Wüstenstern - Michael Connelly - E-Book

Wüstenstern E-Book

Michael Connelly

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Beschreibung

Ein Jahr ist vergangen, seit Detective Renée Ballard den Dienst quittiert und die Late Show verlassen hat. Nun holt niemand Geringerer als der Polizeichef persönlich sie zurück zum LAPD – als Leiterin der neuen Einheit Offen­Ungelöst. Der Druck auf Ballard ist groß: Der Stadtrat, dem sie die Finanzierung der Abteilung zu verdanken hat, will Ergebnisse sehen. Seine Schwester wurde ermordet, der Fall nie geklärt. In Ballards Team aus Reservisten und Ehrenamtlichen darf einer nicht fehlen: Harry Bosch. Viel ist es nicht, womit Ballard ihren einstigen Kollegen locken kann: keine Waffe, keine Dienstmarke, aber ein eigener Schreibtisch – und stapelweise Akten. Doch Bosch verfolgt ohnehin seine eigenen Ziele. Zwar hat er in seiner dreißigjährigen Karriere mehr Morde aufgeklärt als die meisten anderen, aber ein cold case lässt ihn auch nach seiner Pensionierung nicht los: Finbar McShane hat eine vierköpfige Familie ausgelöscht und die Leichen in der Mojave-­Wüste verscharrt – was Bosch ihm aber nie beweisen konnte. Als Mitglied der neuen Abteilung für ungelöste Fälle, mit den Ressourcen des LAPD im Rücken und Renée Ballard an seiner Seite, will Bosch den Mörder endlich überführen.

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Michael Connelly

Wüstenstern

Ein Fall für Renée Ballard und Harry Bosch

Aus dem amerikanischen Englisch von Sepp Leeb

Kampa

Im Gedenken an Philip Spitzer,

der an Harry Bosch geglaubt hat

Teil 1Die Bibliothek der verlorenen Seelen

1

Bosch hatte die Pillen auf dem Tisch aufgereiht, um sieeinzunehmen, und goss gerade Wasser in ein Glas, als die Türglocke ertönte. Er blieb sitzen und überlegte, ob er sie einfach ignorieren sollte. Er erwartete niemanden, und seine Tochter hatte einen Schlüssel und klingelte nie. Es konnte nur ein Vertreter oder ein Nachbar sein, und von den Nachbarn kannte er keinen mehr. Die Bewohner der Häuser in der Gegend schienen alle paar Jahre komplett ausgetauscht zu werden, und nachdem er schon über dreißig Jahre hier wohnte, hatte er aufgehört, bei den Neuen vorbeizuschauen und sie zu begrüßen. Lieber war er der übellaunige alte Ex-Cop, den die Leute in Ruhe ließen.

Das zweite Läuten wurde von einer Stimme begleitet, die seinen Namen rief. Einer Stimme, die er kannte.

»Harry, ich weiß, dass du da bist. Dein Wagen steht vor dem Haus.«

Er zog die Schublade unter der Tischplatte heraus. Sie enthielt Plastikbesteck, Servietten und Essstäbchen vom Lieferdienst. Er wischte die Pillen mit der Hand in die Schublade und schob sie wieder zu. Dann stand er auf und ging öffnen.

Renée Ballard stand vor der Tür. Bosch hatte sie fast ein Jahr nicht mehr gesehen. Sie wirkte schmaler, als er sie in Erinnerung hatte. Er konnte sehen, wo sich ihr Blazer über der Dienstwaffe an ihrer Hüfte wölbte.

»Harry«, sagte sie.

»Hast du dir die Haare geschnitten?«, fragte er.

»Ja, schon vor einer Weile.«

»Was willst du hier, Renée?«

Sie runzelte die Stirn, als ob sie mit einer herzlicheren Begrüßung gerechnet hätte. Doch so, wie letztes Jahr alles geendet hatte, konnte sich Bosch nicht vorstellen, warum das so sein sollte.

»Finbar«, sagte sie.

»Was?«, sagte er.

»Du weißt genau, wen ich meine. Finbar McShane.«

»Was ist mit ihm?«

»Er treibt sich immer noch da draußen rum. Irgendwo. Willst du mir helfen, ihn zu fassen, oder willst du weiter die beleidigte Leberwurst spielen?«

»Kannst du mir das vielleicht genauer erklären?«

»Wenn du mich mal reinlassen würdest, erzähle ich es dir.«

Nach kurzem Zögern machte Bosch einen Schritt zurück und hob widerstrebend den Arm, um sie nach drinnen zu winken.

Ballard betrat das Haus und stellte sich an den Tisch, an dem Bosch eben noch gesessen hatte.

»Keine Musik?«, fragte sie.

»Heute nicht«, sagte Bosch. »Und was ist jetzt mit McShane?«

Zum Zeichen, dass sie verstand, dass sie zur Sache kommen sollte, nickte sie.

»Sie haben mir die Leitung von Offen-Ungelöst übertragen, Harry.«

»Soviel ich mitbekommen habe, ist die Einheit längst aufgelöst. Weil sie es wichtiger fanden, mehr Uniformen durch die Stadt laufen zu lassen.«

»Da hast du durchaus richtig gehört, aber manchmal ändern sich die Dinge auch. Die Polizei gerät immer mehr unter Druck, kalte Fälle aufzuarbeiten. Du weißt doch, wer Jake Pearlman ist?«

»Der Stadtrat.«

»Er ist sogar dein Stadtrat. Seine kleine Schwester wurde ermordet. Ist schon lange her, aber die Sache wurde nie aufgeklärt. Er wurde in den Stadtrat gewählt und fand heraus, dass Offen-Ungelöst stillschweigend aufgelöst worden war und sich niemand mehr um die kalten Fälle kümmerte.«

»Und?«

»Ich habe Wind von der Sache bekommen und dem Captain einen Vorschlag gemacht: Ich höre bei der RHD auf und baue Offen-Ungelöst wieder auf – kalte Fälle aufarbeiten.«

»Ganz allein?«

»Nein. Deshalb bin ich hier. Im zehnten Stock sind sie einverstanden: ein vereidigter Officer – ich –, und der Rest der Einheit setzt sich aus Reservisten, Freiwilligen und Freiberuflern zusammen. Die Idee ist nicht von mir. Andere Abteilungen machen das schon einige Jahre so und fahren ziemlich gut damit. Ein bewährtes System. Drauf gebracht hat mich übrigens, was du in San Fernando gemacht hast.«

»Und jetzt möchtest du, dass ich bei dieser Truppe – oder wie du es nennen willst – einsteige. Als Reservisten nehmen sie mich nicht. Dafür fehlt es mir an den körperlichen Voraussetzungen. Eine Meile in unter zehn Minuten laufen? Kannst du vergessen.«

»Genau, deshalb müsstest du dich als Ehrenamtlicher melden, oder wir beschäftigen dich auf Honorarbasis. Ich habe alle Mordbücher zum Gallagher-Fall rausgesucht. Sechs Bücher für vier Morde – bestimmt mehr Material, als du mitgenommen hast. Du könntest dir McShane wieder vorknöpfen. Offiziell.«

Bosch dachte kurz nach. McShane hatte 2013 die gesamte Familie Gallagher ausgelöscht und alle in der Wüste verscharrt. Bosch hatte es aber nie beweisen können. Und dann war er in Pension gegangen. Er hatte nicht jeden Fall gelöst, den er in seinen fast dreißig Jahren bei verschiedenen Morddezernaten zugeteilt bekommen hatte. Das war bisher keinem Mordermittler gelungen. Aber hier ging es um eine ganze Familie. Es war der Fall, den er am allerwenigsten unaufgeklärt lassen wollte.

»Du weißt, ich bin beim LAPD nicht im Guten ausgeschieden«, sagte er. »Ich bin von selbst gegangen – bevor sie mich rausgeworfen haben. Und dann habe ich sie verklagt. Die nehmen mich garantiert nicht mehr.«

»Wenn du willst, kannst du sofort anfangen«, sagte Ballard. »Ich habe bereits alles geregelt, bevor ich hergekommen bin. Wir haben jetzt einen neuen Captain und neue Leute. Um ganz ehrlich zu sein, Harry, kaum jemand von uns kennt dich überhaupt. Du bist jetzt bereits – wie lange? – fünf Jahre nicht mehr dabei. Oder sind es schon sechs? Jedenfalls sind wir eine völlig andere Truppe.«

»Oben im zehnten Stock erinnern sie sich bestimmt noch an mich.«

Im zehnten Stock des Police Administration Building befanden sich die Büros des Polizeichefs und der meisten Commander des LAPD.

»Du wirst es vielleicht nicht glauben, aber wir sind gar nicht im PAB untergebracht«, sagte Ballard. »Wir sind im neuen Mordfälle-Archiv draußen in Westchester. Das hält uns die Politik und neugierige Blicke vom Hals.«

Das ließ Bosch aufhorchen.

»Sechs Bücher?« Er dachte laut nach.

»Auf einem leeren Schreibtisch mit deinem Namensschild drauf«, sagte Ballard.

Als Bosch in Pension gegangen war, hatte er Kopien zahlreicher Dokumente mitgenommen. Die Chronologien und alle Protokolle, die er für besonders wichtig hielt. Er hatte seit seinem Ausscheiden bei der Polizei mit Unterbrechungen immer wieder am Gallagher-Fall gearbeitet, musste aber zugeben, dass er keinen Schritt weitergekommen war und Finbar McShane immer noch auf freiem Fuß war und vielleicht weiterhin sein Unwesen treiben konnte. Bosch hatte nie irgendwelche konkreten Beweise für seine Schuld gefunden, aber sein Bauchgefühl sagte ihm, dass er es gewesen sein musste. Ballards Angebot war verlockend.

»Ich komme also zurück und arbeite am Fall der Gallagher-Familie?«, fragte er.

»Ja, du arbeitest daran, das schon«, sagte Ballard. »Aber du musst auch andere Fälle übernehmen.«

»Einen Haken gibt es immer.«

»Ich muss Ergebnisse vorweisen. Ihnen zeigen, dass es falsch war, die Einheit aufzulösen. Der Gallagher-Fall ist natürlich mit einigem Aufwand verbunden – sechs Bücher, die durchgearbeitet werden müssen, keinerlei DNA-Spuren oder Fingerabdrücke, von denen wir wissen. Es ist ein Fall, der viel Klinkenputzen erfordert, was völlig okay ist, aber ich muss auch einige Fälle lösen, um die Wiedereinsetzung der Einheit zu rechtfertigen und ihren Fortbestand zu gewährleisten, damit du an einem Sechs-Bücher-Fall arbeiten kannst. Wäre das ein Problem für dich?«

Zuerst antwortete Bosch nicht. Er dachte daran, wie ihm Ballard vor einem Jahr in den Rücken gefallen war. Sie hatte aus Frust über Politik und Bürokratie, Frauenfeindlichkeit und alles mögliche andere bei der Polizei gekündigt, worauf sie beschlossen, gemeinsam als Privatermittler weiterzumachen. Doch dann hatte sie der Polizeichef mit dem Angebot geködert, sich ihre neue Stelle selbst aussuchen zu dürfen, und sie hatte ihre Entscheidung rückgängig gemacht und sich für die Robbery-Homicide Division in Downtown entschieden. Und damit hatte es sich gehabt mit ihrer geplanten Partnerschaft.

»Du weißt aber, dass ich mich bereits nach einem Büro umgesehen hatte«, sagte er. »Und ich hatte ein schönes in einem Haus hinter dem Hollywood Athletic Club in Aussicht.«

»Jetzt komm schon, Harry«, sagte Ballard. »Ich habe mich dafür entschuldigt, wie ich das damals geregelt habe, aber ganz unschuldig warst du daran auch nicht.«

»Ich? Jetzt hör aber mal.«

»Doch, du. Du warst derjenige, der mir gesagt hat, dass man eine Organisation von innen heraus besser verändern kann als von außen. Und dafür habe ich mich entschieden. Du kannst also gern weiter beleidigt sein, wenn du dich dann besser fühlst, aber ich habe nichts anderes gemacht, als das zu tun, wozu du mir geraten hast.«

Bosch schüttelte den Kopf. Er konnte sich nicht erinnern, ihr diesen Rat gegeben zu haben, aber er wusste, dass er grundsätzlich dahinterstand. Dasselbe hatte er auch seiner Tochter gesagt, als sie nach den jüngsten Protesten und dem damit einhergehenden Hass auf die Polizei überlegt hatte, ob sie zum LAPD gehen sollte.

»Also gut, meinetwegen«, sagte er. »Ich mach’s. Bekomme ich eine Dienstmarke?«

»Keine Dienstmarke, keine Waffe«, sagte Ballard. »Aber du bekommst diesen Schreibtisch mit den sechs Büchern. Wann kannst du anfangen?«

Bosch dachte kurz an die Pillen, die er vor wenigen Minuten auf dem Tisch aufgereiht hatte.

»Wann du möchtest«, sagte er.

»Gut«, sagte Ballard. »Dann sehen wir uns am Montag. Du bekommst am Empfang einen Besucherpass, und dann besorgen wir dir einen Ausweis. Dafür müssen sie ein Foto von dir machen und dir die Fingerabdrücke abnehmen.«

»Steht dieser Schreibtisch in der Nähe eines Fensters?«

Bosch grinste, als er das sagte, Ballard nicht.

»Überreize es nicht«, sagte sie.

2

Ballard saß an ihrem Schreibtisch und schrieb einenDNA-Budget-Antrag, als ihr Telefon läutete. Es war der Officer am Empfang.

»Ich habe hier einen Typen, der behauptet, wir hätten einen Besucherpass für ihn. Hiron… Hir… schwer auszusprechen. Sein Nachname ist Bosch.«

»Sorry, hab ich ganz vergessen. Geben Sie ihm einen Besucherpass und schicken Sie ihn nach hinten. Er wird hier arbeiten. Deshalb machen wir ihm später einen Ausweis. Und er heißt Hieronymus. Reimt sich auf Anonymus.«

»Okay, ich schicke ihn nach hinten.«

Ballard legte das Telefon auf den Tisch und stand auf, um Bosch am Eingang des Archivs abzuholen. Sie wusste, dass er wegen des Patzers am Empfang bestimmt sauer war. Als sie die Tür öffnete, stand Bosch zwei Meter davor und schaute zu der Wand über ihrem Kopf hoch. Sie grinste.

»Wie findest du’s?«, fragte sie. »Habe ich dort anbringen lassen.«

Sie trat auf den Flur hinaus und drehte sich um, um zu der Aufschrift über der Tür hinaufschauen zu können.

EINHEITOFFEN-UNGELÖST

Entweder zählen alle, oder es zählt keiner

Bosch schüttelte den Kopf. Entweder zählen alle, oder es zählt keiner war das Motto, unter dem er seit jeher an Mordermittlungen heranging, aber es war auch sein persönliches Motto. Es war kein Slogan, und schon gar nicht einer, den er an eine Wand gepinselt sehen wollte. Es war etwas tief Empfundenes, etwas, woran man aus seinem Innersten heraus glaubte. Nichts, was man vor sich hertrug, und nichts, was man jemandem beibringen konnte.

»Jetzt stell dich nicht so an«, sagte Ballard. »Irgendwas brauchen wir. Ein Motto, einen Wahlspruch. Etwas, das uns zusammenschweißt. Wir wollen richtig anpacken.«

Bosch sagte nichts.

»Aber jetzt komm«, sagte sie. »Ich zeige dir deinen Platz.«

Sie ging um den Empfangsschalter herum, der vor einer Regalreihe mit nach Jahr und Fallnummer geordneten Mordbüchern stand, und dann den Gang links davon zum eigentlichen Arbeitsbereich der wiedereingesetzten Einheit Offen-Ungelöst hinunter. Dort standen sieben Schreibtische mit Trennwänden, jeweils drei auf jeder Seite und einer am Ende.

Zwei der Schreibtische waren besetzt, und die Köpfe der Ermittler ragten ganz knapp über die Trennwände. Ballard blieb an dem Schreibtisch am einen Ende stehen.

»Das ist mein Platz«, sagte sie. »Und deiner ist hier.«

Sie deutete auf eine Box, die durch eine halbhohe Wand von ihrer getrennt war. Bosch ging um sie herum. Ballard betrat ihre Box und stützte sich mit verschränkten Armen auf die Trennwand, sodass sie auf Boschs Schreibtisch hinabschauen konnte, auf dem bereits zwei Stapel, ein großer und ein kleiner, mit Mordbüchern lagen.

»Der große Stapel ist Gallagher – hast du dir wahrscheinlich schon gedacht.«

»Und der hier?«

Bosch schlug den obersten Ordner des kleineren Stapels auf.

»Das ist der Haken an der Sache«, sagte Ballard. »Sarah Pearlman. Ich möchte, dass du mit ihr anfängst.«

»Die Schwester des Stadtrats?«, sagte Bosch. »Hast du da noch nicht reingeschaut?«

»Doch, natürlich. Sieht allerdings ziemlich hoffnungslos aus. Aber ich wüsste gern, was du davon hältst – bevor ich dem Stadtrat die schlechte Nachricht überbringe.«

Bosch nickte.

»Ich schau mal rein.«

»Bevor du dich in die Arbeit stürzt, möchte ich dich noch Lilia und Thomas vorstellen«, sagte Ballard.

Ballard ging zu den zwei letzten Schreibtischen, an denen ein Mann und eine Frau saßen, die beide aussahen wie Mitte, Ende fünfzig. Ballard blieb neben dem Mann stehen und legte ihm die Hand auf die Schulter, als sie ihn vorstellte. Beide machten einen kompetenten Eindruck. Die Anzugjacke des Manns hing über seiner Stuhllehne. Er trug eine Krawatte, hatte dunkles Haar und einen Oberlippenbart und hatte für die Schreibtischarbeit eine Lesebrille aufgesetzt. Die Frau hatte dunkles Haar und einen dunklen Teint. Sie war genauso angezogen, wie Ballard das immer war: Hosenanzug und weiße Bluse. Sie hatte einen Anstecker mit einer amerikanischen Flagge am Revers ihrer Jacke, und Bosch fragte sich, ob das dem Zweck diente, von vorneherein alle Fragen abzuwimmeln, ob sie Ausländerin war.

»Das ist Thomas Laffont, der erst letzte Woche zu uns gestoßen ist«, sagte Ballard. »Er war beim FBI, und ich habe ihn mit Lilia Aghzafi zusammengesteckt, die zwanzig Jahre bei der Las Vegas Metro war, bis sie endlich mal den Pazifik sehen wollte und sich nach ihrer Pensionierung hierher hat versetzen lassen. Tom und Lilia klopfen Fälle darauf ab, ob vielleicht Kandidaten für genetische Abstammungsnachuntersuchungen darunter sind. Das ist in der Cold-Case-Szene gerade der letzte Schrei.«

Bosch schüttelte den beiden Ermittlern die Hände und nickte dazu.

»Das ist Harry Bosch«, sagte Ballard. »Ehemals LAPD. Weil es nicht seine Sache ist, sich selbst auf die Schultern zu klopfen, werde ich das tun. Er war eines der Gründungsmitglieder der alten Einheit Offen-Ungelöst und hat mehr Jahre als Mordermittler auf dem Buckel als sonst jemand beim LAPD.«

Danach beobachtete Ballard, wie Bosch unbeholfen die Begrüßungen und den Smalltalk hinter sich brachte. Es gelang ihm nicht sonderlich gut, sein lang gehegtes Misstrauen gegenüber dem FBI zu verbergen. Schließlich rettete sie ihn und brachte ihn zu seinem Arbeitsplatz zurück, nachdem sie Aghzafi und Laffont erklärt hatte, dass sie mit dem »Rookie« der Einheit noch Verschiedenes besprechen müsste.

Zurück am anderen Ende des Arbeitsbereichs, gingen sie in ihre Boxen, und Ballard stützte sich wieder auf die Trennwand, damit sie Bosch beim Sprechen sehen konnte.

»Klasse«, sagte sie. »Ist mir eben erst aufgefallen, dass du den Pornobalken losgeworden bist. War das, nachdem wir miteinander geredet haben?«

Sie war sich ziemlich sicher. Hätte er ihn schon nicht mehr gehabt, als sie bei ihm zu Hause war, wäre ihr das bestimmt aufgefallen. Bosch wurde rot und schaute kurz zu Aghzafi und Laffont, um zu sehen, ob sie die Bemerkung gehört hatten. Dann rieb er sich mit Daumen und Zeigefinger die Oberlippe, als wollte er sich vergewissern, dass er keinen Schnurrbart mehr hatte.

»Er wurde langsam weiß«, sagte er.

Eine weitere Erklärung blieb aus. Aber Ballard wusste, dass er schon weiß geworden war, bevor sie Bosch überhaupt kennengelernt hatte.

»Maddie dürfte jedenfalls froh darüber sein«, sagte sie.

»Sie hat es noch nicht gesehen«, sagte er.

»Wie geht’s ihr überhaupt?«

»Gut, soviel ich weiß. Sie arbeitet viel.«

»Ich habe gehört, dass sie von der Akademie gleich zur Hollywood Division gekommen ist. Da hat sie echt Glück gehabt.«

»Ja, sie ist für die Spätschicht eingeteilt worden. Aber jetzt, dieser Abstammungskram, wie funktioniert das?«

Ballard merkte, dass Bosch die persönlichen Fragen unangenehm waren und dass er händeringend das Thema zu wechseln versuchte.

»Deswegen brauchst du dir keine Gedanken zu machen«, sagte sie. »Es ist zuverlässig und hilfreich, aber eben auch mit viel wissenschaftlichem Kram verbunden und somit teuer. Das ist der einzige Bereich, wo ich sehr genau abwägen muss, ob wir darauf zurückgreifen. Wir bekommen einen Zuschuss von der Ahmanson Foundation, die übrigens den ganzen Laden hier finanziert, aber eine umfassende genetische Überprüfung kostet gut und gern ihre achtzehntausend Dollar, wenn wir uns dabei auf externe Anbieter stützen müssen. Deshalb ist das immer eine schwierige Entscheidung. Damit befassen sich Tom und Lilia und ein dritter Ermittler, den du morgen kennenlernen wirst. Was gängige DNA-Analysen angeht, haben wir allerdings eine Blankovollmacht, weil wir alles, was dafür nötig ist, hier haben. Aber für die speziellen Nachuntersuchungen müssen wir uns einfach hinten anstellen und warten. Allerdings habe ich auch eine Trumpfkarte, mit der wir sofort drankommen. Aber ich darf sie nur einmal im Monat ausspielen. Hab ich vom Chief bekommen. Außerdem hat er uns einen Labortechniker zugeteilt, der ausschließlich Fälle unserer Einheit bearbeitet.«

»Nett von ihm.«

»Ja, aber zurück zu unserer Einweisung. Ich verlange von meinen Reservisten und Freiwilligen, dass sie mir mindestens einen Tag pro Woche zur Verfügung stehen. Die meisten kommen sowieso öfter rein, aber ich staffle sie so, dass von Montag bis Donnerstag immer mindestens einer hier die Stellung hält. Ich bin ständig hier, Tom und Lilia habe ich für Montag eingeteilt, Paul Masser und Colleen Hatteras für Dienstag, Lou Rawls für Mittwoch und jetzt du … ich würde sagen donnerstags, obwohl mir natürlich klar ist, dass du wesentlich öfter herkommen wirst. Wie übrigens die meisten von den anderen auch.«

»Lou Rawls – echt jetzt?«

»Nein. Und er ist nicht mal schwarz. Richtig heißt er Ted Rawls, und in zehn Jahren bei der Polizei dürfte es wohl kaum möglich sein, diesen Spitznamen nicht angehängt zu bekommen. Deshalb nennen ihn einige immer noch Lou, was ihn auch nicht groß zu stören scheint.«

Bosch nickte.

»Aber nur damit du’s weißt.« Ballard beugte sich vor und senkte ihre Stimme so weit, dass sie es gerade noch über die Trennwand schaffte. »Wenn’s nach mir gegangen wäre, hätte ich ihn nicht genommen.«

Bosch fuhr mit seinem Stuhl näher an den Schreibtisch heran, um das vertrauliche Flüstern besser hören zu können.

»Inwiefern?«, fragte er.

»Wir haben mehr Bewerber als Stellen«, sagte Ballard. »Zuerst hat der Chief mich meine Kandidaten auswählen lassen. Das habe ich auch gemacht, aber Lou Rawls wurde von Pearlman ausgesucht.«

»Vom Stadtrat?«

»Er mischt sich ziemlich massiv bei uns ein, er und sein Stabschef. Es geht um seine Schwester, aber auch um Politik. Er hat sich höhere Ziele gesteckt als nur einen Sitz im Stadtrat, und dabei wären Erfolge dieser Einheit hilfreich. Deshalb hat er uns Rawls aufgedrückt. Ich musste ihn nehmen.«

»Nie von ihm gehört. Obwohl mich das bei einem Namen wie seinem eigentlich wundert. Dann war er wohl nicht beim LAPD?«

»Er war in Santa Monica, aber das ist schon fünfzehn Jahre her. Entsprechend wenig hat er auch drauf. Braucht ständig Hilfe, und vor allem ist er der direkte Draht zu Pearlman und Hastings.«

»Hastings?«

»Nelson Hastings, Pearlmans Stabschef. Die drei scheinen ziemlich eng miteinander zu sein. Rawls hat nach zehn Jahren beim Santa Monica PD aufgehört und sich selbstständig gemacht. Deshalb ist das für ihn nur ein Nebenjob.«

»Was genau macht er jetzt? Ist er Privatermittler?«

»Nein, Geschäftsmann. Er hat mehrere von diesen Firmen, wo man ein Postfach mieten kann. Wie UPS, FedEx und Packstationen. Anscheinend gehen seine Geschäfte ziemlich gut, weil er in der ganzen Stadt welche hat. Fährt einen schicken Wagen und hat in Santa Monica in der Nähe des College ein Haus. Und spendet vermutlich kräftig für Pearlmans Wahlkampf.«

Bosch nickte. Ein klarer Fall von »eine Hand wäscht die andere«. Ballard merkte, dass Laffont und Aghzafi auf ihr Getuschel aufmerksam geworden waren, und richtete sich auf, um sich zu setzen. Auch so konnte sie Boschs Augen noch über der Trennwand sehen. Sie fuhr in normaler Lautstärke fort:

»Paul und Colleen wirst du morgen kennenlernen. Mit den beiden lässt sich arbeiten. Masser ist ein pensionierter Deputy D.A., der bei Major Crimes war. Er kennt sich also mit Durchsuchungsbeschlüssen und sonstigen rechtlichen Fragen und Vorgehensweisen aus. Es ist gut, ihn dabeizuhaben und nicht jedes Mal bei der Staatsanwaltschaft anrufen zu müssen, wenn wir eine Frage haben.«

»Ich glaube, ich erinnere mich an ihn«, sagte Bosch. »Und Hatteras?«

»Keinerlei Erfahrung im Polizeidienst. Sie ist unsere hauseigene Genealogin und was man eine ›Bürgerschnüfflerin‹ nennt.«

»Eine Amateurin. Im Ernst jetzt?«

»Im Ernst. Sie hat in Sachen Internetrecherchen wirklich was drauf, und genau darauf kommt es bei dem ganzen Genkram vor allem an. IGG – was das ist, weißt du doch, oder?«

»Äh …«

»Investigative genetische Genealogie. Du lädst die DNA deines Verdächtigen in GEDmatch hoch, worauf es sich in alle möglichen Datenbanken einloggt, während du nur dasitzt und auf einen Treffer wartest. Davon hast du doch bestimmt gehört. Eine Zeit lang war es bei Cold-Case-Ermittlungen eine große Sache, bis die Datenschützer auf den Plan traten. Deshalb kommt es jetzt nur noch begrenzt zum Einsatz, kann aber trotzdem nach wie vor von Nutzen sein.«

»Haben sie damit nicht den Golden State Killer gefasst?«

»Genau. Du gibst die DNA ein, und mit ein bisschen Glück bekommst du Hinweise auf Verwandte. Hier einen Cousin vierten Grades, da einen Bruder, von dem niemand etwas wusste. Und dann ist etwas angewandte Psychologie gefragt: Online den Kontakt herstellen und einen Stammbaum erstellen, alles in der Hoffnung, dass ein Zweig zum Gesuchten führt.«

»Und das lasst ihr eine stinknormale Zivilistin machen?«

»Sie ist eine Expertin auf diesem Gebiet, Harry. Gib ihr eine Chance. Irgendwie mag ich sie, und ich glaube, dass sie uns helfen kann.«

Die Skepsis in Boschs Augen war unübersehbar, als er den Blick von ihr abwandte.

»Was passt dir schon wieder nicht?«, fragte sie.

»Soll das alles in einem Podcast enden? Oder wollen wir hier Fälle lösen?«

Ballard schüttelte den Kopf. Sie hatte gewusst, dass er so reagieren würde.

»Warte doch einfach mal ab, Harry«, sagte sie. »Du musst ja nicht mit ihr zusammenarbeiten, aber jede Wette, dass du es irgendwann sogar willst. Nur damit du weißt, wie sicher ich mir meiner Sache bin. Okay?«

»Okay«, sagte Bosch. »Ich will ja keinen Ärger machen. Ich bin einfach nur froh, hier zu sein. Du bist der Boss, und am Boss zweifle ich nie.«

»Ja, klar. Das will ich erst mal erleben.«

Bosch ließ den Blick über die Schreibtische streifen.

»Dann bin ich also der Letzte, der dazugestoßen ist«, sagte er.

»Aber der Erste, den ich haben wollte«, sagte Ballard. »Ich wollte nur, dass hier schon so weit alles steht, bevor ich dich frage.«

»Und sicher musstest du vorher auch abklären, ob sie mit mir einverstanden sind.«

»Ja, das auch.«

Bosch nickte.

»Okay, und wo kann man hier eine Tasse Kaffee bekommen?«

»Wir haben eine Küche mit einer Kaffeemaschine und einem Kühlschrank«, sagte Ballard. »Du gehst durch …«

»Ich zeige sie ihm«, sagte Laffont. »Ich kann auch einen Energieschub vertragen.«

»Danke, Tom«, sagte Ballard.

Laffont stand auf und fragte, ob sonst noch jemand Kaffee wollte. Ballard und Aghzafi lehnten ab, und Bosch folgte Laffont in den vorderen Teil des Archivs.

Ballard sah ihnen nach und hoffte, Bosch wäre nett zu dem ehemaligen FBI-Agenten und würde sich nicht schon am ersten Tag mit ihm anlegen.

3

Bosch war es gewohnt, allein und bei sich zu Hause zusein, wenn er alte Akten und Mordbücher durcharbeitete und Ermittlungsschritte zu entwickeln versuchte, auf die bis dahin noch niemand gekommen war. Das war hauptsächlich stille Arbeit. Jetzt musste er sich erst wieder daran gewöhnen, in einem Bereitschaftsraum zu arbeiten, und von Neuem lernen, die Gespräche um ihn herum auszublenden, um sich auf die anstehenden Aufgaben konzentrieren zu können.

Während sich Ballard auf der anderen Seite der nutzlosen Trennwand mit Telefonaten und politischen Forderungen herumschlug, schlug er das erste der drei Mordbücher mit den Unterlagen der bisher erfolglosen Sarah-Pearlman-Ermittlungen auf.

Er begann mit dem Ordner mit der Aufschrift BAND1 und blätterte sofort zur Inhaltsangabe. Dort stand, dass sich die Tatort- und Forensikfotos im dritten Band befanden. Er griff nach diesem Ordner. Da er nichts über den Fall wusste, wollte er mit den Fotos beginnen und sehen, was die Ermittler am Morgen des 11. Juni 1994 vorgefunden hatten, als Sarah Pearlmans verstümmelte Leiche in ihrem Bett im Haus ihrer Eltern im Maravilla Drive in den Hollywood Hills gefunden wurde.

In das dritte Mordbuch waren mehrere Klarsichthüllen mit jeweils zwei 13x18-Farbvergrößerungen eingeheftet. Es waren die üblichen hart ausgeleuchteten Farbaufnahmen, auf denen Blut schwarzviolett und weiße Haut wie Alabaster aussah und das Opfer seiner Menschlichkeit beraubt wurde. Sarah Pearlman war erst sechzehn, als sie von einem Sexualverbrecher zuerst vergewaltigt und dann zu Tode gewürgt und erstochen wurde. Auf den ersten Fotos lag Sarahs Leiche rücklings auf dem Bett; ihr Flanellnachthemd war über ihren nackten Oberkörper hochgezogen und bedeckte ihr Gesicht. Zunächst dachte Bosch, das hätte der Mörder getan, um dem Opfer die Sicht auf ihn zu nehmen. Doch als er mehr Tatortfotos gesehen hatte, wurde ihm klar, dass er ihr das Nachthemd erst über den Kopf gezogen hatte, nachdem er sie vergewaltigt und getötet hatte. Das fasste Bosch als einen Akt der Reue auf. Der Mörder verdeckte das Gesicht seines Opfers, damit er es nicht mehr sehen musste.

Brust und Hals des Opfers wiesen zahlreiche Stichwunden auf, Laken und Daunendecke waren mit geronnenem Blut getränkt. Außerdem deuteten die blauen Flecken am Hals des Opfers darauf hin, dass es während seines Martyriums gewürgt worden war. In seinen fünfzig Jahren in Vietnam und bei der Polizei hatte Bosch die unterschiedlichsten unnatürlichen Todesursachen zu sehen bekommen. Das hieß jedoch nicht, dass er sich an die Niedertracht und Grausamkeit gewöhnt hatte, mit der Menschen einander behandelten. Allerdings hatte er schon lange aufgehört, diese Gewaltexzesse als Ausreißer zu betrachten. Er hatte viel von seinem Glauben an das Gute im Menschen verloren. Für ihn war die Gewalt keineswegs eine Abweichung von der Norm. Es war die Norm.

So pessimistisch diese Weltsicht auch war, nach fünfzig Jahren auf den Feldern des Blutes war ihm nicht mehr viel Hoffnung geblieben. Er wusste, dass dem grausamen Motor von Mord und Totschlag nie der Treibstoff ausgehen würde. Nicht zu seinen Lebzeiten. Nicht zu denen von irgendjemand anderem.

Um sich die Fotos dauerhaft einzuprägen, blätterte er weiter in ihnen. Das brauchte er jetzt. Es würde ihn in Wut versetzen und unauflöslich an die Opfer binden, die er nur von Fotos kannte. Es würde das Feuer entfachen, das dafür nötig war.

Nach den Tatortfotos kamen die forensischen Aufnahmen von einzelnen Beweisstücken und beweiskräftigen Spuren. Darunter Fotos von Blutspritzern an der Wand über dem Kopfteil des Betts und an der Decke, von der auf den Boden geworfenen zerrissenen Unterwäsche des Opfers und einer in den Falten der Daunendecke gefundenen Zahnspange. Außerdem Aufnahmen von Fingerabdrücken, die von Technikern der Spurensicherung eingestäubt und dann mit Tape abgenommen worden waren. Bosch vermutete, dass sie vom Opfer stammten, da sie in ihrem Zimmer ermordet worden war. Das bestätigten die Anmerkungen der ursprünglichen Ermittler. Ein Foto, das die untere Hälfte eines Handflächenabdrucks zu zeigen schien, war mit UNB beschriftet. Unbekannt. Der Umstand, dass er sich auf einem Fensterbrett befand, deutete darauf hin, dass er von jemandem hinterlassen worden war, der durch das Fenster in das Zimmer gestiegen war.

1994 wäre der partielle Handflächenabdruck nutzlos gewesen, wenn er nicht direkt mit dem eines Verdächtigen verglichen werden konnte. Bosch hatte damals als Mordermittler gearbeitet und wusste, dass es zu dieser Zeit noch keine Datenbanken für Handflächenabdrücke gegeben hatte. Selbst jetzt, fast dreißig Jahre später, gab es in Akten oder Datenbanken kaum Handflächenabdrücke, die zu Vergleichszwecken herangezogen werden konnten.

Bosch schaute über die Trennwand zu Ballard hinüber. Sie hatte gerade ein Telefonat mit einem Unternehmer beendet, der downtown bekanntermaßen Hunderte Wohnungen gebaut hatte. Sie hatte ihn gebeten, sich für ihre Sache einzusetzen und die Einheit Offen-Ungelöst finanziell zu unterstützen.

»Und? Wie lief’s?«, fragte er.

»Das muss sich erst zeigen«, sagte Ballard. »Wir werden ja sehen, ob er einen Scheck ausstellt. Die Police Foundation hat mir eine Liste früherer Spender gegeben, von denen ich jeden Tag zwei oder drei anzurufen versuche.«

»Wusstest du, dass du das tun müsstest, als du die Stelle angenommen hast?«

»Eigentlich nicht. Aber es macht mir nichts aus. Irgendwie gefällt es mir sogar, den Leuten ein schlechtes Gewissen zu machen, damit sie uns Geld geben. Du würdest dich wundern, wie viele jemanden kennen, der Opfer eines unaufgeklärten Verbrechens war.«

»Das glaube ich eher nicht.«

»Ja, wahrscheinlich nicht. Wie kommst du mit Pearlman voran?«

»Ich bin noch bei den Fotos.«

»Dachte ich mir’s, dass du damit anfängst. Ganz schön übel.«

»Allerdings.«

»Irgendwelche spontanen Eindrücke?«

»Bisher nicht. Ich will sie mir noch mal ansehen. Aber der Handflächenabdruck, der partielle, den hast du doch sicher schon in die aktuellen Datenbanken eingegeben?«

»Ja. Gleich als Erstes. Ist aber nichts dabei rausgekommen.«

Bosch nickte. Das überraschte ihn nicht.

»Und ViCAP?«

»Nada – keine Übereinstimmungen.«

ViCAP war ein FBI-Programm, zu dem auch eine Datenbank für Gewaltverbrechen und Serientäter gehörte, die allerdings weithin dafür bekannt war, nicht vollständig zu sein. Viele Polizeibehörden verlangten deshalb von ihren Ermittlern nicht, Fälle an ViCAP einzureichen, weil das Ausfüllen der entsprechenden Anträge außerdem extrem zeitaufwendig war.

»Schwer zu glauben, dass es bei diesem einen Mal geblieben ist, wenn man sich die Fotos so ansieht.«

»Allerdings. Außer an ViCAP habe ich mich damit auch an Cold-Case-Einheiten von San Diego bis San Francisco gewendet. Keine Treffer, keine Ähnlichkeiten. Sogar deinen alten Freund Rick Jackson habe ich angerufen. Er bearbeitet fürs San Mateo County kalte Fälle. Er hat sich dort oben für mich umgehört, aber ebenfalls Fehlanzeige.«

Jackson war ein pensionierter LAPD-Mordermittler aus Boschs aktiver Zeit.

»Wie geht’s Rick?«, fragte er.

»Wie es sich anhört, löst er Fälle am laufenden Meter«, sagte Ballard. »Was hoffentlich auch wir bald tun werden.«

»Keine Sorge. Werden wir.«

»Jetzt Folgendes. Montags gehe ich immer ins PAB, um mich mit dem Captain zu treffen und ihn über unsere Arbeit, das Budget und sonst alles auf den neuesten Stand zu bringen. Wahrscheinlich werde ich also bis Feierabend downtown sein. Denkst du, du kommst hier allein klar? Wenn irgendwas ist, können dir ja Tom und Lilia helfen.«

»Das kriege ich schon hin. Wie haltet ihr es, wenn man was nach Hause mitnehmen will?«

»Die Bücher müssen hierbleiben. Widerspräche irgendwie der Grundidee, alle Ungelösten an einem Ort vereint zu haben, verstehst du?«

»Schon klar. Gibt es hier einen Kopierer?«

»Auch kopiert werden Akten nicht, Harry. Ich möchte nicht, dass es deswegen Ärger mit dem Captain gibt.«

Bosch nickte.

»Okay?«, fragte Ballard. »Damit ist es mir nämlich wirklich ernst.«

»Schon verstanden«, sagte Bosch.

»Okay, dann viel Erfolg. Glaubst du, du kommst morgen wieder her? Aber kein Druck.«

»Ich glaube, ich werde wiederkommen.«

»Gut. Dann bis morgen.«

»Bis morgen.«

Bosch sah Ballard nach, als sie nach draußen ging. Dann schaute er, was Laffont und Aghzafi am anderen Ende des Arbeitsbereichs gerade machten. Über den Trennwänden waren von ihnen nur die Köpfe zu sehen. Er machte sich wieder an die Arbeit und blätterte die Tatortfotos durch, damit sich die Bilder unauslöschlich in sein Gedächtnis einbrannten. Als er mit den Fotos fertig war, nahm er sich wieder Band 1 vor und begann, ihn ganz von vorne durchzusehen.

Die ursprünglich mit dem Fall befassten Ermittler waren Dexter Kilmartin und Philip Rossler. Bosch waren die Namen vertraut, er kannte die Männer aber nicht persönlich. Sie waren bei der Robbery-Homicide Division, die für schwere Straftaten in der gesamten Stadt zuständig war. Er wandte sich ihrem chronologisch geführten Log zu. Daraus ging hervor, dass den Fall am Morgen des 11. Juni zunächst Mordermittler der Hollywood Division übernommen hatten. Weil jedoch ein Sexualverbrechen an einer Sechzehnjährigen in den Hollywood Hills in den Medien sicher für einiges Aufsehen sorgen würde, wurde er rasch an die Experten bei der RHD weitergereicht.

Bosch war damals bei der Mordkommission der Hollywood Division gewesen, aber nicht an den Tatort gerufen worden, weil er und sein Partner Jerry Edgar rotationsbedingt nicht an der Reihe waren. Er konnte sich jedoch vage daran erinnern, wie schnell sich die RHD den Fall unter den Nagel gerissen hatte. Sie konnten ja nicht ahnen, dass das Medieninteresse an der Sache nur einen Tag anhalten würde. In der nächsten Nacht wurde in Brentwood die Ex-Frau des großartigen Footballspielers und nicht ganz so großartigen Schauspielers O.J. Simpson zusammen mit einem Bekannten ermordet, was schlagartig die ganze Aufmerksamkeit der Medien vom Pearlman-Fall und allem anderen in der Stadt abzog. Die Brentwood-Morde sollten das Medieninteresse mehr als ein Jahr lang ganz für sich allein beanspruchen, sodass für Sarah Pearlman nichts mehr übrig blieb.

Sah man einmal von Kilmartin und Rossler ab. Ihrer Chrono nach zu schließen, hatten sie bei ihren Ermittlungen alles richtig gemacht, wobei in Boschs Augen das Wichtigste war, dass sie es vermieden hatten, sich schon früh festzulegen, ob es sich dabei um einen Mord durch einen Fremden handelte. Der Umstand, dass der Mörder durch ein nicht abgeschlossenes oder offenes Fenster in das Schlafzimmer des Opfers gelangt war, deutete darauf hin, dass dieses den Eindringling wahrscheinlich nicht gekannt hatte, was die Detectives jedoch nicht davon abhielt, sehr breit gefächerte Ermittlungen anzustellen. Sie nahmen einen gründlichen Backgroundcheck des Opfers vor und befragten zahlreiche Freunde und Familienangehörige. Sarah besuchte eine private Mädchenschule in Hancock Park. Obwohl bereits die Sommerferien begonnen hatten, verbrachten die Ermittler mehrere Tage damit, Klassenkameraden, Freunde und Lehrer zu kontaktieren und zu vernehmen, um sich ein umfassendes Bild vom Leben und von den sozialen Kontakten des jungen Mädchens machen zu können. In der Woche vor dem Mord hatte Sarah einen Ferienjob als Empfangsdame des Tommy Tang’s angetreten, eines beliebten thailändischen Restaurants in der Melrose Avenue. Sie hatte schon im Sommer davor dort gearbeitet, weshalb einige Angestellte sie gut kannten und in bester Erinnerung hatten. Sie wurden allesamt vernommen, und die Ermittler gingen sogar so weit, die Kreditkartenbelege aller Tage zu überprüfen, an denen Sarah in dem Lokal gearbeitet hatte. Sie machten mehrere Restaurantgäste ausfindig und vernahmen sie, aber keiner von ihnen wurde als verdächtig eingestuft.

Die Ermittlungen erstreckten sich auch auf die Eltern des Opfers. Sarahs Vater war ein auf große Immobiliengeschäfte spezialisierter Anwalt, und die Ermittler vernahmen viele seiner Mandanten sowie sonstige Personen, mit denen er geschäftlich zu tun gehabt hatte, darunter auch einige, die sich von ihm schlecht vertreten oder bei Geschäftsverhandlungen übervorteilt gefühlt haben könnten. Auch hier stießen sie auf keine Verdächtigen.

Dann war da noch Sarahs Ex-Freund Bryan Richmond, von dem sie sich vier Monate vor ihrem Tod getrennt hatte. Sie hatte ihn auf einem jährlich stattfindenden Ball kennengelernt, den ihre Schule zusammen mit einer reinen Jungenschule, ebenfalls in Hancock Park, veranstaltete, war aber nur kurz mit ihm zusammen gewesen. Er wurde ausführlichen Vernehmungen und Ermittlungen unterzogen, aus denen sich jedoch keinerlei Verdachtsmomente gegen ihn ergaben. Er hatte sich nach Beendigung der Beziehung mit Sarah mit einem anderen Mädchen angefreundet.

Zum Zeitpunkt des Mordes waren Sarahs Eltern auf einem Golfurlaub in Carmel, wo sie auf den Plätzen in und um Pebble Beach spielten. Sarah war mit ihrem zwei Jahre älteren Bruder zu Hause geblieben. In der Mordnacht, einem Freitag, hatte Sarah im Restaurant gearbeitet und war gegen zweiundzwanzig Uhr in das Haus in der Maravilla zurückgekehrt. Sie hatte einen Führerschein und durfte den Wagen ihrer Mutter benutzen, solange diese weg war. Jake Pearlman war mit seiner Freundin unterwegs und kam erst gegen Mitternacht nach Hause. Das Auto seiner Mutter stand in der Garage, und die Zimmertür seiner Schwester war zu. Weil er kein Licht unter der Tür durchscheinen sah, nahm er an, dass sie bereits schlief, und klopfte nicht bei ihr.

Am nächsten Morgen rief Sarahs Mutter an, um sich nach den Kindern zu erkundigen. Jake erzählte ihr, dass er Sarah noch nicht gesehen hatte. Da es bereits auf elf Uhr zuging, bat die Mutter Jake, ins Zimmer seiner Schwester zu gehen und sie zu wecken, damit sie mit ihr sprechen konnte. Daraufhin entdeckte er, dass seine Schwester in ihrem Bett brutal ermordet worden war, und für die Familie begann ein Albtraum.

Bosch machte sich keine Notizen, als er die zahlreichen Vernehmungsresümees in Band 1 durchging. Die ursprünglichen Ermittlungen waren gründlich gewesen und schienen nichts außer Acht gelassen zu haben. Bosch fiel nichts auf, was übersehen worden war oder nachträglich hätte überprüft werden müssen. Früher hatte er sich bei der Einheit Offen-Ungelöst nicht selten noch einmal mit einem Fall befasst und dabei festgestellt, wie ungenau und schlampig die Ermittlungen manchmal geführt wurden. Bei Sarah Pearlman war das nicht der Fall. Bosch hatte den Eindruck, dass sich Kilmartin und Rossler die Sache sehr zu Herzen genommen und nichts unversucht gelassen hatten. Und was die beiden Ermittler noch mehr in seiner Achtung steigen ließ, war der Umstand, dass das Opfer damals noch nicht die Schwester eines einflussreichen Politikers gewesen war. Das kam erst viele Jahre später.

Nach zwei Stunden Aktenstudium nahm sich Bosch Band 2, das zweite Mordbuch, vor und stellte fest, dass die Updates zunächst nach einem Monat, dann nach drei und sechs Monaten und schließlich fünf Jahre lang jährlich zusammengefasst wurden, bevor der Fall offiziell für kalt und inaktiv erklärt wurde. Es gab keine Verdächtigen oder auch nur Personen von Interesse, und die Frage, ob Sarah ihren Mörder gekannt hatte, blieb ebenso unbeantwortet.

In den hinteren Teil des Ordners von Band 2 waren ergänzende Aufzeichnungen über Nachforschungen seitens der Familie und anderer Personen eingeheftet. Aus ihnen ging hervor, dass Sarah Pearlmans Eltern immer wieder angerufen hatten, um sich nach neuen Erkenntnissen zu erkundigen, bis sie diese Anrufe vor sieben Jahren eingestellt hatten. Von da an erfolgten diese Nachfragen durch Stadtrat Jake Pearlman oder dessen Stabschef Nelson Hastings. Daraus schloss Bosch, dass Sarah Pearlmans Eltern gestorben waren, ohne zu erleben, wie ihrer Tochter Gerechtigkeit widerfuhr.

Bosch beendete seine Durchsicht der Mordbücher, indem er sich noch einmal die Fotos in Band 3 ansah. Langsam schlug er eine Klarsichthülle nach der anderen um und hielt nach irgendetwas in Sarahs Zimmer Ausschau, bei dem es sich möglicherweise um einen übersehenen Beweis oder Anhaltspunkt handelte.

Schließlich kam er zu den Forensikfotos und der letzten Klarsichthülle mit dem Foto der Karteikarte, auf der ein Techniker der Spurensicherung den partiellen Handflächenabdruck angebracht hatte. Während er ihn aufmerksam studierte, nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr und sah, dass Tom Laffont von seinem Schreibtisch zu ihm gekommen war.

»Alles okay?«, fragte er.

»Äh, ja, klar«, sagte Bosch. »Ich sehe mir nur das hier gerade an.«

Bosch fühlte sich unbehaglich unter Laffonts prüfendem Blick.

»Sie hat Sie auf den Großen angesetzt, hm?«, sagte Laffont.

»Wie meinen Sie das?«, fragte Bosch.

»Na, auf die Schwester des Stadtrats. Wenn mich nicht alles täuscht, wird es uns nicht allzu lange geben, wenn wir den nicht lösen.«

»Meinen Sie?«

»Jedenfalls telefoniert Ballard viel mit ihm. Erzählt ihm Punkt für Punkt, was wir hier machen. Die Gespräche scheinen jedes Mal auf die kleine Schwester zu kommen. Deshalb steht sie eindeutig unter Druck.«

Bosch nickte bloß.

»Sind Sie schon auf irgendwas gestoßen, dem wir nachgehen können?«, hakte Laffont nach. »Den würde ich zu gern schließen.«

»Bisher noch nicht«, sagte Bosch. »Aber ich bleibe dran.«

»Na, dann viel Glück. Das werden Sie brauchen.«

»Wo waren Sie beim FBI? Hier in L.A.?«

»Angefangen habe ich in San Diego, und danach war ich in Sacramento und Oakland, bevor ich hier gelandet bin. Ich war in der Major-Crimes-Einheit. Als ich meine zwanzig Jahre rumhatte, habe ich aufgehört. Irgendwie hatte ich die Schnauze voll, ständig Bankräuber zu jagen.«

»Kann ich nachvollziehen.«

»Lilia und ich machen für heute Schluss. Schön, dass Sie bei uns sind, und bis zum nächsten Mal.«

»Bis zum nächsten Mal.«

Bosch beobachtete, wie Laffont und Aghzafi ihre Sachen zusammenpackten und gingen. Dann wartete er kurz, bevor er aufstand, um sich auf die Suche nach einem Kopierer zu machen.

Auf dem Weg zum Ausgang des Archivs blieb Bosch stehen und schaute in einen der Gänge zwischen den Regalen mit den ganzen Mordbüchern. Manche neu und blau, manche verblichen und einige in weißen Ordnern. Er betrat den Gang, ging langsam an den Mordbüchern entlang und strich mit den Fingern der linken Hand über die Plastikordner, jeder mit der Geschichte eines unaufgeklärten Mordes. Für Bosch war das heiliger Boden. Die Bibliothek der verlorenen Seelen. Zu viele, als dass er und Ballard und die anderen sie jemals lösen würden. Zu viele, um den Schmerz jemals zu lindern.

Als er das Ende des Gangs erreichte, machte er kehrt und ging im nächsten wieder zurück. Auch hier waren die Regale mit Fällen gefüllt. Ein Oberlicht fing die Nachmittagssonne ein und warf natürliches Licht auf die unnatürlichen Tode. Bosch blieb kurz stehen. In der Bibliothek der verlorenen Seelen herrschte tiefe Stille.

4

Ballard holte Pinto in der Tagesstätte in der Hillhurst abund ging mit ihm an der Leine nach Hause. Er war ein vier Kilo schwerer Chihuahua-Mischling, schaffte es aber trotzdem, kräftig an der Leine zu ziehen. Seine innere Uhr sagte ihm, dass am Ende des Spaziergangs das Abendessen auf ihn wartete.

Als sie die Eingangstreppe ihres Hauses erreichte, bekam sie einen Anruf, und auf dem Display erschien Boschs Name.

»Harry?«

Im Hintergrund konnte sie Musik hören. Jazz. Sie nahm an, er war zu Hause.

»Hallo. Was machst du gerade?«

»Wollte gerade die Haustür aufschließen«, sagte Ballard. »Was ist das? Hört sich gut an.«

»Clifford Brown with Strings.«

»Und? Hast du alles durchgesehen?«

»Ja. Sogar zweimal.«

»Und?«

»Die ursprünglichen Ermittler haben ihre Sache gut gemacht. Sogar richtig gut. Ich habe nichts gefunden, woran sich was aussetzen ließe.«

Ballard hatte nicht ernsthaft erwartet, Bosch könnte den Fall lösen oder auch nur eine Schwachstelle in den ursprünglichen Ermittlungen finden. Sie hatte die Akten selbst durchgearbeitet und war auf nichts gestoßen, was man hätte besser machen können.

»Na ja, einen Versuch war es jedenfalls wert«, sagte sie. »Dann werde ich mir einen Termin für ein Telefonat mit dem Stadtrat geben lassen und ihm sagen, dass wir …«

»Ich sehe mir gerade das Foto des Handflächenabdrucks an«, sagte Bosch. »Den partiellen.«

»Was heißt, du siehst ihn dir an? Ich dachte, du wärst zu Hause.«

»Bin ich auch.«

»Dann hast du dir also Kopien gemacht, obwohl ich dir ausdrücklich gesagt habe, dass du das nicht tun sollst. Wirklich ein toller Einstand, Harry. Du hast bereits …«

»Willst du wissen, was ich glaube, oder willst du mich feuern, weil ich gegen die Regeln verstoßen habe?«

Sie blieb eine Weile still, bevor sie die Sache auf sich beruhen ließ.

»Na schön. Und was glaubst du?«

»Das ist nur ein Foto. Existiert die richtige Abdruckkarte noch, oder wurde sie digitalisiert und vernichtet?«

»Sie vernichten keine Abdruckkarten, weil alle digitalen Übereinstimmungen nachträglich mit dem richtigen Abdruck bestätigt werden müssen, bevor man damit vor Gericht gehen kann. Warum willst du die Originalkarte?«

»Weil sie, als sie den Abdruck mit Tape abgenommen haben, ich weiß auch nicht, weil sie dabei vielleicht auch …«

»Etwas DNA draufbekommen haben?«

»Ja.«

»Super, Harry, das könnte tatsächlich funktionieren. Keine Ahnung, ob sie das schon mal versucht haben.«

»Das müsste sich herausfinden lassen.«

»Ich frage gleich morgen im Labor nach.«

»Du solltest dir unbedingt den Abdruck holen. Mal sehen, ob er nach achtundzwanzig Jahren immer noch da ist – Vorschriften hin oder her.«

»Mach ich, und dann nehme ich ihn ins Labor mit. Sehr gut, Harry. Darauf hätte ich auch kommen können, aber wofür habe ich schließlich dich? Das macht mir wieder Hoffnung, und es wird auch Stadtrat Pearlman Hoffnung machen.«

»Ich weiß nicht, ob du ihm schon davon erzählen solltest, solange du nicht weißt, ob was dabei herauskommen könnte.«

»Stimmt. Warten wir erst ab, wohin das Ganze führt. Außerdem rede ich normalerweise sowieso nicht mit Pearlman selbst. Es ist sein Stabschef, der mich ständig damit nervt, dass er Ergebnisse sehen will.«

Bosch merkte, dass sich Laffont täuschte. Sie hing nicht ständig mit Pearlman am Telefon, sondern mit Hastings.

»Hastings, oder?«, sagte er. »Ich habe seinen Namen im Mordbuch gesehen. Vielleicht lässt er dich dann etwas in Ruhe.«

»Harry, vielen Dank«, sagte Ballard. »Genau deswegen habe ich dich dazugeholt. Und du lieferst bereits.«

»Warte erst mal ab, was sie im Labor sagen.«

»Jedenfalls kannst du dich jetzt erst mal mit dem Gallagher-Fall befassen, wenn du möchtest.«

»Okay. Dann fange ich gleich damit an.«

»Lass mich raten. Du hast die Akten, die du noch nicht hattest, bereits kopiert?«

»Noch nicht.«

»Dann bis morgen im Ahmanson?«

»Bis morgen.«

Ballard legte auf. Dann tippte sie am Tor den Code ein und betrat das Haus.

Nachdem sie den Hund gefüttert hatte und in einen Trainingsanzug geschlüpft war, bestellte sie im Little Dom’s ein Stück die Straße runter eine Pasta cacio e pepe. Weil sie die Pasta erst in einer halben Stunde abholen konnte, öffnete sie ihren Laptop und machte sich am Küchentisch an die Arbeit. Sie suchte einen Fall, bei dem von einem Fingerabdruck DNA gewonnen worden war.

Als ihre erste Suche erfolglos blieb, griff sie frustriert nach ihrem Telefon und rief Darcy Troy an, eine DNA-Technikerin, die für die Fälle von Offen-Ungelöst zuständig war.

»Hey, Renée.«

»Darcy, wie geht’s?«

»Kann nicht klagen, außer du halst mir gleich was auf.«

»Vorerst habe ich nur eine Frage.«

»Ich höre.«

»Hast du mal gehört, dass von einem Finger- oder Handflächenabdruck DNA gewonnen wurde?«

»Ich habe gehört, dass auf Forensikkongressen darüber gesprochen wurde. Meinst du jetzt, ob es rechtlich zulässig ist?«

»Nein, mich interessiert nur, ob man von Abdrücken DNA bekommen kann?«

»Fingerabdrücke bestehen aus den Ölen an deinen Fingern. Das sind auch Körperflüssigkeiten.«

»Und Handflächenabdrücke auch?«

»Klar. Und bei Leuten, die an den Handflächen stark schwitzen, sind deine Chancen höher.«

»Wenn sie zum Beispiel besonders stark schwitzen, weil sie gleich jemanden vergewaltigen oder umbringen wollen?«

»Zum Beispiel.«

»Wärst du vielleicht gern die Erste, die das beim LAPD versucht?«

»Gegen ein bisschen Abwechslung hätte ich nichts einzuwenden. Was hast du für mich?«

»Ob ich tatsächlich was habe, kann ich noch nicht sagen. Aber einer meiner Leute nimmt sich gerade einen Fall von 94 vor – Einbruch, Vergewaltigung und Mord – und sie haben damals an der Stelle, an der er mutmaßlich eingedrungen ist, einen halben Handflächenabdruck gefunden.«

»Wie wurde er gesichert?«

»Mit grauem Pulver eingestäubt und mit Tape auf einer weißen Karte fixiert.«

»Oh Mann, das macht es nicht gerade einfacher. Das Pulver dürfte das Öl absorbiert haben, und das Tape, das sie verwendet haben, ist auch nicht gerade eine Hilfe. Aber ich könnte es mir mal ansehen.«

»Ich hole die Karte gleich morgen früh in den Printarchiven der Piper Tech ab.«

»Falls sie sie noch haben, meinst du?«

»Müssten sie eigentlich. Es ist ein offener Fall. Kein RDO.«

Das LAPD stellte den Beweismitteleinheiten nur dann eine sogenannte Records Disposal Order, eine Anweisung zur Vernichtung von Unterlagen, aus, wenn ein Fall als gelöst und abgeschlossen galt.

»Also, wenn du die Karte findest, kannst du sie gern vorbeibringen. Und ich würde es dir nicht mal als Vordrängeln anrechnen. Ist immerhin was Neues.«

»Das hört sich nach einem Angebot an, das ich schlecht ausschlagen kann. Dann mache ich jetzt lieber mal Schluss, bevor du es dir noch anders überlegst.«

Beide Frauen lachten.

»Dann bis morgen, Darcy.«

Ballard legte auf und schaute auf die Uhr. Sie musste ihr Essen abholen. Sie griff nach der Leine, klinkte sie in Pintos Halsband ein und machte sich auf den Weg. Das Little Dom’s war zwei Straßen weiter. Das Personal des Restaurants kannte sie gut, weil sie sich dort mindestens einmal wöchentlich was zu essen holte. Es war ihr Stammlokal geworden, seit sie in das Viertel gezogen war. Ihr Essen war bereits fertig und noch heiß. Und Pinto bekam einen Leckerbissen.

5

Weil er sein Ziel erreichen wollte, wenn die Sonne nochtief am Himmel stand, brach Bosch noch vor Morgengrauen von zu Hause auf. Er fuhr zum Freeway 210 hoch und dann bei sehr geringem Verkehr nach Osten zum 15er, wo er sich den Fahrzeugen auf dem Weg nach Las Vegas anschloss. Kurz vor der Grenze zu Nevada nahm er jedoch die Death Valley Road direkt nach Norden in die Mojave-Wüste. Die Straße führte durch eine von Gestrüpp und Sand geprägte Landschaft, wo am Horizont die tief gelegene Salzpfanne in der Morgensonne glitzerte wie Schnee.

Auf dem Old Spanish Trail nach Tecopa fuhr er an einer Notrufsäule des Inyo County Sheriff’s Department und einem von einem Sonnenkollektor mit Strom versorgten Sendemast von der Straße ab. Er setzte eine Dodgers-Kappe auf und stieg aus. Es war sieben Uhr morgens, die Sonne war aufgegangen, und laut seinem Handy hatte es bereits 26 Grad. Er ging an der Notrufsäule vorbei etwa zehn Meter in das Gestrüpp hinein. Der einsame Mesquitebaum war immer noch da und warf seinen Schatten auf vier Säulen aus aufeinandergestapelten Steinbrocken, die wie eine Art Skulptur an der Stelle errichtet worden waren, wo das Grab gefunden worden war. Drei der Steinsäulen waren im Lauf der Zeit zerbröckelt und von Wüstenwinden oder Erdbeben umgeworfen worden.

Für Bosch war es ein weiteres Stück heiligen Bodens. An dieser Stelle war eine ganze Familie ausgelöscht worden. Vater, Mutter, Tochter, Sohn, alle ermordet und dann unter Gestein und Sand verscharrt, um nie gefunden zu werden, hätte da nicht eine geologische Expedition der Cal State die nahe gelegene Salzpfanne auf Spuren des Klimawandels untersucht.

Bosch fiel auf, dass um die Steinsäulen und den Stamm des Mesquitebaums zahllose Blumen aus dem Boden gesprossen waren. Jede Blüte hatte einen von weißen Blütenblättern umgebenen gelben Korb. Sie befanden sich dicht über dem Boden und zogen sowohl Wasser als auch Schatten von dem Mesquitebaum, dessen Wurzeln auf der Suche nach Wasser bis zu fünfundzwanzig Meter durch Fels und Sand und Salz in die Tiefe drangen und dafür sorgten, dass die Bäume selbst unter unwirtlichsten Bedingungen sehr hoch werden konnten.

Bosch hatte nicht vor, lange zu bleiben. Aber er wusste, das war der Ausgangspunkt für die Aufgabe, die er in Angriff nehmen wollte. Bevor er sich ein weiteres Mal in den Abgrund begab, musste er seine Verankerung in dem Fall finden. Den emotionalen Kern. Und er hatte nicht den geringsten Zweifel, dass er hier auf ihm stand. Die Medien und alle anderen sprachen immer vom Gallagher-Fall. Weil Bosch das als Herabsetzung empfand, tat er das nie. Für ihn war es der Fall der Familie Gallagher. Eine ganze Familie war ermordet worden. Nachts aus ihrem Haus gebracht. Und Jahre später hier gefunden.

Inmitten der Blumen kauernd, machte sich Bosch daran, die Steinbrocken wieder aufeinanderzuschichten und sorgfältig auszubalancieren. Er trug eine alte Jeans und Arbeitsstiefel und achtete darauf, sich keinen Finger einzuklemmen, als er die schwereren Steine aufeinandersetzte. Er wusste zwar, dass die Natur sein Werk irgendwann zunichtemachen würde, aber er hatte das Bedürfnis, zusammen mit dem Fall auch den Steingarten neu aufzubauen.

Als er fast fertig damit war, kam hinter ihm ein Fahrzeug näher. Er hörte Sand und Steine unter seinen Reifen knirschen, als es von der asphaltierten Straße fuhr und anhielt. Bosch blickte hinter sich und sah die Aufschrift INYOCOUNTYSHERIFF’SDEPARTMENT auf dem weißen SUV.

Ein Mann in Uniform kam durch das Gestrüpp auf Bosch zu.

»Harry«, sagte er. »Das nenne ich eine Überraschung.«

»Beto«, sagte Bosch. »Was soll ich da erst sagen? Kommst du etwa ganz zufällig in diese gottverlassene Gegend?«

»Nein, vor ein paar Jahren haben wir an dem Sonnenkollektor an der Straße eine Kamera angebracht. Die schickt mir Benachrichtigungen. Ich habe ein Auto anhalten sehen und gemerkt, dass du’s bist. Lange nicht mehr gesehen, Brother.«

»Allerdings.«

Beto Orestes war der Inyo-County-Ermittler, der vor acht Jahren als Erster auf die Mitteilung reagiert hatte, dass in der Wüste mehrere Leichen gefunden worden waren. Die grausige Entdeckung hatte zu einer besonderen Partnerschaft zwischen Orestes und Bosch und ihren Departments geführt. Die Verbrechen an der Familie Gallagher waren in Los Angeles begangen worden, aber die Leichen wurden in Inyo County gefunden. Das LAPD leitete zwar die Ermittlungen zu dem Fall, aber für die Tatortuntersuchungen waren Orestes und sein Sheriff’s Department zuständig. Es wurden zusätzliche Ermittlungen angestellt, warum diese Stelle in der Wüste ausgesucht worden war und ob diese Entscheidung vollkommen willkürlich getroffen worden war oder Rückschlüsse auf die Identität des Täters zuließ. Sie waren sehr gründlich gewesen, hatten aber keine neuen Erkenntnisse gebracht, und Bosch war beeindruckt gewesen von Orestes’ Engagement.

Je mehr Wochen und Monate verstrichen, desto stärker ließ die Beteiligung des Inyo County nach. Orestes’ Vorgesetzte betrachteten den Fall als eine Angelegenheit des LAPD, die dummerweise auch ihren Zuständigkeitsbereich betraf. Orestes bekam andere Ermittlungen und Aufgaben zugeteilt. Gleichzeitig wurde Bosch von einer Vollzeitbeschäftigung mit dem Fall abgezogen und bekam bis zu seiner Pensionierung andere ungelöste Fälle zugeteilt. Als sich die zwei Polizeibehörden mehr und mehr zurückzogen und die Einheit Offen-Ungelöst aufgelöst wurde, fiel der Fall der Gallagher-Familie durch das immer grobmaschigere Netz zwischen ihnen.

»Als ich vor einem Jahr angerufen habe, um mich mal wieder zu melden, haben sie mir gesagt, du wärst in Pension gegangen«, sagte Orestes. »Und jetzt finde ich dich in dem Steingarten, den wir damals angelegt haben.«

»Ich bin wieder darauf angesetzt worden, Beto«, sagte Bosch. »Und ich fand, dass ich hier anfangen sollte.«

»Sie haben dich zurückgeholt?«

»Auf freiwilliger Basis.«

»Jedenfalls, wenn ich irgendwas für dich tun kann, du weißt, wie du mich erreichen kannst.«

»Gern.«

Bosch richtete sich auf und klopfte sich den Sand von der Hose. Er war hier fertig. Orestes bückte sich und pflückte eine der Blumen.

»Kaum zu glauben, dass an diesem Ort so was Schönes existieren kann«, sagte er. »Und dann sagen die Leute, es gibt keinen Gott. Wenn du mich fragst, dann ist Gott genau hier.«

Er zwirbelte den Stängel zwischen den Fingern, und die Blüte drehte sich wie ein Windrädchen.

»Weißt du, was das für eine Blume ist?«, fragte Bosch.

»Klar«, sagte Orestes. »Ein Wüstenstern.«

Bosch nickte. Er glaubte zwar nicht, dass sie Gott auf Erden war, aber die Vorstellung gefiel ihm.

Sie gingen zu ihren Fahrzeugen.

»Was ist mit McShane?«, fragte Orestes. »Ist er irgendwo aufgetaucht?«

»Soviel ich weiß, nicht«, sagte Bosch. »Ich habe noch nicht angefangen, nach ihm zu suchen. Aber das werde ich jetzt.«

»Was heißt ›auf freiwilliger Basis‹ genau, Harry?«

»Die Einheit für die kalten Fälle wird von einem vereidigten Officer geleitet, und der Rest sind Teilzeitler und Freiwillige.«

»Du bist mir übrigens immer schon wie einer von denen vorgekommen, die es auch machen würden, wenn sie nicht dafür bezahlt werden.«

»Da hast du vielleicht nicht ganz unrecht.«

Sie erreichten die Straße, und Orestes musterte Boschs alten Cherokee.

»Hält die Kiste noch durch?«, fragte er. »Ich habe zwanzig Liter Wasser dabei, wenn du den Kühler auffüllen willst.«

»Danke, aber ich komme schon klar«, sagte Bosch. »Der Motor ist noch gut in Schuss, nur die Klimaanlage bringt’s nicht mehr so. Deshalb bin ich so früh losgefahren.«

»Sag mir jedenfalls Bescheid, wenn es was Neues gibt, ja?«

»Mach ich.«

Orestes ging auf seinen SUV zu und blickte sich noch einmal um.

»Den sähe ich noch gern geklärt, bevor ich abtrete.«

»Ich auch«, sagte Bosch. »Ich auch.«

6

Als Ballard das Mordbucharchiv betrat, erwartete sie,Bosch an seinem Schreibtisch die Gallagher-Bücher studieren zu sehen. Sie konnte es kaum erwarten, ihm von ihrem Besuch im Piper Tech und im DNA-Labor zu erzählen. Aber Bosch war nicht da.

Paul Masser, Lou Rawls und Colleen Hatteras waren an ihren Plätzen, und sie begrüßte sie. Rawls war einen Tag früher als üblich erschienen. Ballard vermutete, dass er in einem seiner Fälle Fortschritte gemacht hatte oder einfach ihren neuen Kollegen, Harry Bosch, kennenlernen wollte. Da er mit seinen Fällen nur sehr langsam vorankam und bisher keinen wirklichen Durchbruch vorzuweisen hatte, glaubte sie, dass Letzteres der Fall war. Obwohl er der erste offizielle Angehörige der Einheit war, hatte er noch keinen Fall gelöst – nicht mal einen Selbstläufer wie eine DNA-Übereinstimmung.

»Ich dachte, wir lernen heute den Neuen kennen, den Sie in der E-Mail am Sonntag erwähnt haben«, sagte Masser.

»Werden wir auch«, sagte Ballard. »Beziehungsweise haben wir bereits. Er war gestern schon hier. Keine Ahnung, wo er im Moment steckt, aber er wollte eigentlich heute reinkommen. Fangen wir also schon mal mit den Updates zu unseren Fällen an und sehen später, was mit ihm ist.«

In der nächsten Stunde hörte sich Ballard an, was ihre Mitarbeiter über ihre Fälle und ihre jüngsten Schritte zu berichten hatten. Sie war mehr als ihre Vorgesetzte. Als einzige vereidigte Vollzeitbeamte der Einheit war sie nicht nur für das Team verantwortlich, sondern auch der persönliche Partner jedes einzelnen Mitglieds, wenn es Entscheidungen zu treffen galt, die eines Tages vor Gericht infrage gestellt oder von einem Berufungsausschuss angefochten werden konnten. Wenn es ein Fall in ein Gerichtsverfahren schaffte, wurde sie aller Wahrscheinlichkeit nach die leitende Ermittlerin und Zeugin der Anklage.

Als Erster meldete sich Lou Rawls zu Wort. Er berichtete lediglich, er sei noch dabei, die Fälle in dem Stapel zu sichten, den ihm Ballard vor drei Wochen zugeteilt hatte, und Anträge auf DNA-Analysen zu stellen. Genau dasselbe hatte er eine Woche zuvor schon gesagt. Da Rawls der Einzige in der Einheit war, den Ballard hatte einstellen müssen, hatte sie keine Hemmungen, ihre Enttäuschung über sein langsames Vorankommen zu zeigen.

»Irgendwie müssen wir sie ihnen aber unterjubeln«, sagte sie, als er mit seinen Ausführungen geendet hatte. »Wir alle wissen, dass die Labore überlastet sind, aber irgendwie müssen wir sie dazu bringen, uns mal dranzunehmen. Die Polizei und der Stadtrat werden nicht ewig warten. Wir müssen Erfolge vorweisen. Zu sagen, dass wir auf Laborberichte warten, ist auf jeden Fall besser, als zu sagen, dass wir daran arbeiten.«

»Schon, aber wenn wir bei Sarah Pearlman vorankommen würden, stünden wir, glaube ich, alle weniger unter Druck«, konterte Rawls.

»Wir kommen voran«, sagte Ballard. »Aber darüber sprechen wir später, wenn Bosch hier ist. Sonst noch was, Lou?«

»Nein, von meiner Seite ist das alles«, sagte Rawls.

Er wirkte verärgert, dass ihn Ballard wegen seines Berichts gerügt hatte.

»Okay, der Nächste?«, fragte Ballard.

»Von mir nur ganz kurz so viel«, sagte Masser. »Ich habe heute Nachmittag in der Staatsanwaltschaft einen Termin mit Vickie Blodget. Wie Sie alle wissen, ist sie dort die Ansprechpartnerin für die kalten Fälle, und ich werde sie bitten, die Fälle Robbins und Selwyn abzusegnen. Mit ein bisschen Glück können Sie die in Ihren nächsten Bericht ans Management und den Stadtrat einfügen.«

Die von Masser angeführten Fälle waren DNA-Fälle, die Verdächtige betrafen, die zwar schuldig waren, aber wegen dieser Straftaten nicht mehr belangt werden konnten, weil sie entweder verstorben waren oder bereits wegen anderer Straftaten eine lebenslange Haftstrafe verbüßten. Ohne eine Überprüfung und Bestätigung seitens der Staatsanwaltschaft und des zuständigen Bearbeiters konnten diese Fälle jedoch nicht offiziell für gelöst oder geschlossen erklärt werden. Auch wenn sie von ihrer Ansprechpartnerin Vickie Blodget inzwischen routinemäßig durchgewinkt wurden, mussten sie den vorschriftsmäßigen Ablauf einhalten, und da die Staatsanwaltschaft in diese Fälle nicht involviert war, wurden sie als »anderweitig geklärt« eingestuft.

Die DNA-Übereinstimmung im Fall Robbins hatte zu einem Mann geführt, der in einem Gefängnis in Colorado gestorben war, in dem er wegen eines anderen Mordes eine lebenslange Haftstrafe verbüßt hatte. Auch der Fall Selwyn beruhte auf einer DNA