Wand des Schweigens - Arnaldur Indriðason - E-Book
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Wand des Schweigens E-Book

Arnaldur Indriðason

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Beschreibung

Ein grausiger Fund. Mitten in Reykjavík ...

Dieser Fund ist ein Schock für die Bewohner: Hinter der Kellerwand ihres Wohnhauses entdecken sie ein menschliches Skelett. Offenbar wurde hier vor Jahrzehnten ein Mordopfer eingemauert und vor der Welt verborgen. Die Kripo Reykjavík nimmt die Ermittlungen auf, eine Vermisstenmeldung, die passen würde, finden sie jedoch nicht. Wer bloß ist das Opfer? Welches Verbrechen wurde hier begangen? Als der pensionierte Kommissar Konráð sich einschaltet, blocken die ehemaligen Kollegen ab. Sie vermuten, dass Konráð ihnen wichtige Infos bei früheren Ermittlungen verschwiegen hat. Konráð forscht daraufhin auf eigene Faust weiter. Hat das lange zurückliegende Verbrechen tatsächlich etwas mit seiner eigenen Familiengeschichte zu tun - mit dem Mord an seinem Vater?


WAND DES SCHWEIGENS ist der in sich abgeschlossene vierte Band in der Kommissar-Konráð-Reihe

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Seitenzahl: 434

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumHinweisEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzigDreiundzwanzigVierundzwanzigFünfundzwanzigSechsundzwanzigSiebenundzwanzigAchtundzwanzigNeunundzwanzigDreißigEinunddreißigZweiunddreißigDreiunddreißigVierunddreißigFünfunddreißigSechsunddreißigSiebenunddreißigAchtunddreißigNeununddreißigVierzigEinundvierzigZweiundvierzigDreiundvierzigVierundvierzigFünfundvierzigSechsundvierzigSiebenundvierzigAchtundvierzigNeunundvierzigFünfzigEinundfünfzigZweiundfünfzigDreiundfünfzigVierundfünfzigFünfundfünfzigSechsundfünfzigSiebenundfünfzigAchtundfünfzigNeunundfünfzigSechzigEinundsechzigZweiundsechzigDreiundsechzigVierundsechzigFünfundsechzig

Über dieses Buch

Das Verbrechen wurde damals nicht aufgeklärt, die ermordete Frau nie gefunden. Nun, Jahrzehnte später, wird ihr Skelett hinter der gemauerten Kellerwand eines Hauses im Reykjavíker Stadtzentrum entdeckt. Dem pensionierten Kommissar Konráð wird plötzlich klar, dass dieses fast vergessene Verbrechen etwas mit dem Mord an seinem Vater zu tun haben könnte, und beginnt, erneut in dem Fall zu ermitteln. Bald bringen ihn jedoch die Kollegen der Kripo Reykjavík in Bedrängnis. Sie vermuten, dass Konráð mehr weiß, als er verrät, und schon längst zum Aufklären des Verbrechens an der Frau hätte beitragen können. Und sie fragen sich, was Konráð heute davon abhält, ihnen die ganze Wahrheit zu sagen …

Über den Autor

Arnaldur Indriðason, 1961 geboren, graduierte 1996 in Geschichte an der University of Iceland und war Journalist sowie Filmkritiker bei Islands größter Tageszeitung Morgunbladid.

Heute lebt er als freier Autor mit seiner Familie in Reykjavik und veröffentlicht mit sensationellem Erfolg seine Romane. Arnaldur Indriðasons Vater war ebenfalls Schriftsteller.

1995 begann er mit Erlendurs erstem Fall, weil er herausfinden wollte, ob er überhaupt ein Buch schreiben könnte. Seine Krimis belegen allesamt seit Jahren die oberen Ränge der Bestsellerlisten. Seine Kriminalromane »Nordermoor« und »Todeshauch« wurden mit dem »Nordic Crime Novel’s Award« ausgezeichnet, darüber hinaus erhielt der meistverkaufte isländische Autor für »Todeshauch« 2005 den begehrten »Golden Dagger Award« sowie für »Engelsstimme« den »Martin-Beck-Award«, für den besten ausländischen Kriminalroman in Schweden.

Arnaldur Indriðason ist heute der erfolgreichste Krimiautor Islands. Seine Romane werden in einer Vielzahl von Sprachen übersetzt. Mit ihm hat Island somit einen prominenten Platz auf der europäischen Krimilandkarte eingenommen.

A R N A L D U R

INDRIÐASON

WAND DES SCHWEIGENS

ISLAND KRIMI

Übersetzung aus dem Isländischen von Kristof Magnusson

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Titel der isländischen Originalausgabe:

»Þagnarmúr«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2020 by Arnaldur Indriðason

Published by arrangement with Forlagið, Reykjavík, www.forlagid.is

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2022/2024 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Anja Lademacher, Bonn

Umschlaggestaltung: Jeannine Schmelzer

Einband-/Umschlagmotive: © shutterstock.com: Grunge Creator | Bernulius; © mauritius images/Af8images/Stockimo/Alamy

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-2853-9

luebbe.de

lesejury.de

Diese Geschichte ist fiktiv. Namen, Personen und Ereignisse sind frei erfunden.

Eins

Eygló hatte das Haus kaum betreten, da spürte sie augenblicklich dieselben Beklemmungen wie die Frau, die seit einiger Zeit hier wohnte.

Eygló wurde gelegentlich von Leuten um einen Hausbesuch gebeten, die sich ohne ersichtlichen Grund in ihren eigenen vier Wänden unwohl fühlten. Manche suchten Kontakt zu verstorbenen Verwandten, andere hörten sonderbare Geräusche. Eygló ließ sich nur in Ausnahmefällen auf diese Art von Gespenstersuche ein. Und auch diese Frau hatte sie eigentlich schon am Telefon abgewimmelt, doch der Friede war nur von kurzer Dauer gewesen.

Zwei Tage später stand eine Frau mittleren Alters bei ihr vor der Tür. Es war ein Abend im Herbst, es regnete in Strömen. Eygló hatte sie noch nie zuvor gesehen. Die Frau erzählte verlegen lächelnd, dass sie Eygló vor Kurzem angerufen habe, um über ihr Haus zu sprechen. Dann fügte sie eilig hinzu, sie wolle auf gar keinen Fall, dass Eygló eine spiritistische Sitzung abhielt oder wie man das auch immer nannte. Sie wollte nur, dass Eygló einmal durch ihr Haus ging. Vielleicht könnte sie ja eine Erklärung dafür finden, warum die Frau seit einiger Zeit so eine zermürbende, diffuse Angst verspürte. So etwas hatte sie noch nie erlebt, bevor sie in dieses Haus gezogen war.

Eygló brachte es nicht übers Herz, die Frau dort im Regen stehen zu lassen, und bat sie herein.

»Ich weiß, ich weiß. Es gibt keine Gespenster«, sagte die Frau und blieb im Vorflur stehen. »Aber irgendwas stimmt nicht mit diesem Haus. Irgendwas … irgendwas ist da. Ich bin mir da so sicher, und ich würde so gern wissen, ob es dir ähnlich geht. Bitte entschuldige, aber … das macht mich noch wahnsinnig.«

Eygló bot ihr einen Stuhl an. Es stellte sich heraus, dass Eyglós Freundin Málfríður der Frau empfohlen hatte, zu ihr zu kommen. Ursprünglich hatte sie sich hilfesuchend an die Spiritistische Gesellschaft gewendet, dort hatte Málfríður gesagt, dass ihr niemand besser helfen könne als Eygló – vorausgesetzt man könne sie dazu bringen, sich damit zu beschäftigen. Málfríður hatte schon öfter Leute an Eygló verwiesen, obwohl sie wusste, dass Eygló das nicht wollte – sie hatte nun wirklich oft genug gesagt, dass sie mit diesem spiritistischen Kram nichts mehr zu tun haben wollte.

Eygló fragte die Frau nach der Geschichte des Hauses. Ob andere Leute dort Ähnliches erlebten, doch davon wusste die Frau nichts. Sie hatte das Haus vor genau vier Jahren, im Herbst 1975, mit ihrem Mann gekauft. Sie waren mit ihren zwei Kindern im Teenageralter dort eingezogen, und schon nach wenigen Monaten war da dieses unerklärliche, beklemmende Gefühl gewesen. Der Rest der Familie spürte nichts.

»Hast du zu dieser Zeit irgendwelche persönlichen Krisen durchgemacht?«, fragte Eygló vorsichtig.

Sie musste wissen, ob es hier nicht eigentlich um etwas anderes ging, ob die Frau ein persönliches Unglück oder eine Unzufriedenheit auf etwas Übernatürliches projizierte, um sich nicht mit dem auseinandersetzen zu müssen, was sie wirklich plagte.

»Mein Mann glaubt, ich bin … dass mit mir etwas nicht stimmt«, sagte die Frau. »Er hat mich zum Arzt geschickt. Er denkt, ich bilde mir das ein. Also, mein Mann. Und der Arzt denkt das auch, glaube ich. Er hat mir Pillen verschrieben, aber die will ich nicht. Ich spüle sie im Klo runter. Ich kann nachts nicht mehr richtig schlafen, höchstens zwei Stunden. Dann liege ich wach und achte darauf, was im Haus passiert.«

»Und was hörst du dann?«

»Manchmal ein Schluchzen. Als würde jemand weinen.«

»Der Wind macht manchmal die merkwürdigsten Geräusche. Oder kratzen Äste an der Hauswand? Ein Stromkabel? Eine Wäscheleine? Was ist mit Vögeln oder Katzen? Gibt es viele Vögel bei euch in der Nachbarschaft?«

»Nein. Und auch keine Bäume. Mein Mann hat auch so was gesagt. Für den ist das Wetter schuld, der Regen, der Wind, der durch den Schornstein pfeift, die Fernsehantenne.«

»Hörst du Stimmen?«

»Nein«, sagte die Frau. »Nichts dergleichen. Das habe ich dem Arzt auch gesagt. Ich höre nichts und sehe auch nichts. Mir geht es einfach nur schlecht. Mich lässt das Gefühl nicht los, dass in diesem Haus einmal etwas Furchtbares geschehen ist. Das lässt mich einfach nicht los. Hilfst du mir? Würdest du das tun? Ich will in diesem Haus wohnen, es … ich will nicht ausziehen, aber mir geht es einfach nicht gut. Irgendwie herrscht in dem Haus kein guter Geist, und da dachte ich, du kannst mir vielleicht helfen.«

»Jetzt?«

»Jetzt wäre niemand zu Hause«, sagte die Frau. »Mein Mann ist mit den Kindern aufs Land gefahren, seine Mutter besuchen. Ich … wir verstehen uns nicht sonderlich gut, seine Mutter und ich.«

Eygló sah die Frau an. Sie wollte sie nicht allein nach Hause schicken. Es ging ihr ganz offensichtlich schlecht, das war eindeutig, dies war ein Hilfeschrei, wenn auch auf sehr zurückhaltende Weise vorgebracht. Eygló suchte nach einem Vorwand, um sie wegzuschicken, doch als ihr keiner einfiel, zog sie sich eine Jacke über und ging mit ihr zusammen los. Die Frau war mit dem Auto gekommen. Eygló beschloss, ihr mit ihrem Auto zu folgen, so fuhren sie hintereinanderher in die Reykjaviker Weststadt und parkten vor dem Haus der Frau.

Das Haus hatte zwei Etagen und war unterkellert. Es war unscheinbar, der Putz aus Muschelkalk hatte schon bessere Zeiten gesehen. Die Frau schloss auf, bat Eygló herein und schloss hinter ihnen die Tür. Im Eingangsbereich war rechter Hand eine Tür, von der die Frau sagte, sie führe hinunter in den Keller. Sie betraten die Diele, von der es links in die Küche ging, gegenüber lag die Tür zum Wohnzimmer und, ebenfalls auf der rechten Seite, führte eine Treppe ins Obergeschoss. In der Küche brannte Licht, aus dem Wohnzimmer drang der matte Schein einer Stehlampe.

Es dauerte nicht lange, da verstand Eygló, was die Frau meinte. Sie hatte ihr Unwohlsein nicht genauer beschreiben können, hatte lediglich gesagt, im Haus herrsche kein guter Geist. Das spürte auch Eygló sofort, ohne es besser beschreiben zu können.

Regen prasselte gegen die Fensterscheiben. Eygló ging umher, sah sich erst im Erdgeschoss um, ging dann ins Obergeschoss, kam wieder herunter – die Frau beobachtete sie aufmerksam. Es war ein ordentlicher Mittelschichtshaushalt mit vielen Bücherregalen, Gemälden an den Wänden, Familienfotos und anderen Dekorationsstücken. Eygló fragte, ob es einen Ort im Haus gebe, an dem das beklemmende Gefühl besonders stark sei. Die Frau antwortete, sie sei sich zwar nicht sicher, aber am ehesten im Keller, in der Waschküche. Sie gingen gemeinsam hinunter. Eygló stellte sich mitten in die Waschküche und fragte die Frau, ob sie schon früher einmal Dinge wahrgenommen habe, die niemand außer ihr bemerkte, doch die Frau verneinte. So etwas passiere ihr hier zum ersten Mal.

»Spürst du etwas?«, fragte die Frau dann.

»Ich fühle mich wie eingesperrt«, sagte Eygló. »Als ob mich etwas zusammendrückt … ich habe so etwas noch nie erlebt … als bekäme ich … keine Luft.«

»Genauso ist das bei mir«, sagte die Frau. Mir ist manchmal, als würde ich ersticken, und ich weiß nicht, warum. Letzte Nacht bin ich mit einer Atemnot aufgewacht, als würde ich ertrinken.

Sie gingen wieder ins Erdgeschoss und betraten ein kleines Arbeitszimmer, von dem die Frau erzählte, es sei einst ein Kinderzimmer gewesen. Eygló sah sich dort um, und ohne den Grund dafür zu kennen, kam ihr das Kirchenlied Es blüht der Blumen eine in den Sinn.

Sie wisse jetzt, was die Frau meinte, sagte Eygló. Doch was dieses beklemmende Gefühl verursache, sei auch ihr vollkommen unklar. Daher könne sie auch leider keinen Rat geben, was dagegen zu unternehmen sei. Und da ja offenbar niemand anders in der Familie dieses Gefühl wahrnehme, würden eventuelle neue Eigentümer es sehr wahrscheinlich auch nicht tun.

Die Frau hatte sich etwas beruhigt. Offenbar half es ihr allein schon, mit Eygló darüber zu reden.

»Neue Eigentümer?«, fragte sie dann.

»Falls ihr das Haus verkaufen würdet«, sagte Eygló. »Das wäre eine Lösung. Wahrscheinlich sogar die einfachste. Vielleicht besprichst du das mal mit deinem Mann.«

Ungefähr einen Monat später entdeckte Eygló eine Anzeige im Immobilienteil der Zeitung. Die Frau schien sich mit ihrem Mann geeinigt zu haben. Sie behelligte Eygló kein weiteres Mal, sodass Eygló ihren Besuch wahrscheinlich längst vergessen hätte – wenn nicht weiterhin ab und zu dieses sonderbar beklemmende Gefühl über sie gekommen wäre, das sie an jenem Abend in dem Haus zum ersten Mal gespürt hatte, während der Regen an die Fensterscheiben prasselte. Es fühlte sich wirklich an, als würde sie ersticken. Als würden die Mauern des Hauses immer näher kommen, über ihr zusammenstürzen und sie schließlich verschlingen.

Dann hörte sie fast vierzig Jahre nichts mehr von diesem Haus.

Zwei

Sie hatten der Polizei von Geräuschen berichtet, von denen sie nicht wussten, woher sie kamen. Anfangs hatten sie gedacht, die Geräusche kämen von einem Kellerfenster, das nicht mehr richtig schloss und im Wind klapperte. Also hatte der Mann es repariert. Zwei Wochen später hörten sie wieder Geräusche aus dem Keller, dieses Mal lauter als zuvor. Da hatte sich die Waschmaschine so weit über den Fußboden bewegt, dass fast der Schlauch abgerissen wäre, mit dem sie an den Wasserhahn in der Wand angeschlossen war. Die Waschmaschine war eingesteckt gewesen, aber sie war leer und nicht in Betrieb. Das Ehepaar hatte keine Kinder, außer ihnen war niemand im Haus. Die Frau hatte mit dem Handy Bilder davon gemacht und sie auf ihre Facebookseite gestellt.

Ungefähr einen Monat später gab es einen dritten Vorfall. Der Mann war im Keller, nahm gerade Wäsche aus der Maschine und hängte sie zum Trocknen auf einer Wäscheleine auf, da sprang plötzlich der Trockner an. Der Mann neigte ohnehin schon dazu, sich im Dunkeln zu fürchten, und bekam einen riesigen Schreck. Er war allein im Keller und starrte den Trockner an, sah zu, wie die Trommel hinter der Glasscheibe immer schneller rotierte, dann stoppte sie abrupt, und alles war wieder ruhig. Der Mann ging vorsichtig zu dem Trockner und versetzte ihm einen leichten Tritt. Dann öffnete er ihn und besah sich die Trommel, ohne etwas Ungewöhnliches festzustellen. Als er hochkam, sagte er seiner Frau, was passiert war. Sie vermutete einen Wackelkontakt am Stromanschluss in der Waschküche, doch der Mann hielt das für unwahrscheinlich, schließlich hatten die vorherigen Besitzer das Haus aufwändig renoviert und die ganze Elektrik erneuert.

Der Bruder des Mannes war Elektriker und fand keinen Fehler – ganz im Gegenteil, alle Leitungen seien in bester Ordnung.

Ein weiterer Monat verging, da ging die Frau eines Abends in den Keller, um aus dem Kühlschrank eine Flasche Weißwein zu holen. Für die Küche hatten sie sich einen neuen Kühlschrank gekauft und den alten, kleineren in den Keller gestellt, um dort Bier und Weißwein zu lagern. Als sie die Kellertreppe hinunterging, sah sie ein sonderbar flackerndes Licht. Das Deckenlicht ließ sich nicht anschalten, und zuerst dachte sie, die Glühbirne wäre kaputt, dann jedoch sah sie, dass das Flackern aus dem Kühlschrank kam, der weit offen stand. Eine Weißweinflasche war herausgefallen und zerbrochen, der Wein hatte eine Pfütze gebildet, fast wäre sie hineingetreten.

Das flackernde Licht wurde schwächer und erlosch schließlich ganz, sodass die Frau im Dunkeln stand und sich das ungute Gefühl einstellte, dass mit diesem Haus etwas nicht in Ordnung war. Nun postete sie keine Bilder mehr.

In der folgenden Zeit hörten sie immer wieder Geräusche aus dem Keller, ohne zu wissen, woher sie kamen. Es handelte sich um ein Steinhaus in der Weststadt, das kurz vor dem Zweiten Weltkrieg erbaut worden war und seitdem einige Male die Besitzer gewechselt hatte. Sie hatten es vor ungefähr einem Jahr von einem Ehepaar gekauft. Die Frau rief die Vorbesitzer an, erreichte den Mann und fragte ihn vorsichtig, ob es zu seiner Zeit in dem Haus ungewöhnliche Vorkommnisse im Keller gegeben habe, und beschrieb kurz, was ihr Mann und sie erlebt hatten. Der Vorbesitzer verneinte dies, doch die Frau hatte das Gefühl, als würde er ihr etwas verschweigen, fasste sich ein Herz und fragte, warum sie das Haus eigentlich verkauft hätten. Unter normalen Umständen wäre sie niemals so dreist gewesen, doch sie wusste, dass die Vorbesitzer mit ihren zwei Kindern vier Jahre damit verbracht hatten, das Haus aufwändig zu renovieren, um dann ziemlich schnell wieder auszuziehen. Der Vorbesitzer, der sich von dieser Frage offenbar überrumpelt fühlte, sagte, er hätte ihnen das Haus zu einem guten Preis verkauft, und beendete wenig später das Gespräch.

Zuvor hatte das Haus einem Mann gehört, der fast zwanzig Jahre darin gewohnt hatte. Er war kürzlich verstorben. Die Frau machte seine Tochter ausfindig, die sich über den Anruf wunderte und nie etwas davon gehört hatte, dass es in dem Haus spuken würde. Ganz im Gegenteil, in dem Haus herrschte ein guter Geist, sie habe sich dort immer wohlgefühlt. Als die Frau fragte, ob einmal jemand in dem Haus gestorben sei, erzählte die Tochter von ihrer Mutter. Sie sei nach langer Herzkrankheit an einem Infarkt gestorben, der Vater habe sie tot auf dem Wohnzimmerfußboden gefunden. Weitere Vorbesitzer oder Bewohner des Hauses konnte die Frau nicht ausfindig machen, wollte die Sache schon auf sich beruhen lassen, sah sich dann aber doch auf der Website des Bauamts die Baupläne des Hauses an. Irgendwo hatte sie sicher auch den Auszug, den sie beim Kauf des Hauses bekommen hatten, doch auf die Schnelle fand sie ihn nicht. Die Pläne bestätigten, was sie dunkel zu erinnern glaubte: Der Keller war einst ein Kohlenkeller gewesen, wo der Kohleofen gestanden hatte, der aber entfernt worden war, als man das Haus an die Fernwärme anschloss. Außerdem fand sich auf den Bauplänen ein Raum, der als Kammer bezeichnet war, wahrscheinlich früher einmal eine Speisekammer, der dann als Waschküche genutzt wurde. Daneben war früher ein noch kleinerer Raum gewesen, ein Dienstmädchenzimmer vielleicht, doch der war längst mit der Waschküche zu einem Raum zusammengelegt worden.

Einige Tage nachdem die Frau ihre Recherche abgeschlossen hatte, war sie abends vor dem Fernseher eingeschlafen. Als sie wieder aufwachte, stellte sie fest, dass sie allein im Fernsehzimmer war. Es war spät geworden, also vermutete sie, ihr Mann wäre bereits zu Bett gegangen. Sie schaltete den Fernseher aus, räumte noch etwas in der Küche herum, da hörte sie aus dem Keller einen dumpfen Schlag, gefolgt von etwas, das klang wie ein halb erstickter Schrei. Nach all dem, was zuvor passiert war, bekam sie verständlicherweise einen riesigen Schreck. Sie ging zur Küchentür und rief nach ihrem Mann, fragte, ob er das auch gehört habe, bekam aber keine Antwort.

Sie wollte ihn wecken. Das Geräusch kam eindeutig aus dem Keller, und es machte ihr Angst. Doch ihr Mann war nicht im Schlafzimmer. Das Bett war unberührt. Sie rief abermals nach ihm und überlegte, ob er einen Abendspaziergang machte. Das kam vor, wenn auch nicht sehr oft.

Sie hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, da kam ihr die Idee, dass ihr Mann vielleicht gar nicht ausgegangen war. Dass er sich irgendwo im Haus befand, vielleicht sogar im Keller. Sie fasste sich ein Herz und ging hinunter, vorsichtig, Schritt für Schritt, und rief dabei seinen Namen, ob er da unten sei und was er da mache. Sie hatte den Fuß der Treppe erreicht, blickte in Richtung Waschküche, rief erneut, keine Reaktion. Die Tür zur Waschküche war geschlossen. Als sie sie öffnen wollte, verspürte sie einen Widerstand. Irgendetwas lag auf dem Fußboden auf der anderen Seite. Es war dunkel in der Waschküche, und als die Frau kräftiger drückte, konnte sie die Tür so weit öffnen, dass sie ihren Mann dort am Boden liegen sah. Sie zwängte sich durch den Türspalt in die Waschküche, wollte Licht machen, doch es blieb dunkel, so heftig sie auch auf den Lichtschalter schlug. Die Frau beugte sich über ihren Mann und sah in dem schwachen Lichtschein, der von der Lampe im Flur hereinfiel, dass er aus einer Platzwunde am Kopf blutete. Ein Stuhl lag umgekippt da. Eine zersprungene Glühbirne lag auf dem Boden. Sie rief seinen Namen, schüttelte ihn, prüfte, ob sein Herz schlug, ob er atmete. Sie nahm Lebenszeichen wahr.

Ihr Handy lag in der Küche. Sie eilte die Treppe hinauf, wählte den Notruf und beschrieb, während sie bereits wieder hinunterging, was vorgefallen war. Offenbar hatte ihr Mann die Glühbirne in der Waschküche auswechseln wollen, sei dabei vom Stuhl gefallen und liege nun bewusstlos auf dem Boden. Die Stimme am anderen Ende war die Ruhe selbst, sagte, ein Krankenwagen sei unterwegs, und bat um weitere Informationen. Als sie sich umsah, bemerkte sie, dass überall auf dem Boden blaue Wäscheleinen lagen. Sie waren eigentlich quer durch die Waschküche von einer Wand zur anderen gespannt und an Haken befestigt, die in die Holzverkleidung geschraubt waren. Die Holzverkleidung wiederum war solide in der Steinwand verankert. Ihr Mann war offenbar mit solcher Wucht auf die Wäscheleinen gefallen, dass es die Holzverkleidung an einer Seite herausgerissen hatte und mit ihr ein großes Stück der Mauer. Putz und Mauerwerk lagen überall verstreut.

Durch das Loch in der Wand war ein Hohlraum zu sehen, in dem sie eine Art Leinensack entdeckte, und als sie näher heranging …

Die Frau hörte, wie ihr Mann ein Stöhnen von sich gab, und fuhr herum. Er kam zu sich. Sie kümmerte sich um ihn, so gut sie konnte, sprach mit ihm, doch er hörte sie offenbar nicht. Sie nahm ein trockenes Wäschestück und legte es ihm unter den Kopf, wollte ihn aber nicht bewegen. Der Mann von der Leitstelle des Rettungsdienstes hatte ihr gesagt, dass sie das auf keinen Fall tun dürfte.

Sie warf einen Seitenblick auf das Loch in der Wand. Irgendetwas war da, doch sie sah nicht, was. Ihr Mann öffnete die Augen. Draußen hörte man einen Krankenwagen näher kommen.

Sie lächelte ihren Mann an.

»Was ist passiert?«, stöhnte er.

»Du bist gefallen, Schatz«, flüsterte sie und hielt seine Hand.

Da hielt der Krankenwagen auch schon vor ihrem Haus. Sie erhob sich und tastete sich zu dem Loch vor, das sich in der Wand aufgetan hatte. Das Blaulicht beleuchtete die Waschküche. Sie tastete nach dem, was sie für einen Leinensack gehalten hatte, und atmete auf – es war wohl nur Isoliermaterial.

Sie zog an dem Stoff, da hörte sie, wie in dem Hohlraum hinter der Wand etwas ins Rutschen geriet, und aus dem Sack fiel ein dickes Büschel Haare.

Auf der Straße war es vollkommen still. Die Haustür stand weit offen, sodass die Sanitäter ohne Probleme an ihren Einsatzort gelangen konnten. Sie beeilten sich. Als sie gerade das Haus betreten hatten, hörten sie aus dem Keller einen durchdringenden Schrei.

Drei

Konrað konnte dem alten Vorarbeiter nur mühsam klarmachen, was er von ihm wollte. Der Mann war fast sein ganzes Leben in der Fleischverarbeitung tätig gewesen, und das unter anderem bei der Erzeugergenossenschaft, deren Schlachthof früher an der Skúlagata mitten in Reykjavik gelegen hatte.

Als die Genossenschaft später in Richtung Ost-Island umzog, wollte er den Großraum Reykjavik nicht mehr verlassen und fand einen neuen Job bei einem Freund, für den er in Hafnarfjörður einen fleischverarbeitenden Betrieb führte.

Konrað war schon eine Weile bei ihm und sprach mit ihm über den Mordfall auf der Skúlagata, dann erzählte er dem Vorarbeiter, in welcher Beziehung er zu dem Mann stand, der damals in der Einfahrt des Schlachthofs vor dem schwarzen verschlossenen Gittertor erstochen worden war.

»Ach, das war dein Vater?«, sagte der Vorarbeiter und sah Konrað mit einem ernsten Gesichtsausdruck an.

Konrað nickte.

»Ich erinnere mich gut daran«, sagte der alte Vorarbeiter. »Ich habe damals zwar noch gar nicht an der Skúlagata gearbeitet, aber das war ja überall in den Nachrichten. Wenn ich mich recht entsinne, war von den Räucherkammern damals nie die Rede gewesen. Warum interessieren sie dich, wenn ich fragen darf?«

»Der Mörder meines Vaters könnte sich bei den Räucherkammern versteckt haben«, sagte Konrað. »Man hat mir gesagt, dass ich am besten mit dir sprechen soll, wenn ich etwas über die damaligen Mitarbeiter erfahren will. Vielleicht weißt du ja sogar noch, wer an den Räucherkammern gearbeitet hat.«

Konrað hatte in den vergangenen Wochen versucht, Mitarbeiter des Schlachthofs aus den frühen Sechzigerjahren ausfindig zu machen. Er ging dabei behutsam vor. Da er die meisten Leute nicht kannte, verschwieg er den wahren Grund für seine Nachforschungen so gut es ging. Die Verwaltung der Erzeugergenossenschaft kontaktierte er unter dem Vorwand, er würde nach Männern suchen, die ihm etwas über die aussterbende Handwerkskunst des Räucherns von Fisch und Fleisch erzählen könnten. So bekam er einige Namen, führte das eine oder andere Telefongespräch, aber offenbar war niemand mehr am Leben, der um 1963 an den Räucherkammern gearbeitet hatte. Doch er bekam immerhin den Namen dieses Vorarbeiters genannt, besuchte ihn an diesem späten Vormittag und hoffte, er könnte ihm helfen. Dem Vorarbeiter erzählte Konrað ohne Umschweife, worum es ihm wirklich ging. Zuvor hatte er einiges von sich erzählen müssen, über seine Jahre bei der Kriminalpolizei und über seinen fehlgebildeten Arm. Das war der Tauschhandel, auf den Konrað sich einlassen musste, um von dem Vorarbeiter etwas zu erfahren.

»Und warum sollte er sich ausgerechnet da versteckt haben?«, fragte der Vorarbeiter.

Konrað holte eine Fotografie hervor und zeigte sie ihm. Sie war an dem Abend des Mordes aufgenommen. Er hatte das Foto im Nachlass eines Pressefotografen aufgestöbert, der damals als Erster am Tatort gewesen war, nachdem er im Polizeifunk gehört hatte, dass vor dem Schlachthof ein Mann in seinem eigenen Blut lag. Dieser Mann war Konraðs Vater, jemand hatte ihm mit einem Messer zwei Stichwunden zugefügt. Er war noch am Leben gewesen, als eine Passantin ihn fand, ein junges Mädchen auf dem Rückweg von der Tanzstunde. Er hatte sogar noch versucht, etwas zu sagen, doch bevor es ihm gelang, war er vor ihren Augen gestorben. Konrað hatte erst vor Kurzem mit der Frau gesprochen. Nach seiner Pensionierung bei der Polizei hatte er angefangen, sich für den Mordfall zu interessieren, und schon bald war das Schicksal seines Vaters für ihn zu einer Art Freizeitbeschäftigung geworden. Sein Interesse für den Fall hatte verschiedene Gründe. Zum einen war der Mord nie aufgeklärt worden. Niemand wurde verhaftet, überführt und verurteilt. Die Fragen, die man sich 1963 nach der Tat stellte, waren heute noch genauso aktuell wie damals. Nichts hatte sich verändert. Bisher hatten Konraðs Nachforschungen ihm allerdings nur eine neue Erkenntnis gebracht, die er als gesichert ansah: Sein Vater hatte kurz vor seinem Tod erneut mit einem Mann namens Engilbert zusammengearbeitet, der sich als spiritistisches Medium ausgab. Gemeinsam mit ihm hatte Konraðs Vater leichtgläubige Menschen um ihr Geld betrogen.

»Siehst du das Fenster da?«, sagte Konrað und zeigte auf die Fotografie.

Das Fenster, das auf dem Foto zu sehen war, wies auf die Skúlagata hinaus, hinter ihm lagen die Räucherkammern des Schlachthofs. In der Räucherkammer waren drei Räucheröfen gewesen, rabenschwarze Ungetüme voller Ruß und Fett, denen ein Geruch von versengtem Fleisch entströmte. Sie wurden mit schweren Eisentüren verschlossen, die vom Fußboden bis zur Decke reichten. Konrað hatte vor Kurzem erfahren, dass diese Räucheröfen am Abend des Mordes in Betrieb gewesen waren.

Die Fotografie war schwarz-weiß. Es war zur Tatzeit bereits dunkel gewesen, und die Polizei hatte den Tatort nicht gut ausleuchten können. Der Vorarbeiter sah sie lange an, bevor er sie Konrað zurückgab.

»Meinst du, er ist durch dieses Fenster in den Schlachthof hineingekommen? Nachdem er deinen Vater erstochen hat? Wenn ich mich richtig erinnere, waren die vergittert.«

»Damals noch nicht«, sagte Konrað. »Das war wohl erst später so.«

Auf jeden Fall hatte der Täter nicht viel Zeit gehabt, sich vom Tatort zu entfernen. Konraðs Vater war damals von einem jungen Mädchen gefunden worden, die aber niemanden auf der Straße gesehen hatte. Als Konrað die Fotografien das erste Mal gesehen hatte, war ihm das Fenster sofort aufgefallen. Er erinnerte sich daran, dass er die Fenster noch aus der Zeit in Erinnerung hatte, als er als Jugendlicher in der Nähe des Schlachthofs gewohnt hatte. War der Mörder dort eingestiegen? Von dem Kommissar, der damals die Ermittlungen geleitet hatte, erfuhr Konrað, dass die Polizei die Räucherkammer durchsucht und nichts gefunden hatte. Er wollte aber auch nicht ausschließen, dass der Täter von dort auf den Hof des Schlachthofes gelangt und dann über die Lindargata entkommen war.

»Willst du damit sagen, einer der Arbeiter auf dem Schlachthof hat deinen Vater umgebracht?«, fragte der Vorarbeiter, als wäre das die absurdeste Idee, die er jemals gehört hatte.

»Nein«, sagte Konrað rasch. »Darauf weist überhaupt nichts hin. Sie haben das damals sorgfältig überprüft.«

»Was?«

»Ob mein Vater irgendwelche dubiosen Geschäfte mit Mitarbeitern des Schlachthofs gemacht hat«, sagte Konrað. »Aber das hatte er nicht. Sie haben keine Verbindung gefunden.«

»Das wäre ja auch noch schöner!«, sagte der Vorarbeiter. Es missfiel ihm, dass Konrað ihn in seinem eigenen Zuhause nach so langer Zeit mit solch sonderbaren Dingen behelligte. »Warum kommst du eigentlich erst jetzt damit an? Ist ein bisschen spät, findest du nicht?«

Konrað merkte, dass er den Vorarbeiter vor den Kopf gestoßen hatte. Das war nicht seine Absicht gewesen. Der Mann schien sehr von sich überzeugt und sprach in einem herablassenden Tonfall mit Konrað, als ob er immer noch das Sagen hätte. Als Konrað ihm von dem tragischen Ende seines Vaters erzählte, hatte er kein Mitgefühl gezeigt. Auch ansonsten schien er keinerlei Verständnis für Konrað zu haben, der auf der Suche nach Antworten zu ihm gekommen war. Er war einfach nur beleidigt und genervt.

»Ich will deine Zeit nicht länger in Anspruch nehmen«, sagte Konrað und erhob sich. »Entschuldige die Störung.«

»Hast du nicht gesagt, du warst selbst mal bei der Polizei?«, sagte der Vorarbeiter. »Da hättest du doch genug Zeit gehabt, dich mit dem Fall zu beschäftigen.«

»Danke noch mal für deine Hilfe«, sagte Konrað, reichte dem Mann die Hand und verabschiedete sich.

Er stand noch im Treppenhaus und wartete auf den Fahrstuhl, da klingelte sein Telefon. Es war Eygló.

»Hast du schon gehört?«, fragte sie ohne Umschweife.

»Was?«

»Von dem Skelett? In der Weststadt? In dem Keller?«

»Skelett?«

»Liest du keine Nachrichten mehr? Das ganze Internet ist seit heute Morgen voll davon. In einer Kellerwand! Da waren Bilder von dem Haus …«

»In einer Kellerwand?«

»Ich habe mich sofort an das Haus erinnert, als ich es gesehen habe«, sagte Eygló. Ich war da mal drin. Das ist lange her, die Frau, die damals dort gewohnt hat, hat sich in dem Haus nicht wohlgefühlt. Das ist jetzt bestimmt vierzig Jahre her. Sie dachte, es würde da spuken, und ich weiß noch genau, dass auch ich mich sofort unwohl in dem Haus gefühlt habe. Damals wusste ich natürlich nicht, warum. Das habe ich erst heute Morgen in den Nachrichten gesehen, es war wirklich genau das Haus, in dem ich damals …«

Konrað spürte, wie aufgebracht Eygló war.

»So ein komisches Gefühl wie in diesem Haus habe ich selten gehabt«, fuhr sie fort. »Und dann stellt sich heraus … die arme Frau hatte recht.«

Eygló schwieg.

»Wenn du von deinen Freunden bei der Polizei etwas über den Fall erfährst, sagst du mir dann Bescheid? Ich habe das damals nicht besonders ernst genommen, und doch habe ich dieses Haus nie vergessen. Dieses extrem beklemmende Gefühl. Wie schlecht es dieser Frau dort ging. Und wie wenig ich getan habe, um ihr zu helfen.«

Vier

Anfangs wusste Konrað nicht, was er von Eyglós Geschichte mit dem Skelett halten sollte, doch wenig später erfuhr er, dass alles den Tatsachen entsprach. Alle Medien berichteten von dem Skelett in der Kellerwand.

Er konnte Marta nicht erreichen. Als es ihm schließlich doch gelang, war sie nicht besonders gut gelaunt und wollte ihm keinerlei Informationen über den Fall geben. Ihre Vorgesetzten hatten sie wegen ihres engen Kontakts zu Konrað gewarnt. Sie sagte, sie sei es leid, dass er sich so aufführte, als wäre er noch immer im Dienst, obwohl er doch jetzt schon seit einiger Zeit in Rente sei. Ihre Laune war derart schlecht, dass Konrað seine Freundin Eygló und deren lange zurückliegenden Besuch in dem Haus erst gar nicht erwähnte. Marta hatte ihm schon oft genug gesagt, wie lächerlich sie diesen Spiritismus und angeblichen Sinn für übernatürliche Phänomene fand.

Die Kriminaltechnik habe ihre Untersuchung noch nicht abgeschlossen. Die Kollegen täten, was sie könnten, aber es brauche eben seine Zeit, nach einem so mysteriösen Fund alles umfassend zu dokumentieren. Die Spezialisten der Rechtsmedizin hätten die Gebeine noch nicht identifiziert, doch es sah so aus, als ob sie bereits vor langer Zeit dort eingemauert worden wären. Mehr wollte Marta nicht preisgeben. Sagte, sie habe nicht die Erlaubnis dazu, und als Konrað hartnäckig blieb und ihre alte Freundschaft ins Feld führte, legte sie einfach auf.

Die Medien beriefen sich bei den wenigen Informationen, die sie überhaupt lieferten, größtenteils auf anonyme Quellen. Man nahm an, dass es sich um die Gebeine einer Frau handelte, doch offiziell bestätigt war das nicht. Die Todesursache war ebenso unbekannt wie der Zeitpunkt, zu dem die Leiche dort eingemauert worden war. Es musste lange her sein, so viel war klar.

Immerhin hatten die Medien in Erfahrung gebracht, wer in dem Haus gewohnt hatte, seit es in den frühen Dreißigerjahren erbaut worden war, und veröffentlichten nun unter großen Schlagzeilen Namen und Bilder von vielen der Bewohnerinnen und Bewohner. Zuerst hatte das Haus einem stadtbekannten und angesehenen Kaufmannsehepaar gehört. Für damalige isländische Verhältnisse war das Haus fast mondän gewesen, sie hatten sogar ein Dienstmädchen gehabt. Als der Ehemann im besten Alter starb, verkaufte seine Witwe das Haus an einen Reeder, der dort nie selbst einzog, es aber für die nächsten fünfundzwanzig Jahre vermietete. Über seine Mieter ließ sich kaum noch etwas herausfinden. Dann ging das Haus an einen Großhändler, der es mit seiner Frau bezog. Sie blieben nur kurz, verkauften das Haus nach zwei Jahren. Auch die nächsten Eigentümer behielten das Haus nicht lange. Im Jahr 1979 wohnte dort ein Zahnarzt mit seiner Frau, die allerdings bald darauf starb. Eine Internet-Zeitung wollte in Erfahrung gebracht haben, dass sie in dem Haus einen Herzstillstand erlitten hatte. Erneut wurde das Haus an wechselnde Bewohner vermietet, bevor das arglose, kinderlose ältere Ehepaar es kaufte und die furchtbare Erfahrung machen musste, in ihrem Keller eine eingemauerte Leiche zu entdecken. So drückte es zumindest eine Internet-Zeitung aus. Über die Art und Weise, wie das Ehepaar auf die Leiche gestoßen war, hatten die Medien noch keine gesicherten Informationen, behaupteten aber, der Fund sei für den Ehemann ein solcher Schock gewesen, dass er nun im Krankenhaus liege. So zumindest eine nicht namentlich genannte Quelle.

Konrað las alles, was er über den Fall finden konnte. Alle bisherigen Hauseigentümer, Mieterinnen und Mieter waren zu Verdächtigen geworden – und trotzdem berichteten die Medien so ausführlich über einige von ihnen, veröffentlichten Bilder und persönliche Informationen. In seinen vielen Jahren bei der Polizei waren ihm viele unaufgeklärte Vermisstenfälle untergekommen, doch ihm fiel spontan keiner ein, der etwas mit diesem Fund zu tun haben könnte. Dazu hatte er nicht genug Informationen, und es sah auch nicht so aus, als würde er von Marta welche bekommen.

Am frühen Abend rief er Eygló an. Er erzählte ihr von dem Gespräch mit Marta. Immerhin hatte er von ihr erfahren, dass viele der angeblichen Informationen im Internet eher Spekulationen waren. Konrað spürte, dass die Nachricht von dem Leichenfund sie noch immer sehr aufregte. Eygló sagte auch, dass das unangenehm beklemmende Gefühl, das sie damals in dem Haus verspürt hatte, zurückgekommen sei. Stärker als jemals zuvor. Manchmal war ihr, als würde sie ersticken.

»Und dann finden sie so was in einem Hohlraum in der Wand«, sagte sie. »Man liest, es handelt sich um die Leiche einer Frau. Ist das schon bestätigt?«

»Nein, noch nicht«, sagte Konrað. »Die Polizei weiß das sicherlich inzwischen, aber sie sagen mir nichts. Auch nicht, ob es ein Mann oder eine Frau war. Aber wenn das, was du damals bei deinem Besuch dort gespürt hast, etwas mit dieser Sache zu tun hatte, dann muss die Leiche vor 1979 eingemauert worden sein, oder wann war das?«

»Ja. Genau.«

»Also, wenn man an solche Dinge glaubt.«

»Ich habe dich nicht darum gebeten, mir zu glauben. Ich beschreibe nur, was ich gespürt habe, als ich in dieses Haus gekommen bin.«

»Die Frau, die damals dort gewohnt hat. Die wollte, dass du kommst. Weißt du, ob sie noch lebt?«

»Sie hat mich heute angerufen«, sagte Eygló. »Sie hat sofort an mich gedacht, als sie von der Sache gehört hat. An meinen Besuch, damals, als es ihr so schlecht ging. Sie glaubt natürlich, dass sie jetzt endlich eine Erklärung für alles gefunden hat. Ihr geht es natürlich nicht besonders gut. Wer erfährt schon gern, dass er jahrelang über einer eingemauerten Leiche gewohnt hat. Sie will mich unbedingt treffen. Magst du vielleicht mitkommen? Du weißt natürlich sehr viel mehr über alte Kriminalfälle als wir.«

»Kriminalfälle?«

»Ist das kein Verbrechen? Mord?«

»Es sieht so aus. Aber Marta wollte darüber nichts sagen, und die Polizei hat auch noch nicht offiziell bekanntgegeben, wann dieser Mensch gestorben ist und woran. Oder was die Begleitumstände gewesen sein könnten von diesem entsetzlichen … Wann trefft ihr euch denn? Diese Frau und du?«

»Jetzt gleich.«

»Wird das eine spiritistische Sitzung oder so was in der Art?«

»Wenn du nicht willst, dann lass es«, sagte Eygló. »Ich kenne ja deine Meinung … was diese Dinge angeht. Ich würde mich nur freuen, wenn du mitkämst, weil du dich mit solchen Dingen auskennst, aber wenn nicht, dann nicht.«

Sie hatten schon öfter Streit gehabt, wenn es um okkulte oder übernatürliche Phänomene ging. Am schlimmsten war es, wenn dabei die Beziehung zwischen ihren Vätern ins Spiel kam, deren Betrügereien mit spiritistischen Sitzungen. »Denkst du, es war vor dem Jahr 1979? Da warst du ja in dem Haus«, sagte Konrað in dem Versuch, Interesse zu zeigen. »Du gehst ja wahrscheinlich davon aus, dass die Leiche vor dieser Zeit dort eingemauert wurde.«

»Nicht unbedingt«, sagte Eygló. Der Unterton in Konraðs Stimme war ihr nicht entgangen. »Du weißt doch, wie das mit uns seherisch begabten Leuten ist. Wir können auch in die Zukunft blicken. Vielleicht habe ich mich auch deswegen damals in diesem Keller so unwohl gefühlt. Weil alles so kommen musste, wie es jetzt gekommen ist.«

Fünf

Die Polizei hatte die Frau bereits befragt, zwei bärtige Typen, die die ganze Zeit mit ihren Handys beschäftigt waren. So beschrieb es die Frau. Die Beamten seien nicht direkt unhöflich gewesen, hatten die Frau aber sofort gefragt, ob sie irgendwas über die Leiche im Keller wüsste. Sie waren so kurz angebunden gewesen, dass die Frau das Gefühl bekam, die Beamten würden sie verdächtigen. Am Schluss fragten sie sogar ganz direkt, ob sie das getan habe oder ob sie wüsste, wer. Da sei es der Frau zu bunt geworden und sie habe zurückgefragt, ob die Beamten allen Ernstes dächten, sie wäre zu so etwas in der Lage. Daraufhin hätten die beiden kurz von ihren Telefonen aufgeblickt, mit den Schultern gezuckt und gesagt, sie müssten diese Frage eben stellen, ob es den Leuten gefalle oder nicht.

»Diese Arroganz«, sagte sie. »Aber so ist das nun mal bei den jungen Leuten heutzutage«, fügte sie noch hinzu, als wäre das eine wissenschaftliche Tatsache.

Sie war verwitwet. Ihr Mann habe vor ungefähr zehn Jahren Krebs bekommen und sei innerhalb weniger Monate gestorben. Ihre Kinder seien natürlich längst erwachsen und meldeten sich nur noch selten, sagte sie, und Eygló und Konrað spürten, dass sie das schade fand. Enkelkinder hatte sie drei. Eygló spürte sofort, dass die Frau schwere Zeiten erlebt hatte. Sie waren vor vierzig Jahren nur für kurze Zeit gemeinsam in dem Haus gewesen, weil es der Frau dort so schlecht ging. Danach hatten sie nie wieder etwas voneinander gehört. Inzwischen war sie grau geworden, hatte ein Doppelkinn und müde Augen. Sie wohnte jetzt in einer Neubau-Wohnung. Sie hatte Eygló sofort wiedererkannt, Konrað hingegen warf sie einen misstrauischen Blick zu, der sich erst veränderte, als sie erfuhr, dass er ein pensionierter Polizeibeamter und guter Freund von Eygló war.

»Ich habe einen furchtbaren Schreck bekommen, als ich das im Internet gesehen habe«, sagte die Frau und zeigte auf einen Computerbildschirm, der in einer Ecke des Wohnzimmers stand. »Plötzlich war da dieses Bild von unserem alten Haus. Ich musste einfach mit irgendjemandem darüber reden, da dachte ich, ich melde mich mal bei dir. Ich hoffe, dass du das nicht für … dass ich dir damit nicht auf die Nerven gehe.«

Eygló verneinte sofort. Sie habe sich gefreut von der Frau zu hören, schließlich sei auch sie schockiert gewesen. Die Erinnerung an den damaligen Besuch sei wieder wach geworden, sobald ihr klar wurde, um welches Haus es sich handelte.

»Das hast du natürlich nicht ahnen können«, sagte die Frau. »Niemand hätte das ahnen können.«

»Nein«, sagte Eygló. »Das ist einfach zu unglaublich. Hat die Polizei dir mehr darüber erzählt? Es gibt so wenig gesicherte Informationen. Oder was haben sie sonst noch gefragt? Was wollten sie wissen?«

»Sie haben kaum etwas gesagt. Nicht einmal, ob es eine Frau oder ein Mann war, auch nicht, als ich danach gefragt habe. Weißt du da mehr?«, fragte die Frau und blickte Konrað an.

»Mir sagt man auch nichts. Die behalten alle Informationen für sich. Aber durch dich wissen wir jetzt zumindest, dass sie sofort angefangen haben, die früheren Bewohner des Hauses zu befragen. Die sind jetzt natürlich alle erst einmal verdächtig. Wer auch immer das getan hat, muss ja irgendeine Verbindung zu dem Haus haben, muss Zugang gehabt haben. Fällt dir irgendwas ein, an dem sie besonders interessiert waren?«

»Ja. Sie wollten ganz genau wissen, ob wir irgendwelche Renovierungsarbeiten durchgeführt haben, insbesondere im Keller«, sagte die Frau. »Das haben wir nicht, aber ich weiß, dass da im Keller mal ein Dienstmädchenzimmer gewesen ist. Und eine kleine Speisekammer, glaube ich. »Aber das war schon längst zu einem großen Raum zusammengelegt, als wir eingezogen sind.«

»Weißt du, wann diese Umbauten gemacht wurden?«

»Nein«, sagte die Frau. »Das ist alles über vierzig Jahre her. Die Polizei wollte wissen, warum wir das Haus nach so kurzer Zeit wieder verkauft haben. Das fanden sie irgendwie verdächtig. Ich habe dann wahrheitsgemäß gesagt, dass es mir dort so schlecht ging, dass ich sogar einmal ein Medium um Hilfe gebeten habe. Aber namentlich erwähnt habe ich dich nicht«, sagte sie und sah dabei Eygló an. »Die fanden das lustig. Sie wollten sich nichts anmerken lassen, aber ich habe es ihnen angesehen.«

Konraðs Handy klingelte und riss sie aus der Stille, die sich nach den letzten Worten der Frau im Raum ausgebreitet hatte. Konrað lächelte entschuldigend, erhob sich und nahm den Anruf an, sobald er das Zimmer verlassen hatte. Es war der Vorarbeiter aus dem Schlachthof. Konrað hatte ihm seine Nummer gegeben, falls ihm noch etwas einfallen würde, doch nach dem unfreundlichen Empfang hätte Konrað nie damit gerechnet, noch einmal von ihm zu hören.

»Ist da … Hallo? Spreche ich mit Konrað?«, hörte er und erkannte die Stimme sofort.

»Ja, das tust du«, sagte er.

Der Mann druckste eine Weile herum, ohne dass Konrað wusste, was er wollte, dann konnte er sich zusammenreimen, dass der Vorarbeiter noch einmal über ihr Gespräch nachgedacht hatte. Und dass ihm in Bezug auf die Räucherkammern etwas eingefallen war. Der Vorarbeiter hatte ein paar Leute angerufen und erfahren, dass der Mitarbeiter, der wahrscheinlich zu der Zeit des Mordes an Konraðs Vater für die Räucheröfen zuständig war, nicht mehr lebte. Auch ein anderer, der vielleicht in Frage kam, sei verstorben. Aber der habe eine Tochter.

»Und als die gehört hat, worum es geht, ist sie ziemlich neugierig geworden«, sagte der Vorarbeiter nach einem kurzen Hustenanfall. »Sie hat zwar noch nie von deinem Vater gehört, aber sie würde dich gern treffen.«

»Weißt du, warum?«, fragte Konrað.

»Ich glaube, sie will dir irgendwas zeigen«, sagte der Vorarbeiter. »Etwas, das ihrem Vater gehört hat, glaube ich. Ich habe es nicht ganz verstanden …«

Es folgte ein erneuter Hustenanfall. Dann sagte der Vorarbeiter noch, wie Konrað die Frau erreichen könne, und verabschiedete sich dann. Konrað gab die Nummer in die Telefonbuch-App ein und fand einen Namen und eine Adresse. Sólveig Hannesdóttir, Maklerin. Sie wohnte im Stadtteil Árbær, genau wie Konrað.

»Ich habe gesehen, dass ihr das Haus direkt nach meinem Besuch verkauft habt«, hörte er Eygló sagen, als er wieder zurück ins Wohnzimmer kam.

Die Frau zuckte mit den Schultern, als ob sie am liebsten nie wieder an diese Zeit zurückdenken würde. Ihr Mann, Gott habe ihn selig, habe ihr nie geglaubt. Er sei wütend geworden, als sie von ihrem Unwohlsein erzählte, er habe sie sogar für paranoid gehalten. Doch sie sei hartnäckig geblieben. Ihr Ehemann habe lange gebraucht, um ihr die Strapazen und die Kosten zu verzeihen, die mit dem Umzug verbunden waren. Aber was hätte sie sonst tun sollen? Sie fühlte sich eben schlecht in dem Haus. Dann fügte sie noch hinzu, ihre Beschwerden seien durchaus vergleichbar mit dem, was Leute heutzutage berichteten, die in Häusern mit Schimmelbefall wohnten.

»Vielleicht war das auch wirklich nur Schimmel, und das mit der Leiche ist ein großer Zufall«, sagte sie und versuchte ein Lächeln. »Ich konnte die Beschwerden ja nicht einmal richtig beschreiben, als ich dich damals kontaktiert habe. Und woher sie kamen, wusste ich erst recht nicht. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, weiß ich auch keine Antwort darauf. Aber nach dem Umzug sind alle Beschwerden verschwunden. Das muss doch irgendwas bedeuten, oder? Irgendetwas bedeutet das sicher.«

Eygló versuchte sie aufzumuntern und sagte, sie habe auf jeden Fall richtig gehandelt. Die Frau beruhigte das kaum.

Sie blieben noch eine geraume Zeit bei ihr, dann fuhren sie zurück zu Eygló nach Fossvogur. Eygló saß den großen Teil der Fahrt schweigend da. Konrað spürte, dass etwas sie beschäftigte, auch wenn es keine äußeren Anzeichen dafür gab. Irgendwann konnte sie nicht mehr an sich halten. Sie musste aussprechen, was ihr im Kopf herumging, seit sie von dem Leichenfund erfahren hatte.

»Es ist nur … es ist so blöd, das jetzt zu sagen, wo wir wissen, was da im Keller war«, sagte Eygló. »Aber es läuft mir kalt den Rücken runter, wenn ich daran denke, was ich damals in dem Haus empfunden habe. So ein beklemmendes Gefühl habe ich seitdem nie wieder gespürt. Ich kann einfach nicht aufhören, daran zu denken. Was, wenn …«

Eygló brachte den Satz nicht zu Ende.

»Da kann ich dich zumindest erst einmal beruhigen«, sagte Konrað. »Hoffe ich zumindest.«

»Ja?«

»Ich habe Marta danach gefragt.«

»Und was hat sie gesagt?«

»Bis jetzt weist nichts darauf hin, dass der Mensch noch am Leben gewesen ist, als er dort eingemauert wurde.«

Sechs

Der Pastor war noch in einer Besprechung, also setzte Elísa sich mit einigen Mühen auf einen Stuhl und wartete. Sie war froh, etwas ausruhen zu können. Niemand sollte merken, dass sie humpelte. Der Bluterguss war über Nacht größer geworden und bedeckte jetzt fast ihren ganzen Oberschenkel. Als sie heute Morgen aufstehen wollte, konnte sie kaum auftreten. Die Schmerzen an der Stelle, wo sie den Tritt abbekommen hatte, waren in der Nacht so stark gewesen, dass sie zweimal aufgewacht war. Vor dem Einschlafen hatte sie zwei Aspirin genommen, die so wenig halfen, dass sie in der Nacht zwei weitere nahm. Sie hatte sogar überlegt, ein Taxi zu rufen und in die Unfallambulanz zu fahren, um sich untersuchen zu lassen, doch dann hatte sie sich nicht getraut.

Die Tür zu dem Büro des Pastors öffnete sich. Ein Mann kam heraus, setzte seinen Hut auf und ging grußlos an ihr vorbei. Nach einer Weile öffnete sich erneut die Tür. Der Pastor erschien und signalisierte ihr, dass er nun Zeit für sie habe. Sie erhob sich und gab ihm die Hand.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte er, als er bemerkte, dass sie humpelte.

Das konnte sie nun wirklich nicht behaupten. Sie bat um Entschuldigung dafür, dass sie ihn abermals mit ihren Eheproblemen behelligte, aber sie wisse einfach nicht, an wen sie sich sonst wenden könnte. Das sei doch keine Angelegenheit für die Polizei, oder? Ihr Mann habe es wieder getan, habe sie wieder einmal verprügelt. Dieses Mal sei er angetrunken von einer Feier heimgekommen und habe einen Wutanfall bekommen, weil das Essen nicht schnell genug auf dem Tisch stand. Als sie ihn dann auch noch versehentlich ein wenig bekleckert hatte, trat er ohne Vorwarnung zu. Sein Tritt traf ihren Oberschenkel mit einer solchen Wucht, dass sie zu Boden ging und dachte, sie hätte sich das Bein gebrochen. Dann habe er sie beschimpft und ihren Kopf gegen die Wand geschlagen, bis ihre Tochter weinend aus ihrem Zimmer gelaufen kam.

»Oh nein«, sagte der Pastor, ein ernster Mann aus Ostisland, der seit fünf Jahren ihrer Gemeinde vorstand. Er war unter den Gemeindemitgliedern recht beliebt, trank nicht, war verheiratet, hatte vier Kinder und eine schöne Stimme. Seine Predigten hielt er in einem geradezu staatstragend-feierlichen Ton – man vermutete, er wollte in der Kirche Karriere machen.

Vor zwei Monaten war sie schon einmal aus demselben Anlasse bei ihm gewesen und hatte sich über ihren Mann beklagt. Nun war sie wieder hier und wusste keinen Rat mehr. Sie wusste nur, dass sie es nicht länger aushielt.

»Das ist mir so peinlich«, sagte Elísa und sah dem Pastor kaum in die Augen. Sie ging ja nicht einmal regelmäßig zum Gottesdienst. Noch nicht einmal das bekam sie hin.

»Ich rede noch mal mit ihm, wenn du meinst, dass das etwas bringt«, sagte der Pastor. Das hatte er getan, nachdem Elísa das letzte Mal bei ihm gewesen war. Ihr Mann war fuchsteufelswild geworden, weil sie dem Pastor von ihrem Eheleben erzählt hatte, und doch hatte es etwas genützt. Er wurde ruhiger, bat um Entschuldigung, gelobte Besserung. Doch auch das kannte sie inzwischen und wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er sich wieder in ein wildes Tier verwandelte. Schon eine Kleinigkeit reichte. Ein falsches Wort, eine Geste, die ihn nervte – mehr brauchte es nicht, und er schlug ihr mit der Faust ins Gesicht. Er wollte alles bestimmen und kontrollieren. Sie traf nicht einmal mehr ihre Freundinnen, wenn er es nicht ausdrücklich erlaubte.

»Gibt es eigentlich andere Frauen, denen es ähnlich geht?«, fragte Elísa den Pastor. »Ich fühle mich so allein. Ich habe zwar schon mal davon gehört, dass auch andere solche Eheproblemen haben …, aber irgendwie spricht niemand darüber. Dabei würde ich so gern mal mit einer Frau reden, der das auch passiert.«

»Oft bekomme ich so etwas in der Tat nicht zu hören«, sagte der Pastor und kam näher. »Probleme gibt es natürlich in fast jeder Ehe. Und Ehen, in denen ähnliche Dinge geschehen wie bei dir, die gibt es selbstverständlich auch. Aber du sagst es ja selbst: Man hängt es nicht an die große Glocke. Das sind Privatangelegenheiten, das weißt du ja selbst und wahrscheinlich sogar besser als viele andere. Umso mehr danke ich dir für dein Vertrauen. Dass du dich mit deinen Sorgen an mich wendest. Es tut mir leid, dass es um eure Ehe nicht zum Besten steht, aber zu einer Scheidung kann ich dir natürlich nicht raten. Es ist nie gut, eine Familie auseinanderzubrechen. Außerdem …«

»Ja?«

»Seid ihr ja auch in einer besonderen Situation. Nicht viele Frauen haben einen Soldaten von der Militärbasis geheiratet.«

Plötzlich hatte Elísa das Gefühl, der Pastor hätte ihr gar nicht zugehört. Sie hatte sich wegen des Beines nicht wieder hingesetzt, stand dort in seinem Büro. Er kam noch einmal näher, während er in seinem salbungsvollen Ton mit ihr sprach, doch für sie war das nur noch seelenloses Gerede. Als sie das erste Mal bei ihm gewesen war, hatte sie sich ähnlich gefühlt. Da hatte er sie betätschelt, sie zum Abschied in den Arm genommen und sie unangenehm fest an sich gedrückt, sich fast an ihr gerieben. Dieses Mal war es noch eindeutiger. Er hörte ihr überhaupt nicht zu. Empfand kein Mitgefühl. Und sah sie jetzt so an, als würde er an etwas ganz anderes denken.

»Das ist natürlich eine sehr delikate Angelegenheit«, sagte er.

»Es ist mir so unangenehm, darüber zu sprechen«, sagte sie.

»Natürlich.«

»Man schämt sich ja regelrecht dafür.«

»Für solche Dinge bin ich ja da«, sagte der Pastor. »Du kannst immer zu mir kommen, das weißt du, oder?«

Inzwischen stand er ganz nah bei ihr und sagte nun mit leiser Stimme etwas, das sie nicht verstand. Sie spürte nur, wie er seine Hand unter ihren Mantel schob und ihre Hüfte umfasste. Dann wanderte seine Hand weiter nach oben, und er berührte ihre Brust.

Für einen Moment war sie starr vor Schreck. Dann stieß sie ihn von sich.

»Ich möchte dir helfen«, flüsterte der Pastor und ließ sich nicht abweisen.

»Was machst du da? Was soll das?«, zischte sie.

»Ich will doch nur nett zu dir sein, komm schon«, sagte der Pastor, hielt sie fest und wollte sie zu dem Sofa schieben, das in seinem Büro stand. »Ich kann wirklich nett zu dir sein. Ja, ich werde sehr nett zu dir sein.«

»Hör endlich auf!«, rief sie.

Sie machte sich los und schaffte es zur Tür, öffnete sie und eilte aus seinem Büro. Sie warf einen Blick über die Schulter und stellte zu ihrer großen Erleichterung fest, dass der Pastor ihr nicht folgte. Er stand einfach dort, sah ihr hinterher, strich sich die Kleidung glatt und ordnete seine Frisur. Dann schloss er die Tür.