Vergessene Stimmen - Michael Connelly - E-Book

Vergessene Stimmen E-Book

Michael Connelly

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Beschreibung

Jahrzehntelang blieb der Mord an Rebecca Lost ungeklärt. Bis Harry Bosch nach einer dreijährigen Auszeit zum LAPD zurückkehrt. In die Abteilung für Cold Cases versetzt, wird Bosch und seiner Partnerin Kiz Rider als Erstes der Fall aus dem Jahr 1988 vorgelegt. Seither hat die Kriminalistik entscheidende Fortschritte gemacht: Die Spuren auf der Tatwaffe werden erneut untersucht, und ein DNA-Abgleich führt die beiden Ermittler zu Roland Mackey, einem vorbestraften Kleinkriminellen. Hat er die erst sechzehnjährige Becky keine 500 Meter von ihrem Elternhaus entfernt erschossen? Liegt der Tat ein rassistisches Motiv zugrunde? Harry Bosch zweifelt an Mackeys Schuld. Je weiter seine Ermittlungen voranschreiten, desto größer wird der Widerstand in den eigenen Reihen. Und bald schon kommen menschliche Abgründe ans Licht, die Bosch bis ins Mark erschüttern.

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Michael Connelly

Vergessene Stimmen

Der elfte Fall für Harry Bosch

Aus dem amerikanischen Englisch von Sepp Leeb

Kampa

Für die Detectives,

die in den Abgrund blicken müssen

Erster TeilDie blaue Religion

1

In Praxis und Dienstordnung des Los Angeles Police Department ist ein Zwei-Sechser der Anruf, der die prompteste Reaktion nach sich zieht und zugleich die meiste Angst unter der kugelsicheren Weste weckt. Es ist ein Anruf, von dem häufig eine Karriere abhängt. Die Bezeichnung ist eine Kombination aus einem Code-2-Funkspruch, was »schnellstmöglich reagieren« bedeutet, und dem sechsten Stock des Parker Center, von dem aus der Polizeichef das Police Department leitet. Ein Zwei-Sechser ist also ein dringender Anruf aus dem Büro des Polizeichefs, und jeder Polizist, dem sein Platz bei der Polizei lieb ist, wird ihm umgehend nachkommen.

Detective Harry Bosch war während seiner ersten Dienstzeit über fünfundzwanzig Jahre beim LAPD gewesen, ohne einen solchen Anruf des Polizeichefs erhalten zu haben. Abgesehen von der Abschlussfeier an der Polizeiakademie, bei der er 1972 seine Dienstmarke überreicht bekam, hatte er auch keinem Polizeichef mehr die Hand geschüttelt oder mit einem gesprochen. Er hatte mehrere von ihnen überdauert – und sie natürlich bei Polizeiveranstaltungen und -begräbnissen gesehen –, aber er hatte in dieser ganzen Zeit mit keinem mehr persönlich zu tun gehabt. Er erhielt seinen ersten Zwei-Sechser an dem Morgen, an dem er nach dreijähriger Pensionierung in den Polizeidienst zurückkehren sollte und sich gerade vor dem Badezimmerspiegel die Krawatte band. Es war ein Adjutant des Polizeichefs, der Bosch auf seinem privaten Mobiltelefon anrief. Bosch fragte erst gar nicht, woher er die Nummer hatte. Es verstand sich von selbst, dass das Büro des Polizeichefs die entsprechende Macht hatte, derlei Erkundigungen einzuziehen. Bosch sagte, er werde spätestens in einer Stunde da sein, worauf der Adjutant erwiderte, er werde früher erwartet. Bosch band sich die Krawatte im Auto zu Ende, als er auf dem Freeway 101, so schnell es der Verkehr zuließ, in die Stadt fuhr.

Von dem Moment an, in dem er das Gespräch mit dem Adjutanten beendet hatte, brauchte Bosch genau vierundzwanzig Minuten, bis er durch die Flügeltür der Chefsuite im sechsten Stock des Parker Center marschierte. Das war Rekordzeit, selbst wenn er in der Los Angeles Street vor dem Polizeipräsidium verkehrswidrig geparkt hatte. Wenn sie seine private Handynummer wussten, wussten sie sicher auch, was für eine Glanzleistung es war, es unter einer halben Stunde aus den Hollywood Hills ins Büro des Polizeichefs zu schaffen.

Doch der Adjutant, ein Lieutenant namens Hohman, starrte ihn mit desinteressiertem Blick an und deutete auf eine Couch mit Plastikbezug, auf der bereits zwei andere Männer warteten.

»Sie sind spät dran«, sagte er. »Nehmen Sie Platz.«

Um die Sache möglicherweise nicht noch schlimmer zu machen, beschloss Bosch, nicht zu protestieren. Er ging zu der Couch und setzte sich zwischen die zwei Männer in Uniform, die die Armlehnen in Beschlag genommen hatten. Sie saßen kerzengerade da und unterhielten sich nicht. Er nahm an, dass sie ebenfalls einen Zwei-Sechser erhalten hatten.

Zehn Minuten vergingen. Die Männer neben Bosch wurden vor ihm aufgerufen und beide jeweils in exakt fünf Minuten vom Polizeichef abgefertigt. Als der zweite Mann im Büro des Chief war, bildete Bosch sich ein, laute Stimmen aus dem Allerheiligsten zu hören, und als der Mann herauskam, war er kreidebleich. Offensichtlich hatte er in den Augen des Chief in irgendeiner Form Scheiße gebaut, und soviel während seiner Pensionierung zu Bosch durchgedrungen war, nahm es der neue Polizeichef nicht auf die leichte Schulter, wenn jemand Scheiße baute. Bosch hatte in der Times eine Meldung gelesen, dass ein hochrangiger Polizeiangehöriger degradiert worden war, weil er den Chief nicht darüber in Kenntnis gesetzt hatte, dass der Sohn eines Stadtrats, der gern gegen die Polizei Stellung bezog, nach einer Sauftour am Steuer erwischt worden war. Der Polizeichef erfuhr erst davon, als besagter Stadtrat bei ihm anrief, um sich über polizeiliche Schikanen zu beschweren, als ob das LAPD seinen Sohn gezwungen hätte, in der Bar Marmount sechs Wodka Martini zu trinken und auf der Heimfahrt am Mulholland Drive einen Baumstamm zu rammen.

Endlich legte Hohman den Telefonhörer auf und deutete mit dem Finger auf Bosch. Bosch war bereits aufgestanden. Er wurde rasch in ein Eckbüro geführt, von dem man auf die Union Station und die dazugehörigen Gleisanlagen hinabblickte. Die Aussicht war ganz passabel, aber nicht spektakulär, was aber keine Rolle spielte, weil das Gebäude bald abgerissen würde. Die Polizei würde in provisorische Räumlichkeiten umziehen, während an derselben Stelle ein neues, modernes Polizeipräsidium errichtet wurde. Das gegenwärtige Präsidium hieß bei den einfachen Polizisten »das Glashaus«, weil es dort angeblich keine Geheimnisse gab. Bosch fragte sich, unter welchem Namen das neue Gebäude wohl bekannt würde.

Der Polizeichef saß an einem großen Schreibtisch und unterzeichnete Papiere. Ohne von seiner Tätigkeit aufzublicken, forderte er Bosch auf, vor dem Schreibtisch Platz zu nehmen.

Nach dreißig Sekunden hatte der Chief das letzte Dokument unterschrieben und schaute auf. Er lächelte.

»Ich wollte Sie kennenlernen und wieder im Department begrüßen.«

Er sprach wie jemand aus dem Osten des Landes. Di-pahtment. Das störte Bosch nicht weiter. In L.A. war jeder von woanders. Zumindest schien es so. Das war sowohl die Stärke als auch die Schwäche dieser Stadt.

»Es ist schön, wieder dabei zu sein«, sagte Bosch.

»Sie wissen, dass Sie auf mein Betreiben hin wieder hier sind.«

Das war keine Frage.

»Ja, Sir, das weiß ich.«

»Wie Sie sich sicher denken können, habe ich umfangreiche Erkundigungen über Sie eingezogen, bevor ich Ihre Rückkehr in den Polizeidienst genehmigt habe. Ich hatte zwar wegen Ihres – nennen wir es mal Stils – gewisse Bedenken, aber letzten Endes überwog doch Ihr Talent. Auch Ihrer Partnerin Kizmin Rider dürfen Sie für ihre Fürsprache danken. Sie ist eine gute Polizistin, und ich habe Vertrauen zu ihr. Sie hat Vertrauen zu Ihnen.«

»Ich habe mich bereits bei ihr bedankt, aber ich werde es noch einmal tun.«

»Ich weiß, es ist nicht einmal drei Jahre her, dass Sie den Dienst quittiert haben, aber lassen Sie mich Ihnen versichern, Detective Bosch, die Polizei, in die Sie heute wieder eintreten, ist nicht mehr die Polizei, aus der Sie ausgeschieden sind.«

»Dessen bin ich mir bewusst.«

»Hoffentlich. Wissen Sie über den Konsenserlass Bescheid?« Unmittelbar nachdem Bosch aus dem Department ausgeschieden war, war der damalige Chief gezwungen worden, einer Reihe von Reformen zuzustimmen, um nach einem FBI-Ermittlungsverfahren wegen massiver Korruption, Brutalität und Menschenrechtsverletzungen eine Übernahme durch die Bundespolizei abzuwenden. Der gegenwärtige Polizeichef musste sich an diesen Erlass halten, wenn er nicht riskieren wollte, künftig seine Weisungen vom FBI zu erhalten. Und das wollte niemand, angefangen beim Chief bis hinab zum einfachen Streifenpolizisten.

»Ja«, sagte Bosch. »Ich habe davon gelesen.«

»Gut. Es freut mich, dass Sie sich auf dem Laufenden halten. Und noch mehr freut es mich, Ihnen mitteilen zu können, dass wir entgegen allem, was Sie vielleicht in der Times gelesen haben, große Fortschritte machen und diesen Schwung nicht verlieren wollen. Wir wollen die Polizei auch in technischer Hinsicht auf den neuesten Stand bringen. Wir sind sehr um eine größere Volksnähe der Polizei bemüht. Wir haben eine Vielzahl positiver Entwicklungen eingeleitet, Detective Bosch, aber davon kann in den Augen der Öffentlichkeit vieles wieder zunichtegemacht werden, wenn wir auf althergebrachte Methoden zurückgreifen. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?«

»Ich denke schon.«

»Sie werden nicht sofort fest in den Polizeidienst übernommen, sondern erst einmal nur ein Jahr auf Probe. Betrachten Sie sich also wieder als Berufsanfänger. Ein Neuling – der älteste Neuling übrigens. Ich habe Ihre Wiederaufnahme in den Polizeidienst angeordnet, genauso kann ich Sie im Lauf dieses Jahres jederzeit ohne Angabe eines Grundes wieder vor die Tür setzen. Geben Sie mir also keinen Grund.«

Bosch antwortete nicht. Er glaubte auch nicht, dass das von ihm erwartet wurde.

»Am Freitag findet in der Polizeiakademie die Abschlussfeier des letzten Kadettenjahrgangs statt. Ich hätte gern, dass Sie daran teilnehmen.«

»Sir?«

»Ich möchte, dass Sie daran teilnehmen. Ich möchte, dass Sie das Engagement in den Gesichtern dieser jungen Menschen sehen. Ich möchte Ihnen noch einmal die Traditionen dieser Behörde vor Augen halten. Ich glaube, das könnte Ihnen zu neuer Motivation verhelfen.«

»Wenn Sie das möchten, werde ich an der Feier teilnehmen.«

»Gut. Dann sehen wir uns also in der Polizeiakademie. Sie sitzen als mein Gast im VIP-Zelt.«

Der Chief machte sich auf einem Block einen Vermerk zu der Einladung. Dann legte er den Stift beiseite und richtete einen Finger auf Bosch. Sein Blick bekam etwas Eindringliches.

»Hören Sie zu, Bosch. Brechen Sie nie das Gesetz, um das Gesetz durchzusetzen. Sie verrichten Ihren Dienst immer und zu jeder Zeit mit Mitgefühl und im Einklang mit der Verfassung. Alles andere dulde ich nicht. Alles andere duldet diese Stadt nicht. Sind wir uns da einig?«

»Da sind wir uns einig.«

»Dann wäre das also geklärt.«

Bosch verstand das als Aufforderung zu gehen und stand auf. Zu seiner Überraschung erhob sich auch der Chief und streckte die Hand aus. Bosch dachte, er wolle ihm die Hand schütteln, und streckte auch seine aus. Doch der Chief drückte ihm etwas in die Hand, und als Bosch darauf hinabblickte, sah er die goldene Dienstmarke eines Detective. Er hatte seine alte Nummer wiederbekommen. Sie war nicht vergeben worden. Fast musste er lächeln.

»Tragen Sie sie in Ehren«, sagte der Chief. »Und voll Stolz.«

»Das werde ich.«

Jetzt schüttelten sie sich die Hand, doch der Polizeichef lächelte nicht, als sie es taten.

»Der Chor vergessener Stimmen«, sagte er.

»Wie bitte, Chief?«

»Daran muss ich jedes Mal denken, wenn ich an die Fälle dort unten in Offen-Ungelöst denke. Es ist ein Horrorkabinett. Unsere größte Schmach. Diese vielen Fälle. Diese vielen Stimmen. Jede von ihnen ist wie ein Stein, der in einen See geworfen wurde, und die Wellen, die er schlägt, pflanzen sich durch Zeit und Menschen hindurch fort. Familienangehörige, Freunde, Nachbarn. Wie können wir uns eine Stadt nennen, wenn es so viele Wellen gibt, wenn so viele Stimmen von dieser Behörde vergessen worden sind?«

Bosch ließ die Hand des Chief los und sagte nichts. Auf seine Frage gab es keine Antwort.

»Als ich zum LAPD kam, habe ich den Namen der Einheit geändert. Das sind keine kalten Fälle, Detective. Sie werden nie kalt. Zumindest für manche Leute nicht.«

»Das ist mir klar.«

»Dann gehen Sie jetzt da runter und lösen Fälle. Davon verstehen Sie etwas. Deshalb brauchen wir Sie, und deshalb sind Sie hier. Deshalb lasse ich es auf einen Versuch mit Ihnen ankommen. Zeigen Sie ihnen, dass wir nicht vergessen. Zeigen Sie ihnen, dass in Los Angeles keine Fälle kalt werden.«

»Das werde ich.«

Damit ging Bosch, während der Polizeichef weiter stehen blieb, fast so, als wollten ihn die Stimmen noch nicht ganz loslassen. Genauso wenig wie ihn. Bosch dachte, vielleicht zum ersten Mal auf einer bestimmten Ebene einen Draht zu dem Mann an der Spitze gefunden zu haben. Beim Militär heißt es, dass man für die Männer, die einen befehligen, in die Schlacht zieht und kämpft und zu sterben bereit ist. Dieses Gefühl hatte Bosch nie gehabt, wenn er in Vietnam durch das Dunkel der unterirdischen Gänge gekrochen war. Er hatte das Gefühl gehabt, ganz auf sich gestellt zu sein und nur für sich und sein Überleben zu kämpfen. Das hatte er in den Polizeidienst mit herübergenommen, und manchmal war er sogar zu der Ansicht gelangt, dass er trotz der Männer an der Spitze kämpfte. Jetzt würde das vielleicht anders werden.

Draußen auf dem Flur drückte er fester auf den Knopf des Aufzugs, als nötig war. Er war aufgeputscht, und er kannte auch den Grund dafür. Der Chor vergessener Stimmen. Der Chief schien das Lied zu kennen, das sie sangen. Und er kannte es mit Sicherheit auch. Er hatte den größten Teil seines Lebens damit zugebracht, diesem Lied zu lauschen.

2

Bosch fuhr mit dem Aufzug nur eine Etage tiefer in den fünften Stock. Auch das war Neuland für ihn. Der Fünfte war immer eine Zivilistenetage gewesen. In erster Linie befanden sich dort Büros des mittleren und unteren polizeilichen Verwaltungsdiensts, und in den meisten saßen nicht vereidigte Angestellte, Etatleute, Analysten und Schreibtischhengste. Zivilisten eben. Bis zu diesem Moment hatte für ihn kein Anlass bestanden, in den fünften Stock zu kommen.

Im Bereich vor dem Aufzug gab es keine Hinweisschilder, wie man zu den einzelnen Büros kam. Es war die Sorte Stockwerk, in dem man, schon bevor man aus dem Lift stieg, wissen sollte, wohin man ging. Nicht so Bosch. Die Flure dieser Etage bildeten ein H, und er ging zweimal in die falsche Richtung, bevor er endlich die Tür mit der Nummer 503 fand. Sonst stand nichts auf der Tür. Er zögerte, bevor er sie öffnete, und dachte kurz nach, was er da tat und worauf er sich einließ. Er wusste, es war das Richtige. Fast war es, als könnte er die Stimmen durch die Tür hören. Alle achttausend.

Kiz Rider saß auf einem Schreibtisch direkt hinter dem Eingang und nahm gerade einen Schluck aus einer Tasse mit dampfendem Kaffee. Der Schreibtisch sah aus wie der Platz einer Empfangsdame, aber Bosch hatte hier in den vergangenen Wochen relativ häufig angerufen und wusste deshalb, dass es in dieser Abteilung keine Empfangsdame gab. Für derlei Luxus war kein Geld da. Rider hob ihr Handgelenk und sah kopfschüttelnd auf die Uhr.

»Hatten wir uns nicht auf acht Uhr geeinigt?«, sagte sie. »Ist es das, worauf ich mich gefasst machen muss, Partner? Du kommst jeden Morgen reingeschneit, wann dir gerade danach ist?«

Bosch sah auf seine Uhr. Es war fünf nach acht. Er blickte wieder zu Rider und grinste. Sie sagte lächelnd: »Wir sind hier drüben.«

Rider war eine kleine Frau, die ein paar Pfunde zu viel auf den Rippen hatte. Ihr Haar war kurz und mittlerweile mit etwas Grau durchsetzt. Sie hatte sehr dunkle Haut, was ihr Lächeln umso strahlender machte. Sie rutschte von dem Schreibtisch, holte hinter sich eine zweite Tasse Kaffee hervor und reichte sie Bosch.

»Mal sehen, ob ich das richtig behalten habe.«

Er sah in die Tasse und nickte.

»Schwarz, genau wie ich meine Partner mag.«

»Sehr witzig. Dafür müsste ich dich melden.«

Sie ging voran. Das Büro schien leer zu sein. Es war groß, selbst für neun Ermittler – vier Zweierteams und ein Abteilungsleiter. Die Wände waren in einem hellen Blauton gestrichen, wie ihn Bosch oft auf Computermonitoren sah. Der Teppichboden war grau. Fenster gab es keine. Dort, wo Fenster hätten sein sollen, hingen Anschlagtafeln oder schön gerahmte, viele Jahre alte Tatortfotos. Bosch konnte erkennen, dass die Fotografen auf diesen Schwarz-Weiß-Aufnahmen ihr gestalterisches Können vor ihre klinischen Pflichten gestellt hatten. Die Fotos waren düster und unheilschwanger. Von den Tatortdetails waren nicht viele zu erkennen.

Rider musste gewusst haben, dass er sich die Fotos ansehen würde.

»Man hat mir erzählt, der Autor James Ellroy hätte sie ausgesucht und für das Büro rahmen lassen«, sagte sie.

Sie führte ihn um eine Trennwand, die den Raum unterteilte, in eine Nische, in der zwei graue Metallschreibtische so aneinandergeschoben waren, dass sich die Detectives, die an ihnen arbeiteten, gegenübersaßen. Auf einen davon stellte Rider ihre Kaffeetasse. Darauf standen bereits Akten und verschiedene persönliche Gegenstände wie ein Kaffeebecher voller Stifte und ein Bilderrahmen, der allerdings so gestellt war, dass das Foto darin nicht zu sehen war. Ein aufgeklapptes Notebook summte leise. Rider war schon in der vorangegangenen Woche, als Bosch noch zum Zoll gemusst hatte, zu der Einheit gestoßen – mit Zoll waren die ärztliche Untersuchung und die abschließenden Formalitäten gemeint, die für seine Wiedereinstellung erforderlich gewesen waren.

Der andere Schreibtisch, sauber und leer, wartete auf ihn. Bosch ging dahinter und stellte seinen Kaffee darauf. Er unterdrückte ein Lächeln, so gut er konnte.

»Willkommen zurück, Roy«, sagte Rider.

Nun konnte er das Lächeln nicht länger zurückhalten. Es freute Bosch, wieder Roy genannt zu werden. Das war unter den Detectives des Morddezernats ein alter Brauch. Es gab einen legendären Ermittler namens Russell Kuster, der vor Jahren bei der Hollywood Division gewesen war. Er war der absolut Größte gewesen und hatte viele der Detectives, die heute in Los Angeles in Mordfällen ermittelten, irgendwann einmal unter seinen Fittichen gehabt. Er kam 1990 bei einer Schießerei, bei der er nicht mal im Dienst war, ums Leben. Aber seine Angewohnheit, andere Leute – egal, wie sie hießen – Roy zu nennen, wurde beibehalten. Der Grund dafür war in Vergessenheit geraten. Einige behaupteten, Kuster habe einmal einen Partner gehabt, der auf Roy Acuff stand, und damit habe das Ganze angefangen. Andere sagten, Kuster habe die Detectives beim Morddezernat gern als eine Art Roy-Rogers-Verschnitt gesehen, der mit seinem weißen Cowboyhut angeritten kam, um den Bedrängten beizustehen und alles wieder in Ordnung zu bringen. Aber das spielte schon längst keine Rolle mehr. Bosch wusste, dass es eine Ehre war, wieder Roy genannt zu werden.

Er setzte sich. Der Stuhl war alt und die Polsterung klumpig. Wenn er zu lange darauf säße, bekäme er garantiert Rückenschmerzen. Aber er hoffte, dazu würde es nicht kommen. Seine erste Dienstzeit als Detective hatte unter der Devise gestanden: Krieg den Arsch hoch und putz Klinken. Er sah keinen Grund, es dieses Mal anders zu halten.

»Wo sind eigentlich die anderen?«, fragte er.

»Frühstücken. Das hatte ich ganz vergessen. Letzte Woche haben sie mir gesagt, dass sie sich montagmorgens immer schon vor Dienstantritt zum Frühstück treffen. Normalerweise gehen sie ins Pacific rüber. Es ist mir allerdings erst wieder eingefallen, als ich heute Morgen herkam und kein Mensch hier war. Aber sie müssten jeden Augenblick auftauchen.«

Das Pacific Dining Car stand, wie Bosch wusste, bei der Chefetage des LAPD und der Robbery Homicide Division schon seit Langem hoch im Kurs. Er wusste aber auch noch etwas anderes.

»Zwölf Dollar für eine Portion Rührei. Das heißt wohl, dass das hier eine Einheit ist, bei der man Überstunden abrechnen kann.«

Zur Bestätigung lächelte Rider.

»Das siehst du völlig richtig. Aber nach dem Zwei-Sechser des Chief wärst du sowieso nicht dazu gekommen, deine teuren Eier aufzuessen.«

»Das hast du auch schon mitgekriegt?«

»Ich habe immer noch ein Ohr oben im Sechsten. Hast du deine Dienstmarke gekriegt?«

»Ja, er hat sie mir gegeben.«

»Ich habe ihm gesagt, welche Nummer du gern hättest. Hast du sie gekriegt?«

»Ja, Kiz, danke. Und überhaupt danke für alles.«

»Das hast du bereits gesagt, Partner. Du brauchst das nicht ständig zu sagen.«

Er nickte und schaute sich an ihrem Platz um. Er sah, dass an der Wand hinter Rider ein Foto von zwei Detectives hing, die neben einer Leiche kauerten, die im trockenen Betonbett des Los Angeles River lag. Den Hüten der Detectives nach zu schließen, war es in den frühen fünfziger Jahren aufgenommen worden.

»So, und wo fangen wir jetzt an?«, fragte er.

»Die Einheit teilt die Fälle in Dreijahresabschnitte ein. Das sorgt für eine gewisse Kontinuität. Man soll mit seinem speziellen Zeitabschnitt und einigen der wichtigsten Ermittler vertraut werden. Dabei kommt es natürlich zu Überschneidungen. Es hilft auch bei der Identifizierung von Serientätern. In den letzten zwei Jahren sind sie bereits auf vier Serientäter gestoßen, von denen bis dahin kein Mensch etwas wusste.«

Bosch nickte. Er war beeindruckt.

»Welche Jahre haben wir gekriegt?«, fragte er.

»Jedes Team erhält vier oder fünf Abschnitte. Weil wir das neue Team sind, haben wir vier gekriegt.«

Sie öffnete die mittlere Schreibtischschublade, nahm ein Blatt Papier heraus und reichte es ihm.

Bosch/Rider – Fallzuteilungen

1966

1972

1987

1996

1967

1973

1988

1997

1968

1974

1989

1998

Bosch studierte die Zusammenstellung der Jahre, für die sie zuständig waren. Während des größten Teils des ersten Zeitabschnitts war er nicht in Los Angeles gewesen, sondern in Vietnam.

»Der ›Summer of Love‹«, bemerkte er. »Habe ich leider nicht mitbekommen. Vielleicht ist genau das mein Problem.«

Er sagte es nur, um etwas zu sagen. Er merkte, dass zum zweiten Abschnitt 1972 gehörte, das Jahr, in dem er in den Polizeidienst getreten war. Er erinnerte sich, dass er gleich an seinem zweiten Tag als Streifenpolizist zu einem Haus nicht weit von der Vermont gerufen worden war. Eine Frau, die drüben im Osten lebte, hatte beim LAPD darum gebeten, ob man mal nach ihrer Mutter sehen könnte, weil sie nicht ans Telefon ging. Bosch fand sie ertrunken in der Badewanne, an Händen und Füßen mit Hundeleinen gefesselt. Ihr toter Hund lag bei ihr in der Wanne. Bosch fragte sich, ob der Mord an der alten Frau einer der offenen Fälle war, mit deren Lösung er jetzt beauftragt war.

»Wie wurde das festgelegt? Ich meine, warum haben wir diese Jahre zugeteilt bekommen?«

»Wir haben sie von den anderen Teams gekriegt. Wir nehmen ihnen Arbeit ab. In einigen Fällen aus diesen Jahren haben sie übrigens bereits erste Schritte unternommen. Und am Freitag habe ich gehört, dass sie für 1988 einen kalten Treffer gelandet haben. Wir sollen heute damit anfangen, der Sache weiter nachzugehen. Du kannst es als dein Einstandsgeschenk betrachten.«

»Was ist ein kalter Treffer?«

»Wenn wir für eine DNS-Analyse oder einen Fingerabdruck, den wir in den Computer eingeben oder ans Justizministerium schicken, eine Übereinstimmung kriegen.«

»Was ist es in unserem Fall?«

»Eine DNS-Übereinstimmung, glaube ich. Aber das werden wir gleich sehen.«

»Das haben sie dir letzte Woche noch nicht gesagt? Ich hätte am Wochenende reinkommen können.«

»Ich weiß, Harry. Aber das ist ein alter Fall. Da besteht kein Anlass, sofort loszulegen, kaum dass was Schriftliches mit der Post ins Haus flattert. Der Dienst in Offen-Ungelöst ist etwas anders.«

»Ja? Wieso?«

Rider sah ihn entnervt an, doch bevor sie antworten konnte, hörten sie, wie die Tür aufging und der Bereitschaftsraum sich mit Stimmen füllte. Rider ging aus der Nische, und Bosch folgte ihr. Sie stellte Bosch den anderen Mitgliedern der Einheit vor. Zwei der Detectives, Tim Marcia und Rick Jackson, kannte Bosch von früheren Fällen gut. Die zwei anderen Teams waren Robert Renner und Victor Robleto sowie Kevin Robinson und Jean Nord. Vom Hörensagen kannte Busch sie ebenso wie ihren Chef Abel Pratt. Jeder von ihnen war ein erstklassiger Mordermittler.

Die Begrüßung war freundlich, aber zurückhaltend, etwas zu förmlich. Bosch war klar, dass seine Zugehörigkeit zu der Einheit wahrscheinlich misstrauisch beäugt wurde, weil es sich dabei um eine bei den Detectives des LAPD äußerst begehrte Stellung handelte. Der Umstand, dass er sie nach fast drei Jahren im Ruhestand erhalten hatte, warf Fragen auf. Wie ihm der Polizeichef eben noch einmal in Erinnerung gerufen hatte, hatte er den Posten Rider zu verdanken, die zuletzt als Beraterin für Öffentlichkeitsarbeit im Büro des Chief gearbeitet hatte. Sie hatte die Pluspunkte, die sie im Lauf der Jahre beim Chief angesammelt hatte, für Boschs Wiedereinstellung eingesetzt, um mit ihm ungelöste Fälle zu bearbeiten.

Nach dem üblichen Händeschütteln bat Pratt seine zwei Neuzugänge zu einer privaten Begrüßungsansprache in sein Büro. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, und sie nahmen auf den zwei Stühlen davor Platz. Für weiteres Mobiliar war in dem besenkammergroßen Raum kein Platz.

Pratt war ein paar Jahre jünger als Bosch, knapp unter fünfzig. Er war körperlich fit und hielt den Korpsgeist der renommierten Robbery Homicide Division hoch, der die Einheit Offen-Ungelöst angegliedert war. Pratt schien großes Vertrauen in seine fachliche Kompetenz und seine Führungsqualitäten zu haben. Das musste er auch. Die RHD übernahm die schwierigsten Fälle der Stadt. Wenn man nicht davon überzeugt war, klüger, abgebrühter und gerissener zu sein als die Leute, hinter denen man her war, hatte man hier nichts verloren.

»Eigentlich«, begann er, »sollte ich Sie beide trennen. Jeden von Ihnen jemandem zuteilen, der hier bereits eingearbeitet ist. Denn der Dienst hier ist anders als das, was Sie bisher gemacht haben. Aber ich habe aus dem Sechsten entsprechende Anweisungen erhalten und halte mich da deshalb raus. Außerdem, habe ich mir sagen lassen, hat die Chemie zwischen Ihnen früher schon gestimmt. Deshalb will ich vergessen, was ich eigentlich tun sollte, und Ihnen stattdessen nur kurz erklären, was wir hier in Offen-Ungelöst machen. Kiz, Sie haben diesen Sermon zwar schon letzte Woche gehört, aber Sie werden ihn einfach noch mal über sich ergehen lassen müssen, okay?«

»Kein Problem«, sagte Rider.

»Zuallererst, erwarten Sie keine Aufklärung. Alles, was wir hier tun, ist Antworten geben. Antworten müssen genügen. Machen Sie sich keine Illusionen darüber, was Sie mit Ihrer Arbeit bewirken können. Machen Sie den Familienangehörigen, mit denen Sie bei diesen Fällen zu tun haben, keine falschen Hoffnungen, und lassen Sie sich von ihnen keine falschen Hoffnungen machen.«

Er wartete auf eine Reaktion, bekam keine und ging zum nächsten Punkt über. Bosch merkte, dass auf dem gerahmten Tatortfoto an der Wand ein Mann zu sehen war, der in einer von Kugeln durchsiebten Telefonzelle zusammengebrochen war. Es war eine dieser Telefonzellen, wie man sie nur noch in alten Filmen sah, oder auf dem Farmers Market oder drüben bei Philippe’s.

»Es gibt überhaupt keinen Zweifel«, sagte Pratt. »Diese Einheit ist der hehrste Ort in diesem Gebäude. Eine Stadt, die ihre Mordopfer vergisst, ist eine verlorene Stadt. Das hier ist der Ort, an dem wir nicht vergessen. Wir sind wie die Typen, die am Ende des neunten Innings auf den Platz kommen, um das Spiel noch mal zu drehen. Wenn wir es nicht schaffen, schafft es niemand. Wenn wir versagen, ist das Spiel gelaufen, weil wir die letzte Rettung sind. Ja, wir sind zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen. Wir haben seit 1960 achttausend ungelöste Fälle. Aber wir lassen uns nicht entmutigen. Selbst wenn diese Einheit nur einen Fall pro Monat löst – zwölf im Jahr –, bewirken wir dennoch etwas. Wenn man beim Morddezernat ist, ist hier der Ort, an dem man sein muss.«

Bosch war beeindruckt von Pratts Engagement. Er konnte Aufrichtigkeit und sogar Schmerz in seinen Augen sehen. Er nickte. Ihm wurde sofort klar, dass er für diesen Mann arbeiten wollte, eine Seltenheit während seiner Zeit bei der Polizei.

»Vergessen Sie nur nicht, dass Sie keine Aufklärung erwarten dürfen«, fügte Pratt hinzu.

»Schon klar«, sagte Bosch.

»Andererseits weiß ich, dass Sie beide viel Erfahrung mit Mordfällen haben. Was Ihnen hier anders vorkommen wird, ist Ihr Verhältnis zu den Fällen.«

»Mein Verhältnis?«

»Ja, Ihr Verhältnis. Damit meine ich: Frische Morde zu bearbeiten ist ein völlig anderes Paar Schuhe. Man hat die Leiche, man hat die Autopsie, man überbringt den Angehörigen die traurige Nachricht. Hier haben Sie es mit Opfern zu tun, die lange tot sind. Es gibt keine Autopsien, keine konkreten Tatorte. Sie haben es mit den Mordakten zu tun … Falls Sie sie auftreiben können. Wenn Sie zu den Angehörigen gehen – und glauben Sie mir: Das tun Sie erst, wenn Sie wirklich so weit sind –, dann treffen Sie auf Menschen, die den Schock bereits erfahren und Möglichkeiten gefunden oder auch nicht gefunden haben, ihn zu verkraften. Das geht einem nahe. Ich hoffe, darauf sind Sie vorbereitet.«

»Danke für die Warnung«, sagte Bosch.

»Bei frischen Morden hat alles etwas sehr Klinisches, weil es sehr schnell geht. Bei alten Fällen kommen viel mehr Emotionen ins Spiel. Sie bekommen sehr deutlich zu sehen, welchen Tribut Gewalttaten im Lauf der Zeit fordern. Seien Sie darauf gefasst.«

Pratt zog einen dicken blauen Ordner von der Seite des Schreibtisches in die Mitte der Schreibunterlage. Er schob ihn auf Bosch und Rider zu, hielt aber auf halbem Weg inne.

»Noch etwas, worauf Sie gefasst sein müssen, ist die Polizei selbst. Rechnen Sie damit, dass Akten unvollständig oder sogar völlig verschwunden sind. Rechnen Sie damit, dass Beweismittel vernichtet wurden oder verloren gegangen sind. Rechnen Sie damit, dass Sie bei manchen Fällen bei null anfangen müssen. Diese Einheit wurde vor zwei Jahren gegründet. Die ersten acht Monate waren wir nur damit beschäftigt, die Ermittlungsprotokolle durchzugehen und ungelöste Fälle auszusortieren. Wir speisten alles, was wir hatten, in die forensischen Datenbanken ein, aber selbst wenn wir einen Treffer landeten, stellte die mangelnde Fallintegrität ein massives Handicap dar. Es ist ein Fass ohne Boden. Es ist frustrierend. Obwohl es bei Mord keine Verjährung gibt, müssen wir immer wieder feststellen, dass Beweismittel und sogar Akten routinemäßig entsorgt wurden. Was ich damit sagen will: Sie werden feststellen, dass bei manchen dieser Fälle das größte Hindernis durchaus die Polizei selbst sein könnte.«

»Jemand hat erwähnt, dass wir einen kalten Treffer hätten, der aus einem unserer Zeitblöcke kommt«, sagte Bosch. Er hatte genug gehört. Er wollte sich langsam an die Arbeit machen.

»Ja, haben Sie«, sagte Pratt. »Dazu kommen wir gleich. Lassen Sie mich aber vorher meine kleine Ansprache noch zu Ende bringen. Ich komme ja auch nicht allzu oft dazu, sie zu halten. Im Grunde genommen, versuchen wir hier einfach, neue Techniken auf alte Fälle anzuwenden. Im Wesentlichen betrifft das drei Bereiche: DNS, Fingerabdrücke und Ballistik. Auf allen drei Gebieten haben wir in den letzten Jahren, speziell was Vergleichsanalysen angeht, erstaunliche Fortschritte gemacht. Das Problem ist, dass sich das LAPD diese Fortschritte nie zunutze gemacht hat, um neue Erkenntnisse über alte Fälle zu gewinnen. Folglich haben wir schätzungsweise zweitausend Fälle, für die uns DNS-Proben vorliegen, die aber nie ausgewertet und verglichen wurden. Seit 1960 haben wir viertausend Fälle mit Fingerabdrücken, die man nie durch einen Computer hat laufen lassen. Weder durch unsere Datenbanken noch durch die des FBI, des Justizministeriums oder sonst einer Behörde. Es ist fast lachhaft, wenn es nicht so traurig wäre. Das Gleiche gilt für die Ballistik. In den meisten Fällen ist das Beweismaterial noch vorhanden, aber niemand hat ihm je Beachtung geschenkt.«

Bosch schüttelte den Kopf, denn er spürte bereits die Frustration all der Angehörigen der Opfer. Die Fälle waren in Vergessenheit geraten, Gleichgültigkeit und Unfähigkeit hatten ein Übriges getan.

»Sie werden auch feststellen, dass sich die Methoden geändert haben. Heute sind die Ermittler schlicht und einfach besser als, sagen wir, 1960 oder 1970. Sogar 1980. Schon bevor Sie also zu den konkreten Beweismitteln kommen und die Fälle neu aufrollen, werden Sie Dinge sehen, die Ihnen heute offensichtlich erscheinen, doch damals, zum Zeitpunkt der Tat, waren sie für niemanden ersichtlich.«

Pratt nickte. Seine Rede war zu Ende.

»Und jetzt zu dem kalten Treffer.« Er schob den verblichenen blauen Ordner über den Schreibtisch. »Nehmen Sie sich diesen Fall vor. Er gehört jetzt ganz Ihnen. Lösen Sie ihn und bringen Sie jemanden hinter Gitter.«

3

Nachdem sie Pratts Büro verlassen hatten, beschlossen sie, dass Bosch die nächste Runde Kaffee holen würde, während sich Rider schon einmal die Mordakte vornähme. Sie war die schnellere Leserin, und sich die Akte zu teilen war wenig sinnvoll. Sie mussten sie beide von vorne bis hinten lesen, um das Ermittlungsverfahren so linear vor sich zu haben, wie es abgelaufen und dokumentiert worden war.

Bosch sagte, er würde ihr zu einem ordentlichen Vorsprung verhelfen und vielleicht in der Cafeteria eine Tasse Kaffee trinken, und zwar nur, weil er diesen Ort vermisst hatte. Den Ort, nicht den Kaffee.

»Dann habe ich also auch noch ein paar Minuten Zeit für einen kleinen Ausflug den Flur runter«, sagte Rider.

Als sie auf die Toilette ging, nahm Bosch das Blatt, auf dem die ihnen zugeteilten Jahre standen, und steckte es in die Innentasche seines Sakkos. Dann verließ auch er das Büro, fuhr mit dem Aufzug in den dritten Stock hinunter und ging durch den Hauptbereitschaftsraum der RHD zum Büro des Captain.

Das Büro des Captain bestand aus zwei Zimmern. Eines davon war sein eigentliches Büro, das andere hieß das Mordzimmer. Dort gab es einen langen Konferenztisch, an dem die Mordfälle besprochen wurden. Die Regale an den beiden Seitenwänden waren voll mit juristischen Fachbüchern und den Mordregistern der Stadt. Jeder Mord, der in den letzten hundert Jahren in Los Angeles begangen worden war, war in diesen ledergebundenen Registern eingetragen. Schon seit Jahrzehnten war es üblich, die Register jedes Mal, wenn einer der Morde darin aufgeklärt wurde, auf den neuesten Stand zu bringen. Mit ihrer Hilfe ließ sich am einfachsten feststellen, welche Fälle noch offen und welche bereits abgeschlossen waren.

Bosch fuhr mit dem Finger über die rissigen Buchrücken. Auf jedem stand einfach Morde, gefolgt von der Angabe der Jahre, die der Band abdeckte. In den frühen Bänden hatten immer mehrere Jahre Platz gefunden. Ab 1980 waren in der Stadt jedoch so viele Morde begangen worden, dass ein Band nur noch ein einziges Jahr umfasste, und das Jahr 1988, stellte Bosch fest, hatte schließlich nur noch in zwei Bänden Platz gefunden. Plötzlich konnte er sich vorstellen, warum dieses Jahr ihm und Rider, den beiden Neuzugängen in Offen-Ungelöst, zugeteilt worden war. Der Höchstwert für Morde in der Stadt ging sicher mit dem Höchstwert für ungelöste Fälle einher.

Als er den Band mit den Fällen von 1972 fand, zog er ihn heraus und setzte sich damit an den Tisch. Er blätterte darin, überflog die Geschichten, hörte die Stimmen. Er fand die alte Frau, die in der Badewanne ertrunken war. Der Mord war nie aufgeklärt worden. Er machte mit den Jahren 1973 und 1974 weiter, dann nahm er sich den Band vor, der 1966, 1967 und 1968 enthielt. Er las von Charles Manson und Robert Kennedy. Er las von Menschen, deren Namen er nie gehört hatte. Namen, die diesen Menschen zusammen mit allem anderen genommen worden waren, mit dem, was sie gehabt hatten oder jemals hätten haben können.

Als er die Kataloge mit den Schrecken der Stadt studierte, spürte Bosch, wie eine vertraute Kraft von ihm Besitz ergriff und durch seine Adern zu strömen begann. Gerade mal eine Stunde im Polizeidienst zurück, und schon jagte er wieder einen Mörder. Es spielte keine Rolle, vor wie langer Zeit das Blut vergossen worden war. Da war ein Mörder auf freiem Fuß, und Bosch war im Anmarsch. Wie der heimgekehrte verlorene Sohn war er wieder da, wo er hingehörte. Er wurde erneut im Wasser der einzig wahren Kirche getauft. Der Kirche der blauen Religion. Und er würde seine Erlösung in denen finden, die lange verschollen gewesen waren, in diesen modrigen Bibeln, in denen die Toten tabellarisch aufgeführt waren und in denen es auf jeder Seite Geister gab.

»Harry Bosch!«

Irritiert über die Störung, schlug Bosch die Akte zu und schaute auf. Im Türrahmen des angrenzenden Büros stand Captain Gabe Norona.

»Captain.«

»Schön, dass Sie wieder bei uns sind!«

Norona kam auf Bosch zu und schüttelte ihm energisch die Hand.

»Schön, wieder dabei zu sein.«

»Wie ich sehe, hat man Ihnen auch schon eine Hausaufgabe aufgebrummt.«

Bosch nickte.

»Ich fange schon mal an, mich damit vertraut zu machen.«

»Neue Hoffnung für die Toten. Harry Bosch schlägt wieder zu.«

Bosch sagte nichts. Er wusste nicht, ob das sarkastisch gemeint war oder nicht.

»Das ist der Titel eines Buchs, das ich mal gelesen habe«, sagte Norona.

»Tatsächlich?«

»Dann mal viel Glück. Lochen Sie sie ein.«

»Das hatte ich vor.«

Der Captain schüttelte ihm noch einmal die Hand, dann verschwand er in sein Büro und schloss die Tür.

Nachdem sein heiliger Moment durch die Störung verdorben war, stand Bosch auf. Er begann, die schweren Mordkataloge ins Regal zurückzustellen. Als er fertig war, verließ er das Büro und ging in die Cafeteria.

4

Kiz Rider hatte die Mordakte fast zur Hälfte durch, als Bosch mit der neuen Runde Kaffee zurückkam. Sie nahm ihm ihre Tasse aus der Hand.

»Danke. Das brauche ich jetzt, um wach zu bleiben.«

»Wie bitte? Willst du mir etwa erzählen, das hier ist langweiliger als irgendwelcher Papierkram im Büro des Chief?«

»Nein, so hab ich das nicht gemeint. Ich muss nur so viel nachholen, so viel lesen. Wir müssen diese Akte in- und auswendig kennen. Wir müssen alle Möglichkeiten präsent haben.«

Bosch merkte, dass sie neben der Akte einen Block liegen hatte, dessen oberstes Blatt fast vollständig mit Notizen beschrieben war. Er konnte ihre Notizen nicht lesen, sah aber, dass hinter fast jeder Zeile ein Fragezeichen stand.

»Außerdem benutze ich jetzt andere Muskeln«, fügte sie hinzu. »Muskeln, die ich im sechsten Stock nicht gebraucht habe.«

»Ach so. Einverstanden, wenn ich jetzt einsteige?«

»Bitte sehr.«

Sie ließ die Bügel des Ordners aufschnappen und nahm den fünf Zentimeter dicken Packen Dokumente heraus, den sie bereits durchgesehen hatte. Sie reichte ihn Bosch, der inzwischen an seinem Schreibtisch Platz genommen hatte.

»Hast du noch so einen Block übrig?«, fragte er. »Ich habe nur ein kleines Notizbuch.«

Sie seufzte übertrieben genervt. Das war alles nicht ernst gemeint. In Wirklichkeit freute sie sich, dass sie wieder zusammenarbeiteten. Sie hatte die letzten zwei Jahre für den neuen Polizeichef hauptsächlich interne Richtlinien und Notmaßnahmen evaluiert. Es war nicht der theoretische Kram, was sie am besten konnte. Es war das hier.

Sie schob ihm einen Block zu.

»Brauchst du etwa auch noch einen Stift?«

»Nein, ich glaube, das schaffe ich schon.«

Er legte die Dokumente vor sich hin und begann zu lesen. Er konnte es kaum erwarten, und er brauchte keinen Kaffee, um auf Touren zu bleiben.

 

Die erste Seite war eine Farbfotografie, die in einer Klarsichthülle steckte. Es war ein Jahrbuchfoto eines attraktiven jungen Mädchens mit mandelförmigen Augen, die sich erstaunlich grün von ihrer milchkaffeebraunen Haut abhoben. Sie hatte dicht gekräuseltes braunes Haar mit natürlich aussehenden blonden Highlights, in denen sich das Blitzlicht der Kamera brach. Ihre Augen waren strahlend, und ihr Lächeln war ungekünstelt. Es war ein Grinsen, das zum Ausdruck brachte, dass sie Dinge wusste, die sonst niemand wusste. Bosch fand nicht, dass sie schön war. Noch nicht. Ihre Züge schienen auf eine unkoordinierte Weise miteinander zu wetteifern. Aber ihm war bewusst, dass aus den unausgewogenen Gesichtszügen von Teenagern häufig später Schönheit wurde.

Doch für die 16-jährige Rebecca Lost gab es kein Später. 1988 sollte ihr letztes Jahr werden. Der kalte Treffer gehörte zu ihrer Ermordung.

Becky, wie sie von Familienangehörigen und Freunden genannt wurde, war das einzige Kind von Robert und Muriel Lost. Die Mutter war Hausfrau, der Vater Koch und Inhaber des Island House Grill, eines gut gehenden Restaurants in Malibu. Wohnhaft waren sie im Red Mesa Way an der Santa Susana Pass Road in Chatsworth, das in der Nordwestecke der wuchernden Stadtlandschaft lag, die Los Angeles ausmachte. Der Garten hinter dem Haus der Losts ging in einen bewaldeten Hang des Oat Mountain über, der sich über Chatsworth erhob und die Nordwestgrenze der Stadt bildete. Becky hatte in besagtem Sommer an der Hillside Preparatory School, einer Privatschule im nahen Porter Ranch, die zehnte Klasse abgeschlossen. Sie hatte zu den besten Schülern der Hillside Prep gehört, und ihre Mutter hatte ehrenamtlich in der Cafeteria geholfen und für die Lehrerkantine oft Jerk Chicken und andere Spezialitäten aus dem Restaurant ihres Mannes mitgebracht.

Am Morgen des 6. Juli 1988 stellten die Losts fest, dass ihre Tochter aus ihrem Haus verschwunden war. Der Hintereingang war nicht verschlossen, obwohl sie sicher waren, die Tür am Vorabend abgeschlossen zu haben. Im Glauben, das Mädchen sei vielleicht spazieren gegangen, warteten sie zwei Stunden lang in großer Sorge, aber Rebecca kam nicht zurück. Eigentlich hätte sie an diesem Tag mit ihrem Vater in dessen Restaurant fahren sollen, um dort während des Mittagessens auszuhelfen, und der Zeitpunkt, zu dem sie hätten losfahren müssen, war längst verstrichen. Während die Mutter bei Rebeccas Freundinnen anrief, um sich nach ihr zu erkundigen, stieg ihr Vater den Hügel hinter dem Haus hinauf, um nach ihr zu suchen. Als er wieder zurückkam, ohne eine Spur von ihr gefunden zu haben, beschlossen die Losts, die Polizei zu verständigen.

Als daraufhin zwei Streifenpolizisten der Devonshire Division vorbeikamen, fanden sie keinerlei Hinweise auf einen Einbruch. Aufgrund dessen und weil Rebecca in einem Alter war, in dem sehr viele Mädchen von zu Hause wegliefen, ging die Polizei von einem Ausreißversuch aus und behandelte das Ganze als Routine-Vermisstenmeldung, wogegen die Eltern des Mädchens aufs Heftigste protestierten, weil sie fest davon überzeugt waren, dass ihre Tochter nicht weggelaufen oder freiwillig verschwunden war.

In dieser Auffassung sollten sich die Eltern zwei Tage später auf fürchterliche Weise bestätigt finden, als die verwesende Leiche von Becky Lost auf dem Oat Mountain etwa zehn Meter von einem Reitweg entfernt hinter einem umgestürzten Baum gefunden wurde. Entdeckt wurde die Leiche von einer Frau, die mit ihrem Appaloosa den Weg verlassen hatte, um der Herkunft eines eigenartigen Geruchs nachzugehen, dem die Reiterin vielleicht keine Beachtung geschenkt hätte, wenn sie nicht kurz zuvor an mehreren Suchmeldungen für das vermisste Mädchen vorbeigekommen wäre.

Becky Lost war weniger als fünfhundert Meter von ihrem Elternhaus entfernt gestorben. Es war nicht auszuschließen, dass ihr Vater nur wenige Meter an ihrer Leiche vorbeigegangen war, als er, immer wieder nach ihr rufend, den Hügel erstiegen hatte. An diesem Morgen war jedoch noch kein Verwesungsgeruch aufgetreten, der ihn auf seine Tochter hätte aufmerksam machen können.

Bosch war Vater einer kleinen Tochter. Obwohl sie weit fort von ihm bei ihrer Mutter lebte, war er in Gedanken immer bei ihr. Deshalb dachte er jetzt beim Studium der Akte an einen Vater, der einen steilen Hang hinaufging und nach einer Tochter rief, die nie mehr nach Hause kommen würde.

Er versuchte, sich auf die Mordakte zu konzentrieren.

Das Opfer war mit einer Pistole einmal in die Brust geschossen worden. Die Tatwaffe, eine Colt-Pistole Kaliber .45, hatte neben ihrem linken Fußgelenk im Laub gelegen. Beim Studium der Tatortfotos sah Bosch auf dem Stoff ihres hellblauen Nachthemds etwas, das wie der Brandfleck eines aufgesetzten Schusses aussah. Die Eintrittswunde war direkt über dem Herzen, und die Größe der Waffe und der Wunde ließen für Bosch kaum Zweifel, dass der Tod sofort eingetreten war.

Rebeccas Herz dürfte von der Kugel zerfetzt worden sein, als sie ihren Körper durchschlug.

Bosch betrachtete die Fotos der Leiche sehr lange. Sie war weder an den Händen gefesselt noch geknebelt. Ihr Gesicht war dem Stamm des umgestürzten Baumes zugewandt. Sie schien keinerlei Verletzungen aufzuweisen, die sie sich bei dem Versuch, sich zur Wehr zu setzen, zugezogen haben könnte. Es gab keinerlei Hinweise auf sexuellen Missbrauch oder sonstige Körperverletzungen.

Nachdem die Polizei schon das Verschwinden des Mädchens missdeutet hatte, schätzte sie zunächst auch die Todesursache falsch ein. Nach einer ersten Tatortanalyse gelangte sie zu dem Schluss, als Todesursache sei Selbstmord anzunehmen, weshalb die Ermittlungen in den Händen der lokalen Polizeidienststelle und der zwei Detectives blieben, die nach der Entdeckung der Leiche den Fall übernommen hatten, Ron Green und Arturo Garcia. Die Devonshire Division war damals und ist auch heute noch die ruhigste Dienststelle des LAPD. Als eine riesige Schlafstadt mit hohen Grundstückspreisen, deren Bewohner vorwiegend der oberen Mittelschicht angehören, zählen die Kriminalitätsraten von Devonshire seit jeher zu den niedrigsten von ganz Los Angeles. Die in Polizistenkreisen als Club Dev bekannte Devonshire Division war bei Officers und Detectives, die schon lange bei der Polizei waren und entweder entsprechend ausgebrannt waren oder einfach genug Action mitbekommen hatten, als Dienststelle außerordentlich begehrt. Außerdem war der Zuständigkeitsbereich der Devonshire Division derjenige Teil der Stadt, der am nächsten bei Simi Valley in Ventura County lag, einer ruhigen Gemeinde praktisch ohne Verbrechen, in der Hunderte von LAPD-Officers wohnten. Eine Stelle in Devonshire machte den täglichen Weg zur Arbeit zum Kinderspiel, und die Arbeitsbelastung war die geringste im ganzen LAPD.

Diesen ganzen Club-Dev-Hintergrund hatte Bosch beim Lesen der Berichte im Hinterkopf. Seine Aufgabe bestand unter anderem darin, die Leistungen Greens und Garcias zu beurteilen und festzustellen, ob sie ihrer Aufgabe gewachsen gewesen waren. Er kannte sie nicht und wusste nichts über sie. Er hatte keine Ahnung, wie viel an Können und Erfahrung sie in den Fall eingebracht hatten. Da war die anfängliche Falscheinschätzung der Todesursache als Selbstmord. Soviel aus den Unterlagen hervorging, waren die zwei Ermittler davon jedoch rasch wieder abgekommen. Ihre professionell geschriebenen Berichte machten einen ebenso gründlichen wie vollständigen Eindruck. Sie schienen, soweit dies im Bereich des Möglichen gelegen hatte, jede sich anbietende zusätzliche Maßnahme ergriffen zu haben.

Bosch war allerdings auch klar, dass eine Mordakte frisiert werden konnte, um diesen Eindruck zu erwecken. Um die Wahrheit ans Licht zu bringen, müsste er sich erst in den Fall vertiefen und seine eigenen Ermittlungen anstellen. Es konnte ein gewaltiger Unterschied bestehen zwischen dem, was protokolliert war und was nicht.

Der Akte zufolge hatten Green und Garcia bei ihren Ermittlungen rasch eine andere Richtung eingeschlagen, als nach der Autopsie Selbstmord als Todesursache ausgeschlossen werden konnte und die bei der Leiche gefundene Waffe untersucht worden war. Man stufte den Fall daraufhin als einen Mord ein, der als Selbstmord getarnt worden war.

Zunächst kam Bosch zum Obduktionsbefund. Er hatte Tausende von Obduktionsbefunden gelesen und mehreren Hundert Obduktionen beigewohnt. Er wusste also, dass er die ganzen Gewichts- und Größenangaben sowie die Beschreibung der Vorgehensweise überspringen und sich gleich der Zusammenfassung und den beigefügten Fotos zuwenden konnte. Wie nicht anders zu erwarten, war als Todesursache ein Pistolenschuss in die Brust angegeben. Der geschätzte Todeszeitpunkt war der 6. Juli zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens. In der Zusammenfassung war vermerkt, dass es keine Zeugen gab, die den Schuss gehört hatten, weshalb sich die Bestimmung des Todeszeitpunkts lediglich auf eine Messung des Absinkens der Körpertemperatur stützte.

Es gab jedoch auch ein paar Überraschungen. Rebecca Lost hatte langes, kräftiges Haar. Rechts am Nacken, unter ihrem offenen Haar, fand der Gerichtsmediziner eine kleine runde Hautverbrennung von der Größe eines Hemdknopfs. Fünf Zentimeter daneben war eine weitere Verbrennung, allerdings wesentlich kleiner als die erste. Der hohe Anteil an weißen Blutkörperchen im Umkreis der beiden Verletzungen deutete darauf hin, dass sie dem Opfer kurz vor, aber nicht direkt zum Zeitpunkt des Todes zugefügt worden waren.

Dem Obduktionsbefund zufolge stammten die Verbrennungen von einer Betäubungspistole, einer Waffe, die eine starke elektrische Ladung abgibt und die getroffene Person je nach Stärke des Stromstoßes mehrere Minuten oder auch länger handlungsunfähig oder bewusstlos macht. Normalerweise hinterlässt der Stromstoß einer Betäubungspistole da, wo die zwei Kontakte auf die Haut treffen, zwei kleine, fast nicht erkennbare Spuren. Werden allerdings die Kontakte unterschiedlich fest gegen die Haut gedrückt, kommt es häufig zu einem Funkenüberschlag, der Hautverbrennungen hervorruft, wie sie an Becky Losts Nacken zu beobachten gewesen waren.

In der Zusammenfassung des Obduktionsbefunds wurde auch vermerkt, dass bei der Untersuchung der zum Zeitpunkt der Entdeckung bloßen Füße des Opfers keine Erdreste, Schnitte oder Aufschürfungen gefunden wurden, was eigentlich zu erwarten gewesen wäre, wenn das Mädchen im Dunkeln barfüßig den Berg hinaufgegangen wäre.

Bosch trommelte mit seinem Stift auf den Befund und dachte über dieses Detail nach. Hier hatten Green und Garcia einen Fehler gemacht. Wenn sie die Füße des Opfers gleich am Tatort untersucht hätten, wären sie sofort zu dem Schluss gelangt, dass der Selbstmord nur vorgetäuscht war. Da sie das jedoch versäumt hatten, verloren sie zwei Tage, weil sie übers Wochenende auf den Obduktionsbefund warteten. Zählte man zu diesen zwei Tagen noch die zwei Tage dazu, die sie verloren hatten, weil die Vermisstenmeldung der Eltern zunächst als Ausreißversuch abgetan wurde, summierten sie sich zu einem für Mordermittlungen grenzwertigen Zeitraum. Der Fall war eindeutig sehr langsam aus den Startlöchern gekommen. Bosch begann allmählich zu sehen, wie sehr die Polizei Rebecca Lost im Stich gelassen hatte.

Der Obduktionsbefund enthielt auch das Ergebnis eines Schmauchspurentests, der an den Händen des Opfers vorgenommen worden war. An Becky Losts rechter Hand befanden sich Schmauchspuren, an ihrer linken nicht. Auch wenn Lost Rechtshänderin gewesen war, war dieser Umstand für Bosch ein Indiz dafür, dass sie die Waffe, die sie tötete, nicht abgefeuert hatte. Ihre Erfahrung – egal, wie begrenzt sie war – und ihr gesunder Menschenverstand hätten den Ermittlern sagen müssen, dass das Mädchen beide Hände gebraucht hätte, um die schwere Pistole so zu halten, dass sie auf ihre Brust zielte, und dann abzudrücken. Und das hätte Schmauchspuren an beiden Händen zur Folge gehabt.

Es gab in der Zusammenfassung des Obduktionsbefunds noch einen weiteren bemerkenswerten Punkt. Die Untersuchung der Leiche ergab, dass das Opfer bereits Sexualverkehr gehabt hatte, und Vernarbungen an den Gebärmutterwänden deuteten auf eine kurz zuvor erfolgte Dilatation und Ausschabung zum Zweck eines Schwangerschaftsabbruchs hin. Den Schätzungen des Gerichtsmediziners zufolge, der die Autopsie durchgeführt hatte, war dieser Eingriff vier bis sechs Wochen vor Becky Losts Tod vorgenommen worden.

Bosch las den ersten zusammenfassenden Ermittlungsbericht, der nach der Autopsie in die Akte aufgenommen worden war. Green und Garcia hatten den Todesfall inzwischen als Mord eingestuft und die Theorie aufgestellt, dass jemand in das Schlafzimmer des schlafenden Mädchens eingedrungen war, sie mit einer Betäubungspistole betäubt und dann aus dem Haus und den Hang hinauf zu der umgestürzten Eiche getragen hatte, wo er sie erschoss und die Tat aus einem spontanen Entschluss heraus dilettantisch als Selbstmord zu tarnen versuchte. Dieser Bericht wurde am Montag, den 11. Juli – fünf Tage nachdem Rebecca Lost auf dem Berghang erschossen worden war –, in die Akte aufgenommen.

Als Nächstes nahm sich Bosch die Tatwaffenanalyse vor. Nachdem bereits die Autopsie unwiderlegbare Beweise für einen inszenierten Selbstmord erbracht hatte, stützten auch die Tatwaffenanalyse und die entsprechenden ballistischen Untersuchungen diese Ermittlungstheorie.

Wie sich zeigte, wies die Pistole keine anderen Fingerabdrücke auf als die von Becky Losts rechter Hand. Aus dem Umstand, dass auf der Pistole keinerlei Abdrücke der linken Hand oder sonst irgendwelche Spuren waren, schlossen die Ermittler, dass die Waffe sorgfältig abgewischt worden war, bevor sie Becky in die Hand gedrückt und dann auf ihre Brust gerichtet und abgefeuert worden war. Aller Wahrscheinlichkeit nach war das Opfer infolge eines Stromstoßes aus der Betäubungspistole bewusstlos gewesen, als es dazu kam.

Die Patronenhülse, die beim Abfeuern des tödlichen Schusses ausgeworfen worden war, wurde knapp zwei Meter von der Leiche entfernt gefunden. Es waren keine Fingerabdrücke oder Spuren darauf, ein Hinweis, dass der Täter beim Laden der Waffe Handschuhe getragen hatte.

Das wichtigste Beweisstück des Ermittlungsverfahrens wurde bei der Untersuchung der Tatwaffe selbst entdeckt. Es wurde sogar in der Waffe gefunden. Es handelte sich dabei um ein Mark-IV-Modell der 80er-Serie, das 1986 bei Colt gefertigt worden war, also zwei Jahre vor dem Mord. Die halb automatische Waffe hatte einen langen Hammerdorn, der insofern von Bedeutung war, als die Waffe in dem Ruf stand, dem Schützen eine »Tattoo«-Verletzung beizubringen, wenn sie beim Abfeuern unsachgemäß gehandhabt wurde. Dazu kam es in der Regel, wenn beim beidhändigen Halten der Waffe die Haupthand am Griff nach oben und zu nahe an den Hammerdorn geschoben wurde. Die Haupthand konnte dann einen schmerzhaften Stempel erhalten, wenn beim Drücken des Abzugs das Verschlussstück automatisch nach hinten schnellte, um die Patronenhülse auszuwerfen. Wenn das Verschlussstück in die Ausgangsstellung zurückkehrte, klemmte es nicht selten die Hand des Schützen ein – normalerweise das Schwimmhäutchen zwischen Daumen und Zeigefinger – und zog ein Stück Haut in die Waffe hinein. Das alles geschah in Sekundenbruchteilen, und ein unerfahrener Schütze konnte oft gar nicht sagen, was ihn da »gebissen« hatte.

Genau das war bei der Waffe passiert, mit der Becky Lost erschossen worden war. Als ein Schusswaffenexperte die Halbautomatik auseinandernahm, fand er auf der Unterseite des Verschlussstücks ein kleines Stück Haut und getrocknetes Blut. Das wäre für jemanden, der die Waffe nur äußerlich untersuchte und von Blut und Fingerabdrücken säuberte, nicht erkennbar gewesen.

Green und Garcia bauten das in ihre Ermittlungstheorie ein. Im zweiten zusammenfassenden Ermittlungsbericht schrieben sie deshalb, Indizien deuteten darauf hin, dass der Mörder Becky Losts Hand um den Pistolengriff gelegt und dann die Mündung auf ihre Brust gedrückt hatte. Der Mörder benutzte eine oder beide seiner Hände, um die Waffe zu halten und Rebeccas Finger um den Abzug zu legen. Als dann der Schuss fiel, »tätowierte« das Verschlussstück den Mörder, indem es ein Stück seiner Haut in die Waffe zog.

Bosch machte sich in Gedanken eine Notiz, dass Green und Garcia in ihrer Ermittlungstheorie keine andere Möglichkeit erwähnten – wie zum Beispiel, dass sich die im Innern der Waffe gefundenen Blut- und Gewebespuren in der Nacht des Mordes bereits dort befunden haben könnten, dass also die Waffe möglicherweise eine andere Person als den Mörder tätowiert hatte, als sie irgendwann vor dem Mord abgefeuert worden war.

Ungeachtet dieses potenziellen Versehens wurden die an der Waffe gefundenen Blut- und Gewebespuren analysiert, und obwohl aus dem Obduktionsbefund bereits bekannt war, dass Becky Lost keine Verletzungen an den Händen gehabt hatte, wurde routinemäßig ein Blutgruppenvergleich vorgenommen. Das Blut von der Pistole war Blutgruppe 0. Becky Lost hatte AB positiv. Daraus folgerten die Ermittler, dass das Blut an der Tatwaffe vom Mörder stammte und dieser somit Blutgruppe 0 haben musste.

1988 war allerdings die Verwendung von DNS-Vergleichen in strafrechtlichen Ermittlungsverfahren noch Jahre davon entfernt, gängige und, noch wichtiger, vor Gericht zugelassene Rechtspraxis zu werden. Die ersten Datenbanken mit den DNS-Profilen von Straftätern mussten erst noch eingerichtet werden. In dem Ermittlungsverfahren von 1988 hätten die Detectives also lediglich einen Blutgruppenvergleich mit potenziellen Verdächtigen vornehmen können, wenn es solche gegeben hätte. Und im Mordfall Lost tauchte kein Tatverdächtiger auf. Der Fall wurde lang und hartnäckig bearbeitet, ohne dass es jemals zu einer Festnahme kam. Und er wurde kalt.

»Bis jetzt«, sagte Bosch laut, ohne sich dessen bewusst zu sein.

»Was?«, fragte Rider.

»Nichts. Ich habe nur laut gedacht.«

»Möchtest du schon darüber reden?«

»Noch nicht. Zuerst möchte ich alles lesen. Bist du schon durch?«

»Fast.«

»Du weißt doch, wem wir das alles zu verdanken haben?«, fragte Bosch.

Rider sah ihn fragend an. »Da muss ich leider passen.«

»Mel Gibson.«

»Wie bitte?«

»Wann kam die erste Folge von Lethal Weapon raus? Doch irgendwann um diese Zeit?«

»Schon möglich. Aber was soll das hiermit zu tun haben? Diese Filme waren doch vollkommen realitätsfern.«

»Genau das will ich damit doch sagen. Das war der Film, mit dem dieser ganze Quatsch losging, du weißt schon, die Waffe seitlich und mit zwei Händen zu halten, eine über der anderen. Wir haben Blut auf dieser Tatwaffe, weil der Schütze Lethal Weapon-Fan war.«

Rider schüttelte verständnislos den Kopf.

»Du wirst schon sehen«, sagte Bosch. »Ich werde den Kerl fragen, wenn wir ihn festnehmen.«

»Na schön, Harry, tu das.«

»Mel Gibson hat einer Menge Leute das Leben gerettet. Diese ganzen Seitwärtsschützen, die treffen doch rein gar nichts. Wir sollten ihn zum Ehrenpolizisten ernennen oder so was.«

»Okay, Harry, ich werde dann mal weiterlesen. Ich möchte nämlich irgendwann damit fertig werden.«

»Klar, sicher. Ich auch.«

5

Kurz nachdem die Einheit Offen-Ungelöst des LAPD ihre Arbeit aufgenommen hatte, wurde das DNS-Material aus dem Lost-Fall an das California Department of Justice, das kalifornische Justizministerium, weitergeleitet. Zusammen mit Beweismaterial aus Dutzenden anderer Fälle, die bei der ersten Durchsicht der ungelösten Morde ausgewählt worden waren, wurde es in das DNS-Labor geschickt. Das DOJ besaß die wichtigste DNS-Datenbank des Staates Kalifornien. Aufgrund von Geld- und Personalmangel war die Wartezeit für DNS-Vergleiche allerdings bereits zum damaligen Zeitpunkt länger als ein Jahr gewesen. Infolge der Antragsflut seitens der neuen LAPD-Einheit dauerte es schließlich sogar fast achtzehn Monate, bis das Lost-Material von DOJ-Technikern neu in die Datenbank eingegeben und mit Tausenden von DNS-Profilen, die darin bereits gespeichert waren, verglichen werden konnte. Was dabei herauskam, war eine einzige Übereinstimmung, ein »kalter Treffer«, wie es im Jargon der DNS-Leute hieß.

Bosch blickte auf den eine Seite umfassenden DOJ-Bericht hinab, der vor ihm lag. Darin stand, dass zwölf der vierzehn möglichen Marker die DNS von der Waffe, mit der Rebecca Lost ermordet worden war, einem inzwischen 35-jährigen Mann namens Roland Mackey zuordneten. Der letzte bekannte Wohnsitz des in Los Angeles geborenen Mannes war in Panorama City. Bosch spürte, wie das Blut beim Lesen des Berichts etwas schneller durch seine Adern zu strömen begann. Panorama City lag im San Fernando Valley, selbst bei starkem Verkehr höchstens eine Viertelstunde von Chatsworth entfernt. Dieser Umstand verlieh der Übereinstimmung zusätzliche Glaubwürdigkeit. Es war nicht so, dass Bosch kein Vertrauen in diese wissenschaftlichen Verfahren hatte. Ganz im Gegenteil. Allerdings war er auch der Überzeugung, dass man mehr als solche wissenschaftlichen Verfahren brauchte, um die letzten Zweifel der Geschworenen auszuräumen. Man musste die wissenschaftlichen Fakten durch Übereinstimmungen mit Indizienbeweisen und gesundem Menschenverstand unterfüttern. Und das war so eine Übereinstimmung.

Bosch sah das Datum auf dem Begleitschreiben des DOJ-Berichts.

»Hast du nicht gesagt, das wäre gerade erst reingekommen?«, fragte er Rider.

»Ja. Am Freitag, glaube ich. Wieso?«

»Das Datum hier drauf ist aber vom Freitag davor. Das wären zehn Tage.«

»Die Mühlen der Bürokratie mahlen eben langsam«, bemerkte Rider achselzuckend. »Hat wahrscheinlich etwas gedauert, um von Sacramento bis hier runterzukommen.«

»Ich meine, der Fall ist zwar alt, aber man möchte trotzdem meinen, sie wären ein bisschen schneller.«

Rider reagierte nicht. Bosch ließ die Sache auf sich beruhen und las weiter. Mackeys DNS befand sich in der DOJ-Datenbank, weil alle Straftäter, die in Kalifornien wegen eines Sexualdelikts verurteilt wurden, laut kalifornischem Gesetz Blut und einen Mundabstrich für die DNS-Datenbank zur Verfügung stellen mussten. Allerdings hätte sich darüber streiten lassen, ob in Mackeys Fall das Vergehen, dessentwegen seine DNS in die Datenbank aufgenommen worden war, diesen Schritt tatsächlich rechtfertigte. Mackey war zwei Jahre zuvor in Los Angeles wegen unzüchtigen Verhaltens in der Öffentlichkeit verurteilt worden. Der DOJ-Bericht enthielt keine Einzelheiten über sein Vergehen, nur den Vermerk, dass Mackey zwölf Monate auf Bewährung erhalten hatte, was darauf hindeutete, dass es sich um ein geringfügiges Vergehen handelte.

Bosch wollte sich auf seinem Block gerade eine entsprechende Notiz machen, als er aufblickte und feststellte, dass Rider gerade die Mordakte mit der zweiten Hälfte der Dokumente schloss.

»Fertig?«

»Fertig.«

»Und jetzt?«

»Ich gehe mal rüber ins ESB, die Schachtel holen, während du hier zu Ende liest.«

Bosch wusste sofort, was sie meinte. Die Welt der Abkürzungen und speziellen Polizeiausdrücke war ihm sofort wieder präsent geworden. Das ESB oder Evidence Storage Building war die Asservatenkammer drüben im Piper-Tech-Komplex. Von dort wollte Rider das Beweismaterial zu dem Fall holen. Dinge wie die Tatwaffe, die Kleidung des Opfers und alle sonstigen Gegenstände, die im Lauf des ursprünglichen Ermittlungsverfahrens zusammengetragen worden waren. Normalerweise wurden diese Beweismittel in einen mit Klebeband verschlossenen Karton gepackt und in ein Regal gestellt. Eine Ausnahme bildeten hier nur verderbliche und organische Beweismittel wie das Blut und das Gewebe von der Mordwaffe, die in Tresorräumen der Scientific Investigation Division gelagert wurden.

»Gute Idee«, sagte Bosch. »Aber warum gibst du diesen Kerl nicht erst in DMV und NCIC ein? Vielleicht kriegen wir einen aktuellen Wohnsitz.«

»Hab ich bereits gemacht.«

Sie drehte ihr Notebook auf dem Schreibtisch herum, sodass Bosch auf den Bildschirm sehen konnte. Er erkannte das Symbol des National Crime Index Computer auf dem Bildschirm. Er langte über den Tisch und begann, nach unten zu scrollen und die Informationen zu überfliegen.

Rider hatte Roland Mackey in den NCIC eingegeben und sein Vorstrafenregister erhalten. Seine Verurteilung wegen unzüchtigen Verhaltens zwei Jahre zuvor war nur die letzte in einer Reihe von Festnahmen gewesen, die bis in die Zeit zurückreichten, als er achtzehn wurde – bis in das Jahr, in dem Rebecca Lost ermordet worden war. Alles, was davorlag, war nicht aufgeführt, weil infolge des Jugendschutzrechts dieser Teil seines Vorstrafenregisters ausgeblendet wurde. Die meisten der aufgeführten Straftaten waren Eigentums- und Drogendelikte, beginnend mit einem Einbruch und einem Autodiebstahl im Alter von achtzehn, gefolgt von zwei Haftstrafen wegen Drogenbesitzes sowie zwei Festnahmen wegen Fahrens unter Drogeneinfluss, einer weiteren Anklage wegen Einbruchs und einer Festnahme wegen Annahme von Diebesgut. Außerdem gab es schon früh eine Festnahme wegen Prostitution. Alles in allem der typische Lebenslauf eines Kleinkriminellen und Drogenabhängigen. Allem Anschein nach war Mackey für keine seiner Straftaten in ein Staatsgefängnis gekommen. Die Richter hatten oft ein Nachsehen mit ihm und verurteilten ihn als Gegenleistung für ein Schuldgeständnis zu einer Bewährungsstrafe oder zu einer kurzen Haftstrafe in einem Bezirksgefängnis. Wie es schien, waren die längste Zeit, die er hinter Gittern verbrachte, die sechs Monate gewesen, die er einsaß, nachdem er sich im Alter von achtundzwanzig Jahren schuldig bekannt hatte, Diebesgut angenommen zu haben. Er verbüßte seine Strafe im Wayside Honor Rancho, einem County-Gefängnis.

Nachdem Bosch die Datei durchgescrollt hatte, lehnte er sich zurück. Ihm gefiel nicht, was er gerade gelesen hatte. Mackey hatte die Sorte Vorstrafenregister, die man als direkten Weg zu einem Mord ansehen könnte. Nur stand in seinem Fall der Mord an erster Stelle – als Mackey gerade achtzehn war –, und die geringfügigen Vergehen kamen hinterher. Das schien nicht ganz stimmig.

»Was ist?«, fragte Rider, die spürte, was in ihm vorging.

»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich dachte ich einfach, da wäre mehr. Es läuft genau verkehrt herum. Von Mord zu geringfügigen Vergehen. Irgendwie will mir das nicht so recht einleuchten.«

»Na ja, das sind ja auch nur die Straftaten, die ihm nachgewiesen werden konnten. Das heißt nicht, dass das auch alles ist, was er getan hat.«

Bosch nickte.

»Jugendstrafen?«, fragte er.

»Vermutlich. Höchstwahrscheinlich sogar. Aber an diese Unterlagen kommen wir nicht mehr ran. Wahrscheinlich existieren sie schon lange nicht mehr.«

Das stimmte. Der Staat überschlug sich geradezu, die Rechte von jugendlichen Straftätern zu schützen. Nur in den seltensten Fällen wurden ihre Vorstrafen ins Erwachsenenstrafrecht mit herübergenommen. Wie dem auch sei, im Fall Mackeys hätten es Jugendstraftaten sein müssen, die besser zu der kaltblütigen Ermordung eines 16