet, das sei reiner Zufall.«

»Schläfst du inzwischen wieder besser?«

»Nicht wirklich.«

»Du weißt, dass du mich jederzeit anrufen kannst, wenn dich irgendetwas plagt«, sagte Svanhildur. »Wenn du reden willst.«

»Nein, alles gut«, antwortete Konráð knapp.

»Okay«, sagte Svanhildur und wollte sich verabschieden, doch irgendetwas lag ihr noch auf dem Herzen. »Du meldest dich gar nicht mehr«, sagte sie schließlich.

»Nein, ich …«

Konráð wusste nicht, was er sagen sollte.

»Ruf einfach an, wenn …«

Er ging nicht darauf ein, und sie verabschiedeten sich. Konráð trank vom Rotwein und steckte sich ein weiteres Zigarillo an. Erna und er hatten manchmal davon gesprochen, sich zu verkleinern und aus Árbær wegzuziehen. Nicht in ein Altenheim, sondern in eine gemütliche kleine Wohnung auf einer Etage, irgendwo in Zentrumsnähe. Nicht in Þingholt, da seien zu viele junge, aufgedrehte Leute, fand Erna. Eher in Vesturbær. Aber es war nichts daraus geworden. Über den Fall Sigurvin hatten sie hier in dieser Küche viel geredet, und wie immer hatte sie ihn durch dick und dünn begleitet.

Auf dem Wohnzimmertisch lagen noch die Dokumente seines Vaters, die er durchgesehen hatte, als ihn Svanhildurs Anruf mit der Neuigkeit von Sigurvin erreichte. Diese Unterlagen, die er in einem Pappkarton in der Abstellkammer aufbewahrte, hatte er sich jahrzehntelang nicht angesehen. Doch nachdem er auf einen alten Fall aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs gestoßen war, der sich um fingierte spiritistische Sitzungen und Personen drehte, die sich als Medien ausgegeben hatten, war sein vor langer Zeit begrabenes Interesse am Schicksal seines Vaters wieder erwacht, der eines Abends im Jahr 1963 erstochen vor dem südisländischen Schlachtverband in der Skúlagata gefunden worden war. Trotz eingehender Ermittlungen wurde dieser Mord nie aufgeklärt. Konráð hatte dieses Thema all die Jahre, in denen er bei der Kriminalpolizei gearbeitet hatte, von sich ferngehalten. Sein Vater war ein unangenehmer, hasserfüllter Mensch gewesen, der überall Feinde hatte und immer wieder für Schmuggel, Diebstahl und Betrug eingesessen hatte. Während der Kriegsjahre waren mindestens eine, wenn nicht sogar mehrere Personen als betrügerische Medien in seinem Auftrag aktiv gewesen. Irgendwann floh Konráðs Mutter vor ihrem Mann und nahm die Tochter mit, doch den Sohn gab er nicht her, der musste bei seinem Vater im Schattenviertel bleiben.

Konráð blätterte die vergilbten Papiere durch. Sein Vater hatte einige Zeitungsartikel ausgeschnitten und aufgehoben, die sich mit der Arbeit von Medien und mit dem Jenseits beschäftigten, unter anderem einen Artikel über Betrüger in diesem Metier und ein Interview in einem längst eingestellten Wochenblatt, in dem ein isländisches Medium seine Arbeit beschrieb. Ein Ausschnitt war ein Artikel der Parapsychologischen Vereinigung, der sich mit dem Leben im Jenseits und der sogenannten Ätherwelt befasste. Die Artikel stammten aus den letzten beiden Jahren vor seinem Tod, und Konráð überlegte, ob sein Vater seiner alten Beschäftigung wieder nachgegangen war und Leuten mit vorgegaukelten Séancen Geld abgeknöpft hatte, als ihn sein böses Schicksal ereilte.

Fünf

Konráð war seinerzeit kein Befürworter der Verlegung der Untersuchungshaftanstalt von Reykjavík ins Gefängnis Litla-Hraun gewesen. War genervt von der Fahrt über die Hochebene Hellisheiði, dann runter nach Süden, über die Óseyrar-Brücke weiter gen Osten nach Eyrarbakki. Andere empfanden die Fahrt als willkommene Abwechslung, genossen die Auszeit vom Stadtlärm und dem Betrieb im Dezernat. In einem Winter hatte Konráð es fertiggebracht, gleich zweimal im Schnee steckenzubleiben. Aber hin und wieder hatte auch er die Fahrt ein wenig genießen können, war den etwas längeren Weg über Hveragerði und Selfoss gefahren und hatte sich unterwegs ein Eis gekauft. Bis zu ihrer Auslagerung hatte sich die Untersuchungshaftanstalt in der Síðumúli-Straße befunden, keine drei Kilometer vom Reykjavíker Hauptdezernat entfernt. Dort hatte Hjaltalín seinerzeit gesessen. Jetzt waren andere Zeiten, dachte Konráð auf dem Suðurlandsvegur, als er an der kleinen Raststätte Litla Kaffistofan vorbeifuhr und rechter Hand der Vífilfell aufragte.

Er hatte sich dazu durchgerungen, Hjaltalín in der Untersuchungshaft aufzusuchen. Nicht weil Hjaltalín das einforderte und sich weigerte, mit jemand anderem zu reden, sondern weil er damals so unglaublich viel Zeit in diesen Fall gesteckt und nie aufgehört hatte, nach Antworten zu suchen. Unermüdlich hatten er und einige Kollegen von der Kripo an diesem Fall gearbeitet.

Normalerweise wurden Kapitalverbrechen binnen weniger Tage aufgeklärt. Doch in diesem Fall hatten sie ziellos in alle Richtungen ermittelt und zig Leute verhört – die Leiche blieb verschwunden. Jetzt fing der ganze Zirkus von vorne an.

Konráð hatte immer noch nicht vor, wieder in die Ermittlungen einzusteigen. Irgendwann hatte Hjaltalín damals für sich beschlossen, dass Konráð vertrauenswürdiger war als andere Mitarbeiter der Polizei, und irgendwie hatte es sich so ergeben, dass Konráð am meisten mit ihm zu tun gehabt hatte. Er war sich sicher, dass Hjaltalín auch jetzt nur aus diesem Grund speziell mit ihm sprechen wollte. Und sowohl die Polizei als auch Konráð ließen ihm das durchgehen. Aber darüber hinaus wollte Konráð sich nicht einbringen. Er hatte sich an die Vorzüge des Ruhestands gewöhnt, die freie Zeit, über sich selbst zu bestimmen und sich nirgendwo mehr engagieren zu müssen, keine Verantwortung mehr zu tragen. Er hatte seinen Beitrag geleistet. Jetzt waren andere an der Reihe. Wenn sein Gespräch mit Hjaltalín der Polizei weiterhalf, war das gut. Aber Konráð würde sich nicht intensiver in die Ermittlungen einmischen.

Auch sein Sohn hatte angerufen, als er vom Fund der Leiche erfahren hatte. Er kannte diesen Fall gut, an dem sich sein Vater damals die Zähne ausgebissen hatte, und wollte wissen, was Konráð nun dachte, jetzt, wo die Leiche endlich aufgetaucht war. Konráð hatte geantwortet, dass er sich über die neuen Informationen freue und dabei vor allem an Sigurvins Familie denke, die so lange in Ungewissheit gelebt habe.

Schon seit einiger Zeit hatte Konráð Schwierigkeiten mit dem Schlafen. Dass ihm nun all die Gedanken um Hjaltalín und Sigurvin durch den Kopf schwirrten, um die Ermittlungen und die Frage, ob man irgendetwas hätte besser machen können, ließ ihn noch weniger zur Ruhe kommen. Nicht zum ersten Mal raubten ihm diese Gedanken den Schlaf. In den gut dreißig Jahren hatte sich viel verändert. Damals herrschte noch ein strenges Bierverbot auf der Insel. Es gab die Staatliche Rundfunkanstalt, und die betrieb genau einen Fernsehsender. Es gab deutlich weniger Aluminiumwerke. Das größte Wasserkraftwerk Europas, das Kárahnjúka-Kraftwerk, existierte noch nicht mal in der Vorstellung. Im Winter schneite es in Reykjavík. Es gab kein Internet und keine Handys. So gut wie keine privaten Computer. Die Privatisierung der Banken, das Finanzchaos, die Verdummung unter den großkotzigen Autoritäten und Wirtschaftsbossen und der Wirtschaftscrash warteten aufs nächste Jahrhundert. Das Jahr 2000 lag in weiter Ferne, existierte nur in Science-Fiction-Romanen.

Eines frostigen Februartags ging ein Anruf bei der Polizei in der Hverfisgata ein. Es dämmerte bereits, ein kalter Wind fegte durch die Straßen. Die Anruferin meldete einen Dreißigjährigen als vermisst, ihren Bruder Sigurvin. Vor zwei Tagen hatte sie zuletzt mit ihm gesprochen. Sie hatten sich verabredet, doch er war nicht gekommen. Sie hatte vergeblich versucht, ihn zu Hause zu erreichen. Er hatte ein Unternehmen, dort hieß es, er habe die letzten beiden Tage nicht gearbeitet. Sie war zu ihm nach Hause gefahren, hatte an Türen und Fenster gepocht und schließlich einen Schlüsseldienst gerufen, befürchtete, Sigurvin wäre krank und könnte nicht ans Telefon gehen oder hätte den Hörer danebengelegt. Sie suchte das ganze Haus ab und rief nach ihm, doch er war nicht da. Dass er ins Ausland gewollt hatte, war ihr nicht bekannt. Normalerweise gab er ihr Bescheid, wenn er das Land verließ. Seinen Pass fand sie in einer Schublade des Wohnzimmerschranks. Er war seit einiger Zeit getrennt und lebte allein, die Tochter wohnte bei ihrer Mutter.

Die Polizei ging davon aus, dass er bald wieder auftauchte, zumal er noch nicht lange vermisst war. Trotzdem nahmen sie eine Beschreibung des Mannes auf, baten seine Schwester um ein Foto und schickten die Meldung an die Medien und alle Polizeistationen im Land. Per Flugzeug konnte er nicht ausgereist sein, es sei denn, er hatte das unter falschem Namen getan oder die Passkontrolle irgendwie umgangen. Was seine Schwester jedoch für abwegig hielt. Wozu sollte er über gefälschte Papiere verfügen?

Wenig später wurden die Rettungskräfte mobilisiert und eine Suchaktion eingeleitet. Die Küsten von Reykjavík und Umgebung wurden abgesucht. Das Interesse der Medien war geweckt, und sie berichteten ausführlich über den Vermissten. Die Bevölkerung wurde aufgefordert, sich zu melden, falls jemand etwas über den Verbleib des Mannes wissen sollte, wie unbedeutend es auch erscheinen mochte. Kurz darauf wurde Sigurvins Jeep bei den Tanks auf der Öskjuhlíð gefunden. Bei der angegebenen Telefonnummer der Reykjavíker Polizei gingen zahlreiche mehr oder weniger hilfreiche Hinweise ein, denen – sofern möglich – nachgegangen wurde. Ein anonymer Anruf kam von einer Frau, die ohne Punkt und Komma redete und einfach den Hörer aufknallte, als sie fertig war. Sie sagte, Sigurvins ehemaliger Geschäftspartner habe ihm auf dem Parkplatz vor seinem Unternehmen gedroht, ihn umzubringen.