Was will Putin? - Stephan Berndt - E-Book

Was will Putin? E-Book

Stephan Berndt

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Beschreibung

Deutsche Medien im Dienste der Propaganda-Krieger des Pentagons

Seit Wladimir Putin im Sommer 1999 als weitgehend Unbekannter wie aus dem Nichts heraus auf der Weltbühne erschienen ist, rätselt man im Westen über Putins wahre Absichten. Im Zuge der Ukraine-Krise erreichte das Rätselraten einen neuen Höhepunkt. In den Massenmedien wurde immer wieder von Journalisten, Osteuropa-Experten und Politikern eingestanden, dass keiner wisse, was Putin wirklich will, und dass »alle am Rätseln« seien.

Dabei sagt Wladimir Putin in seinen Reden ziemlich klar, wie er die Welt sieht, was ihm an der internationalen und insbesondere an der Politik der USA missfällt, für welche Werte er steht und wo für ihn rote Linien verlaufen. Stephan Berndt lässt Putin selbst zu Wort kommen, und Sie werden rasch erkennen, wie wenig von dem, was Putin tatsächlich sagt, in unseren Medien steht und überhaupt zur Sprache kommt. Das Rätsel um Putins Absichten ist also zu einem großen Teil ein inszeniertes Rätsel der Massenmedien und der Propaganda-Krieger.

Wir können nur wissen, was Putin will, wenn wir auch wissen, was die USA wollen.

Wenn wir das »Rätsel Putin« wirklich lösen wollen, müssen wir das »Rätsel USA« lösen. Schließlich sind die USA nach eigenem Verständnis der Sieger des Kalten Krieges und faktisch die einzig verbliebene Supermacht auf Erden. Und die USA wollen ihre globale Vormachtstellung auch aufrechterhalten. Aus diesem Beharren der USA auf ihrer globalen Vorherrschaft ergibt sich die Überlegung, dass Putins Absichten nur eine Reaktion auf die Absichten der USA sind.

Dazu lässt Stephan Berndt führende US-Geostrategen wie Zbigniew Brzezinski, Henry Kissinger und Senator John McCain zu Wort kommen. Ebenso den ranghöchsten Militär der USA, General Martin Dempsey, und den milliardenschweren US-amerikanischen Investor George Soros, der bereits seit einigen Jahren mit seinem finanzkräftigen Stiftungsnetzwerk in über 60 Ländern die geostrategischen Interessen der US-Außenpolitik umsetzt.

Je länger wir über den Chef im Kreml rätseln, umso wahrscheinlicher wird es, dass er uns eines Tages völlig überraschen wird. Und wer ewig rätselt, lebt gefährlich und läuft Gefahr, eines Tages ganz schön dumm dazustehen.

»Dieses Buch verdient einen Platz in den Top 10 der lesenswertesten Neuerscheinungen. (...) Fazit: Bei dieser Buchbesprechung ist jedes Wort zu viel. Im wohltuenden - und in der heutigen Zeit rar gewordenen - Nachrichtenstil liefert Stephan Berndt alle Bausteine, ordnet sie und lässt den Leser dann entscheiden. Hier wird nicht überredet, gewettert oder diffamiert - schmerzhafte Eigenverantwortung ist gefordert. Unbedingt lesen, selbst entscheiden!«
Marc Moschettini, Smart Investor

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1. Auflage Dezember 2015 2. Auflage Juli 2016 3. Auflage als Sonderausgabe April 2022 Copyright © 2015, 2016, 2022 bei Kopp Verlag, Bertha-Benz-Straße 10, D-72108 Rottenburg Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Yvonne Glasa Lektorat: Christian Huth ISBN E-Book 978-3-86445-338-0 eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

Gerne senden wir Ihnen unser Verlagsverzeichnis Kopp Verlag Bertha-Benz-Straße 10 D-72108 Rottenburg E-Mail: [email protected] Tel.: (07472) 98 06-10 Fax: (07472) 98 06-11Unser Buchprogramm finden Sie auch im Internet unter:www.kopp-verlag.de

Die Idee zu diesem Buch

Die Idee zu diesem Buch entstand, als ich mir im Jahre 2014 all die Talkshows zur Ukraine-Krise im Fernsehen und im Internet ansah und merkte, wie weit verbreitet die Befürchtung war, dass die Ukraine-Krise in einem großen europäischen Krieg endet.

In den entsprechenden Sendungen wurde immer wieder genau diese Frage gestellt: »Was will Putin?« – häufig mit einem Unterton, als hinge die Zukunft Europas einzig und allein ab von Wladimir Putin, diesem schwer einschätzbaren Mann im fernen Moskau.

Die Frage »Was will Putin?« wurde zum einen an die jeweiligen Gäste aus Politik und Medien gerichtet, zum anderen tauchte die Frage auch schon zu Beginn der Sendung in den einleitenden Worten der Moderatoren auf, die sie dann gerne auch auf dem dramaturgischen Höhepunkt der Einleitung platzierten. Oft genau diese drei Worte:

Was – will – Putin?

Mit der Zeit bekam die Frage für mich etwas Gebetsmühlenhaftes, Rituelles. Sie wurde für mich zum Running Gag mit einem gewissen irrationalen Unterton. Vom Februar 2014 bis mindestens Februar 2015, also über zwölf Monate lang, wurde die Frage nach Putins Absichten immer wieder gestellt. Doch nie gab es eine wirkliche Antwort. Jede neue Sendung bröckelte entlang wenig erhellender Schwatzhaftigkeit einem weiteren großen Fragezeichen am Ende der Sendung entgegen.

Irgendwann dachte ich mir: Wie kann das sein? Wie in aller Welt kann es sein, dass man so lange über Wladimir Putins Absichten rätselt? Ist Putin wirklich ein so unglaublich ausgekochtes Schlitzohr, dass keiner seine Absichten durchschaut? All die Politiker und Osteuropa-Experten? Weiß es wirklich keiner?

Auf jeden Fall erzeugt eine Frage irgendwann Unruhe und Spannungen, wenn sie über lange Zeit immer wieder gestellt, aber nicht beantwortet wird. Eine solche Frage macht sich irgendwann verdächtig. Irgendetwas stimmt nicht mit dieser Frage. Das, was nicht stimmt, mag von Fall zu Fall unterschiedlich sein, aber je bedeutender die Frage ist und je mehr von ihr abhängt und auf dem Spiel steht, umso inakzeptabler und verdächtiger wird die ganze Fragerei.

Im Falle Putins, das ahnt so mancher, könnte es um außerordentlich viel gehen, schließlich sind die Russen das mit Abstand größte Volk Europas und ein sehr stolzes Volk dazu. Russland ist zudem eine nicht unerhebliche Militärmacht mit einem gewaltigen atomaren Waffenarsenal, und die Russen sind ein Volk, das im Krieg gegen die deutsche Wehrmacht (1941–1945) bewiesen hat, dass es auch unter extrem hohen Opfern lange Zeit zu kämpfen bereit ist und fähig ist, am Ende auch zu siegen.

Eine mögliche Erklärung für die endlose Fragerei über das, was Putin wirklich will, ist natürlich die, dass gewisse Leute sehr wohl wissen, was Putins wahre Absichten sind, dies aber nicht öffentlich sagen, aus welchen Gründen auch immer.

Sicherlich werden viele unserer Politiker und Medienmacher tatsächlich nicht wissen, was Putin will. Allem Anschein nach ist es sogar die große Mehrheit, und nach allem, was man hört, sieht und liest, dürfte der Prozentsatz bei über 95 Prozent liegen. Doch über 95 Prozent sind nicht 100 Prozent.

Die überwiegende Mehrheit der Politiker und Außenpolitik-Kenner aber produziert statt einer befriedigenden Antwort eine bunte Palette mit Deutungsmöglichkeiten, Behauptungen und Theorien über das, was Putin wirklich will oder wollen könnte. Diese bunte Palette der »Putin-Theorien« in unseren Medien sehen wir uns im ersten Teil des Buches an. Im zweiten Teil des Buches wird Putin selbst zu Wort kommen, und der Leser wird erkennen, wie wenig von dem, was Putin tatsächlich sagt, in unseren Medien überhaupt zur Sprache kommt. Das Rätsel um Putins Absichten ist also auch ein künstliches Rätsel und eine Rätsel-Inszenierung für den unbedarften Bürger. So viel sei schon an dieser Stelle verraten.

Im dritten Teil wird es dann um die Frage gehen, ob und inwieweit Putins Absichten mit den Absichten der USA zusammenhängen. Schließlich sind die USA nach eigenem Verständnis der Sieger des Kalten Krieges und faktisch die einzig verbliebene Supermacht auf dem Planeten. Und die USA wollen ihre globale Vormachtstellung auch aufrechterhalten. Aus diesem Beharren der USA auf ihre globale Vorherrschaft ergibt sich die Überlegung, dass Putins Absichten nur eine Reaktion auf die Absichten der USA sind und Putin nur ein Spieler in einem Spiel ist, dessen Regeln die USA definieren. Eine Kernthese dieses Buches lautet also: Wir können nur wissen, was Putin will, wenn wir wissen, was die USA wollen.

Putins Hammer

Bevor wir uns das Meinungschaos in den deutschen Medien in Sachen »Was will Putin?« ansehen, wenden wir uns noch kurz dem »eigentlichen Problem« zu. Das eigentliche Problem mit Wladimir Putin ist, dass er über eine Möglichkeit verfügt, die uns Westlern überhaupt nicht schmeckt: Im allerschlimmsten Fall könnte er einen Atomkrieg anzetteln. Hätte er diese Möglichkeit nicht, bräuchte man sich eigentlich keine großen Sorgen zu machen. Im schlimmsten Fall würde Putin sein Spiel ganz einfach mit Pauken und Trompeten verlieren. Er könnte vermutlich nicht viel mehr, als sein eigenes Land zu zerstören, indem er es so sehr isoliert, wie es einst die UdSSR war.

Allen ernsthaften politischen Beobachtern ist klar, dass eine direkte militärische Konfrontation zwischen den USA und Russland in der Ukraine oder anderswo in einem Atomkrieg enden könnte. Die wirkliche Gefahr dabei ist nicht, dass eine theoretische, bereits laufende militärische Konfrontation zwischen den USA und Russland in einem Atomkrieg eskaliert, sondern der eigentliche Schritt in den Abgrund, ins Verderben und über den Punkt ohne Wiederkehr hinaus würde dann vollzogen, wenn es die Politiker zuließen, dass es überhaupt zu einer militärischen Konfrontation zwischen den USA und Russland kommt, selbst wenn diese direkte militärische Konfrontation anfangs relativ klein und scheinbar harmlos beginnen würde.

In ein Bild übertragen: Gefährlich wird es nicht erst dann, wenn der Bär mit seiner Pranke zum vernichtenden Schlag ausholt, sondern wenn wir zu tief in sein Revier eindringen, der Bär uns plötzlich entdeckt, den Entschluss fasst, uns anzugreifen, und dann losstürmt.

Nach wie vor ist es denkbar, dass sich Russland und die USA in irgendeiner strategisch wichtigen Krisenregion wie der Ukraine oder Syrien militärisch in die Wolle bekommen, und es fragt sich, ob Putin in einer solchen Situation das ganz große Spiel wagen könnte, also einen zunächst konventionellen Krieg, der aber atomar werden könnte. Zurzeit ist es leicht, sich damit zu beruhigen, Putin sei nicht so verrückt. Was aber, wenn plötzlich die Zeit an sich und die ganze Welt verrückt spielen? Wie würde Wladimir Putin in einer verrückten, völlig chaotischen Weltlage reagieren?

Viele Menschen in Europa wissen es, und noch mehr werden es spüren: Sollte es irgendwo auf dem Planeten, in der Ukraine, dem Baltikum oder im Nahen Osten zu einer direkten militärischen Konfrontation zwischen den USA und Russland kommen, droht ein Atomkrieg. Dieser Gefahr ist man sich auch in Washington und Moskau bewusst, und deshalb ist man in beiden Hauptstädten natürlich äußerst vorsichtig und aufmerksam, sollten sich die Dinge auf diese Gefahrenzone zubewegen.

Die grundsätzliche Bereitschaft zum Atomwaffeneinsatz

Erhöhte Vorsicht und erhöhte Aufmerksamkeit haben letztendlich aber nichts mit der grundsätzlichen Bereitschaft zu tun, unter bestimmten Umständen Atomwaffen einzusetzen. Die Entscheidung, ob Russland oder die NATO grundsätzlich zum Äußersten bereit sind, wird schon lange vorher getroffen. Es mag sein, dass jede neue Regierung in Washington und Moskau diese Entscheidung neu fällt. Aber man kann davon ausgehen, dass die jeweilige Regierung, sobald sie im Amt ist, diese Frage sehr bald grundsätzlich klärt.

Vorausgesetzt, es regieren in Washington und Moskau keine komplett Wahnsinnigen, wird man sich bei der grundsätzlichen Frage nach dem Einsatz von Atomwaffen vor allem eine Frage stellen, nämlich:

Gibt es etwas Wichtigeres als das Leben von Millionen von Menschen?

Es klingt pervers und banal, aber am Ende hängt alles ab von der Antwort auf diese Frage ab: Gibt es etwas Wichtigeres als das Leben von Millionen von Menschen?

Der Zweite Weltkrieg hat rund 65 Millionen Menschenleben gefordert. Also gab es auf diesem Planeten schon einmal Machthaber, die bereit waren, Abermillionen von Menschen zu opfern. Wir Deutschen denken dabei natürlich zuerst an Adolf Hitler. Doch auch Josef Stalin hätte sicherlich den Großteil der 27 Millionen sowjetischen Kriegstoten vermeiden können, hätte er ganz einfach vor der deutschen Wehrmacht kapituliert. Das aber hat er nicht. Irgendwann also wird sich Josef Stalin sinngemäß gesagt haben: »170 Millionen Sowjetbürger unter meiner Herrschaft sind besser als 200 Millionen unter Hitlers Herrschaft.«

Wenn Russland in den 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts bereit war, mehr als 20 Millionen eigene Bürger im Krieg gegen Adolf Hitler zu opfern, warum sollte eine Moskauer Regierung im 21. Jahrhundert nicht bereit sein, 40 Millionen gegen die NATO zu opfern? Alles, was es für diese Bereitschaft bräuchte, wäre ein Argument, das die entsprechenden Machthaber in Moskau überzeugt. Ein solches Argument wäre aus russischer Sicht auf jeden Fall eine existenzielle Bedrohung Russlands durch die NATO. Und wie wir noch sehen werden, glauben führende Politiker Russlands – unter anderem Putin selbst – tatsächlich, dass die Existenz Russlands vom Westen bedroht wird. Jedenfalls sagen sie das öffentlich.

Das atomare Damoklesschwert

Wenn es um Krieg oder Frieden geht, wird es in der Stunde der Entscheidung keine Volksbefragung geben. Weder in den USA noch in Russland, und schon gar nicht in Deutschland. Es werden dann so wie schon seit Jahrtausenden relativ wenige, zumeist ältere Männer eine Entscheidung im engsten Kreis treffen.

Im Vorfeld eines drohenden Krieges ist man in Politik und Medien natürlich bemüht, die Kriegsgefahr nicht zum großen Thema in der Öffentlichkeit werden zu lassen. Die Gefahr wird zwar nicht restlos totgeschwiegen, aber die Hinweise auf diese Gefahr bleiben insgesamt sporadisch und undeutlich, sodass das Volk gar nicht merkt, was eigentlich auf dem Spiel steht. Ein Argument dabei lautet: Man will keine Unruhe oder gar Panik.

Nur ganz vereinzelt, ja selten ringt sich ein anerkannter Repräsentant der politischen Klasse dazu durch, das Kind beim Namen zu nennen. Einer dieser seltenen Fälle ist Michael Stürmer, seit September 1989 Chefkorrespondent der Tageszeitung Die Welt. In den 1980er-Jahren war Michael Stürmer politischer Berater von Kanzler Helmut Kohl. 1984 wurde er in den Vorstand der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung berufen, zwei Jahre später zum Vorsitzenden des Forschungsbeirates des Center for European Studies in Brüssel, und von 1988 bis 1998 war er Direktor des Forschungsinstituts für Internationale Politik und Sicherheit. Michael Stürmer ist in Sachen Politik also nachweislich sehr erfahren und ziemlich kompetent.

Am 5. Februar 2015 nun sagte er in der Talkshow phoenix Runde des Info- und Dokumentations-Fernsehsenders Phoenix-TV zum neuen Konflikt zwischen Russland und dem Westen:

»Die [zentrale] Frage ist hier die der Eskalation. Und in dieser ganzen Debatte [über die neue Konfrontation zwischen Russland und NATO] ist der Begriff Eskalation […] viel zu wenig eingebracht worden. Wir leben in einer Welt, die jedenfalls 40 Jahre lang im Kalten Krieg durch nukleare Waffen determiniert war. […] Dann hatten wir 25 Jahre, da haben wir so getan, als sei das ein strategischer Irrtum gewesen. Inzwischen ist klar: Nukleare Waffen haben eine Doppelfunktion. Moskau und Washington glauben, weil Nuklearwaffen da sind, wird der Gegner nicht blinzeln, nicht zucken.

Beide könnten sich aber auch fürchterlich irren. Denn beide könnten sich eine ernsthafte Niederlage nicht wirklich leisten, als Weltmächte. Das kann Putin nicht, schon alleine aus innenpolitischen Gründen. Das kann auch Obama aus innenpolitischen Gründen nicht. Wir leben in einer ungeheuer gefährlichen Welt. Und das ist wahrscheinlich der Grund, warum [Frankreichs Staatspräsident] Hollande und Frau Merkel alle professionellen Bedenken zurückgestellt haben und gesagt haben: ›Die Lage ist so gefährlich, dass wir darüber reden müssen.‹ [Angela Merkel und François Hollande sind am 6. Februar 2015 nach Moskau geflogen.]

Natürlich sagen sie nicht öffentlich: ›Leute, die nukleare Eskalation hängt über uns wie das Schwert des Damokles.‹ Aber das ist natürlich der Kern des Ganzen.« 1› Hinweis

Hinter der Frage »Was will Putin?« steckt also letztlich die Frage, ob Putin einen Weltkrieg oder Atomkrieg riskieren würde, sollten sich Russland und die NATO einmal direkt militärisch in die Wolle bekommen und sollte er dann keine andere Möglichkeit mehr sehen, egal, ob er die Lage eiskalt analysiert oder von Paranoia und Wut getrieben ist.

Michael Stürmer ist einer der ganz seltenen Fälle, in denen ein Repräsentant der etablierten Medien den Kern des Problems ausspricht.

Entsprechend findet man in unseren Massenmedien eine Art Sprachregelung, nach der im Zusammenhang mit der Russland-Krise das Wort »Weltkrieg« so gut wie nie ausgesprochen, gedruckt und gesendet wird. Stattdessen findet sich in unseren Medien ein Sammelsurium von Umschreibungen und diffusen Andeutungen, wovon die vielleicht albernste die ist, es drohe »Krieg« in Europa, obwohl der Krieg in der Ukraine (Europa) längst läuft. 2› Hinweis

Dieser Methode der Volksberuhigung durch simple Reizwortvermeidung entspricht auch die nahezu flächendeckende Weigerung der politischen Klasse, von einem »neuen Kalten Krieg« zu sprechen, wobei bezeichnenderweise ausgerechnet Vertreter der NATO es (wenigstens bisher) ablehnen, von einem neuen Kalten Krieg zu sprechen. Zynisch formuliert: Nichts ist so schlecht für das Konsumklima und die Investitionsbereitschaft hierzulande, wie das Gerede von einem drohenden großen Krieg in Europa.

Natürlich liegt es in der Natur einer Konsum- und Wohlfühlgesellschaft, dass sie Anzeichen einer zunehmenden Kriegsgefahr mit Russland ausblendet. Die politischen, ökonomischen, massenmedialen und vor allem die psychologischen Mechanismen, die uns »normale« Bürger dazu verleiten, wegzusehen und wegzuhören, sind äußerst stark.

Doch es bleibt dabei: Die eigentliche Frage lautet, ob Putin unter bestimmten Bedingungen bereit sein könnte, die weltpolitische Lage so weit zu eskalieren, dass es in Europa zu einem großen Krieg kommt. Dazu muss Putin nicht unbedingt »böse« sein. Es würde schon reichen, wenn er Russlands Existenz von der NATO bedroht sähe, und nicht warten will, bis Russland sämtliche Trümpfe verspielt hat und dem Westen gegenüber auf ganzer Linie klein beigeben muss.

Was will Putin? – Eine Frage macht die Runde

Wie eingangs schon anklang, liegt ein Teil des Schlüssels zum Rätsel »Was will Putin?« gar nicht so sehr im Rationalen, sondern eher im Emotionalen, im Intuitiven. Die Frage hat eine gewisse Magie, und ihr irrationales Element erspürt man recht gut, wenn man sich ansieht, wie die Frage in der Öffentlichkeit behandelt worden ist und wird.

Folgen Sie mir also in die jüngste Vergangenheit, als die Idee zu diesem Buch entstand und unsere Massenmedien sich intensiv mit der Krise um Russland und Wladimir Putin befassten:

Nachdem die ukrainische Regierung lange Zeit mit der EU über eine wirtschaftliche Annäherung verhandelt hatte, stoppte sie am 21. November 2013 diesen Annäherungsprozess überraschend, indem sie von der Unterzeichnung des EU-Ukraine-Assoziierungsabkommens zurücktrat. Drei Tage danach gab es in Kiew eine erste Demonstration mit mehreren 10 000 Teilnehmern gegen den Regierungsbeschluss. Mit der Annäherung an die EU verbanden die Kiewer Demonstranten die Hoffnung auf eine deutliche Verbesserung ihrer Lebensumstände, sowohl in wirtschaftlicher als auch in politischer Hinsicht; Verbesserungen, auf die sie seit über 20 Jahren, seit der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahre 1991, vergeblich gewartet hatten.

Am 20. Februar 2014 eskalierte dann die Situation in Kiew, als bei Demonstrationen auf dem Majdan3› Hinweis , dem zentralen Platz in Kiew, Schüsse fielen, und etwa 70 Menschen 4› Hinweis starben. Drei Tage nach dem Massaker trafen in Kiew die Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Polens ein, um einen drohenden Bürgerkrieg zu verhindern, von dem zudem zu befürchten war, dass Russland militärisch eingreift. Noch am selben Tag wurde ein Vertrag unterzeichnet zwischen der ukrainischen Regierung und der ukrainischen Opposition. Die Vertreter Europas unterzeichneten den Vertrag als Zeugen, und auch Russland war an den Verhandlungen beteiligt. Dem Vertrag nach sollten Regierung und Opposition innerhalb von zehn Tagen eine Regierung der nationalen Einheit bilden. Bis zum September 2014 sollte eine Verfassungsreform abgeschlossen sein, unmittelbar danach sollte es, wenn möglich, Neuwahlen geben, spätestens aber drei Monate danach, also im Dezember 2014. Die Idee des Vertrages war eine halbwegs geordnete Machtübergabe von der Regierung an die Opposition innerhalb von sieben bis zehn Monaten.

Doch so lange wollten viele Oppositionelle nicht warten, insbesondere nicht auf dem Majdan. Nach Bekanntgabe der Vertragsunterzeichnung wurde der Vertrag von einem Großteil der Demonstranten abgelehnt und der sofortige Rücktritt von Präsident Janukowytsch gefordert. Dieser flüchtete in der darauffolgenden Nacht zunächst in die Ost-Ukraine und dann weiter nach Russland. Am 22. Februar wurde die Kiewer Regierung vom ukrainischen Parlament für abgesetzt erklärt. Am 27. Februar wurde vom ukrainischen Parlament eine Übergangsregierung unter Ministerpräsident Arsenij Jazenjuk gewählt. Diese Regierungsumbildung wurde in Moskau als Putsch betrachtet, und was noch schlimmer war: So sahen das auch viele in der Ukraine, vor allem in der Ost-Ukraine, die einen hohen Anteil russischstämmiger Bürger hat.

Noch am selben Tag besetzten auf der Krim bewaffnete Kräfte das Regionalparlament, hissten die russische Fahne und verbarrikadierten sich. Die Ost-Ukraine begann sich in Richtung Abspaltung zu bewegen. Am Sonntag, den 16. März 2014, wurde auf der Krim ein Referendum über den Status der Krim abgehalten, in dem sich über 90 Prozent der Wähler 5› Hinweis für eine Loslösung von der Ukraine und einen Anschluss an Russland aussprachen. In westlichen Medien hieß es, alles sei nur ein Trick Putins, der in Wahrheit die Krim annektieren will, und dem egal ist, was aus dem Frieden in Europa wird.

Am selben Tag zur Mittagszeit widmet sich der deutsche Informations- und Dokumentations-Fernsehsender Phoenix-TV in seiner Sendung Internationaler Frühschoppen der jüngsten Entwicklung. Der Moderator Michael Hirz begrüßt die Zuschauer:

»Willkommen zum Internationalen Frühschoppen. Wenn uns die internationale Krise um die Krim etwas lehrt, dann ist es die Erkenntnis, nichts ist in Europa so sicher, wie wir es lange geglaubt haben. Die Grenzen sind es nicht, und schlimmer noch: Der Frieden ist es auch nicht.

Doch es geht um viel mehr als nur um die Krim. Es geht um die Frage, ob wir eine Neuauflage des Kalten Krieges erleben, den wir längst für überwunden hielten. Ändert sich die Landkarte Europas noch einmal gravierend? Entsteht ein neues mächtiges und bedrohliches Russland in den Grenzen der alten Sowjetunion? Was will Putin wirklich? Was will, was kann der Westen?« 6› Hinweis

Einen Tag darauf, die Volksabstimmungsergebnisse liegen inzwischen vor, legt Phoenix-TV abends um 22:15 Uhr zum selben Thema nach, diesmal im Politik-Talk Unter den Linden. Die Moderatorin Michaela Kolster fängt direkt an mit:

»Es war absehbar, und keiner hat es anders erwartet. Rund 95 Prozent haben auf der Krim für den Anschluss an Russland gestimmt. Und Stunden danach werden Fakten geschaffen. […] Putin meint es also ernst. Genauso absehbar war, dass der Westen heute mit Sanktionen antworten würde. […] Wo also stehen wir in diesem Konflikt? Was will Putin? Warum ist ihm die Krim so wichtig?« 7› Hinweis

Zehn Tage später, am 27. März 2014, wird dann eine UN-Resolution verabschiedet, in der das Krim-Referendum als ungültig bezeichnet wird. Eine absolute Mehrheit von 100 UNO-Staaten nimmt die Resolution an, 58 Staaten enthalten sich, 11 Staaten stimmen dagegen, darunter die üblichen Verdächtigen wie Syrien, Nordkorea und Kuba. 24 Staaten nehmen nicht an der Abstimmung teil. Bei derzeit 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen stimmen effektiv 51,8 Prozent der UN-Staaten für die Resolution. Völkerrechtlich bindend ist sie allerdings nicht.

Tags darauf macht der Bayerische Rundfunk die Unklarheit über Putins Absichten in der Talk-Sendung Münchner Runde zum Thema. Die Frage Was will Putin? ist diesmal sogar der Titel der Sendung; Moderator Sigmund Gottlieb beginnt:

»Guten Abend zur Münchner Runde. Die Entwicklungen in Russland und der Ukraine sind für uns alle verwirrend und von hier aus nur schwer einzuschätzen. Doch sie erfüllen viele Menschen auch hier bei uns mit Sorge, und diese Menschen fragen sich: Was will Putin eigentlich? Und reagieren die Europäer, reagiert die westliche Welt richtig, angemessen?« 8› Hinweis

Man kann davon ausgehen, dass Sigmund Gottliebs Aussage, »viele Menschen« »auch hier bei uns« seien »von Sorge erfüllt« und fragten sich »Was will Putin eigentlich?«, einen handfesten Hintergrund hat, nämlich in Form von E-Mails und Briefen an den Bayerischen Rundfunk, in denen die Zuschauer fragen, ob man nicht einmal abklären will, was Putin eigentlich vorhat, und ob es jetzt »Krieg in Europa« gibt.

Im Laufe der Sendung wird dann ein Film eingeblendet, der die jüngste Entwicklung zusammenfasst. Ein Sprecher sagt im Film:

»Doch Berichte über starke russische Truppenbewegungen an der Grenze der Ukraine sorgen für Unruhe. Was will Putin?«

Moderator Gottlieb reicht die Frage dann weiter an den Studiogast Horst Teltschik, den langjährigen Chef der Münchener Sicherheitskonferenz und ehemaligen Berater von Kanzler Helmut Kohl:

»Ja, Herr Teltschik: Was will Putin …?«

Horst Teltschik redet etwas um den heißen Brei herum, hat einerseits Verständnis für Putin, sagt andererseits aber auch, dass die NATO kein Gegner Russlands sei. Also spinnt Putin ein bisschen.

Interessant ist dann auch Horst Teltschiks Reaktion auf die Frage, ob wir uns jetzt auf dem Weg »zurück in den Kalten Krieg« befinden. Teltschik antwortet: »Also – [lächelt angestrengt] man hört diese Frage sehr häufig. Ich halte das für eine müßige Frage, wenn man den Kalten Krieg erlebt hat, […] dann ist der Unterschied Tag und Nacht. Und ich hoffe, dass wir beim Tag bleiben [lacht angestrengt], und ich bin sicher, dass9› Hinweis wir beim Tag bleiben.«

Damit vertritt Horst Teltschik die Position, die interessanterweise immer noch von eigentlich allen NATO-Repräsentanten vertreten wird: Die Lage ist zwar angespannt, aber ein neuer Kalter Krieg? Oh, nein! Das ist es nicht!

Mitte April 2014 beginnt dann die ukrainische Armee militärisch gegen die Rebellen in der Ost-Ukraine vorzugehen. In dieser Zeit tauchen in unseren Medien auch Berichte über »kleine grüne Männchen« auf, womit Soldaten der russischen Armee gemeint sind, die ohne Hoheitsabzeichen auf der Seite der Rebellen kämpfen. Russland bestreitet, dass diese Soldaten im Auftrag der russischen Armee kämpfen, und behauptet, es seien Freiwillige, die ihren russischen Volksgenossen in der Ost-Ukraine zu Hilfe kommen. Der Westen wirft Russland vor, mit den »grünen Männchen« direkt militärisch in den Bürgerkrieg einzugreifen. Aus Sicht vieler Beobachter ist damit aus einem Bürgerkrieg in der Ukraine ein Krieg zwischen der Ukraine und Russland geworden.

So oder so, auf jeden Fall verschlechtern sich Mitte April 2014 die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen rasant weiter, und Befürchtungen machen sich weiter breit, dass ein großer Krieg in Europa droht.

Am 24. April 2014 folgt dann die wöchentliche Sendung der derzeit wohl bekanntesten deutschen Talkshow-Moderatorin Maybrit Illner. Titel der Sendung: Russisches Roulette – Kann man Putin trauen?

Im Laufe der Sendung fragt Maybrit Illner ihren Gast Harald Kujat, einen ehemaligen deutschen Luftwaffengeneral und von 2000 bis 2002 auch Generalinspekteur der deutschen Bundeswehr: »Herr Kujat, was glauben Sie? Was, glauben Sie, will Putin? Er kann ja die Sowjetunion in den alten Grenzen nicht zurückwollen. Was will er?«

Harald Kujat ist trotz seines einst hohen Postens bei der NATO bekannt für eine gemäßigte Position. In väterlichem, versöhnlichem Ton antwortet er: »Nein. Das wird unterstellt [insbesondere aus den USA! Siehe Seite 216], dass er sozusagen die Sowjetunion … Das weiß er auch, dass das unrealistisch ist. Aber er hat ganz konkrete strategische Ziele. Das erste Ziel hat er erreicht. Er hat die Krim annektiert. Er hat sich damit […] den maritimen Zugang zum Mittelmeer, auch zu den Krisengebieten Irak, Iran [und vor allem Syrien] gesichert. Das war ihm ganz wichtig. Putin denkt strategisch. Und das zweite Ziel, das er erreichen will, ist, er will verhindern, dass die Ukraine Mitglied der NATO wird.«

Harald Kujat versucht einen versöhnlichen, entspannten Ton in die Debatte zu bringen, indem er Putin als berechenbaren und damit nicht gefährlichen Politiker beschreibt. Im dritten Teil des Buches werden wir jedoch sehen, dass man in den USA sehr wohl befürchtet, dass Putin über die Krim hinaus territorial expandiert oder auf anderem Wege versuchen wird, Teile Osteuropas wieder unter die russische Fuchtel zu bekommen. In den USA gilt Putin sehr wohl als wirklich gefährlich, und man ist in den USA zu entschiedenen Gegenmaßnahmen bereit, die ihrerseits wiederum von Russland als gefährlich wahrgenommen werden (könnten).

Wenn Harald Kujat also einen beruhigenden, versöhnlichen Ton anschlägt, ignoriert er damit die Tatsache, dass es letztlich nur darauf ankommt, wie man in Washington die Lage einschätzt, und dass es völlig nebensächlich ist, ob man in Deutschland für etwas Entspannung sorgen will. Kurz: Kujat versucht zu beruhigen, aber in Wahrheit gibt es nichts zu beruhigen, denn Leute wie er haben in Washington absolut nichts zu melden.

In den darauffolgenden Wochen läuft der Bürgerkrieg in der Ost-Ukraine weiter. Im Juni gibt es eine kurzzeitige Waffenruhe, doch am 17. Juli wird dann über der Ost-Ukraine die malaysische Passagiermaschine MH17 abgeschossen. Es gibt 298 Tote, davon zwei Drittel niederländische Staatsbürger. Damit hat der Krieg in der Ost-Ukraine Mitteleuropa erreicht. Wer für den Abschuss verantwortlich ist, ist bis heute (November 2015) ungeklärt, aber die westlichen Medien nutzen den Vorfall umgehend, um das Feindbild Putin in noch schrilleren Tönen zu malen.

Nach dem MH17-Abschuss werden weitere Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängt. Der MH17-Abschuss trägt maßgeblich bei zu einer Stimmung, in der es unangebracht erscheint, mit Putin überhaupt noch zu reden. An Putin klebt jetzt der Massenmörder-Vorwurf.

Am 31. August 2014, neun Monate nach Ausbruch der Krise, bringt Phoenix-TV in seiner Sendung Phoenix im Dialog ein längeres Interview mit dem Journalisten Hubert Seipel, dem Wladimir Putin 2011/2012 Gelegenheit gegeben hatte, ihn einige Tage persönlich mit Mikrofon und Kamera zu begleiten. Kein westlicher Journalist war dem russischen Präsidenten bisher so nahe gekommen. Der Moderator Michael Krons beginnt die Sendung:

»Seit Monaten spitzt sich der Konflikt zwischen Ost und West zu. Beim Krieg in der Ost-Ukraine, bei der Annexion der Krim, da fragt man sich: ›Was will Wladimir Putin, der russische Präsident?‹ Darüber möchte ich jetzt […] sprechen mit Hubert Seipel, der ihn begleitet hat und der uns erklären soll: Was will der russische Präsident eigentlich?« 10› Hinweis

Hubert Seipel: »Ich hoffe, ich kann das halbwegs. Ich bin nicht sein Psychoanalytiker. Aber ich hab’ ihn eine Zeitlang begleitet.«

Dann folgt der Trailer der Sendung, und danach beginnt Moderator Krons erneut:

»Jetzt wollen wir ja von Ihnen ein bisschen was erfahren, über die Psyche [Putins]. Sie haben grad gesagt: ›Ich bin kein Psychoanalytiker.‹ Aber der Westen, alle diejenigen, die die Situation seit Monaten betrachten, fragen sich: ›WAS11› Hinweisist das Ziel? Was steckt hinter diesem Wladimir Putin?‹«

Wenn Michael Krons sagt, dass »alle, die die Situation seit Monaten betrachten« sich fragen, was Putins Ziel ist, darf man das sicherlich nicht nur auf Michael Krons persönlichen Medienkonsum beziehen, also die Zeitungsartikel, die er liest, und Sendungen, die er sieht, sondern auch auf sein persönliches soziales Umfeld, also Freunde, Bekannte, Arbeitskollegen, Berufskollegen in anderen Sendern usw. Werfen wir deshalb kurz einen Blick auf Michael Krons beruflichen Werdegang, um seinen Vernetzungsgrad innerhalb der deutschen Medienlandschaft abschätzen zu können:

Bis 1990 war Michael Krons Redakteur bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, danach wechselte er zum Verlagshaus Gruner und Jahr und baute dort die Talk-Sendung Tacheles mit auf. 1992 leitete er bei n-tv die Parlamentsredaktion. 1994 wechselte er zur ARD und berichtete für die Tagesschau und die Tagesthemen. 1998 wurde er leitender Redakteur des ZDF beim Magazin frontal. 2001 fing er bei Phoenix-TV an, dort ist er heute leitender Redakteur. Im Dialog ist seine eigene Sendung. Wenn Michael Krons also sagt, selbst diejenigen, die die Entwicklung in der Ukraine seit Monaten beobachten, würden nicht aus Putin schlau, so wird er damit auch die ihm persönlich bekannten Medienmacher meinen, die wiederum ihrerseits natürlich auch ihr eigenes Netzwerk haben. Mit anderen Worten: Hier eröffnet sich in Sachen Wladimir Putin ein ganzer Sumpf von Ratlosigkeit.

Ein paar Tage nach dem Interview mit Hubert Seipel widmete sich wieder Maybrit Illner dem Fall Putin. Am 4. September 2014 heißt das Thema ihrer Sendung: Putins neues Russland. Die Moderatorin beginnt:

»Tja, mindestens 25 Mal hat die Bundeskanzlerin in den letzten Monaten mit Wladimir Putin telefoniert, um am Ende zu sagen: ›Ich kann die Intention des russischen Präsidenten nicht einschätzen.‹ …

So geht es einem irgendwie auch diesmal. Wirklich Waffenruhe und Frieden oder doch lieber ein großes Neu-Russland? An Angela Merkel dürfte es nicht liegen, dass sie aus Putins Worten nicht schlau wird. Worte und Taten passen in der Russen-Politik nicht mehr zusammen. Und dabei gäben wir alle eine Menge darum, zu wissen, was Wladimir Putin wirklich WILL.

Will er eine Ukraine im permanenten Bürgerkrieg? Will er eine Spaltung des Landes und sein Neu-Russland? Will er die Ukraine annektieren wie die Krim? Steht uns im Osten also wieder ein Feind gegenüber, und Europa am Rande eines Krieges?« 12› Hinweis

»Europa am Rande eines Krieges« mit Russland? Da sprach man vor 30 Jahren noch vom »Dritten Weltkrieg«.

Maybrit Illner kann man guten Gewissens als Star-Moderatorin bezeichnen. Sie gehört zur Upper Class. In ihrer Sendung sitzen oft Bundesminister und Parteichefs, und sie ist verheiratet mit René Obermann, dem ehemaligen Chef der Deutschen Telekom. Wenn sie also sagt, »wir alle« gäben »eine Menge darum, zu wissen, was Wladimir Putin wirklich will«, so dürfte auch das mehr sein, als nur eine effekthaschende Formulierung am Anfang ihrer Sendung.

Nachdem man in der Maybrit-Illner-Sendung vom 4. September 2014 rund eine Stunde lang mehr oder weniger ergebnislos um die wahren Absichten Wladimir Putins herumgeraten hat, macht Studiogast Richard David Precht, Philosoph und Bestsellerautor populärwissenschaftlicher Bücher, kurz vor Ende der Sendung die unproduktive Rumraterei in der laufenden Sendung selbst zum Thema. Moderatorin Illner fragt ihn zunächst: »Was soll der Westen tun? […].« Richard David Precht entgegnet:

»Was wir heute auf dem NATO-Gipfel [in Wales am 4./5. September] erlebt haben, ist Trotz. Also eine Verschärfung der Rhetorik […] Man [die NATO] geht diesen alten Weg [der Konfrontation aus Zeiten des Kalten Krieges] immer weiter, statt hinzugehen, die Frage zu stellen, die Sie [M. Illner] als Erstes [zu Beginn der Sendung] gestellt haben: ›Worauf will Putin am Ende eigentlich hinaus?‹ […] Darüber müssen wir reden. Da ist die NATO im Augenblick in ihrer Geistesverfassung nicht zu in der Lage. Das muss die Europäische Union machen. Wir müssen rausbekommen, was denn überhaupt die Absicht ist, damit wir nicht in Talkshows darüber spekulieren müssen.«

Richard David Precht betont das Wort »Talkshow«, als empfinde er es als Zumutung, dass das Volk darüber in Talkshows herumrätseln muss, weil die ganze politische Klasse ebenso ratlos ist.

Zu diesem Zeitpunkt kann man seit sieben Monaten in den deutschen Medien mitverfolgen, wie ergebnislos darüber gerätselt wird, was Putin denn (am Ende) wirklich will. Andererseits: Wenn schon ein Philosoph und Autor populärwissenschaftlicher Bücher erkennt, dass hier eine sehr wichtige Frage endlich beantwortet werden muss, dann ist selbstverständlich davon auszugehen, dass man innerhalb der politischen Klasse auch schon zu diesem Ergebnis gekommen ist. Richard David Precht ergänzt dann noch: »Ehrlich gesagt, diese Art von Rhetorik – da gehört auch der Bundespräsident zu –, die an die Zeit des Kalten Krieges erinnert, mit so was spielt man nicht. Das ist extrem gefährlich.«

Am 8. September 2014, vier Tage nach der Illner-Sendung, knöpft sich auch der bekannte Moderator Frank Plasberg den Fall Putin vor. Moderator Plasberg beginnt seine Sendung hart aber fair (ARD), indem er den Namen »Putin« wie bei einem Countdown durchbuchstabiert:

»Schönen guten Abend. Herzlich willkommen zu hart aber fair …

P – U – T – I – N

fünf Buchstaben halten die Welt in Atem. PUTIN! Willkommen im Kalten Krieg. Wer bei uns unter 40 ist, der reibt sich verwundert die Augen, wer älter ist als ich, der spürt die alten Angstgefühle wieder hochkommen. Muss Europa dauerhaft Angst haben vor diesem Wladimir Putin? Was treibt den Mann? Wie sollen wir seinem Russland begegnen? Mit Diplomatie? Mit Härte?« 13› Hinweis

Seinen Studiogast Boris Reitschuster, Putin-Biograf 14› Hinweis und Leiter des Moskau-Büros des deutschen Magazins Focus, fragt Frank Plasberg später: »Testet er [Putin] so, was möglich ist? Ist das nach innen gerichtet, nach Russland? Also starker Mann nach innen und nach außen: ›Ihr kennt mich: [Alles] halb so schlimm?‹ Wie muss man das verstehen?«

Boris Reitschuster: »Er testet das. Ich denke, es ist zum einen die KGB-Schule, dass man hier sehr stark mit Tarnung agiert, und auch mit Fälschungen. Und zum Zweiten: Er hat selber einmal gesagt, dass die Straßenuniversität ihn sehr geprägt hat, und damit meinte er seine Kindheit, auf dem Hinterhof in St. Petersburg, wo es immer mit Prügel zuging …«

Boris Reitschuster macht dazu beide Hände zu Fäusten, die aufeinander zudeuten, und verfällt in einen Tonfall, als spräche er über achtjährige Jungs aus seiner Nachbarschaft, die er persönlich kennt und die eigentlich ganz lieb sind.

»… und wo er auch selber als schmächtiger Junge viele Prügel bezog. Das war sicher eine harte Kindheit. Auch der Vater schlug ihn.«

Hubert Seipel, der Putin 2011/2012 einige Tage persönlich begleiten durfte und ebenfalls Gast der Sendung ist, lauscht den Worten Reitschusters, hat den Kopf in die Hand gestützt und kratzt sich mit sorgenvollem Blick am Kopf, als er Reitschusters pubertäre Putin-Deutung vernimmt, die klingt wie bei Emil und die Detektive (Kinderbuch von Erich Kästner) oder Karlsson vom Dach (Kinderbuch von Astrid Lindgren) abgeschrieben. Boris Reitschuster weiter: »Und da sagte er, er hat vor allem eines gelernt: Der Starke, der kann sich das Recht nehmen, auch wenn er nicht im Recht ist, und der Schwache wird geschlagen. Und ich denke, er testet im Moment, wie stark er ist.«

Boris Reitschuster bietet damit die plattitüdenhafteste Antwort auf die Frage, was Putin antreibt. Leider steht sie exemplarisch für einen Journalismus hierzulande, der es aufgegeben hat, unter die Oberfläche zu schauen und Hintergründe eingehender zu recherchieren.

Von September bis Dezember 2014 läuft dann der Bürgerkrieg in der Ost-Ukraine weiter, ohne dass sich der Sieg einer Seite abzeichnete.

Kenne deinen Feind!

Am 8. Dezember 2014, drei Monate nach obiger hart aber fair – Sendung und rund ein Jahr nach Beginn der Ukraine-Krise, erreicht in den deutschen Medien das Rätselraten um Wladimir so etwas wie den absoluten Höhepunkt: An diesem Tage wird in den ARD-Tagesthemen die deutsche Bundeskanzlerin mit der Frage konfrontiert, was denn sie nun glaubt, was Putin will.

Der Moderator Thomas Roth ist sich der Bedeutung der Frage voll bewusst und hat sich gut auf die Befragung der Kanzlerin vorbereitet. Unmittelbar vor der eigentlichen Frage fängt er damit an, praktisch jede einzelne Silbe genau zu betonen, und macht zwischendurch auch noch effektvolle kleine Pausen. Das Ganze wirkt wie eine Szene aus dem Theater und erinnert an die zeremonielle Befragung einer Königin vor dem versammelten Hofstaat.

Zunächst bläst Thomas Roth etwas Wind in die Segel der Kanzlerin und fragt: »Sie sind ja sicherlich die Politikerin in Europa, wenn nicht gar weltweit, die am meisten mit dem russischen Präsidenten gesprochen hat […]. Ist das nicht auch eine Enttäuschung, wenn Sie mit jemandem so häufig reden und dennoch nicht darauf bauen können, was er meint, was er sagt, und dann auch tut, was er sagt?«

Angela Merkel beantwortet diese Frage in ihrem typisch schleppenden Optimismus, und zum Ende des Interviews fragte Thomas Roth dann, fast nach jedem Wort eine Pause machend:

»Frau Merkel,

zum Abschluss:

Was –

was vermuten Sie,

Was

will

Putin

denn am Ende

wirklich?«

Darauf die Kanzlerin: »Schaun Sie, das ist auch jetzt nicht meine herausragende Aufgabe, das herauszufinden, sondern ich möchte, dass wir partnerschaftlich mit Russland zusammenarbeiten können …«

Natürlich: Die Kanzlerin kann nicht öffentlich zugeben, dass sie gar nicht weiß, was Putin will. Also behauptet sie, dass sie es gar nicht wissen muss. Das aber ist nicht nur eine Ausrede, sondern auch eine miserable dazu. Denn jeder halbwegs gebildete Politiker, Militär und Manager kennt die strategische Grundregel des berühmten chinesischen Generals und Militärstrategen Sun Tsu vor rund 2500 Jahren, die da lautet:

»Kenne deinen Feind!«

Sun Tsu ist dabei keinesfalls ein Exot, den nur Insider oder Politikprofis kennen. Vielmehr wird er oft in einem Atemzug genannt mit dem bekannten preußischen General und Militärtheoretiker Carl vonClausewitz (1780–1831), und das aus gutem Grund: In den rund zweieinhalb Jahrtausenden zwischen Sun Tsu und Clausewitz hat in Sachen Kriegstaktik und Strategie niemand das intellektuelle und philosophische Niveau Sun Tsus erreicht. Übersetzungen seines berühmten Buches Die Kunst des Krieges werden noch heute alle paar Jahre neu aufgelegt, zum Beispiel im Jahre 2004 Sun Tsu für Manager: Die 13 ewigen Gebote der Strategie. Eine Sun-Tsu-Standardübersetzung des Nikol – Verlages wurde in hoher Auflage gedruckt und findet sich mitunter zu Spottpreisen auf den Grabbeltischen des Buchhandels!

Sun Tsu fordert mit Nachdruck dazu auf, für einen möglichst effizienten Geheimdienst zu sorgen, denn nur dieser könne die Absichten des Feindes herausfinden. Die Spione sollen zudem gut bezahlt und behandelt werden, und man solle nur die Intelligentesten als Spion engagieren.

Sollte Angela Merkel also morgens um 9 Uhr im Kanzleramt sitzen und ihr plötzlich bewusst werden, dass sie gar nicht weiß, was Putin will, wird sie vermutlich noch vor der Mittagspause beim Bundesnachrichtendienst angerufen und sich erkundigt haben, was dieser über Putins Absichten weiß. Lautet dann die Antwort: »Tut uns leid, Frau Bundeskanzlerin. Das wissen wir auch nicht.«, wird die Kanzlerin den Auftrag erteilen, genau das herauszufinden. Und sollte sich dies als schwieriger erweisen als gedacht, wird man einfach mehr Agenten und Analysten an die Sache ransetzen.

Im Prinzip hatte Angela Merkel seit Beginn ihrer Kanzlerschaft, also seit dem 22. November 2005, Zeit, in Erfahrung zu bringen, was Putin eigentlich beziehungsweise strategisch will – wenn es nicht ihr Vorgänger Gerhard Schröder schon längst in Erfahrung gebracht haben sollte.

Angela Merkel lenkt in dem Interview davon ab, dass sie als Kanzlerin dafür verantwortlich ist, was der deutsche Geheimdienst über Putins Absichten weiß oder nicht. Und Moderator Thomas Roth spielt dieses Spiel mit, weil er nicht nach den Geheimdienstkenntnissen fragt, die eigentlich schon längst hätten vorliegen müssen.

Sehen wir uns zwischendurch zur geistigen Erfrischung ein paar Zitate aus Sun Tsus Die Kunst des Krieges zum Thema Spionage und Feindaufklärung an:

»Wenn du den Feind und dich selbst kennst, brauchst du den Ausgang von hundert Schlachten nicht zu fürchten. Wenn du dich selbst kennst, doch nicht den Feind, wirst du für jeden Sieg, den du erringst, eine Niederlage erleiden. Wenn du weder den Feind noch dich selbst kennst, wirst du in jeder Schlacht unterliegen.« 15› Hinweis

Über Herrscher, die die Spionage und die Aufklärung des Gegners vernachlässigen, ob nun aus purem Geiz oder anderen Gründen, erzürnt sich der chinesische General vor rund 2500 Jahren:

»… es [ist] der Gipfel der Unmenschlichkeit, über die Verfassung des Feindes im Unklaren zu bleiben, nur weil man die Ausgabe […] für Belohnungen und Sold [der Spione] scheut. Wer so handelt, kann Männer nicht führen, […] kann den Sieg nicht erringen.

Was den weisen Herrscher […] befähigt, zuzuschlagen und zu siegen […] und Dinge zu erreichen, die außerhalb der Fähigkeiten gewöhnlicher Männer liegen, ist Vorherwissen. Doch dieses Vorherwissen kann nicht Geistern entlockt werden; es kann nicht aus der Erfahrung und auch durch keine Schlussfolgerung gewonnen werden. Das Wissen um die Pläne des Feindes kannst du nur von anderen Männern [Spionen, Verrätern] erhalten.« 16› Hinweis

Geizt Angela Merkel also mit »Belohnungen und Sold« für die Spione? Wird zu wenig in den deutschen Geh eimdienst investiert? Oder ist Wladimir Putin ein so ausgekochtes Schlitzohr, dass sich der deutsche Geheimdienst seit Putins Amtsantritt im Jahre 2000 erfolglos die Zähne an ihm ausbeißt?

Der irritierte und verunsicherte Bürger fragt sich dann natürlich irgendwann auch: Könnte es sein, dass Angela Merkel und der BND sehr wohl wissen, was Putin will, aber das Ganze ein Staatsgeheimnis ist?

Für ein gewolltes Aufrechterhalten der Unklarheit über Putins Absichten spricht leider, dass die Kanzlerin in keiner Weise zu erkennen gibt, dass sie ihrem Geheimdienst auf Deutsch gesagt in den Hintern treten will. Im Grunde signalisiert sie: »Ich weiß es nicht, und ich will es auch nicht wissen.« Und das ist das Beunruhigende an ihrer Antwort. Schließlich spürt es eigentlich jeder: Es wäre ihre verdammte Pflicht, herauszufinden, was Putin will: Kenne deinen Feind!

Die Kanzlerin in den Tagesthemen weiter: »… hier hat es schwere Verwerfungen gegeben, – wie zum Beispiel die Annexion der Krim –, wenn man so etwas zulässt, dann ist das etwas, was an den Grundfesten der europäischen Ordnung rüttelt, und deshalb können wir das nicht akzeptieren.

Aber ansonsten arbeite ich für eine diplomatische Lösung, und diese Lösung wird man, da bin ich ganz fest überzeugt, auch erreichen können. Wir werden vielleicht nur einen viel längeren Atem brauchen, als wir uns das manchmal vorgestellt haben […].«

Was die Kanzlerin unter der »Arbeit an einer diplomatischen Lösung« versteht, konnte man drei Wochen zuvor in Sydney/Australien mitverfolgen, als sie nach ihrer Rede im Lowy-Institut auf eine Frage zu der unglücklichen Entwicklung zwischen Russland und dem Westen unter anderem sagte: »Und es geht ja nicht nur um die Ukraine. Es geht um Moldawien, es geht um Georgien. Wenn das so weitergeht, […] muss man bei Serbien fragen, muss man bei den Westbalkanstaaten fragen?« 17› Hinweis

Unter dem Westbalkan versteht man die ex-jugoslawischen Staaten mit Ausnahme Sloweniens, aber plus Albanien. Merkels »Arbeit an einer diplomatischen Lösung« schließt also offenkundig auch das öffentliche Malen des Teufels an die Wand ein und damit das faktische Schüren von Angst und Misstrauen gegenüber Putin. Denn was um Himmels Willen will dieser Wladimir Putin auf dem Westbalkan? Serbien zum unsinkbaren Flugzeugträger umfunktionieren?

Egal. Nicht so wichtig. Die Bundeskanzlerin muss gar nicht wissen, was Putin will. Nur seltsam: Trotzdem scheint sie irgendwoher zu wissen, dass die Krake Putin dabei ist, langsam einen Tentakel nach der anderen in Richtung Westbalkan auszustrecken.

Am 17. November 2014 im Lowy-Institut sagte die Kanzlerin dann auch noch: »Jetzt […] müssen wir irgendwie zeigen, was wir aus all dem [zwei Weltkriegen] gelernt haben. Da man aber die Zukunft nicht voraussehen kann, ist es nicht einfach, den richtigen Weg zu finden. […] Wir wissen auf der anderen Seite, dass regionale Konflikte sich sehr schnell zu einem Flächenbrand ausweiten können. […]

Militärisch ist dieser Konflikt nicht zu lösen. Das würde in eine militärische Auseinandersetzung mit Russland führen, die mit Sicherheit keine lokale wäre [das wäre dann? … etwa ein Dritter Weltkrieg?]. Auf der anderen Seite kann man nicht sagen: Weil wir das militärisch nicht lösen können, können wir es überhaupt nicht lösen. […] Wenn die Popularität [Putins infolge der Krim-Annexion] einmal kurzfristig steigt, dann steigt sie eben. Wenn wir nicht daran glauben, dass unsere Werte so viel wert sind, dass sie sich irgendwann durchsetzen, dann brauchen wir auch unsere Sonntagsreden nicht mehr zu halten. Deshalb habe ich da ein ganz sicheres Gefühl, dass das von der Grundrichtung stimmt …« 18› Hinweis

Auch hier fragt sich verdutzt so mancher Bürger, wie die Kanzlerin einerseits »ein ganz sicheres Gefühl« bei der Grundrichtung ihrer Russland-Politik haben kann, wenn sie andererseits gar nicht weiß, was Putin wirklich will?

Nur drei Tage nach Angela Merkels Westbalkan-Warnung wird diese Warnung zur Grundlage der Talkshow Maybrit Illner – Thema der Sendung vom 20. November 2014: »Putins Machthunger – wie weit wird Moskau gehen?« Die Moderatorin Maybrit Illner leitet die Sendung mit folgenden Worten ein: »Bisher nennen wir sie Ukraine-Krise und wollten damit offensichtlich auch zum Ausdruck bringen, dass dieser Konflikt regional begrenzt ist. Die Kanzlerin hat mit dieser Illusion Schluss gemacht.

Sie fürchtet, Zitat ›einen Flächenbrand‹ – und sprach offen von den Ländern, auf die er [noch] übergreifen kann. Auf Moldawien, Georgien bis nach Serbien, einem Land, das sich gerade auf den Beitritt zur Europäischen Union vorbereitet. In Wladimir Putin sieht sie den Brandstifter für diesen Flächenbrand. Was bringt sie zu dieser Einschätzung? Ist die Ukraine in Putins Plänen doch nur der Anfang? Erleben wir den Auftakt zu einem Kampf um Mittel- und Osteuropa, geführt mit eigentlich allen Mitteln, wirtschaftlichen, politischen und vielleicht auch militärischen?« 19› Hinweis

Am 28. Januar 2015 ist Putins böser Geist wieder einmal zu Gast auf Phoenix-TV. Moderator Alexander Kähler beginnt die Sendung phoenix Runde: »Leid und Elend in der Ost-Ukraine. Sprachlos und feindselig stehen sich die Konfliktparteien gegenüber. Die Diplomatie, die wirkt hilflos. Spiel mit dem Feuer? Putin und der Westen. Heute das Thema der phoenix Runde, liebe Zuschauer, willkommen bei uns […].« 20› Hinweis

Ein paar Minuten später wendet sich Moderator Alexander Kähler dem Studiogast Dmitri Tultschinski zu, seit 2000 Leiter des Deutschlandbüros der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Ria Novosti, und fragt ihn: »Was will Putin? Können Sie uns denn bei der Entschlüsselung dieses Rätsels helfen?«

Dmitri Tultschinski, der als »Putin-Versteher« in deutschen Medien offenbar schon die eine oder andere Tracht Prügel bezogen hat, wirkt etwas gequält, unwillig und kommt nur mühsam in die Gänge: »Ich glaube nicht. Und … äh … ich glaube, diese Frage, die immer wieder gestellt wird, ist äh, … na ja, … vielleicht wichtig und interessant für Sie, aber nicht interessant und nicht lebenswichtig für die Seiten, die jetzt in Donezk, dem Donbass, in Luhansk sind. …«

Offensichtlich hat Dmitri Tultschinski keine große Lust, sich am Putin-Rätselraten zu beteiligen.

Am 5. Februar 2015, wieder auf Phoenix-TV, wieder in der Talkrunde Phoenix Runde, geht es wieder um Putin. Die Moderatorin Ines Arland fragt den russischen Journalisten Andrei Gurkow: »Herr Gurkow: In den letzten Monaten sind ja durchaus eine ganze Menge Leute nach Kiew und Moskau gereist …«

Andrei Gurkow: »Das ist das große Rätsel. Weil – wir wissen nicht, was Putin letztendlich will.«

Seit einem Jahr rätseln die deutschen Medien in Zusammenhang mit der Ukraine-Krise über das, was Putin will. Inzwischen haben alle Beteiligten begriffen, dass nicht nur jeder für sich, sondern alle zusammen am Rätseln sind.

Ein weiterer Gast in dieser Phoenixrunde ist Michael Stürmer, der bereits erwähnte Chefkorrespondent der Welt und ehemaliger Berater von Kanzler Helmut Kohl. Irgendwann klinkt auch er sich in das Rätselraten ein: »Was will Putin? Weiß er das selbst? Ist das alles so beschlossene Sache? Gibt es da einen Masterplan im Kreml? … Ich glaube das gar nicht. Ich glaube, dass Putin ein strategic opportunist ist.«

Mit strategic opportunist ist jemand gemeint, der letztlich überhaupt keine Strategie hat, sondern nur versucht, aus der jeweils aktuellen Situation das meiste rauszuholen. Zwei bekannte Beispiele für strategische Opportunisten kennen wird alle: Es sind der Feldhamster und die gemeine Hausmaus.

Andrei Gurkow wieder: »Eine Erkenntnis für mich, – und ich beschäftige mich gerade auch mit den wirtschaftlichen Entwicklungen in Russland – ist, dass es anscheinend für Putin nicht die Priorität ist. Er hat sich mit Wirtschaft in seinen zwei ersten Amtszeiten viel beschäftigt. Energiesicherheit, Energielieferung, das hat ihm Spaß gemacht. Jetzt scheint er eher für … [Andrei Gurkow beginnt jetzt mit den Armen zu rudern, als versuche er, einen Gedanken aus der Studioluft zu fischen] imperiale Ideen … Interesse … und für Geschichte … und für geschichtliche Territorien entwickelt zu haben. Das heißt, das [die Sanktionen] scheint für ihn nicht das Argument zu sein. Diese Sanktionen werden die Lage verschlechtern, aber ihn nicht von seinem Weg abbringen.

Bloß, wir wissen nicht, welcher Weg. Will er den Landweg zur Krim durchschlagen über Mariupol? Oder will er vielleicht – die Krim hat er ja jetzt, und die wird er nicht hergeben, das ist völlig klar  – […] oder will er wieder das Gefühl, Russland ist die Großmacht? Und vielleicht wird ihm das reichen?«

Will er dies? Will er das? Oder vielleicht …? Der eine oder andere Leser weigert sich inzwischen vielleicht, endgültig zu glauben, dass wirklich niemand hierzulande in den Medien und der Politik weiß, was Putin will. Diese Weigerung wäre zu Recht, denn es gibt durchaus Leute, die auf die Frage nach Putins Absichten eine Antwort mit womöglich echtem Erklärungspotenzial haben, zum Beispiel der Journalist und Unternehmensberater Christoph Hörstel. Christoph Hörstel, Jahrgang 1956, ist einer jener wenigen Top-Journalisten, die früher für etablierte Medien gearbeitet haben, dann aber auch aus Gewissensgründen ausgestiegen sind. 1985 wurde er bei der ARD Sonderkorrespondent für den Mittleren Osten, später Nachrichtenmoderator der Sendung MDR-Aktuell sowie leitender Redakteur. 1999 wechselte er zur Siemens Mobile als Leiter der Bereichskommunikation. Im Jahre 2001 gründete er die Regierungs- und Unternehmensberatung Hörstel Networks, war unter anderem auch Coach für ISAF 21› Hinweis – Führungskräfte der Bundeswehr und Gastdozent am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg. Während des Sturzes der Taliban in Afghanistan im Jahre 2001 war Hörstel der einzige westliche Journalist in Kabul.

Christoph Hörstel nun meint, das Rätsel Putin entschlüsseln zu können, und hat auch eine Erklärung dafür, warum all die anderen an des Rätsels Lösung vorbeiraten. Allerdings lässt man Hörstel mit seiner Ansicht nicht in den etablierten deutschen Massenmedien zu Wort kommen, und er muss deshalb auf das Internet ausweichen, oder auf Russia Today (RT), einem vom Kreml finanzierten Fernsehsender, der in Westeuropa über Satellit, teilweise auch Kabel und im Internet verfügbar ist.

Russia Today? Fernsehen aus Moskau? Das kann nur Kreml-Propaganda sein. So die einhellige Meinung in den deutschen Medien. Am 7. Februar 2015 brachte RT anlässlich der MünchnerSicherheitskonferenz ein kurzes Interview mit Christoph Hörstel. Die Moderatorin fragte ihn: 22› Hinweis »Ist die Sicherheitskonferenz in München deswegen nur große Show, viel Tamtam um nichts?«

Hörstel: »Nicht um nichts. Das ist ja das Irre an der Sache. Es sterben jeden Tag Menschen [in der Ost-Ukraine], es gibt in Europa eine große heraufziehende Krise, auch deshalb, weil die politische Klasse in der ganzen NATO nicht wahrhaben will, dass Russland sich einfach nichts mehr bieten lässt.

Da heißt es immer: ›Wir können Herrn Putin nicht einschätzen.‹ Das ist dummes Zeug! Putin kann man ganz gut einschätzen, wenn man versteht, dass Russland sich von der NATO gar nichts mehr bieten lässt. Nichts heißt null Komma null, null, null. So. Und da kommen die einfach nicht dahinter. Das schaffen die nicht.

Und sie nehmen allerdings auch nicht ernst, dass Russland eine neue Militärdoktrin 23› Hinweis hat [FAZ am 26. Dezember 2014: »Russland stuft NATO jetzt als Bedrohung ein« 24› Hinweis ], und die heißt ganz offen erklärt […]: ›Wenn wir konventionell ernsthaft und existenziell ins Hintertreffen geraten, egal ob wegen der Krim oder wegen anderem russischen Territorium, werden wir zur Not auch zur Atomwaffe greifen.‹ Ganz eindeutig. Und das will man hier nicht wahrhaben.«

Lassen wir das zunächst so stehen, und halten wir fest, dass jemand, der das Rätselraten um Putin als Farce betrachtet, in unseren etablierten Medien nicht zu Wort kommt, und stattdessen zu einem »feindlichen Propaganda-Sender« wie Russia Today gehen muss.

Wenn aber alle deutschen Politiker und Medienmacher gemeinsam monatelang über Wladimir Putin rätseln, – wenn guter Rat wirklich so teuer ist, sollte man – Not macht schließlich erfinderisch – auch einmal unbequeme Leute wie Christoph Hörstel zu Wort kommen lassen? Vielleicht haben die ja recht? Und wenn nicht? So what? Fruchtloser Unsinn wird ja schon genug geredet – Stichwort »Putins schwere Kindheit«.

In einem Internetinterview auf NuoViso.com am 11. März 2014 malt Christoph Hörstel dann noch weiter aus, was es seiner Meinung nach bedeuten würde, wenn Putin sich vom Westen »gar nichts mehr« bieten lässt: »Und offenbar hat er [Putin] genügend nachgerüstet, kann man nur sagen, bisher schon, dass er diesen Gang wagen kann.

Es ist völlig eindeutig, dass die NATO nicht in der Lage ist, im Moment einen Krieg mit Russland anzufangen. Das muss man klar sehen, dazu sind wir nicht imstande im Moment. Das hat Putin sehr gut analysiert. Er bleibt mit allen Maßnahmen unterhalb dessen, was er machen könnte. Und wir würden uns wundern, wie entschlossen Putin ist, wenn wir so weitermachen […]. In Russland zündelt die NATO mit dem Feuer, das Europa abfackeln könnte.« 25› Hinweis

Tabu Kriegsgefahr

Es versteht sich von selbst, dass westliche Politiker und Medien die (mögliche) Gefahr eines drohenden dritten Weltkrieges öffentlich überhaupt nicht zur Sprache bringen können, und zwar nicht nur, weil dann das Volk in »Panik« geraten könnte. Würde plötzlich die große Diskussion über einen drohenden dritten Weltkrieg einsetzen, würde die politische Klasse Westeuropas, auf gut Deutsch gesagt, schlagartig mit heruntergelassenen Hosen dastehen. Die Völker Westeuropas würden zu Recht und mit hochrotem Kopf fragen, was ihre Damen und Herren Politiker eigentlich die ganze Zeit gemacht haben, seit dem Ende der UdSSR und der Chance auf den ganz großen Frieden in Europa.

Insgesamt ergibt sich also in unseren etablierten Massenmedien eine Grauzone und Nebelwand, die es dem normalen Bürger schwer macht zu erkennen, ob ein großer Krieg mit Russland tatsächlich unmöglich ist – was immer wieder in den Medien betont wird –, oder ob sich unsere Politiker inzwischen in eine Situation hineinmanövriert haben, die es ihnen unmöglich macht, dem Volk gegenüber die Gefahr eines dritten Weltkrieges überhaupt beim Namen zu nennen.

Zurück zum Februar 2015: Die oben angesprochene Münchner Sicherheitskonferenz, ein international beachtetes Forum für Weltpolitik, auf dem seit Jahren etliche Staats- und Regierungschefs erscheinen, beispielsweise Wladimir Putin (2007) und die deutsche Bundeskanzlerin (2015), ist eines der Großereignisse im Kalender der bayerischen Landesmetropole. Also war klar, dass sich der Bayerische Rundfunk diesem Ereignis widmen muss, und das tat er zwei Tage nach Abschluss der Konferenz in der Talkrunde Münchner Runde am 10. Februar 2015, Titel der Sendung:

»Krieg oder Frieden – Was will Putin?«

Moderator ist wieder Sigmund Gottlieb. Geboren im Jahre 1951, hat Sigmund Gottlieb Ende der 70er-Jahre seine Karriere in der deutschen Medienlandschaft begonnen, und ist inzwischen Chefredakteur des Bayrischen Fernsehens. Für einen Journalisten und heimattreuen Bayern ist das so ziemlich das Ende der Karriereleiter. In der Münchner Runde kocht an diesem Tage sozusagen der Chef persönlich. Und der Chef beginnt: »Guten Abend zur Münchner Runde […] Mit wem man auch redet in diesen Tagen, es gibt nur ein Thema: Das ist der Krieg in der Ukraine. Und die bange Frage lautet: Ist der Frieden doch noch herbeizuführen? Oder weitet sich dieser Krieg aus? Krieg oder Frieden? Es geht in diesen Stunden um alles.« 26› Hinweis

Einer von Gottliebs Studiogästen ist die Russin Anna Rose, Deutschland-Korrespondentin der russischen Zeitung Rossjskaja Gazetta. Auch für Frau Rose ist es nicht die erste Sendung zum Thema Putin und Ukraine-Krise, und als potenzielle »Putin-Versteherin« ist ihr eine gewisse Defensivhaltung schon an der Körpersprache anzusehen. Richtig wohl fühlt sich die Dame nicht in dieser Runde. Moderator Gottlieb wendet sich ihr zu: »Frau Rose: Was wir nicht so genau wissen – vielleicht können Sie uns hier helfen –, was erwartet eigentlich – Putin – vom Westen?«

Anna Rose entgegnet in leicht irritiertem Tonfall, aber letztlich doch so, als sei sie gerne bereit, eine für sie unangenehme Übung zu wiederholen: »Ich denke schon, dass Russland mehrmals gesagt hat, dass es an einer friedlichen Lösung interessiert ist. Das hat Herr Lawrow [russ. Außenminister] ständig gesagt. Das hat Herr Putin ständig gesagt.«