11,99 €
Appetit auf gute Taten – Kirche schafft sich so nicht ab
- Das neue Buch vom »Ghettopfarrer« macht Lust auf eine zeitgemäße Kirche
- Kirche von unten: Freche Ideen, auf die so noch keiner gekommen ist
- Für ein funktionierendes Netzwerk von Kirche und Gesellschaft
Köln-Vingst ist ein sozialer Brennpunkt, seit 15 Jahren aber auch ein moderner Hort der Nächstenliebe, »Ghettopfarrer« Franz Meurer sei Dank. »Wir essen das Brot und leben vom Glanz«, so die Devise des engagierten und unkonventionellen Gottesmannes, der auf überzeugende Weise und sehr erfolgreich Kirche von unten lebt und nichts von Dogmen und abstrakten Predigten hält – nicht selten zum Missfallen seines Bistums.
Die Grundaussage seines streitbaren Buches ist zeitgemäß und simpel zugleich: Kirche muss ein öffentlicher Raum sein und jeder muss und kann seinen Beitrag leisten. In acht Kapiteln formuliert das Buch Leitmotive einer heutigen christlichen Existenz – alltagsnah und in einer Sprache, die jeder versteht.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 221
»Ich bin fast so klug, wie ich schön bin«
(Die Ärzte)
DER PROPHETISCHE FRISEUR
Von Franz Meurer
»Mit Kirche seh’ ich scheiße aus« – eine typische Aussage eines Jugendlichen, zitiert in der »Sinus-Milieu©-Studie U27 « von 2007: »Wie ticken Jugendliche?«.
Wer nicht gut aussieht, muss zum Friseur.
Mein Friseur heißt Salvo, ein Italiener mit einer lieben Frau und drei Kindern, zwei Jungs und ein Mädchen. Die Söhne, neun und 14 Jahre alt, spielen leidenschaftlich gern Fußball. Die Tochter ist erst drei.
Samstags organisiert Salvo in einer Sporthalle mit Kunstrasen Fußballturniere mit seinen Söhnen und zwanzig ihrer Freundinnen und Freunde. Er sagt: »Ich kann mit meinen Kindern nur samstagnachmittags und am Sonntag etwas unternehmen, sonst muss ich arbeiten. Ich will die Freunde meiner Jungs kennenlernen. Sie kommen aus sieben Nationen. Beim Sport geht es friedlich zu, weil die Regeln stimmen. Klar, es kostet mich was, die Halle zu mieten. Dafür spende ich sonst nicht so viel. Der Chef der Halle ist nett, er macht uns zum halben Preis zwei Bleche Fritten, Fußball macht ja hungrig.«
Salvo spielt als einziger Erwachsener auch selber mit. Er sagt: »Der Grund ist, dass ich dann den Kindern den Ball zuspielen kann, die nicht so oft angespielt werden, weil sie nicht so gut sind. Die guten Spieler finden das in Ordnung. «
Weil Salvo und seine Frau sehr fleißig sind, haben sie es zu einem kleinen Eigenheim geschafft. Auch mit intensiver Hilfe der Großeltern. Bei der Einsegnung des renovierten Hauses singen und beten wir. Danach gibt es Pizza. Original italienisch, also luftig und locker und nicht zu dick und fett belegt. Ich erzähle der Familie, auch die Oma und der Opa sind dabei, dass sie genau das leben, was der Herrgott will. Es könnte ein Gleichnis Jesu sein: »Einer Familie ging es gut. Alle hielten zusammen. Doch sie behielten ihr Glück nicht für sich. Sie waren sehr gastfreundlich und hatten die Freundinnen und Freunde ihrer Kinder oft zu Besuch, auch über Nacht. Ja, sie kümmerten sich auch um Kinder, die es nicht so gut hatten. Weil sie ihr Glück teilten, war ihr Leben gesegnet.«
Was die Familie des Friseurs lebt, ist Hauskirche. Natürlich käme sie nie auf die Idee, es so zu nennen. Aus Dankbarkeit über ihr Glück lassen sie andere daran teilnehmen. Daraus wächst Gemeinschaft und bildet sich Gemeinde. Das Klima der Gastfreundschaft spürt man auch im Friseursalon. Der Hausmeister von nebenan schaut auf einen Kaffee herein, der Ortspolizist erkundigt sich nach den neuesten Nachrichten aus dem Viertel.
Salvo hat einen jungen Mann mit Migrationshintergrund als Auszubildenden eingestellt, auch wenn ihm das finanziell nichts einbringt. Aber er will seine Handwerkskunst weitervermitteln.
Für unsere evangelischen und katholischen Kirchengemeinden sind Menschen wie Salvo wichtige Quellen der Inspiration. Sie machen sich nicht wichtig, sind es aber. Fromm formuliert: sie sind prophetische Menschen. Denn sie verkünden eine Botschaft von Gott. Teresa von Avila sagt: »Ob wir Gott lieben, wissen wir nie in unserem Leben ganz genau. Ob wir unseren Nächsten lieben, merkt man jeden Tag.«
»Mit Salvo seh’ ich super aus.« Dies gilt nicht nur für seine Coiffeurkunst, sondern auch für seinen Lebensstil: solidarisch aus Dankbarkeit.
»Ich dreh mich um dich«
(Herbert Grönemeyer)
KIRCHE FÜR DIE MENSCHEN
Von Franz Meurer
Spätestens seit der Sinus-Milieu©-Studie – ein soziologisches Modell, das die Gesellschaft nach ihren Lebensauffassungen und Lebensweisen in zehn Milieus gruppiert und das im Jahr 2005 die Grundlage war für die Erforschung von Einstellungen zu Glaube und Kirche – ist Lebensweltorientierung ein Thema in der Seelsorge.
Schon Heraklit sagt: Was uns umgibt, prägt uns.
Gott ist sehr lebensweltorientiert. Er sendet seinen Sohn in die Welt. Nicht nur zur Inspektion oder Revision, sondern um mitzuleben. Auch nicht als Ethnologe, um Feldforschung zu betreiben und Bericht zu erstatten. Nicht nur als Herold, um zu verkünden, was der Vater die Menschen wissen lassen will.
Jesus teilt unser Leben ganz, bis in den Tod. Der Apostel Paulus schreibt sogar: »Er hat den, der keine Sünde kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm Gerechtigkeit Gottes würden.« (2 Kor 5,21)
Das Zweite Vatikanische Konzil (1962 bis 1965), die Versammlung aller Bischöfe der Welt mit dem Papst in Rom, betont in einem seiner wichtigsten Beschlüsse, der »Pastoralen Konstitution über die Kirche in der Welt von heute« (sie beginnt mit den Worten Gaudium et spes, »Freude und Hoffnung«), die Bedeutung des Blicks auf die Lebenswelt der Menschen. Kapitel 4 beginnt so: »Zur Erfüllung dieses ihres Auftrags obliegt der Kirche allzeit die Pflicht, nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten. So kann sie dann in einer jeweils einer Generation angemessenen Weise auf die bleibenden Fragen der Menschen nach dem Sinn des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens und nach dem Verhältnis beider zueinander Antwort geben. Es gilt also, die Welt, in der wir leben, ihre Erwartungen, Bestrebungen und ihren oft dramatischen Charakter zu erfassen und zu verstehen.« Vielleicht überrascht in diesem sehr der Welt zugewandten Konzilstext der Blick auf den Zusammenhang von gegenwärtigem und zukünftigem Leben, also von irdischem und himmlischem Leben. Doch gerade dies treibt viele Menschen um: Was kommt nach dem Tod?
Selten bekomme ich so viel positives Echo wie bei Gottesdiensten für Verstorbene, in denen ich die Lehre der Kirche vom Fegefeuer erkläre. Nur wenigen Gläubigen ist bewusst, dass ganz sicher in den Himmel kommt, wer im Fegefeuer ist! Das sagt auch (in Nr. 1030) der »Katechismus der Katholischen Kirche«, das vom Vatikan 1993 herausgegebene Buch, das für die ganze Welt die komplette katholische Glaubenslehre enthält. Ist der gute Ausgang des Fegefeuers erst einmal klar, dann erscheint der Gedanke, dass nach dem Tod wohl für die meisten Menschen noch eine Zeit der Läuterung angesagt ist, überhaupt nicht mehr bedrückend. Das ist in Ordnung!
So eröffnet sich gerade angesichts des Todes ein frohes Einverständnis mit der Aussage in den ersten Sätzen des »Katechismus« (Nr. 1): »Gott ist in sich unendlich vollkommen und glücklich. In einem aus reiner Güte gefassten Ratschluss hat er den Menschen aus freiem Willen erschaffen, damit dieser an seinem glückseligen Leben teilhabe.« Am Glück teilnehmen, und zwar für immer! Anders als im Werbespruch: »Nicht immer, aber immer öfter«. Gott schenkt uns nicht etwas, sondern alles, nämlich Teilhabe an seinem Leben. Er hat uns ja auch nach seinem Ebenbild geschaffen. So wie unser Leben beginnt, soll es auch enden, als »Erben kraft der Verheißung« (der Apostel Paulus in seinem Brief an die Galater, Gal 3,29).
Diese frohe Botschaft bezeugen wir als Christen. Wie kann dies gehen angesichts unserer beschränkten Fähigkeiten und Fehler und Schwächen?
Hier hilft die Selbstkritik, die der verstorbene Kölner Kardinal Joseph Höffner kurz vor seinem Tod in seinem Abschiedsbrief an die Gläubigen der Erzdiözese formuliert hat: »Wäre die Kirche nur geschichtliche Gestalt, so hätten wir sie längst zugrunde gerichtet, vor allem die Priester und Bischöfe.«
Gott kommt uns mit seiner Gnade zuvor. Indem wir zusammenkommen, sind wir die Kirche. Als Kirche sind wir der Leib Christi, das werdende Gottesvolk. Wir spüren unseren Anteil am göttlichen Leben. Das wollen wir immer mehr zur Geltung bringen und verbreiten. Dabei hilft uns nur wenig der Blick auf uns selbst, entscheidend ist die Sicht auf die anderen.
Ryszard Kapuścińki, der 2007 verstorbene polnische Weltreporter, hat fünfzig Jahre lang die Erde bereist, um den anderen zu begegnen. In der Philosophie von Emmanuel Lévinas findet er seine Weltsicht konzentriert. Er schreibt: »Dieser Gleichgültigkeit gegenüber dem Anderen, die eine Atmosphäre schafft, in der es unter bestimmten Bedingungen zu Auschwitz kommen kann, stellt Lévinas seine Philosophie entgegen. Halte inne – scheint er dem in der entfesselten Menge dahinjagenden Menschen zuzurufen. Halte inne. Neben dir ist da noch ein anderer Mensch. Geh ihm entgegen. Eine solche Begegnung ist das größte Erlebnis, die wichtigste Erfahrung. Schau dem Andern ins Antlitz, das er dir entgegenhält. Durch sein Antlitz öffnet er sich dir, mehr noch, bringt er dich Gott näher« (Ryszard Kapuścińki, Der Andere, Frankfurt am Main 2008, S. 33). Indem wir aufeinander schauen, die und der eine auf den andern, ahmen wir nach, wie Gott uns anblickt. Wir übernehmen Verantwortung füreinander. Die heilige Elisabeth sagt: In den Armen finde ich Gott.
Unseren Anteil am Glück finden wir also nicht, indem jeder für sich ein möglichst großes Stück aus dem Kuchen ergattert, sondern indem wir es miteinander teilen.
Wie dies in einer christlichen Gemeinde heute gehen mag, schildert dieses Buch. Wir erzählen von der Wirklichkeit in den beiden benachbarten Kölner Stadtvierteln Höhenberg und Vingst – »HöVi« –, was wir dort als Kirche tun und wie wir dort gemeinsam Kirche sind. So viel teilen wie möglich – das ist vielleicht der Grundgedanke des praktischen Gemeindelebens bei uns. Also so viel an Glauben und Leben mit unseren evangelischen Geschwistern teilen, wie es heute schon sinnvoll und möglich ist. So viel gemeinsam mit allen Menschen guten Willens angehen, wie es ihnen möglich ist, auch wenn ihnen der persönliche Glaube an Gott noch nicht geschenkt wurde oder verloren ging. Kardinal Höffner hat das Wort von der »Geh-hin-Kirche« geprägt. Es meint aufsuchende Gastfreundschaft. Wir warten nicht, ob jemand kommt. Wir wollen Kirche im Viertel sein, Teil der Lebenswelt der Menschen.
»Meine Stadt, mein Bezirk, mein Viertel, meine Gegend, meine Straße, mein Zuhause, mein Block!«
(Sido)
UNSER VIERTEL KÖLN-HÖVI
Von Peter Otten
Die Kirchengemeindestrukturen sind nicht die wichtigsten Ebenen für die seelsorgliche Arbeit. Das gilt für beide Gemeinden, für die katholische genauso wie für die evangelische Gemeinde. Entscheidend ist die Orientierung der Arbeit am Viertel und ins Viertel hinein, also eine am Sozialraum und dessen Strukturen orientierte pastorale Arbeit. Wenn es heißt »ins Viertel hinein«, so sind eigentlich zwei Viertel gemeint: Köln-Höhenberg und Vingst. Hier wohnen knapp 23.300 Menschen. Ein Drittel von ihnen ist katholisch, knapp 13 Prozent sind evangelisch und circa 15 Prozent muslimisch.
Für die meisten Menschen, insbesondere für die Hinzugezogenen, sind die früher deutlicheren Viertelsgrenzen nicht mehr wahrnehmbar, für Außenstehende erst recht nicht. Beide Viertel sind sich in der Sozialstruktur sehr ähnlich, beide Viertel sind nach dem Krieg durch Siedlungsbau zunehmend ineinander gewachsen. So ist vor vielen Jahren ein neuer Name für die zusammenwachsenden Viertel entstanden. Ein Kunstwort, das sich inzwischen zu einer Marke entwickelt hat, die diesen Prozess des äußeren und auch inneren Zusammenwachsens zu einem Ganzen verdeutlicht. Für die meisten Bewohner heißt das Viertel schlicht »HöVi«. Dieser Begriff hat stark dazu beigetragen, dass sich eine gemeinsame Identität der Bürger herauszubilden begann. Von beiden Kirchengemeinden »erfunden«, bezeichnete HöVi zunächst Initiativen, die zumeist von beiden Kirchengemeinden gemeinsam entwickelt wurden und heute noch betrieben werden: HöVi-Land, die gemeinsame Kinderzeltstadt im Sommer, der HöVi-Spielebus, das HöVi-Sternsingen, die HöVi-Familienwerkstatt, die evangelische Jugend in HöVi wie auch katholische Kinder- und Jugendgruppierungen, zum Beispiel die HöVi-Ministranten oder der Jugendverband HöVi-KjG (Katholische junge Gemeinde). Inzwischen haben auch nicht kirchliche Initiativen diesen Begriff übernommen: der Runde Tisch Jugend in HöVi, das HöVi-Stadtteilmanagement als Lenkungsorgan des sozialen Netzwerkes im Viertel und andere.
Höhenberg und Vingst liegen im rechtsrheinischen Stadtbezirk 8 Köln-Kalk. Als »Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbedarf« nehmen sie am Landesförderprogramm »Soziale Stadt« zur sozialen und wirtschaftlichen Stabilisierung teil, um negativen ökonomischen und sozialen Entwicklungen zu begegnen, die durch den Wegfall von Arbeitsplätzen und damit der wirtschaftlichen Basis entstanden sind. Vorhandene Kräfte und Ressourcen werden mobilisiert, um einen Strukturwandel einzuleiten und damit zu verhindern, dass ganze Straßenzüge und Quartiere aus dem wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Gefüge der Stadt fallen.
HöVi wird im Westen durch einen Rangierbahnhof und im Osten durch eine Stadtautobahn begrenzt. Das Kölner Stadtzentrum erreicht man mit der Stadtbahn in knapp einer Viertelstunde. Der nach dem Krieg prosperierende Industriestandort Kalk bot vor allem mit den großen Fabriken »Klöckner-Humboldt-Deutz«, einem Hersteller von Motoren, sowie der »Chemischen Fabrik Kalk« bis Anfang der 1990er-Jahre sichere Arbeitsplätze für tausende Bewohner in HöVi. Mit der Deindustrialisierung und dem Rückzug dieser und anderer Betriebe gingen seit den 1970er-Jahren etwa 8500 Arbeitsplätze verloren, wodurch die Arbeitslosigkeit zeitweise auf über 25 Prozent stieg. Der Stadtbezirk Kalk, mit ihm auch HöVi, wurde zu einem Problemgebiet. HöVi ist von der besonderen Lebenssituation seiner Bewohner geprägt. 51,4 Prozent haben einen Migrationshintergrund (der Anteil in der Gesamtstadt beträgt 31,3 Prozent). Bei Kindern unter sechs Jahren liegt der Anteil in HöVi sogar bei 76 Prozent. Der Ausländeranteil liegt aktuell bei 30,3 Prozent (in der Gesamtstadt 16,9 Prozent). Davon sind die Türken mit knapp 50 Prozent die größte ethnische Gruppe. Insgesamt ist die Bevölkerungsstruktur in HöVi ethnisch sehr gemischt, wobei teilweise schon kleinräumliche Segregation zu beobachten ist. Es gibt ganze Straßenzüge, die nahezu ausschließlich von Türken bewohnt werden und eine türkische Infrastruktur aufweisen: Türkische Hauseigentümer, türkische Geschäfte, türkische Ärzte und türkische Cafés.
Auffällig ist eine sehr niedrige Wahlbeteiligung in HöVi. Sie lag bei der letzten Kommunalwahl 2009 mit 33,8 Prozent noch einmal deutlich unter der ohnehin geringen Wahlbeteiligung in der Stadt Köln mit 49,1 Prozent. Es gab Straßenzüge, in denen die Wahlbeteiligung bei 10 Prozent lag. Man darf mit gutem Recht annehmen, dass sehr viele arme Bürger von keiner Partei mehr erwarten, dass diese etwas an ihrer persönlichen Lage verändern. Also beteiligen sich diejenigen, die das größte Interesse an politischen Veränderungen haben sollten, am wenigsten an den Wahlen. Andererseits ist der Stimmenanteil der rechtsextremistischen Partei Pro Köln mit 9,9 Prozent in HöVi bei der Kommunalwahl 2009 auch aufgrund der niedrigen Wahlbeteiligung vergleichsweise hoch, 5,4 Prozent erzielte diese Partei in der gesamten Stadt.
Mit dem Abbau der Arbeitsplätze ging auch ein Wandel in der Bevölkerungsstruktur einher. Einkommensstarke Haushalte zogen weg, der Anteil der deutschen Bevölkerung verringerte sich, während nicht deutsche Bevölkerung weiter zuzog. Neu geschaffene Arbeitsplätze, die zum Beispiel durch die Ansiedlung eines Technologiezentrums im benachbarten Stadtteil Gremberg entstanden, helfen den Menschen in HöVi nicht wirklich, da sie eher Arbeit für geringer Qualifizierte benötigen. Das Kalk-Programm, ein Förderprogramm für integrative Stadtentwicklung, sah zwar die Schaffung solcher Arbeitsplätze vor. Aber die Arbeitslosenquote ist fast unverändert. Mit den »Köln-Arcaden« gibt es in Kalk seit 2005 das größte rechtsrheinische Einkaufszentrum von Köln. Es hat dazu beigetragen, dass außerhalb des Einkaufszentrums nicht nur in Kalk, sondern auch in HöVi der Einzelhandel insgesamt, insbesondere aber Fachgeschäfte zunehmend verschwunden sind. Billig- und Ramschläden haben sich an ihre Stelle gesetzt.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Vingst als Wohnviertel in großem Maßstab vor allem durch die GAG Immobilien AG, die größte Wohnungsbaugesellschaft der Stadt, aufgebaut. Es entstanden tausende Wohnungen, zumeist in drei- bis fünfgeschossigen Häuserzeilen. Allerdings wurden auch Einfamilienhäuser gebaut, freistehend oder als Reihenhäuser im südlichen Vingst und im östlichen Teil von Höhenberg. Nachdem zu Beginn des Jahrzehnts der Plan, sich vom Gesamtbestand der städtischen Wohnungen zu trennen, im Kölner Rat keine Mehrheit fand, wurden in den letzten Jahren die Vor- und Nachkriegssiedlungen umfassend saniert. Die Wohnungen waren teilweise noch mit Kohleöfen beheizt worden. Das größte Sanierungsprojekt betrifft zurzeit die »Schwedensiedlung« in Vingst, wo ganze Häuserzeilen abgerissen und neu errichtet werden. Neubau- und Eigentumsangebote sollen zur Aufwertung von HöVi beitragen. Im Rahmen dieser Sanierung wurden auch zwei Übergangswohnheime abgerissen, in denen die Stadt überwiegend Obdachlose und Asylsuchende untergebracht hatte. An ihrer Stelle sind unter dem Namen »Vingstveedel« viergeschossige Häuserzeilen entstanden, die Vingst ein neues Entree verleihen und die »Schwedensiedlung« aufwerten. Ein neuer begrünter Platz mit Außengastronomie ist entstanden, neue Einkaufsmöglichkeiten soll es ebenfalls geben. Die Menschen in HöVi beobachten die Veränderung aufmerksam. In einem Internetforum schreibt eine Frau:
Ich wohne seit sechzehn Jahren in Höhenberg. Mir hat der Name gefallen. Auf der Höhe eines Berges zu leben, hat was. Aber im Grunde bin ich vierzehn Jahre hier hängen geblieben. Ich wollte immer auf die andere Rheinseite, wo meine Freunde wohnten und wo das »richtige Köln« ist. Aber vor drei Jahren habe ich mich beim Kauf meiner Eigentumswohnung bewusst für Höhenberg entschieden. Der Name zieht immer noch, und das richtige Köln kann ich jederzeit haben. Es ist ja nur zehn Minuten Bahnfahrt entfernt. Die Germania-Siedlung ist neu renoviert, die schmucken Häuschen sind ganz klasse geworden, und ich fühle mich hier in ihrer Abgeschlossenheit sehr wohl. Ich gestehe, ich bin keine Städterin, ich brauche viel »Auslauf« ins Grüne. Der nahe Königsforst, die Wahner Heide, die Wildparks, Baggerseen – herrliche Sache das alles. Die kleine Merheimer Heide hier um die Ecke ist im Sommer der große Garten für viele Familien ohne Balkon. Hier ist mir schon passiert, dass mir eine türkische Familie von ihrem Essen abgegeben hat, »weil wir viel zu viel vorbereitet haben«. Auf dem Mülheimer Friedhof ist an Allerheiligen die Hölle los, da wird an den Gräbern echt gewerkelt und geklönt, da ist Familientreffen wie auf den Friedhöfen in Mexiko. Und es gibt viele alte Gräber aus den letzten beiden Jahrhunderten hier. Auf der Olpener Straße gibt es drei Supermärkte, davon zwei Discounter. Aber in dem einen Edeka-Laden, da ist seit Jahren das gleiche Personal. Und wenn man reinkommt, sagt immer jemand »Guten Tach!«, und man weiß, die kennen einen, wie in einem Tante Emma Laden. In der Nähe der Olpener Straße ist auch die Brotfabrik Kronenbrot. Morgens riecht es in ihrem weitläufigen Umkreis immer nach frisch gebackenem Brot. Mir gefällt außerdem die Nähe zum Autobahnkreuz Köln Ost, von wo aus ich schnell nach Bonn, Siegburg, Düsseldorf, Aachen und Frankfurt komme. Auch der Flughafen ist nicht weit, in meinem Beruf sehr wichtig.
Früher hab ich immer gedacht, mit der U-Bahn sollte man besser vor Mitternacht nach Hause fahren, danach wird es kritisch, da zeigt der Mensch sein wahres Gesicht, bleich und übernächtigt, resigniert, vom Leben gezeichnet. Tatsächlich stört mich der Dreck an der U-Bahn-Station. Mich stört auch das Schild meiner Nachbarn von gegenüber an den wenigen Wäscheleinen im Gemeinschaftsgarten: »Diese Leinen sind den Bewohnern des Hauses Blablastraße vorbehalten. Sonntags und Feiertags ist das Wäscheaufhängen untersagt.« Ich bin kein politischer Mensch, aber das erinnert mich irgendwie an: »Diese Straßenbahn ist den Ariern vorbehalten.« Im Haus gegenüber beschwert man sich auch, dass der frühere Glanz von Höhenberg verblasst ist, seit »sehr viele Ausländer hier eingezogen sind. Die putzen ja die Treppe nicht, müssen Sie nicht meinen.« Die Frau, die das sagt, tut mir leid. Weil sie jeden Tag ihren behinderten Mann im Rollstuhl auf die Rampe hieven muss, damit er mal die Wohnung im ersten Stock verlassen kann und an die Luft kommt. Klasse, dass es solche Rampen gibt und dass die Wohnungsbaugesellschaft auch behindertengerechte Wohnungen in dieser Siedlung möglich macht.
Viel gehört hab ich auch von den Kindergärten und Schulen, die immer die Grünflächen um die Straßenlaternen und Bäume am Straßenrand bepflanzen – im Frühling brechen hier die Osterglocken aus der Erde, dank den Kindern. Auch die Pfarrer sind berühmt in ihrem Engagement für Obdachlose und Menschen mit wenig Geld.
Die Bevölkerungsstruktur im Viertel hat sich verändert, und diese Veränderung hat zur Stabilisierung beigetragen. Da viele Wohnungen aus der Sozialbindung gefallen sind, sind private Mietwohnungen für Menschen mit niedrigem Einkommen oder Transferleistungen allerdings nicht mehr ohne Weiteres erschwinglich. Der Anteil der Sozialwohnungen, der insgesamt in Köln in den letzten Jahren zurückgegangen ist, liegt in HöVi bei 17,3 Prozent, in der Gesamtstadt sind es knapp 10 Prozent.
Im Viertel gibt es fünf Grundschulen, darunter eine katholische Grundschule und eine Außenstelle der Montessori-Schule Köln-Deutz. Mit einer Hauptschule und einer Gesamtschule gibt es zwei weiterführende Schulen. Kinder, die eine Realschule oder ein Gymnasium besuchen möchten, müssen in einen anderen Stadtteil fahren.
Was statistisch nur bedingt zu fassen ist, aber beobachtet werden kann: Viele Menschen in HöVi vermögen ihrem Leben keine Struktur mehr zu geben. So kommen zwar viele Menschen zur Lebensmittelausgabe der Kirchengemeinde, weil sie wenig Geld haben. Andererseits haben sie aber auch nicht gelernt, einen Haushaltsplan aufzustellen und ihr Geld zu verwalten. Das fällt ihnen schwer. So leben die zahllosen Kioske in HöVi ganz gut von dieser Schwäche. Denn dort kaufen die Menschen auch bis tief in die Nacht Dinge ein, die sie spontan brauchen. Termine wahrnehmen, Einladungen annehmen oder absagen, Briefe und Behördenpost lesen, günstig und vorausschauend einkaufen, langfristig planen – für viele Menschen sind das ungewohnte Dinge.
Vor allem die Karnevalsvereine, aber auch die beiden Bürgervereine prägen die Kultur in den Stadtteilen gemeinsam mit den Kirchen. »Signale aus Vingst«, eine Gruppe kunstinteressierter Menschen, macht regelmäßig Ausstellungen in der Galerie der Kirche St. Theodor. Es gibt eine große Zahl von Straßen-, Nachbarschafts-, Kindergarten- und Schulfesten, wichtige Termine im Jahreskalender der Familien. Eine Frau, die sich in einem nicht näher bezeichneten Verein in HöVi engagiert, schreibt in einem Internetblog:
Ich bin eingefleischte Höhenbergerin und liebe mein Veedel. Mein Mann und ich sind beide hier geboren. Den Wandel haben wir hautnah miterlebt. Durch die Wohnungsbaugesellschaft ist zunächst die Germania-Siedlung wieder restauriert und modernisiert worden. Wahrlich ein Schmuckstück. Hier hat man – und auch der anstrengende Denkmalschutz – wirklich alles gegeben. Die Mieten sind zwar hierdurch rapide nach oben geschnellt. Wir konnten jedoch durch unseren Mieterrat bei Verhandlungen mit dem Vorstand der Wohnungsbaugesellschaft für vereinzelte Mieter eine vertretbare Miete erzielen.
Durch die Modernisierung hat sich das Veedel gewandelt. Neue Bürger kamen hinzu und müssen in das Höhenberger Leben integriert werden. Hier veranstalten wir wieder seit 2008 ein Veedelsfest, wie wir es schon vor 22 Jahren veranstaltet haben. Am Veedelsfest nehmen Karnevalsvereine, Höhenberger Geschäftsleute, Privatpersonen und karitative Einrichtungen teil. Alles, was eingenommen wird, wird größtenteils gespendet. Der Bürgerverein wird dies an bedürftige Höhenberger weitergeben, ausgesucht von unseren Pfarrern aus der evangelischen und katholischen Kirche. Wir haben in der Vergangenheit fast 2000 Besucher gehabt, und wir hoffen, dass wir diese Zahl wieder erreichen. Unser Veedelsfest ist nicht professionell, aber gerade Großmutters Flair macht das Fest sympathisch und bezahlbar.
Ein Beispiel für eine bemerkenswerte Arbeit eines Vereins ist die »Initiative Kinderspielplatz«. In den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts haben sich einige Eltern zusammengeschlossen, um auf einem leer stehenden Eckgrundstück in Eigenregie eine dauerhafte Alternative zum seinerzeit dürftigen Spielplatzangebot im Viertel zu schaffen. Mit vereinten Kräften baute man den Spielplatz mit den Jahren immer mehr aus. Später sorgte die katholische Kirchengemeinde mit einem Grundstückstausch und der anschließenden Stiftung des Grundstückes dafür, dass die Initiative dauerhaft an dem Ort verbleiben konnte. Die inzwischen 500 Mitglieder des Vereins aus etwa zehn verschiedenen Nationen betreuen aber nicht nur den Spielplatz, sondern organisieren für die Kinder das ganze Jahr über ein umfangreiches Freizeitprogramm.
In HöVi leben zurzeit knapp 8000 Katholiken und 3000 Protestanten. In Höhenberg und in Vingst hat die katholische Gemeinde jeweils eine Kirche, St. Elisabeth und St. Theodor. Bereits im Jahr 2000 fusionierten die zuvor selbstständigen Gemeinden. Im Jahr 2002 wurde in Vingst sogar eine neue Kirche geweiht, bis heute die vorletzte im Erzbistum Köln, wo es zunehmend aufgrund von Fusionierungen und rückläufigen Gemeindemitgliederzahlen zu viele Kirchen gibt. So war der teure Bau in seiner Entstehung auch nicht unumstritten. Die konsequente Orientierung an den Bedürfnissen der Menschen bei der Planung des Baus war von Seiten der Gremien der Kirchengemeinde dann auch eine wichtige Bedingung.
Kriegsschäden und ein Erdbeben im Jahr 1992 hatten dem Vorgängerbau von St. Theodor aus den späten 30er-Jahren so zugesetzt, dass er einsturzgefährdet war. Weil ein Neubau geringere Kosten bedeutete als die Instandsetzung, entschied sich das Bistum für Abriss und Neubau. Allein der Turm aus dem Jahr 1955, der auf eigenen Fundamenten ruht, blieb stehen. Ein Wettbewerb wurde ausgeschrieben. Aus mehr als 150 anonymisierten Einreichungen ging Paul Böhms Entwurf als Sieger hervor. Im März 2002 wurde die komplett unterkellerte neue Kirche geweiht, ein sandfarbener zylindrischer Baukörper aus Leichtbeton. Aus ihm ragt dunkel der quadratische Turm der Vorgängerkirche heraus. Ein Gebäuderiegel mit Räumen für verschiedene Nutzungsmöglichkeiten und der Keller binden den sakralen Neubau in die vielfältigen kulturellen und sozialen Aktivitäten der Gemeinde ein – und umgekehrt.
Die evangelische Gemeinde Köln-Höhenberg-Vingst besitzt mit der Erlöserkirche in Höhenberg und dem Paul-Gerhardt-Haus in Vingst zwei Gemeindezentren. Im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit, im Bereich der Familienarbeit, in der Zusammenarbeit mit den Schulen und in vielen Feldern der vernetzten sozialräumlich orientierten Sozialarbeit besteht seit vielen Jahren eine sehr intensive ökumenische Zusammenarbeit.
Welche Entwicklung HöVi in den letzten Jahren erfahren hat, welche Rolle die beiden Kirchen dabei hatten und wie das gerade von jungen Menschen wahrgenommen und reflektiert wird, zeigt der folgende Rap, den ein Jugendlicher, ehrenamtlicher Mitarbeiter in der Jugendarbeit, geschrieben und mit Freunden aufgenommen hat.
Einzigartig ist unser Town – einzigartig im Kölner RaumAch scheiß auf den Mist, das gibt’s nur einmalEinmal auf der Welt – einfach phänomenalAktionen wie das HöVi-Land machen uns berühmtUnd es geht immer weiter, neue Ideen kommen geströmtMan kann von uns sagen, wir haben Großes vollbrachtUnsere soziale Power – es geht nicht um MachtWenn man betrachtet, was wir alles schon geschaffen habenDa musst du weit ausholen, das kann man nicht so trockensagenDenn so etwas, das hat noch niemand geseh’nJetzt zähl‘ ich mal schnell auf, wovon ich eigentlich red‘Ich red‘ von Blockhaus, PGH und St. TheodorIch red‘ vom HöVi-Land, KjG und dem ChorIch red‘ von Jugendbüro, KjG-Büro, HöVi-Land-Büro,Spielebus sowiesoAuch Erlöser und Elisabeth sind noch mit dabeiGenauso wie die Kindergruppen und HöVi-OnlineViele Leute bei Sommerfahrt und JugendgruppeNicht zu vergessen: offener Treff – Frau Gau macht ‘neSuppe
We are strong forever – We belong togetherWe all live in one place – We all go the same waysHöhenberg-Vingst together – Höhenberg-Vingst foreverDie Umstände sind halt so, so muss es halt seinHöhenberg-Vingst – keiner will alleine seinEs gibt zwar immer Battles zwischen den beiden KonfessionenGenauso gibt es Battles zwischen den zwei HöVi-RegionenDoch damit ist jetzt Schluss – so kann’s nicht weiter geh’nIm Leben gibt es so viele Sachen – so viel ist noch zu erlebenWir müssen aufhör’n mit dem Stress, wir sind doch alleJamaikanerKrieg in HöVi – ich sag euch Jungs – das war malFasst euch an den Händen und macht mal ’nen KreisVergesst doch mal den Ärger, denn der Preis ist zu heißFür den Scheiß, den ihr macht, den ihr fabriziertHöhenberg und Vingst waren schon immer liiertFasziniert sind die Leute, die von außen uns seh’nGib denen eine Woche und sie werden uns versteh’nWarum die Leute hier tun für keinen CentWarum die Leute sterben würden, wenn das HöVi-Land brennt
Vergisst den Battle, Jungs, das alles ist VergangenheitHöhenberg und Vingst – das ist ’ne feste EinheitWir steh’n zusammen, wie Elisabeth und TheodorDer Zusammenhalt ist stärker als je zuvorBei allem, was wir taten – jo – wir waren gespaltenDoch jetzt ist die Zeit gekommen, in der wir zusammenhaltenZwei Teile, eine Kraft – gemeinsame ZieleMit Freundschaft, Vernunft und noch viel mehr LiebeDas geht raus an alle Leute – ja, gemeint seid ihrDie Leute aus unserem Land – aus unserem RevierDas ist von uns für euch, auch von uns für unsWie Therapie für uns – für euch ist es Kunst