Wer steckt hinter Spam - Ute-Marion Wilkesmann - E-Book

Wer steckt hinter Spam E-Book

Ute-Marion Wilkesmann

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Beschreibung

Spam muss aufgearbeitet werden, es drängt sich auf: Da muss jemand hinter stecken? Was für Menschen stehen mit ihrem Namen für Spam?

Das E-Book Wer steckt hinter Spam wird angeboten von Books on Demand und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Spam, Geister, Großunternehmen, Krimi, Teamarbeit

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Tag 1

Werbemails

Fred Hoffmann

Niklas Ostermann

Erica Feist

Werner Kesselmann

Yvette Strauch

Karl Gerke

Das Wiedersehen

Tag 2, Beim Griechen

Tag 3, Der Plan

Tag 4, Finanzielles

Die Sparkasse am Hornufer

Der Baumarkt „Bau-dir-Was“

Der Abend bei Karl

Mandy Kurz

Tag 5, Mehr Geld, dazu Übles

Der Geldtransporter

Der Abend bei Erica

Die Konsequenzen

Jeweils zu zweit

Tag 6, Anstrengende Stunden

Start in den Tag

Besorgungen

Diabetesuntersuchung

Laptop

Der Abend

Tag 7

Vormittag

Arbeitstreffen

Zusammenarbeit

Tag 8, Der Vorstand und mehr

Vorstand

Aufklärung

Alessandro Hariri

Tag 9, Rückblick

Tag 10, Flughafen

Tag 30, Köpfe rollen

Jahr 2, Londrina

Jahr 4, Das Team

Familie Ostermann

Kindliche Entwicklung

Besuch am Mittwoch

Brasilien, olé

Publikationsliste

Vorwort

Gesammelt habe ich die Spamtexte in den beiden Jahren 2017 und 2018. Heute ist der Spam leider deutlich langweiliger.

Spamtexte bieten viel, wenn man einmal darüber nachdenkt. Was mache ich, wenn ich Spam sammle? Ich schreibe eine Geschichte dazu und die Namen der Protagonisten stammen ausnahmslos aus Spam-Mails. Auch Werbeangebote im Text sind Wort für Wort aus Spam-Mails entnommen, auch wenn ich nichts davon als Zitat gekennzeichnet habe. Die Spam-Verfasser mögen mir das verzeihen. :-)

Geschrieben habe ich das Buch Ende 2018 / Anfang 2019. Dann schoben sich plötzlich andere Projekte in den Vordergrund.

Viel Spaß beim Lesen

Tag 1

Werbemails

Fred Hoffmann kam als Erster. Er sah sich in dem Raum um: acht Stühle, eine Garderobe, ein kleines Fenster zum Hof. Dennoch war es hell, weil mindestens vier lange Neonröhren unter der Decke hingen. Die Stühle waren mit schwarzem Kunstleder bezogen, die Stuhlbeine verchromt. Fred schaute auf die Uhr: Viertel vor zehn, er war wie immer etwas zu früh. Er hing seine Jacke an einen Haken und setzte sich auf einen Stuhl an der Seite des Raums. Wie es seine Gewohnheit war, vermied er es, zwischen Fenster und Tür zu sitzen, denn dann war Durchzug unvermeidbar. Er wollte nicht schon wieder eine Erkältung riskieren. Auf dem schwarzen Tisch, ebenfalls mit Chrombeinen, lagen ordentlich aufgereiht Namensschilder. Er suchte seinen Namen heraus und heftete sich das Schild mit einer Klammer an sein Hemd.

Wenige Minuten später kamen ein Mann und eine Frau in den Raum. Sie nickten Fred zu: „Guten Tag“. So, wie sie sich verhielten, schienen sie dennoch nicht zusammenzugehören. Der Mann war schätzungsweise Mitte vierzig, untersetzt, sein Haupthaar war zu einem Kranz am Hinterkopf zusammengeschrumpft. Er trug ein dickes Jackett aus Wollmaterial, das zu warm für diese Jahreszeit war. Er sah die Schilder auf dem Tisch und griff zu Karl Gerke. Er nahm gegenüber von Fred Platz. Die Frau hatte mittlerweile ihren Regenmantel an die Garderobe gehängt. Sie war groß für eine Frau, etwa ein Meter fünfundachtzig, knochig. Ihr Gesichtsausdruck ließ auf ein hartes Leben oder Unzufriedenheit schließen. Ihre blondierten Haare erreichten das Kinn, wo sie sich leicht nach innen drehten. Eine typische Frisur für eine Endvierzigerin, war Fred überzeugt. Ihre Augen lagen klein und tief hinter einer dicken Brille. Sie ging zum Tisch und griff das Schild mit dem Namen Erica Feist. Fred lächelte sie ermunternd an, aber sie reagierte nicht. Die Zahl der Namensschilder verriet, dass sechs Personen eingeladen worden waren. Die drei anderen trafen ebenfalls pünktlich ein: Niklas Ostermann, Ende zwanzig, für sein Alter recht picklig und mit einem Spitzbart, lässig gekleidet. Seine welligen Haare erreichten sein dunkelblaues Sweatshirt, wo sie einen leichten Schuppenregen hinterlassen hatten. Werner Kesselmann war der Älteste von allen, schätzungsweise so um die sechzig. Er war klein und rundlich, seine braunen Augen lachten genauso wie sein kleiner runder Mund. Er nickte fröhlich in die Runde, steckte sich sein Schild an den Kragen seiner froschgrünen Sweatstoffjacke, die in Kontrast zu seiner grauen Stoffhose stand. Yvette Strauch war im gleichen Alter wie Niklas, vielleicht ein wenig jünger. Sie war eine üppige Brünette, ihr pinkes T-Shirt gab Einblick in ihr Dekolleté, die blassblaue Jeansjacke stand offen und würde sich garantiert nie über ihrem Busen schließen lassen. Ihre Haare hingen glatt bis über die Schultern, ihre Wimpern waren genauso wenig echt wie ihre Fingernägel, die in ihrem grellen Rosaton das Pink ihres Tops ergänzten.

Die Uhr über der Tür war groß, schlicht mit weißem Hintergrund und klaren schwarzen Ziffern, die roten Zeiger bewegten sich geräuschlos. Die sechs Personen musterten sich gegenseitig unauffällig.

Werner ergriff das Wort: „Warten wir alle auf dieselbe Person?“ Fred antworte ihm: „Keine Ahnung, ich wurde von einer Frau Mandy Kurz eingeladen“. Die anderen nickten und bestätigten das, ja, sie waren alle von Frau Kurz für zehn Uhr herbestellt worden.

„Geht es bei Ihnen auch um berufliches Fortkommen?“, fragte Niklas in die Runde. Alle nickten. Zögerlich begannen sie, sich miteinander zu unterhalten. Das Gespräch stockte immer wieder, wie man das unter Fremden häufig beobachtet.

Pünktlich um zehn Uhr öffnete sich die Tür, eine schlanke Mittdreißigerin, die dunklen Haare straff am Hinterkopf zusammengefasst, kam herein. Sie trug einen knielangen schmalen schwarzen Rock und eine weiße Bluse mit welligem Kragen. Sie war sorgfältig geschminkt, ihre Fingernägel waren gepflegt und rot lackiert. In der Hand hielt sie eine Mappe. Sie lächelte in die Runde.

„Guten Tag, meine Damen und Herren. Mein Name ist Mandy Kurz, ich bin die Leiterin dieser Arbeitsvermittlung und würde gern mit Ihnen allen über Ihre Zukunft sprechen. Bitte folgen Sie mir.“

Die sechs Wartenden sahen sich an, zogen die Augenbrauen hoch oder zuckten mit der Schulter und folgten Mandy. Sie hätten statt ihrer schlanken Figur auch dem dezenten Rosengeruch folgen können, der offenbar von Mandy ausging.

Sie gingen den Flur entlang, bis zum Ende des Ganges, wo eine Tür aufstand. Mandy betrat den Raum, die Besucher folgten ihr. Der Raum war luftig mit einer großen Fensterfläche im Hintergrund. Davor stand ein schlichter runder Tisch mit einem Durchmesser von ungefähr einem Meter zwanzig. Um den Tisch waren sieben Stühle aufgestellt, sechs mit schwarzem Bezug und silbernen Stuhlbeinen, ähnlich wie im Warteraum. Der siebte Stuhl hatte das gleiche Design, war aber mit tiefrotem Kunstleder bezogen. Mandy setzte sich auf den roten Stuhl und lud ihre Besucher mit einer Handbewegung ein, sich hinzusetzen.

Mandy lächelte in die Runde. „Vielen Dank, dass Sie heute gekommen sind. Sie können mich gern Mandy nennen. Damit Sie sich gegenseitig kennenlernen können, stelle ich Sie kurz vor.“ Sie dreht ihren Kopf in Freds Richtung: „Hallo Fred, hallo Werner, Sie preisen Hochregale an, nicht wahr?“ Die beiden Angesprochenen nickten. „Karl und Erica sind zuständig für Werkzeugwagen, Niklas für Werkzeugkästen, Yvette versüßt den Herren ihre Freizeit.“

Die vier Männer und zwei Frauen starrten Mandy erwartungsvoll an. „Bitte bedienen Sie sich doch!“ Dabei zeigte sie auf ein Rondell in der Mitte des Tisches, in dem kleine Saftflaschen standen. Daneben waren sechs Gläser aufgereiht. Niklas griff zu einer Flasche Kirschsaft, drehte den Verschluss, bis es knackte, und goss sich den Inhalt der Flasche in eines der Gläser. Die anderen warteten noch.

„Unser Gespräch wird auf Video aufgenommen.“, Mandy blickte hoch zu der dekorativen Deckenleuchte, an der alle jetzt die Kamera entdeckten. „Das ist zu rein wissenschaftlichen Zwecken, und ich hoffe, Sie haben nichts dagegen?“ Die Besucher sahen sich an, waren offensichtlich unschlüssig. Werner antwortete als Erster: „Nee, das ist schon okay“. Da nickten die anderen ebenfalls.

„Sie wissen, dass Sie alle nicht existieren?“

Erica stutzte. „Wollen Sie uns veräppeln, was meinen Sie? Ist das jetzt so ein Psychospiel?“ – „Nein, das ist kein Spiel. Ich möchte nur sichergehen, dass Sie wissen, dass Sie nicht wirklich existieren.“

Die sechs sahen sich unsicher an, dann lachte Yvette laut. „Ach ja, ich existiere nicht? Dann möchte ich wissen, warum Fred und Werner ständig versuchen, mir in den nicht existenten Ausschnitt zu schielen. Das ist lächerlich, Mandy!“ Die anderen nickten, ein Gemurmel füllte den Raum. Mandy saß gelassen da und beobachtete sie. Niklas war verunsichert, er schob den Arm seines Poloshirts hoch und kniff sich in den Arm.

„Da sehen Sie es, ich kann mich kneifen und es tut mir weh!“ Die anderen kniffen sich ebenfalls und reagierten mit verärgerten Bemerkungen. „Was soll das jetzt?“ – „Wer sich kneift, träumt nicht und ist real!“

Mandy füllte etwas Orangensaft in ein Glas, stellte die Flasche vorsichtig auf einen Glasuntersetzer und nahm einen kleinen Schluck. „Bitte schauen Sie einmal auf den Bildschirm am Ende des Raums.“

Die Besucher drehten die Köpfe, ein leises Surren war das einzige Geräusch, das die Freigabe eines wandfüllenden Bildschirms begleitete. Zu sehen war ein E-Mail-Programm mit den üblichen Ordnern: Eingang, Ausgang, Gelöscht, Versendet, Spam. Mandy nahm einen Laserpointer, der zuvor in der Mappe gesteckt hatte, und klickte auf den Spamordner. Sie öffnete verschiedene E-Mails mit Werbung für Hochregale, Werkzeugkästen, Werkzeugwagen und heiße Nächte. Die Mails waren jeweils mit dem Namen einer der anwesenden Personen unterzeichnet. Die Besucher verstummten. Yvette zog ein Kaugummi aus der Tasche ihrer Jeansjacke, packte es gedankenverloren aus und steckte es in den Mund. Werners heiterer Gesichtsausdruck war einer eher abweisenden Haltung gewichen. „Was wollen Sie uns eigentlich sagen, Frau Kurz?“ – „Wir waren doch beim Vornamen, lieber Werner!“ – „Jetzt nicht mehr“, brummelte Werner. „Bei solchen Unterstellungen ist mir der Vorname zu nah!“

„Wie Sie wollen, Herr Kesselmann. Wie ist das mit den anderen Damen und Herren?“ Die anderen nickten, Karl ergriff das Wort: „Ich glaube, im Namen aller sprechen zu können, wenn ich darauf bestehe, dass Sie uns förmlicher ansprechen.“

Mandy zuckte die Schultern. „Sie sind die erste Gruppe, das muss ich doch einmal sagen, die den Tatsachen einfach nicht ins Auge sehen will.“ – „Welchen Tatsachen, Frau Kurz?“, ereiferte sich Fred. „Sie stellen hier die lächerlichsten Behauptungen auf. Ich denke doch auch, das ist ein Psychospiel, warum sonst sollten Sie unser Verhalten filmen? Wir sind doch nicht blöde!“ Die anderen fünf raunten Zustimmung.

„Sorry, aber Sie sind allesamt nur Geister, Spamgeister, keine echten Menschen.“ – „So ein Quatsch“, Yvette öffnete ihre große Handtasche und suchte nach etwas. „Schauen Sie doch hier in meinen Taschenspiegel, ich kann mich darin sehen, Geister sehen sich nicht in Spiegeln!“

Mandy lächelte mitleidig. „Das sind Geister von Gestern. Die alten Geschichten, die Sie da wohl gelesen haben, Frau Strauch, sind lange passé. Heute gibt es bessere Methoden, die mittels fluoreszierender Strahlen Menschen von Geistern und Gespenstern unterscheiden.“

Karl stand auf, seine Unterlippe zitterte: „Selbst wenn das so wäre: Was haben Sie oder Ihre Wissenschaftler davon, wenn Sie uns jetzt zu Geistern machen, uns die Lebensfreude verderben?“

Mandy setzte an: „Die involvierten Forscher ...“

Yvette unterbrach sie: „Können Sie vielleicht normales Deutsch reden? Involviert, was für ein hochtrabender Quatsch.“

Mandy bemühte sich um Contenance. „Entschuldigen Sie, ich hatte nicht darüber nachgedacht, dass Sie unterschiedliche Ausbildungsniveaus mitbringen.“ – „Ha!“, warf Niklas ein, „Auch noch unverschämt werden! Und wie bitte soll ein Gespenst oder Geist denn eine Ausbildung durchlaufen, Sie widersprechen sich selbst.“ – „Ach, bedauerlich, Sie wollen einfach nicht akzeptieren, was jedermann sehen kann. Sie haben ein geträumtes Leben, das ist bei Geistern so. Ja, und Sie sind Geister, Spam-Geister.“

Erica, die vorn auf der Kante gesessen hatte, warf sich in den Stuhl zurück: „Ich glaub’s einfach nicht, nein, das ist Quatsch. Beweisen Sie doch den Unsinn.“ Sie drehte ihren Kopf zu der Videokamera: „Das Spiel ist jetzt zu Ende, ich steige aus.“ Mandy war plötzlich wieder ganz gelassen und lehnte sich gegen das rote Polster der Rückenlehne ihres Stuhls.

„Bevor ich Ihnen den Beweis bringe, möchte ich Ihnen auch noch mitteilen, was neben der Wissenschaft der Zweck der Einladung ist. Die Firmen, die Sie beschäftigt haben, finden, dass Ihre Bezahlung dafür, dass Sie nur Geister sind und dementsprechend viel weniger Bedürfnisse haben, einfach zu hoch. Geister werden in der Regel überhaupt nicht bezahlt,“ und zu Werner gewandt, der gerade etwas sagen wollte: „Und eine Geistergewerkschaft gibt es nicht. Also, wir sind jetzt auch schon am Ende des Gesprächs, da Sie sich so sperren. Wenn Sie bitte freundlicherweise die neuen Verträge unterschreiben“, dabei holte sie sechs Blätter aus der Mappe, die sie nebeneinander auf den Tisch legte. Dazu einen Kugelschreiber. Die Besucher waren einhellig empört.

„Wenn Sie diesen Vertrag nicht unterschreiben, werden Sie eben gar nicht mehr bezahlt.“ Mandys Stimme war hart im Raum wie ein Diamantmesser, das Glas schneidet.

Fred sprang auf, „Kommt Leute, das lassen wir uns nicht länger bieten. Das ist doch wohl das Letzte. Dass der Typ, für den ich arbeite, mies bezahlt, weiß ich längst. Aber das ist nun wirklich die Höhe!“ Die anderen waren noch unschlüssig und starrten auf die neuen Verträge. Fred nahm seine Jacke, die er über die Stuhllehne geworfen hatte, und strebte dem Ausgang zu. Karl, Niklas, Werner, Erica und Yvette sahen ihm nach. Sie beobachteten, wie er die Klinke in die Hand nehmen wollte. Seine Hand glitt durch die Klinke, durch die Tür. Aus Freds Gesicht war jede Farbe gewichen, er drehte sich zu seinen Kollegen um. „Nein!“, schrie er mit heiserer Stimme, bevor er zu Boden sank.

Fred Hoffmann

Fred wusste nicht, wie lange er so gelegen hatte. Als er wieder zu sich kam, war der Raum leer. Nicht nur, dass seine fünf Kollegen und die Verkaufsleiterin Mandy Kurz verschwunden waren, es gab kein Mobiliar, keinen Schreibtisch, keine Sessel. War er tot? Er kniff sich in den Arm, es schmerzte. Aber da fiel ihm wieder ein, dass er vorher geglaubt hatte, er sei ein Mensch, kein Geist, und diese Yvette den Kneiftest für den Beweis ihres Menschseins gehalten hatte. Und dann war das mit der Tür passiert. Meine Güte, was für eine schreckliche Erfahrung! Zu sehen, wie die eigene Hand durch Wände gleitet. Wo er davon überzeugt war, er sei so ein bodenständiger Typ. Er setzte sich auf, ihm war noch ein wenig schwindelig. Er sah auf seine Uhr: fünfzehn Uhr siebenunddreißig. Das heißt, er hatte mindestens fünf Stunden hier gelegen, niemand hatte sich um ihn gekümmert. Er schaute nach oben, die kleine Videokamera blinkte weiterhin in regelmäßigen Abständen. Aha, sie nahmen ihn weiter auf. Er schnaubte vor Wut. Unglaublich! Warum rissen diese Menschen ihn aus seinem Leben? Mag sein, er war vorher ein Geist. Aber ohne das zu wissen, war sein Dasein glatt gelaufen. Er hatte bis zu diesem Tag nie durch Wände gefasst und als er mal mit der Faust vor die Tür einer Ex-Freundin geschlagen hatte, war der Schmerz auf den Fingern total echt.

Er atmete tief durch. Langsam stand er auf. Er fühlte sich noch ein wenig wackelig. Mit vorsichtigen Schritten bewegte er sich zur Tür. Wahrhaftig, sie war für ihn immer noch wie nicht vorhanden. Er schaute zur Kamera. War das gar keine Kamera, sondern eine kleine Maschine, die ein Hologramm erzeugte, nämlich diese Tür? Dann wäre das alles nur ein hinterlistiger Trick, um ihn und die anderen fünf im Preis zu drücken, als Figuren in einem Experiment einzusetzen oder was es da sonst noch für Möglichkeiten gab. Was für eine miese Tour wäre das denn! Sein Magen knurrte. Mussten Geister essen, hatten sie Hunger und wie konnten sie Essen anpacken, wenn sie Dinge mit ihren Händen durchdrangen? Nein, das musste alles ein Trick gewesen sein.

Er drehte sich wieder zur Kamera um und hielt ihr den Stinkefinger entgegen. Jaja, den alten Fred führte man nicht auf Dauer hinters Licht.

Durch eine Tür zu gehen, ist ein verrücktes Erlebnis, auch wenn man weiß, es ist nur ein Hologramm. Wie war das denn gewesen, als er das Gebäude betreten hatte? Er wanderte in seinem Gedächtnis zurück: alles völlig normal. Er versuchte sich an der Wand, erst einmal griff er behutsam darauf zu. Sie benahm sich hologrammmäßig. Auch gut. Mit gleicher Vorsicht schritt er durch. Dreimal hin und zurück, er kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Was für eine Technik war das denn, die solche riesigen Hologramme erzeugen konnte?

Er fand den Weg zurück ins Wartezimmer, seine Jacke hing an der Garderobe, wo er sie hingehängt hatte. Absichtlich nahm er den Weg durch die Wand, kein Problem. Würde er seine Jacke noch greifen können? Seine Logik war zwiespältig, eigentlich müsste die Jacke im wahrsten Sinne des Wortes nicht anfassbar sein. Andererseits trug er auch noch seine Hose, das Hemd, die Schuhe. Er atmete dreimal tief durch. Sein Herz raste. Zentimeter um Zentimeter schob er seine Hand vorwärts, er streckte den Zeigefinger weit nach vorn. Der Kontakt mit dem Stoff fand statt! Das war der Beweis dafür, dass hier Hologramme eingerichtet worden waren.

Tisch und Sessel standen unverändert an ihrem Platz, er fasste die Sitzfläche an. Kein Problem. Er setzte sich langsam auf einen Sessel, auch das funktionierte. Hatten sie – wer immer das war – das Hologramm abgeschaltet? Dann, so sagte ihm sein Verstand, würde die Wand jetzt wieder hart und undurchdringlich sein. Er lächelte erleichtert, als er den Kontakt spürte. Nein, so ließ er sich nicht veräppeln.

Er überlegte, was der Sinn des Ganzen war. Steckte dahinter eine unbekannte Bundesbehörde, die auf diese Weise einen Kampf gegen Spammails führte? Wobei er beleidigt war, wenn man ihm unterstellen sollte, er würde solche E-Mails mit seinem Namen unterzeichnen. Es waren nun mal gute Angebote, für die er gern mit seiner Person einstand. Fred bedauerte, dass er keine Möglichkeit hatte, die anderen fünf zu kontaktieren. Man könnte Informationen austauschen, diesen Tricksern das Handwerk legen. Erst einmal aber hatte er das Bedürfnis, etwas zu essen, er fühlte sich immer noch schwach. Er zog seine Jacke über, schloss die Tür hinter sich ab und lief die Treppe hinunter. Es gab einen Aufzug, aber davor hatte er dann doch ein wenig Angst. Wäre der ein Hologramm, würde er durch den Kabinenboden abstürzen. Vielleicht wären das nur zehn Zentimeter, vielleicht aber auch mehrere Meter. Da war die Treppe die bessere Wahl.

Er trat vor das Gebäude. Das Licht war grell hinter hellen Wolken, die Sonne verdeckt. Er blinzelte. In diesem Teil der Stadt kannte er sich nicht wirklich aus. Er war mit der Straßenbahn gekommen. Schräg gegenüber stand eine Döner-Bude, die einen ungepflegten Eindruck auf ihn machte. Nein, er musste seinen Hunger aushalten bis in die Innenstadt. Er nahm die nächste Bahn, nachdem er den Fahrplan studiert hatte. Am Bahnhof stieg er aus und steuerte direkt die Bahnhofshalle mit ihren vielen Kiosken und Geschäften an. Auch hier gab es eine Döner-Bude, die im Gegensatz zu der vorigen einen hygienischen Eindruck hinterließ. Er hatte hier schon ein paar Mal eingekauft, das Personal war freundlich, das Essen schmeckte. Und Fleisch gibt Kraft, das ist doch Allgemeinwissen. Er bestellte seinen Lieblingsdöner und griff in die hintere Hosentasche, wo sein Portemonnaie steckte. Halt, da war noch etwas, ein kleines Stück Karton? Er zog beide aus der Tasche und sah, dass es sich bei dem unbekannten Stück Karton um eine Visitenkarte handelte. Der Döner-Verkäufer wartete ungeduldig, denn andere Kunden bildeten bereits eine Schlange. „Tschuldigung“, murmelte Fred und fischte einen Fünf-Euro-Schein aus dem flachen Scheinfach. Er schob ihn über die Theke: „Stimmt so“. Während er durch die Bahnhofshalle schlich, biss er herzhaft in die gefüllte Teigtasche. Sofort fühlte er, wie neue Lebenskraft in ihn strömte. Ja, er war sich dessen bewusst, dass es etwas großspurig klang für ein simples „Hunger stillen“, aber so pflegte er später immer den Verzehr des Döners zu beschreiben.

Er hatte die Serviette locker in seine rechte Jackentasche gesteckt, nahm sie und wischte sich die Finger ab. Dann griff er in die Hosentasche und zog die Visitenkarte heraus. Sie war weißgrundig, so ein billiges Ding, das man im Internet zu 500 Stück fast für denselben Preis bekommt wie 250 Stück. Auf der Vorderseite stand, mittig gesetzt:

Werkzeugwagen Geniale Werkzeugwagen für die totale Ordnung Rufen Sie uns an! Karl Gehrke

Darunter war eine Mobilfunknummer angegeben. Was sollte er damit? Anrufen? Wäre vielleicht keine üble Idee, wenigstens einen von den anderen zu kontaktieren. Er drehte die Karte herum. Mit blauem Kugelschreiber hatte jemand, vermutlich Karl, notiert: „Lieber Kollege, wir sind alle verblüfft und geschockt. Wir treffen uns um 17.15 Uhr vor der Dönerbude gegenüber von dem Gebäude. Kommen Sie auch? Rufen Sie mich doch an!“ Fred schaute auf seine Armbanduhr, Mist, es war bereits 17.45 Uhr. Zu gern hätte er mit den anderen gesprochen und ihre neuesten Erfahrungen ausgetauscht. Er wählte die angegebene Nummer, Mailbox. Blöde. Er wiederholte den Anruf, er hatte sich einen Text überlegt: „Hallo Karl, ich habe deine Botschaft zu spät gelesen, wäre gern gekommen, wie können wir uns treffen?“

Wenige Minuten später klingelte sein Handy. Er erkannte Karls Nummer, im Hintergrund hörte er Stimmengewirr und türkische Musik. „Ja, bitte?“ – „Wir sind noch hier und warten gern auf dich. Wann kannst du hier sein?“ – „In zwanzig Minuten, ist das okay?“ – „Perfekt, in dem Schuppen kann man auch sitzen, wir warten auf dich.“

Fred schloss, dass die anderen fünf zum Du übergegangen waren. Bestens. Die nächste Straßenbahn, die ihn wieder zurückbringen sollte, ließ nicht lange auf sich warten.

Niklas Ostermann

Als Fred umgefallen war, blieb die Gruppe zehn Schrecksekunden lang reglos sitzen. Niklas sprang schließlich vom Sessel auf und wollte sich um Fred kümmern. „Lassen Sie ihn liegen, ein Geist braucht keine erste Hilfe“, Mandy lächelte süffisant. Niklas kümmerte sich nicht darum und vergewisserte sich, dass Fred zumindest atmete. Er wandte sich zu den anderen: „Wir müssen einen Notarzt anrufen!“ Mandy lehnte sich gelangweilt in ihrem Sessel zurück. „Lassen Sie das doch bitte. Ich sage Ihnen, der Mann ist völlig in Ordnung.“ Niklas zog sein Handy aus der Tasche, kein Empfang, so ein Mist, dieses Netz war dermaßen unzuverlässig! Die anderen bemühten sich, aber die Handys waren allesamt tot.

„Nun setzen Sie sich doch bitte hin!“ Mandys Stimme war scharf, sie duldete keinen Widerspruch. Niklas kniete unschlüssig an Freds Seite, die anderen sackten auf ihren Sitzen zurück. „Bitte, Herr Ostermann, Sie auch!“

Niklas stand auf und setzte sich auf seinen Besucherstuhl. Ihm war leicht übel von der Aufregung, das vertrug er nicht so gut, denn er war ein ausgesprochen harmoniebedürftiger Mensch.

„Sie können sich gern alle an der Tür oder Wand vergewissern, dass Sie Geister sind.“ Yvette stand trotzig auf, ging an die Tür – ihre Hand glitt wie durch ein Nichts. Der Schock war nicht so groß wie bei Fred. Aber ein wenig blasser um die Nase wurde sie schon.

„Ihre Bezahlung, ich deutete das bereits an, ist eindeutig zu hoch. Wir als Ihre Auftraggeber sind fest davon überzeugt, dass Sie als Geister, als Spamgeister, auch mit der Hälfte des Einkommens gemütlich über die Runden kämen. Ich lasse Ihnen die Verträge hier liegen. Sie können Sie auch mit nach Hause nehmen und sie uns, unterschrieben natürlich, mit der Post zukommen lassen. Herr Ostermann, Ihr Kollege auf dem Boden wird in wenigen Stunden wieder zu sich kommen. Machen Sie sich da bitte keine Sorgen. Er ist ein Geist wie Sie. Auf Wiedersehen.“

Sie stand auf, packte ihre Mappe und verließ, ohne die Gruppe eines weiteren Wortes zu würdigen, hoch erhobenen Hauptes den Raum durch die Tür.

Yvette zischelte: „Habt ihr gesehen? Sie hat die Tür am Handgriff angepackt!“

Alle probierten Türen und Wände aus, sie waren sichtbar, aber nicht zu greifen. Niklas packte seinen Sessel an, er griff hindurch. Hatte er nicht hier gerade noch gesessen? Langsam versuchte er, sich auf dem Sitz niederzulassen. Erstaunlicherweise klappte das. Die anderen hatten ihm zugesehen und probierten es jetzt ebenfalls aus. Unfassbar, sie konnten die Sessel nicht anfassen, sich aber darauf setzen. Sie testeten die wenigen Möbelstücke und Wände des Raumes aus, immer dasselbe. Niklas kniete sich wiederholt neben Fred, der regelmäßig, wenn auch schwach atmete, aber nicht ansprechbar war. „Was sollen wir tun?“ Er schaute fragend von einem zum anderen. Yvette kaute auf ihrem Gummi und hatte die Daumen in die Hosentaschen geklemmt. Karl ergriff das Wort: „Wir sind alle ziemlich überwältigt von den Ereignissen.“ Die anderen nickten zustimmend. „Wie wär’s, wir trennen uns erst einmal, um das Ganze zu verkraften. Ich finde es aber ganz wichtig, dass wir uns jetzt nicht in alle möglichen Ecken verkriechen, sondern als Gruppe zusammen diesen Vorfall und uns selbst analysieren. Wir müssen herausfinden, was das soll. Ob das wahr ist oder ob der russische Geheimdienst dahintersteht.“ Niklas bezweifelte, dass er als Werkzeugkastenverkäufer von irgendwelcher Bedeutung für Russland sein könnte, sagte jedoch nichts. Sich wieder zu treffen, hielt er aber ebenfalls für sinnvoll.

Karl merkte, dass er seine Führungsqualitäten hier einsetzen konnte oder musste. „Ich schlage als Treffpunkt die Dönerbude gegenüber vor. Könnt ihr alle so um sechzehn Uhr?“

Erica schüttelte den Kopf. „Ich habe Diabetes, ich muss regelmäßig essen. Und bei so viel Aufregung muss ich mich auch ein bisschen hinlegen. Und ganz ehrlich: Ich will das mal in meiner Wohnung überprüfen. Und mich abregen, mein Puls jagt.“

Sie einigten sich auf siebzehn Uhr vor der Dönerbude. Niklas zeigte mit dem Kopf auf Fred: „Und ihn lassen wireinfach hier zurück?“ Keiner fühlte sich bei dem Gedanken wohl. „Okay, ich mache einen Vorschlag: Wir treffen uns erst einmal in diesem Raum wieder, wenn Fred dann immer noch hier liegt und nur atmet, müssen wir doch den Notdienst alarmieren. Für den Fall, dass er vorher wach wird, hinterlassen wir ihm eine Nachricht. Hat jemand was zu schreiben dabei?“

Karl nickte: „Ich schleppe immer ein paar Visitenkarten mit mir rum, einen Stift habe ich auch dabei.“ Er zog seine Brieftasche aus der rechten Innentasche seines Jacketts, holte eine Karte hervor. Der Brusttasche seines Poloshirts entnahm er einen zusammenschiebbaren Kugelschreiber. Sie einigten sich auf den Text, Karl schrieb ihn auf die Rückseite der Visitenkarte. Dann trennten sich ihre Wege.

Niklas fuhr stracks nach Hause, es waren zwanzig Minuten mit dem Auto. Er testete alles aus: Ließ es sich anfassen oder durchfassen, welche Gegenstände konnte er berühren, welche nicht? Er bekam den Eindruck, es hing auch mit dem Zweck des Anfassens zusammen. Wenn er die Autotüre prüfte, konnte er durch sie greifen, durch den Sitz fassen. Wenn er sich aber setzen wollte, konnte er zwar durch die Tür greifen, aber auf einmal war die Sitzfläche hart. Wie eigenartig! Er achtete darauf, dass ihm niemand zuschaute. Man weiß ja nie, ob man da wegen Störung der öffentlichen Ordnung nicht verhaftet wird.

Zu Hause goss er sich Wasser aus dem Kühlschrank in ein großes Glas und trank es. „Warum muss ich als Geist überhaupt trinken? Das passt doch alles nicht.“ Zum ersten Mal in seinem Leben führte er Selbstgespräche. Er wusste nicht, was die anderen machen wollten, aber er war entschlossen, mit Informationen vor der Dönerbude zu stehen.

Er holte sich eine Packung Kartoffelchips aus dem Vorratsraum, überlegte sich das dann anders. Lecker, aber macht die Finger fettig. Geduld ist jetzt wichtig! Daher nahm er eine Scheibe Brot aus der angebrochenen Packung, legte sich drei dicke Fleischwurstscheiben darauf und aß das Brot rasch auf. Er stellte die Kaffeemaschine an und setzte sich an den Schreibtisch. Was könnte das Internet ihm sagen?

Die Suchmaschine spuckte nicht viel unter dem Keyword ‚Spamgeist‘ aus, schon gar nichts Positives. Es las Sätze wie: Heute Morgen hat mal wieder der böse Spamgeist zugeschlagen. Zum dritten Mal hat jemand versucht, seine überflüssige Bilderflut bei mir abzuladen. – Oh je, euer Gästebuch wurde offenbar vom Spamgeist überfallen. Insgesamt fand er einhundertsiebzehn Einträge, neben Gemecker gab es auch Spiele mit Spamgeistern: Ihr müsst mit ihnen Handel betreiben, euch hochleveln, um die üblen Spamgeister zu vertreiben, und kleine Münzen sammeln, um das Puzzle im Spiel zu lösen! Nach einer Viertelstunde gab er die Sucherei auf. Das brachte doch nichts. Er informierte sich über Geister im Allgemeinen. Aha, feinstoffliche Wesen waren es. Niklas konnte sich auf das Wort ‚feinstofflich‘ keinen Reim machen. Feiner ist das Gegenteil von grobem Stoff. Dass er ein feiner Mensch war, davon war er immer schon überzeugt gewesen. Aber das allein verleiht einem noch nicht die Fähigkeit, durch Wände zu greifen und gehen zu können.

Die Wissenschaft hatte die Nichtexistenz von Geistern bewiesen. Das war einerseits tröstlich, denn dann war er doch ein Mensch. Andererseits könnte es bedeuten, dass er gar nicht existierte, wenn er doch ein Geist war. Sehr kompliziert. Ein Satz bewegte ihn: „Wir müssen zugeben, dass die Fülle der Schilderungen für die Existenz von Geistern, Gespenstern, Spuk und anderen übersinnlichen Erscheinungen schlichtweg überwältigend ist.“ Er fühlte sich nun überwältigt von sich selbst. Übersinnlich, feinstofflich, und der liebe Gott wurde von einigen Seiten mit ins Gespräch gebracht. Niklas schüttelte sich, als überzeugter Atheist wollte er nichts mit Gott zu tun haben. An anderer Stelle fand er eine Aufzählung: Erdgeister, Luftgeister, Feuergeister, Elementargeister, Baumgeister, Quellgeister. Er fügte für sich noch hinzu: Quälgeister. Nein, das war alles unergiebig. Er entschloss sich, diese Seiten zu bereichern. Er nahm sich vor, die Spamgeister zu entschlüsseln und zu beschreiben. Damit könnte er an die Öffentlichkeit gehen, ein Buch schreiben, Vorträge halten. Die ollen Werkzeugkästen könnte er dann endlich beiseiteschieben. Er wusste schon gar nicht mehr, wie es dazu gekommen war, dass er Werkzeugkästen verkaufte. Er hatte nie ein praktisches Geschick oder Interesse gehabt, die Bücherwelt lockte ihn mehr. Er durchforstete sein Gedächtnis, aber die Erinnerung wollte nicht kommen. War es das, was einen Geist ausmacht, dass er sich nicht an die Vergangenheit erinnerte? Erdgeister hausen in der Erde, dachte er, Luftgeister fliegen in der Luft, Feuergeister wärmen sich im Feuer. Diese drei sind Elementargeister, weil sie die Elemente nutzen. Spam nutzte kein Element, also konnte er das schon mal ausschließen. Ein Quälgeist war er allenfalls für seine Kunden.

Er setzte sich vor seinen Laptop, öffnete eine neue Datei und drückte die Tastenkombination Alt-1, um einen Titel zu setzen. Spamgeister. Als Punkte für seine Gliederung notierte er: Definition, Aufenthaltsort, Feinstofflichkeit, Charakteristika, Fähigkeiten, Leben mit den Menschen. Damit war er zufrieden, das konnte er den anderen Fünf vorlegen, so als Diskussionsgrundlage. Es war nicht einzusehen, dass Karl Gerke allein die Führung übernahm. Bei Aktionen, bitte sehr, das wollte er ihm nicht streitig machen. Die Rolle als feinstofflicher Leitgeist war ihm aber selbst, so war er überzeugt, auf den Leib, den feinstofflichen, geschrieben. Er druckte die Gliederung sechsmal aus. Dann stellte er sich den Wecker auf sechzehn Uhr, somit hätte er eine halbe Stunde, um mit stabilem Kreislauf wach zu werden. Er wollte geistig auf der Höhe sein, wenn er seine Rechercheergebnisse vortrug.

Erica Feist

Schon beim Aufstehen hatte sie geahnt, dass dieser Tag kein guter sein würde. Es war der siebte Tag, an dem niemand Werbemittel mit Gravur bestellt hatte.

Da sie von einer geringen Provision lebte, war die Vorstellung, noch schlechter bezahlt zu werden, lächerlich bis katastrophal. Und dann diese Geistersache! Das war ein Schock. Vermutlich wäre sie selbst auch umgefallen, wenn sie als Erste die Wand getestet hätte. Sie hatte sich für den Rückweg ein Taxi genommen, eine Unterzuckerung wäre eine Katastrophe. Sie wollte einen kühlen Kopf bewahren.

Wie kann ein Geist Diabetes mellitus Typ 1 bekommen? Sie schnaubte. Der Taxifahrer drehte sich um: „Ist was? Zu heiß?“ – „Nein, nein, danke, alles in Ordnung.“

In ihrer Wohnung angekommen, nahm sie als Erstes die Insulinspritze aus dem Kühlschrank und gab sich die Injektion. Es war Zeit für einen kleinen Imbiss. Regelmäßige Mahlzeiten sind bei Diabetes vom Typ 1 besonders wichtig. Während sie eine Scheibe dünn mit Butter bestrichenes Vollkornbrot mit Quark und Radieschen aß, versuchte sie, sich an ihre Diabetes-Kurse zu erinnern. In ihrem Gehirn war ein Loch an der Stelle, wo sie sich bemühte, die Erinnerung auszugraben. Sie überlegte. Sicher hatte sie schon als Kind eine Unterweisung erhalten. Aber so angestrengt sie auch nachdachte, da blieb dieses Ungetüm von Nichtwissen. Sollte sie so jung schon an Alzheimer erkrankt sein? Mit fünfundvierzig Jahren? Das war doch zu unwahrscheinlich.

Sie nahm einen Apfel aus der Obstschale und schnitt ihn mit dem Obstmesser in Achtel. Sie aß Äpfel stets mit Schale und Kerngehäuse. Alles andere ist nicht so gesund. Halt, wo hatte sie das gelernt? Irgendwo gelesen. Oder hatte ihre Mutter ihr das beigebracht? Sie wurde unsicher. Wie sah ihre Mutter aus? Es war nicht möglich, sie konnte sich nicht daran erinnern, wie ihre Mutter aussah! Hatte sie das gestern noch gekonnt oder hatte sie sich nie Gedanken darüber gemacht? Sie atmete auf – wenigstens kein Alzheimer, denn das Langzeitgedächtnis von Demenzpatienten bleibt lange erhalten.

Sie beschloss, sich fürs erste nicht mehr mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Das war offenbar ein gefährliches Pflaster. Sie war froh, dass sie die anderen später wieder treffen würde. Ob die sich an ihre Eltern erinnerten?

Was für Vorteile hat es, ein Geist zu sein? Sie überlegte. „Wenn ich durch Wände und Türe gehen könnte, wäre die Höhe meines Einkommens unerheblich, denn eine Bank wäre nichts weiter als ein Kühlschrank für mich, auf den ich jederzeit zugreifen kann.“ Andererseits, das fiel ihr jetzt erst auf, war in ihrer Wohnung alles fest, sie hatte durch nichts hindurchgreifen können. Sie testete den Kühlschrank: Sie schob die Hand langsam in Richtung Kühlschrank, bis ihre Fingerspitzen ankamen. Und auf einer Metallfläche landeten. Als zweiten Test schlug sie mit der flachen Hand kraftvoll auf die Tür. Das Metall gab ein Geräusch von sich, es gab nicht nach.

Ob es eine Regel gäbe, wann sie durch etwas durchgreifen konnte und wann nicht? Erica liebte feste Regeln, möglicherweise weil sie, solange sie denken konnte, an Diabetes erkrankt war. Die Erkrankung gibt Regeln vor. Könnte es sein, dass das erlebte Geistergeschehen ein Fake war, ein Betrug oder eine Fata Morgana? Sie wollte sich gerade in den Arm zwicken, als ihr einfiel, dass sich das schon als unzureichende Prüfung erwiesen hatte. War es ein Traum?

Sie setzte die Brille ab und massierte ihre Schläfen mit den Fingerspitzen. Nein, Träume waren anders. Sie sprach in ihr Smartphone und befahl der Suchmaschine, nach einem anderen Phänomen zu suchen. Sie ließ sich die Antwort vorlesen: „Eine Fata Morgana oder Luftspiegelung ist ein durch Ablenkung des Lichtes an unterschiedlich warmen Luftschichten auf dem fermatschen Prinzip basierender optischer Effekt. Es handelt sich hierbei um ein physikalisches Phänomen und nicht um eine visuelle Wahrnehmungstäuschung oder optische Täuschung“. Unterschiedlich warme Luftschichten waren in diesen gemäßigten Breitengraden nicht zu erwarten. Aber da gab es ja zwei neue Begriffe: eine visuelle Wahrnehmungstäuschung oder optische Täuschung. Sie überlegte, was der Unterschied sein könnte. Sie recherchierte weiter. Eine Wahrnehmungstäuschung ist subjektiv, das hatte sie sich bereits gedacht. Die optische Täuschung hingegen ist eine Wahrnehmungstäuschung des Gesichtssinns. Aha. Jetzt war sie so klug wie vorher. Sie zog eine eigene Erklärung vor: Eine Wahrnehmungstäuschung heißt, dass ich etwas falsch wahrnehme, was von der Natur her so nicht geplant ist. Eine optische Täuschung bedingt, dass mich jemand hinters Licht führen will. Egal, ob das so stimmte oder nicht, sie war kein Lexikon und wollte keines werden. Ihr reichten diese Erklärungen:

Lexikon – das Wort löste etwas bei ihr aus. Schemenhafte Erinnerungen an eine Zeit, als sie die Encyclopedia britannica verkauft hatte. Ach ja, hatte sie? Unscharf und pulsierend waren diese Bilder. Sie musste nachforschen!

Zeit sich hinzulegen. Sie ging zu ihrem Sofa, nahm die leichte Wolldecke vom Fußende und legte sich hin. Die Decke zog sie über die Beine bis zur Hüfte. So ruhte sie nachmittags am liebsten. Sie stellte den Wecker auf vier Uhr und atmete tief, eine sichere Methode, schnell in den Nachmittagsschlaf zu gleiten. Heute funktionierte das nicht. Ihre Gedanken ließen sie nicht los. Wenn das Greifen durch die Wand eine Wahrnehmungstäuschung war, hatten Mandy und ihre möglichen Drahtzieher etwas genutzt, was per Zufall an dieser Stelle auftrat. Verwerflich, aber noch verzeihbar, lautet ihr persönliches Urteil. Wenn jedoch absichtlich eine optische Täuschung aufgebaut worden war, um sechs Menschen in ihren Grundfesten zu erschüttern, so war das kriminell. Aber war eine Verringerung ihres Einkommens Motivation genug, um sie alle psychisch in eine solche Schieflage zu bringen? Ihr war zwar bewusst, dass geldgierige Menschen zu vielem fähig sind, aber das würde in keinem Verhältnis zu ihrem Einkommen stehen. Sie rechnete es im Kopf kurz durch, selbst wenn man ihr die Provision um ein Drittel kürzte, würde diese Summe es nicht plausibel machen, dass die Auftraggeber solche grausamen Methoden anwenden. Wer so brutal ist, begeht schwerere Verbrechen.

Das öffnete ihr einen weiteren Gedankenstrang. Planten die Hintermänner etwa ein schweres Verbrechen und sie und die fünf anderen sollten nur gefügig gemacht werden? Als Selbstmordkommando? Bei dem Gedanken wurde ihr schummrig. Sie spürte ihren Insulinspiegel absinken. Rasch packte sie eine Traubenzuckertablette aus und steckte sie in den Mund. „Ruhig weiteratmen, keine Panik!“, dachte sie wiederholt, als sei es ein nützliches Mantra.

Auch wenn ihr Leben nicht einem angenehmen Traum glich, hing sie daran. Sie fand, dass sie nicht sonderlich gut aussah, ihre Klugheit ließ ebenfalls zu wünschen übrig. Dass sie jemals noch eine Familie gründen würde, mit fünfundvierzig? Das würde gynäkologische Maßnahmen erfordern, die sie ablehnte. Die Hoffnung auf einen Lebenspartner hatte sie noch nicht aufgegeben. Sie war überzeugt, dass auch sie Anrecht auf schöne Stunden und Jahre habe. Was wieder die Frage aufwarf: Was war vor dem Heute?

Es gab so viel zu besprechen mit den anderen. Sie konnte kaum abwarten. Sie dachte an Fred Hoffmann, den sie zurückgelassen hatten. Das nagte die ganze Zeit an ihrem Gewissen. Der Gedanke, dass sie ihn tot auffinden würden – einfach schrecklich. Der Mann war nicht unsympathisch.

Sie ging gedanklich die Ereignisse des Tages erneut durch. Darüber sank sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Erst der Wecker des Smartphones riss sie in die Wirklichkeit zurück. Sie schreckte hoch und musste achtgeben, dass ihr Kreislauf stabil blieb. Sie saß fünf Minuten auf dem Sofa, bevor sie aufstand. Sie ging zum Tisch, nahm ihre Brille und trank zwei Schluck Wasser aus dem Glas, das neben der Brille stand.