Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur? - Hannah Arendt - E-Book
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Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur? E-Book

Hannah Arendt

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Beschreibung

Wie handelt man richtig, wenn das moralische »Richtig« dem gesetzlichen »Richtig« widerspricht? Wie reagiert man auf Missachtungen der Menschenrechte durch höchste Regierungsinstanzen? Wie können wir urteilen über die, in deren Haut wir nicht stecken? Mit diesen Fragen, die Hannah Arendt bereits vor über 50 Jahren beschäftigten, werden wir heute wieder verstärkt konfrontiert. Damals wie heute gilt: Persönliche Verantwortung muss sich von politischer Verantwortung unterscheiden. In Arendts klarer und bestechender Sprache gibt dieser wiederentdeckte Aufsatz Antworten auf die häufigsten Fragen unserer Zeit.

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Herausgegeben und mit einem Essay von Marie Luise Knott

© 2003 by the Literary Trust of Hannah Arendt and Jerome KohnTitel des amerikanischen Originals: »Personal Responsibility Under Dictatorship«, aus: Responsibility and Judgement, Schocken Books, a division of Random House, Inc. New York 2003© der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2018Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

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Inhalt

Cover & Impressum

Vorwort

Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur?

Auf der Suche nach den Grundlagen für eine neue politische Moral

Marie Luise Knott

Die Herausforderung

Über Verantwortung

Im Gespräch

Das Mädchen aus der Fremde

Kollektive Verantwortung

Ins Urteilen kommen

Besuche machen

Vom Spontanen und vom Bedingten

Bibliografie

Zitierte Lektüre

Weitere Literatur

Anmerkungen

Vorwort

Das englische Originalmanuskript des hier abgedruckten Vortrags stammt aus den Jahren 1964/1965. Es befindet sich unter dem Titel »Personal Responsibility under Dictatorship« im Nachlass von Hannah Arendt und blieb zu ihren Lebzeiten unveröffentlicht. An welches Publikum Arendt die hier veröffentlichte Langfassung adressierte, ist unbekannt.

Im Jahr 1991 übersetzte Eike Geisel den Text aus dem Nachlass; seine Übersetzung erschien unter dem Titel »Die persönliche Verantwortung in der Diktatur« in dem gemeinsam mit Klaus Bittermann herausgegebenen Band mit Essays von Hannah Arendt Israel, Palästina und der Antisemitismus im Berliner Wagenbach Verlag. Als Jerome Kohn im Jahr 2003 den Vortrag erstmals auf Englisch veröffentlichte (in Responsibility and Judgement), schrieb er erläuternd, er habe, da Arendts Englisch nicht muttersprachlich sei, das Manuskript ediert, »kohärent« gemacht und wo nötig die Syntax geändert. Entsprechend gibt es geringe Abweichungen zwischen der deutschen und der englischen Fassung. Für den vorliegenden Band wurde die ursprüngliche Übersetzung von Eike Geisel nach dem nachgelassenen Vortragsmanuskript von der Herausgeberin überarbeitet. Wir danken Klaus Bittermann für die freundliche Überlassung der Abdruckgenehmigung.

Bei den Abbildungen auf den Umschlaginnenseiten sowie auf den Seiten 35 und 47 handelt es sich um Reproduktionen aus dem Originalmanuskript.

Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur?

Vortrag, 1964/65

Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel, wenn ich mit zwei persönlichen Bemerkungen beginne. Wie Sie wissen, verdanke ich die Einladung, hier zu sprechen, der reichlich wilden Kontroverse, die mein Buch über den Eichmann-Prozess ausgelöst hat. Ich sage hier ganz bewusst »ausgelöst« und nicht »verursacht«, denn – und darauf habe ich schon früher hingewiesen – ein Großteil der Kontroverse galt einem Buch, das nie geschrieben wurde. Anfangs wollte ich das Ganze mit einem berühmten österreichischen Bonmot abtun: Nichts ist so unterhaltsam wie der Streit über ein Buch, das niemand gelesen hat. Als dies alles jedoch weiterging und immer mehr Stimmen laut wurden, die mich nicht nur angriffen wegen etwas, das ich nie gesagt hatte, sondern mich im Gegenteil genau für dieses nie Gesagte zu verteidigen begannen, da dämmerte mir, dass es sich bei diesen etwas unheimlichen Darbietungen um mehr als um bloße Sensation und Unterhaltung handeln könnte; dass es um mehr als um »Emotionen« ging, das heißt um mehr als um aufrichtige Missverständnisse, die bereits des Öfteren die Verständigung zwischen Autor und Leser gestört hatten, und auch um mehr handelte als um die üblichen Verzerrungen und Verfälschungen durch Interessengruppen, die viel weniger mein Buch als solches fürchteten als vielmehr, dass es eine unparteiische und eingehende Untersuchung der zur Diskussion stehenden Geschichtsperiode anstoßen könnte.

Was bei den vielen die Kontroverse begleitenden öffentlichen und privaten Diskussionen so sehr ins Auge sprang, war die Tatsache, dass ich eine ganze Reihe der strikt moralischen Fragen, die aufgeworfen wurden, nie gestellt und andere nur beiläufig erwähnt hatte. Ich hatte einen Tatsachenbericht des Prozesses verfasst, und selbst dessen Untertitel »Ein Bericht von der Banalität des Bösen« stimmte in meinen Augen so offenkundig mit den Fakten des Falles überein, dass ich jede weitere Erklärung auf faktischer Ebene für unnötig hielt, auch wenn ich natürlich wusste, dass jede von diesem Phänomen abgeleitete Theorie im Widerspruch zu bestimmten traditionellen Vorstellungen vom Charakter des Bösen und vom Wesen menschlicher Gemeinheit stehen würde. (Zu meinem Glück lenkt der Titel des heutigen Vortrags unsere Aufmerksamkeit in eine andere Richtung.)

Obwohl ich mich, abgesehen von dem Epilog, in dem es mehr um juristische als um moralische Fragen ging, und mit Ausnahme gelegentlicher Nebenbemerkungen, die aber eher politischer denn moralischer Natur waren, strikt an die Tatsachen gehalten hatte und obwohl einige Vertreter des unlauteren Disputs versuchten, die Fakten selbst anzuzweifeln, kamen die meisten aufrichtigen Disputanten sofort auf theoretische Fragen zu sprechen, auf allgemeine Probleme der Moralphilosophie, und zwar ganz so, als stünden diese Probleme nicht nur bei den Lesern, sondern bei jedem, der sich auch nur entfernt mit diesen Dingen beschäftigt, an vorderster Stelle. Mit einigem Entsetzen hörte ich Leute Sätze sagen wie: »Jetzt wissen wir, dass in jedem von uns ein Eichmann steckt«; oder: »Liegt es nicht am modernen Leben, dass wir alle bloße Rädchen in irgendeiner Maschinerie geworden sind?« oder: »Opfer sind eigentlich immer hässlich, kein Wunder, dass Eichmann ›so viel besser wegkommt … als seine Opfer‹«, ein Argument, das umso aufschlussreicher ist, als es nicht das Geringste mit dem zu tun hat, was ich je gesagt oder geschrieben habe, und deshalb zeigt, in welchem Ausmaß Menschen tatsächlich glauben, es sei besser (schöner?), Unrecht zu tun, als Unrecht zu leiden, auch wenn diese Überzeugung ihnen dann doch zu schaffen macht. Oder, auf einer höheren Ebene: »Durch die Leiden wurden die Juden unerträglich, und diesen Krieg haben die Nazis gewonnen«, womit etwas ganz Naheliegendes übersehen wird, nämlich dass, wenn dies wahr wäre, niemand sich zwanzig Jahre später um all diese Dinge kümmern würde; oder: »Wenn das allertragischste Ereignis der Moderne der Mord an den sechs Millionen europäischen Juden ist, dann ist der Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem das interessanteste und bewegendste Kunstwerk der letzten zehn Jahre« (wenn dieser oder irgendein anderer Prozess ein »Kunstwerk« ist, dann möchte ich wissen, um was es sich bei einem Gemälde von Picasso oder einem Roman von Faulkner handelt); oder: »Die Banalität des Bösen ist ›als Theorie schwer zu widerlegen‹, weil sie alles ›plausibel‹ erklärt.« (Ich hatte auf eine Tatsache hingewiesen, die ich für schockierend hielt, weil sie unseren Theorien über das Böse widersprach, und von daher auf etwas möglicherweise Wahres, aber doch nicht Plausibles hingewiesen.)

Dabei war ich selbstverständlich davon ausgegangen, dass wir alle es noch immer mit Sokrates halten, der gesagt hat, es sei besser, Unrecht zu erleiden, als Unrecht zu tun. Diese Annahme erwies sich als Irrtum. Viele waren überzeugt, dass man unmöglich jeglicher Versuchung widerstehen könne und dass man, wenn es hart auf hart komme, keinem von uns trauen solle; dass Versuchung und Zwang ziemlich dasselbe seien. Es war Mary McCarthy die als Erste auf diesen Trugschluss hingewiesen hatte: »Wenn jemand ein Gewehr auf dich richtet und sagt: Töte deinen Freund, oder ich töte dich, dann handelt es sich um eine Versuchung und nichts anderes.« Und während dort, wo das eigene Leben auf dem Spiel steht, eine Versuchung juristisch vielleicht ein Verbrechen entschuldigen mag – eine moralische Rechtfertigung ist sie dennoch nicht. Mir fiel in diesem Zusammenhang nachträglich ein Vorfall ein, der sich vor einigen Jahren im Kontext eines Fernseh-Quiz-Betrugs ereignet hatte. Hans Morgenthau hatte im New York Times Magazine ganz selbstverständlich geäußert, dass es Unrecht sei, um des Mammons willen zu betrügen, dass es doppelt Unrecht sei, in intellektuellen und geistigen Angelegenheiten zu betrügen, und dass es dreifach Unrecht sei, wenn ein (akademischer) Lehrer betrog. Die Reaktionen auf diesen Artikel waren überwältigend negativ: Eine solche Verurteilung sei mit christlicher Nächstenliebe unvereinbar, denn nur Heilige könnten der Versuchung von so viel Geld widerstehen.

Schließlich – und das war in gewisser Weise am erstaunlichsten, da wir es ja doch mit einem Gerichtsverfahren zu tun hatten, dessen Ergebnis in der Regel in einem Urteil besteht, wurde mir vorgehalten, dass es falsch sei, überhaupt urteilen zu wollen; niemand könne urteilen, der nicht dabei gewesen sei. Dies war im Übrigen Eichmanns eigenes Argument gegen den Urteilsspruch des Jerusalemer Landgerichts, welcher besagte, dass es Alternativen gegeben habe und Eichmann sich seinen mörderischen Pflichten hätte entziehen können; er aber bestand darauf, dass es sich dabei um Nachkriegslegenden handle, um Ansichten, die im Nachhinein geschaffen worden seien und von Leuten vorgebracht würden, die nicht wüssten oder vergessen hätten, wie es damals gewesen sei.

Aus zahlreichen Gründen berührt die Debatte darüber, ob es überhaupt möglich und rechtlich zulässig ist zu urteilen, die wichtigste moralische Frage. Es geht hierbei um zwei Dinge: Erstens, wie kann ich Recht von Unrecht unterscheiden, wenn die Mehrheit oder meine gesamte Umgebung die Frage schon vorentschieden hat? Wer bin ich, dass ich richte? Und zweitens, in welchem Umfang, wenn überhaupt, können wir vergangene Ereignisse und Vorfälle beurteilen, bei denen wir nicht zugegen waren? Was das Letztere betrifft, so liegt auf der Hand, dass weder Geschichtsschreibung noch Gerichtsverfahren überhaupt möglich wären, wenn wir uns diese Fähigkeit absprächen. Man kann sogar noch einen Schritt weitergehen und feststellen, dass wir in den meisten Fällen, wo wir von unserer Urteilsfähigkeit Gebrauch machen, nachträglich urteilen, und dies gilt gleichermaßen für die Geschichtsschreibung wie für den Richter, der aus gutem Grunde den Berichten von Augenzeugen ebenso misstraut wie dem Urteil von Dabeigewesenen. Und da schließlich die Frage (ob urteilen darf, wer nicht dabei gewesen ist, MLK) für gewöhnlich den Vorwurf der Selbstgerechtigkeit mit einschließt, möchte ich hinzufügen: Wer hat je behauptet, dass ich, indem ich ein Unrecht verurteile, unterstelle, dass ich selbst davor gefeit wäre, es zu begehen? Selbst der Richter, der einen Menschen wegen Mordes verurteilt, kann danach nur sagen: »And there, but for the grace of God, go I!«