Wer Zwietracht sät - Ruth Rendell - E-Book

Wer Zwietracht sät E-Book

Ruth Rendell

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Beschreibung

Ganz Kingsmarkham ist in Aufruhr. Der geplante Bau einer Umgehungsstraße durch ein zauberhaftes Flusstal erregt die Bürger – und die militante Ökoszene. Während sich Dora Wexford den Protesten anschließt, wahrt ihr Mann, Chief Inspector Wexford, eher Distanz. Die Polizeiermittlungen laufen auf Hochtouren, als in einem Waldstück die Leiche einer jungen Studentin gefunden wird. Die einzige Spur führt zum Taxifahrer Stanley Trotter, dem aber nichts nachzuweisen ist. Wenig später findet jedoch ein Überfall auf die Taxizentrale statt, bei dem sämtliche Unterlagen durchwühlt werden. Wieder ist Trotter der einzige Verdächtige, und wieder fehlt jeder Beweis. Dann geschieht das Unfassbare: Fünf Personen werden gleichzeitig als vermisst gemeldet, und eine der offenbar Entführten ist Wexfords Frau …

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Buch

Ganz Kingsmarkham ist in Aufruhr. Der geplante Bau einer Umgehungsstraße durch ein zauberhaftes Flusstal erregt die Bürger – und die militante Ökoszene. Während sich Dora Wexford den Protesten anschließt, wahrt ihr Mann, Chief Inspector Wexford, eher Distanz. Die Polizeiermittlungen laufen auf Hochtouren, als in einem Waldstück die Leiche einer jungen Studentin gefunden wird. Die einzige Spur führt zum Taxifahrer Stanley Trotter, dem aber nichts nachzuweisen ist. Wenig später findet jedoch ein Überfall auf die Taxizentrale statt, bei dem sämtliche Unterlagen durchwühlt werden. Wieder ist Trotter der einzige Verdächtige, und wieder fehlt jeder Beweis. Dann geschieht das Unfassbare: Fünf Personen werden gleichzeitig als vermisst gemeldet, und eine der offenbar Entführten ist Wexfords Frau …

Autorin

Ruth Rendell wurde 1930 in South Woodford/London geboren. Zunächst arbeitete sie als Journalistin, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Romanen widmete. Dreimal bereits erhielt sie den Edgar-Allan-Poe-Preis und zweimal den Golden Dagger Award. 1997 wurde sie mit dem Grand Master Award der Crime Writer’s Association of America, dem renommiertesten Krimipreis, ausgezeichnet und darüber hinaus von Königin Elizabeth II. in den Adelsstand erhoben. Ruth Rendell, die auch unter dem Pseudonym Barbara Vine bekannt ist, lebt in London.

Die Reihenfolge der Inspector-Wexford-Romane sowie weitere Romane finden Sie hier.

Ruth Rendell

Wer Zwietracht sät

Ein Inspector-Wexford-Roman

Aus dem Englischen von Cornelia C. Walter

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen. Die Originalausgabe erschien 1997 unter dem Titel Road Rage bei Hutchinson, London.

Der Abdruck der Gedichtzeilen hier und hier erfolgte mit freundlicher Genehmigung des Verlags Klett-Cotta, aus:

Philip Larkin. Gedichte. Englisch und Deutsch. Ausgewählt und übertragen von Waltraud Mitgutsch. Copyright © 1964, 1966, 1974 by Philip Larkin. Klett-Cotta, Stuttgart, 1988.

E-Book-Ausgabe 2015

bei Blanvalet, einem Unternehmen der

Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Copyright © der Originalausgabe 1997 by Kingsmarkham Enterprises Ldt.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1998 by Blanvalet Verlag, München, in der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: Arcangel Images Paul Gooney

Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering

ISBN: 978-3-641-15146-1V002

www.blanvalet.de

Für den Polizeichef und die Beamten

der Polizei von Suffolk

Mein besonderer Dank geht an den Chefinspektor

Vince Coomber

von der Polizei von Suffolk für die wertvollen

Ratschläge und die Korrektur meiner Fehler

1

_____

Wexford ging zum letzten Mal in Framhurst Great Wood spazieren. So stellte es sich für ihn dar. Seit Jahren ging er nun schon in dem großen Wald bei Framhurst spazieren, sein ganzes Leben lang, und war auch noch gut zu Fuß, kräftig wie eh und je, und würde es auch noch lange bleiben. Nicht er würde sich verändern, sondern der Wald. Vom Wald würde kaum etwas übrigbleiben. Vom Hügelland von Savesbury Hill und Stringfield Marsh, dem Marschgebiet, würde kaum etwas übrigbleiben, und auch die Brede, der Fluss, in den der Kingsbrook bei Watersmeet mündet, wäre nicht mehr zu erkennen.

Ehe sich etwas tat, würden allerdings noch Monate vergehen. Ein halbes Jahr lang würden die Bäume noch stehen, könnte der Blick ungehindert über den Hügel schweifen, gäbe es Otter in der Brede und den seltenen Landkärtchen­Schmetterling in den Niederungen von Framhurst Deeps. Aber er, dachte er, könnte den Anblick nicht länger ertragen.

Und das wird dann das einstige England sein,

die Schatten, Wiesen und die Wege,

Rathäuser und geschnitztes Chorgestühl.

Es wird darüber Bücher geben; es wird

in Galerien weiterleben; doch was uns bleibt,

sind Autoreifen und Beton.

Er ging zwischen den Bäumen umher, den Kastanien, den mächtigen Buchen mit ihren seehundgrauen Stämmen, den Eichen, deren Äste mit grünen Flechten überzogen waren. Die Bäume lichteten sich und standen nur noch vereinzelt auf dem von Kaninchen abgefressenen Gras. Er bemerkte, dass von den Wildblumen als erste der Huflattich blühte. In seiner Jugend hatte er hier die blaue Kaiserkrone gesehen, eine einheimische Pflanze, die es nur im Umkreis von zehn Meilen um Kingsmarkham gab, aber das war schon lange her. Nach meiner Pensionierung, hatte er zu seiner Frau gesagt, will ich in London wohnen, damit ich nicht zusehen muss, wie sie die Landschaft zerstören.

Eine defätistische Haltung, meinte sie. Du solltest dafür kämpfen, dass sie erhalten bleibt. Ich habe noch nichts davon gemerkt, dass sie erhalten bleibt, wenn man dafürkämpft, hatte er erwidert. Dora war im Vorstand von KABAL, der neugegründeten Kingsmarkhamer Initiative gegen die Umgehungsstraße und die Mülldeponie. Man hatte sich bereits einmal getroffen und »We Shall Overcome«gesungen. Der Deputy Chief Constable hatte davon Wind bekommen und gemeint, hoffentlich spiele Wexford nicht mit dem Gedanken, auch einzutreten. Es würde nämlich Probleme geben, Probleme, die womöglich in Unruhen und Gewalt ausarten könnten und in die der Chief Inspector dann, zumindest am Rande, verwickelt seinkönnte.

Ein leichter Wind war aufgekommen. Wexford trat aus Framhurst Great Wood auf das offene Feld hinaus und sah zu den Bäumen hinauf, die Savesbury Hill wie ein Ring umkränzten. Von hier aus war kein einziges Dach, kein Turm, kein Silo oder Hochspannungsmast zu sehen, nur ein Vogelschwarm, der auf Cheriton Forest zusteuerte. Die geplante Straße sollte über die Grundmauern der Römischen Villa führen, durch den Lebensraum von Araschnia levana, dem Landkärtchen-Schmetterling, der auf den Britischen Inseln nur hier zu finden war, und dann über die Brede und den Kingsbrook. Falls nicht doch das Unmögliche eintraf und sie einen Tunnel dafür bauten oder Stützpfeiler errichteten. Stützpfeiler würden Araschnia und den Ottern genauso gut gefallen wie Beton, dachte er.

Kingsmarkham war nicht die einzige Stadt in England, deren Ortsrand sich allmählich über die Umgehungsstraße hinaus ausgedehnt hatte, so dass sie zu einer ganz normalen Straße geworden war. Wenn das eintraf, musste eine neue Umgehungsstraße gebaut werden, und wenn diese ebenfalls zugebaut war, vielleicht noch eine. Aber bis dahin war er längst tot.

In diese düsteren Gedanken versunken, ging er zu seinem Wagen zurück, den er im kleinen Weiler von Savesbury abgestellt hatte. Zu seinem Spaziergang fuhr er immer mit dem Wagen. Ob er bereit wäre, zum Wohle Englands auf sein Auto zu verzichten? Was für eine Frage!

So pessimistisch gelaunt, fielen ihm auf der Heimfahrt durch Framhurst und Pomfret Monachorum deshalb all die hässlichen Dinge auf, die Silos, die wie aufrechtstehende eiserne Würste aussahen, die Ställe mit den Legebatterien, wie Stromverteilerstationen, aus denen lauter Kabel sprossen, was sie wie eben gelandete Außerirdische aussehen ließ, die Bungalows mit ihren Gartenmäuerchen aus rotem Backstein und den schmiedeeisernen Gittern und Zypressenhecken. Nietzsche (oder sonst jemand) hatte einmal gesagt, keinen Geschmack zu haben sei schlimmer, als einen schlechten Geschmack zu haben, Wexford war anderer Meinung. An einem guten Tag hätte er die frisch gepflanzten, wohlausgewählten Bäume bemerkt, die neu gedeckten Reetdächer, das grasende Vieh und die paarweise paddelnden Enten, die nach Nistplätzen Ausschau hielten. Aber es war kein guter Tag, jedenfalls nicht, bis er zu Hause ankam.

Seine Frau hatte die Angewohnheit, von dort, wo sie gerade war, herauszukommen und ihn zu begrüßen, wenn etwas Schönes passiert war und sie es kaum erwarten konnte, ihm davon zu erzählen. Er bückte sich und hob eine Karte auf, die durch den Briefschlitz hereingeworfen worden war, sah hoch und bemerkte sie. Sie lächelte.

»Du errätst es nie«, sagte sie.

»Nein, also spann mich nicht auf die Folter.«

»Du wirst wieder Großvater.«

Er hängte seinen Mantel auf. Ihre gemeinsame Tochter Sylvia hatte bereits zwei Kinder, und außerdem kriselte es in ihrer Ehe. Er riskierte es, Dora die Freude zu verderben. »Ein neuer Versuch, die Ehe zu retten?«

»Es geht nicht um Sylvia, Reg, sondern um Sheila.«

Er trat auf sie zu und legte ihr die Hände auf die Schultern.

»Ich sagte ja, du errätst es nie.«

»Nein, hätte ich auch nicht. Gib mir einen Kuss.« Er umarmte sie. »Jetzt ist es doch noch ein guter Tag geworden.«

Sie verstand nicht, was er damit meinte. »Es wäre natürlich schöner, wenn sie verheiratet wäre. Es nützt auch nichts, mir jetzt zu sagen, dass jedes dritte Kind unehelich geboren wird.«

»Das hatte ich gar nicht vor«, sagte er. »Soll ich sie anrufen?«

»Sie sagte, sie sei den ganzen Tag zu Hause. Das Baby soll im September kommen. Ich muss schon sagen, sie hat sich ziemlich lang Zeit gelassen, es uns zu sagen. Gib mir die Karte, Reg. Mary Pearson hat erzählt, ihr Sohn trägt als Ferienjob diese Karten für das neue Taxiunternehmen aus, für Contemporary Cars. Er verteilt sie in allen Häusern von Kingsmarkham. In allen – stell dir das mal vor!«

»›Contemporary Cars‹? Das kann doch kein Mensch aussprechen. Brauchen wir eigentlich noch eine Taxifirma?«

»Eine gute schon. Ich jedenfalls. Du hast ja immer den Wagen. Na, geh schon. Ruf Sheila an. Hoffentlich wird es ein Mädchen.«

»Mir ist es gleich, was es wird«, meinte Wexford und fing an, die Nummer seiner Tochter zu wählen.

2

_____

Die geplante Kingsmarkhamer Umgehungsstraße sollte von der Hauptverkehrsader (einer Hauptstraße mit Autobahnstatus) nördlich von Stowerton ausgehen, östlich an Sewingbury und Myfleet vorbeiführen, über das Heideland von Framhurst Heath gehen, am Fuße des Savesbury Hill ins Tal eintreten, den Weiler Savesbury in zwei Hälften teilen, dann über Stringfield Marsh verlaufen und nördlich von Pomfret schließlich wieder auf die Hauptstraße treffen. Die Wohngebiete sollten möglichst wenig in Mitleidenschaft gezogen, Cheriton Forest ausgespart und die Überreste der Römischen Villa knapp umfahren werden.

Die erste Äußerung zum Thema, die in einer Zeitung erschien, stammte von Norman Simpson-Smith vom Britischen Rat für Archäologie. »Die Autobahnbehörde behauptet, die Straße verliefe an der Peripherie der Villa«, sagte er. »Das ist, wie wenn man behauptet, ein neuer Autobahnzubringer in London würde der Westminster Abbey nur geringen Schaden zufügen.«

Bis dahin war Protest lediglich von den Vertretern verschiedener Gruppierungen bei einer von Transport- und Umweltministerium gemeinsam durchgeführten Untersuchung vorgebracht worden. Das waren hauptsächlich Friends of the Earth, der Sussex Wildlife Trust, also die Stiftung zum Schutz der wildlebenden Flora und Fauna in Sussex, und die Königliche Vogelschutzgesellschaft. Weniger gerechnet hatte man mit der Anwesenheit des Britischen Rats für Archäologie, mit Greenpeace, dem World Wide Fund for Nature, WWF, mit KABAL und einer Organisation, die sich SPECIES nannte.

Nach Simpson-Smiths Kommentar kamen die Proteste allerdings, wie Wexford sich frei nach Shakespeare ausdrückte, wie einzelne Späher nicht, nein, in Geschwadern. Die Umweltgruppen, mit ihnen insgesamt zwei Millionen Mitglieder, schickten ihre Vertreter, die sich das Gelände ansehen sollten.

Marigold Lambourne von der Königlichen Gesellschaft der Insektenkundler vertrat die Interessen sowohl des Scharlachroten Tigerfalters als auch des Landkärtchen-Schmetterlings. »Araschnia ist, wenn auch, im Nordosten von Frankreich anzutreffen«, sagte sie, »auf den Britischen Inseln aber nur auf Framhurst Heath. Die Population wird auf etwa zweihundert Exemplare geschätzt. Wenn diese Umgehungsstraße gebaut wird, gibt es bald gar keine mehr. Wir sprechen hier nicht etwa von irgendeiner winzigen Fliege oder Bakterie, die mit bloßem Auge nicht zu sehen ist, sondern von einem prächtigen Schmetterling mit einer Flügelspannweite von fünf Zentimetern.«

Peter Tregear vom Sussex Wildlife Trust sagte: »Diese Umgehungsstraße wurde in den siebziger Jahren ausgeheckt und in den Achtzigern genehmigt, doch in der Zwischenzeit hat eine Revolution im globalen Denken stattgefunden. Das Bauprojekt ist für das ausgehende Jahrhundert absolut indiskutabel.«

Eine Frau, die zwischen zwei Plakatbrettern steckte, auf denen »Nein, Nein, Nein zur Vergewaltigung von Savesbury« aufgemalt war, tauchte auf dem Hügel auf, als die Holzfäller anrückten. Es war ein warmer Junitag, und die Sonne schien. Als sie die Plakatbretter abnahm, stellte sich heraus, dass sie darunter vollkommen nackt war. Die Holzfäller, die gejohlt und gepfiffen hätten, wenn die Frau jung oder einem von ihnen als »Strip-Telegramm« geschickt worden wäre, wandten sich ab und hantierten nur noch geschäftiger mit ihren Kettensägen herum. Der Vorarbeiter rief von seinem Mobiltelefon aus die Polizei. Und so gelangte die Frau, eine gewisse Debbie Harper, mit ihrem Foto – ihr ausladender, wohlgerundeter Körper war inzwischen in eine Uniformjacke gehüllt – in alle überregionale Zeitungen und auf die Titelseite der Sun.

Und dann kamen die Baumleute.

Vielleicht waren sie durch Debbie Harpers Foto erst auf das Geschehen aufmerksam geworden. Viele von ihnen gehörten keiner offiziell bekannten Organisation an. Es waren New-Age-Reisende, jedenfalls einige von ihnen, und falls sie in Autos und Wohnwägen angereist waren, stand keins dieser Fahrzeuge auf dem Gelände oder in unmittelbarer Nähe. Debbie Harpers Aktion hatte die Rodungsarbeiten unterbrochen, und bisher waren erst vier Silberbirken gefällt worden. Die Baumleute trieben nach genauer Berechnung der Höhe Stahlbolzen in die Stämme, damit sich das Kettensägeblatt beim Fällen einklemmte. Dann begannen sie sich in den Baumkronen der Buchen und Eichen Behausungen zu bauen, Baumhäuser aus Brettern und Planen. Man erreichte sie über Leitern, die man, sobald die Bewohner sich häuslich eingerichtet hatten, hochziehen konnte.

Es war Juni, als das erste Baumhaus-Camp in Savesbury Deeps entstand.

Debbie Harper, die mit ihrem Freund und drei Kindern im Teenageralter in der Wincanton Road in Stowerton wohnte, gab allen Zeitungen, die sie darum baten, Interviews. Sie war Mitglied von KABAL und SPECIES, Greenpeace und Friends of the Earth, aber dafür interessierten sich ihre Interviewpartner nicht besonders. Sie hatten es darauf abgesehen, dass sie eine Heidin mit großem H war, die die alten keltischen Feiertage beging und Gottheiten mit Namen wie Ceridwen und Nudd huldigte und mit nur drei Blättern bekleidet für Today posierte – nicht mit Feigenblättern, sondern mit den für einen englischen Sommer viel passenderen Rhabarberblättern.

»Wir sind gar nicht glücklich darüber, dass sie die Bäume durchbohren«, sagte Dora nach ihrer Rückkehr von einer KABAL-Versammlung. »Dabei kann es offensichtlich passieren, dass die Motorsägen auseinandergehen und den Arbeitern die Arme zerfleischen. Ist doch ein schrecklicher Gedanke, nicht?«

»Das ist erst der Anfang«, erwiderte ihr Gatte.

»Was willst du damit sagen, Reg?«

»Erinnerst du dich an Newbury? Da mussten sie sechshundert Sicherheitskräfte holen, um die Bauunternehmer zu schützen. Und an dem Bus, der die Wachleute hinfahren sollte, hat jemand die Bremsleitung durchschnitten.«

»Hast du überhaupt schon mit jemandem gesprochen, der für die Umgehungsstraße ist?«

»Nicht direkt«, sagte Wexford.

»Bist du denn dafür?«

»Nein, das weißt du doch. Aber ich bin nicht bereit, das Autofahren aufzugeben. Ich reiße mich nicht darum, im Stau zu stehen und zu merken, wie mein Blutdruck steigt. Wie die meisten Leute will auch ich beides auf einmal haben.« Er seufzte. »Ich glaube allerdings, Mike ist dafür.«

»Ach, Mike«, sagte sie, doch es klang liebevoll.

Wexford hatte seinen guten Vorsatz gebrochen, nie wieder zum Framhurst Great Wood zu gehen. Das erste Mal wollte er sich ansehen, wie die Wildtier-Experten mitten im Wald neue Dachsbehausungen bauten (mit Rampen und Schwingklappen wie bei Katzentüren). Die Baumhäuser im zweiten Camp waren schon im Bau, was vielleicht reichte, um die Dachse in ihre neuen Behausungen zu treiben. Das zweite Mal war er dort, als die Holzfäller sich weigerten, ihr Leben dadurch aufs Spiel zu setzen, dass sie sich mit Motorsägen an Bäume wagten, deren Stämme mit Nägeln gespickt oder mit Draht umwickelt waren. Einige bereits gefällte Bäume lagen umher. Die Autobahnbehörde beantragte Räumungsbefehle gegen die Baumbewohner, doch inzwischen entstand schon ein weiteres Camp bei Elder Ditches, der Niederung mit den Holunderbüschen, und dann noch eins an Rande von Great Wood.

Wexford erklomm den Savesbury Hill – auch dies, schwor er sich, ein letztes Mal –, von wo aus die vier Camps deutlich zu sehen waren. Eins befand sich fast am Fuß des Hügels, ein anderes eine halbe Meile entfernt bei Framhurst Copses, ein drittes am bedrohten Rand des Marschgebiets und das vierte, am entferntesten gelegene eine halbe Meile vom nördlichen Ortsrand von Stowerton. Die Landschaft sah aus wie immer, außer dass sich auf einem Acker in der Nähe von Pomfret Monachorum die Erdbaumaschinen, die Bagger und Bulldozer drängten. Diese Dinger waren fast immer gelb gestrichen, überlegte er, gelb wie Vanillepudding, der zu lange im Kühlschrank gestanden hatte. Vermutlich hob sich Gelb besser gegen Grün ab als Rot oder Blau.

Auf der anderen Seite ging er wieder bergab und bereute dies sogleich, weil er plötzlich bis zu den Oberschenkeln in Brennnesseln versank. Mit ihren haarigen, spitz zulaufenden Blättern konnten sie ihn zwar nicht durch den Kleidungsstoff stechen, doch musste er die Arme in die Höhe strecken. Die Brennnesseln bedeckten eine Fläche vom Ausmaß einer kleineren Wiese, und Wexford überlegte gerade, dass die Straße, wenn sie schon irgendwo verlaufen musste, gut und gerne hier durchführen könnte, als er den Schmetterling sah.

Dass es sich um Araschnia levana handelte, wusste er sofort. In einen der zahllosen Texte, die in letzter Zeit über Savesbury und Framhurst geschrieben worden waren, hatte er gelesen, dass sich Araschnia von den Brennnesseln in Savesbury Deep ernährte. Er rückte ein wenig näher, bis er etwa einen Meter davor stand. Der orangefarbene Schmetterling hatte ein sonderbares Muster mit weißen Sprenkeln, und an der Unterseite seiner Flügel verlief gleich einem Fluss ein himmelblauer Rand. Daher der Name Landkärtchen.

Er war allein. Es gab nur zweihundert Stück davon, vielleicht nicht einmal das. In seiner Kindheit hatten die Leute Schmetterlinge, mit Netzen gefangen, sie in Gasflaschen getötet, um sie dann mit Nadeln auf Pappe aufzuspießen. Es kam ihm nun abscheulich vor. Noch vor ein paar Jahren wurden Leute, die gegen Umgehungsstraßen waren, als Spinner betrachtet, als bescheuerte Sonderlinge, als Hippies und Aussteiger, und ihre Aktivitäten mit Anarchie, Kommunismus, Umsturz und Chaos gleichgesetzt. Auch das hatte sich geändert. Konservative Bürger des Establishments leisteten ebenso entschlossen Widerstand wie der Mann, den er jetzt zwischen Segeltuchplanen durch eine Astgabel spähen sah. Jemand hatte ihm erzählt, Sir Fleance und Lady McTear seien bei einer von den Supermarktmillionären Wael und Anouk Khoori organisierten Demonstration mitmarschiert.

Wie die meisten Engländer hegte Wexford gewisse Bedenken gegen die Europäische Union, aber hier, fand er, handelte es sich um einen Fall, bei dem er nichts gegen ein striktes Veto aus Straßburg einzuwenden hätte.

Am Monatsende richtete die Britische Gesellschaft der Schmetterlingskundler einen neuen Futterplatz für Araschnia ein – eine Brennnesselplantage auf der Westseite von Pomfret Monachorum. Ein Journalist des Kingsmarkham Courier schrieb einen satirischen, aber nicht besonders witzigen Text über die Tatsache, dass man zum ersten Mal in der Geschichte des Gartenbaus Brennnesseln anpflanzte anstatt sie herauszureißen. Selbstverständlich gediehen die Nesseln von Anfang an prächtig.

Die Dachsumsiedler machten sich an eine ähnliche Umkehrung der üblichen Ordnung. Statt den Lebensraum der Tiere zu bewahren, waren sie gezwungen, ihn zu zerstören. Um einen Dachsbau, der bei weiterem Bewohnen direkt im Verlauf der neuen Umgehungsstraße gelegen hätte, zu öffnen und zu versiegeln, mussten sie zunächst dichtes Brombeergestrüpp wegschneiden. Das Gestrüpp war kräftig gewachsen, was bedeutete, dass es erst einjährig war, aus einem stark zurückgestutzten Stamm herausgesprossen, die stacheligen Ranken schwer beladen mit grünen Früchten. Sie hoben die abgeschnittenen Haufen mit behandschuhten Händen hoch und sahen etwas darunterliegen, das sie zurückschrecken ließ. Einer schrie auf, und ein anderer verzog sich unter die Bäume, um sich zu übergeben.

Bei ihrem Fund handelte es sich um die weitgehend verweste Leiche eines jungen Mädchens.

Die Polizei von Kingsmarkham hatte zwar kaum Zweifel, wer es war, gab aber keine Erklärung über die mutmaßliche Identität ab. Zeitungen und Fernsehen waren es schließlich, die sie – ohne große Zurückhaltung – als Ulrike Ranke, die vermisste deutsche Anhalterin, benannten.

Die neunzehnjährige Jurastudentin an der Bonner Universität, einzige Tochter eines Anwalts und einer Lehrerin aus Wiesbaden, war im vergangenen April nach England gereist, um Ostern im Hause eines Mädchens zu verbringen, das als Au-pair bei ihren Eltern beschäftigt gewesen war. Die Familie des Mädchens wohnte in Aylesbury, und Ulrike hatte beschlossen, auf die billige Tour zu reisen. Weshalb Sie das getan hatte, war nicht ganz klar. Ihre Eltern hatten ihr ausreichend Geld für ein Hin- und Rückflugticket nach Heathrow und für die Bahnkarte mitgegeben. Ulrike war jedoch per Anhalter quer durch Frankreich gefahren und hatte die Fähre nach Dover genommen. Soviel war bekannt.

»Ich finde das überhaupt nicht rätselhaft«, hatte Wexford damals gesagt. »Ich hätte es eher komisch gefunden, wenn sie getan hätte, was ihre Eltern sagten. Das wäre erstaunlich gewesen, das wäre mir ein Rätsel gewesen.«

»Sie sind doch wirklich ein alter Zyniker«, sagte Inspector Burden.

»Nein, gar nicht. Ich bin nur realistisch, ich mag es nicht, wenn man mich einen Zyniker nennt. Ein Zyniker ist einer, der von allem den Preis kennt und von nichts den Wert. So bin ich nicht, mir gefällt bloß diese scheinheilige Schönfärberei nicht. Wer einmal Kinder im Teenager-Alter hatte, weiß Bescheid. Meine Sheila hat ständig solche Sachen gemacht. Wozu das schöne Geld ausgeben, wenn es auch umsonst geht? Das ist deren Einstellung. Sie brauchen das Geld für Musik und für eine Stereoanlage, für schwarze Jeans und verbotene Substanzen.«

Offensichtlich hatte er recht, denn bei der Leiche des Mädchens, in der Hosentasche ihrer schwarzen Designerjeans, fanden sich fünfundzwanzig Amphetamintabletten und ein Päckchen mit gut fünfzig Gramm Haschisch. Nichts an ihr wies darauf hin, dass es sich um Ulrike Ranke handelte, und sie hatte auch kein Geld bei sich. Ihr Vater identifizierte sie. Der Mann, der sie vor zwei Monaten vergewaltigt und erdrosselt hatte, hatte den Inhalt ihrer Hosentasche nicht für wertvoll erachtet oder aber nichts damit anfangen können. Das Geld, das sie bei sich gehabt hatte, insgesamt fünfhundert Pfund in Scheinen, war weg.

Das Wäldchen von Farmhurst war noch nicht durchkämmt worden. Die Gegend rings um Kingsmarkham war überhaupt nicht abgesucht worden. Es bestand kein Grund zu der Annahme, dass Ulrike Ranke hier durchgekommen war. Kingsmarkham lag meilenweit entfernt von der Route, die sie von Dover nach London voraussichtlich genommen hatte. Aber jemand hatte ihre Leiche im Wald an einen Abhang gelegt und sie unter den rasch wuchernden Ranken der Brombeerbüsche versteckt. Nach Meinung des Pathologen und der Gerichtsmediziner war die Leiche nicht bewegt worden, Ulrike war an Ort und Stelle umgebracht worden.

Weil keine Suche stattgefunden hatte, waren auch keine Ermittlungen angestellt worden. Doch sobald die Identität des toten Mädchens bekanntgemacht worden war, rief William Dickson, der Pächter eines Pubs namens Brigadier (er nannte es Hotel), bei der Polizei an, um Auskunft zu geben. Als er Ulrike Rankes Foto im Kingsmarkham Courier gesehen hatte, erkannte er in ihr das Mädchen, das Anfang April in sein Lokal gekommen war.

Der Brigadier an der alten Umgehungsstraße von Kingsmarkham gehörte zu jenen Landgasthöfen, die Ende der dreißiger Jahre im Pseudo-Tudor-Stil erbaut worden waren. Die dicken Fachwerkbalken ließen ihn riesig wirken, tatsächlich aber war er nur ein Zimmer tief. Der dahinter liegende Parkplatz wurde von einem überdimensionalen Fertigbau überschattet, der als Tanzhalle gedacht war (Dickson nannte ihn Ballsaal). Der Parkplatz war asphaltiert, doch um das Haus herum und auf dem Hof war Kies gestreut. Sehr unangenehm beim Gehen, bemerkte Vine zu Burden, noch schlimmer als ein Strand mit spitzen, scharfen Steinchen.

»Es war kurz vor Schluss am Mittwoch, dem dritten April«, sagte Dickson, als die beiden Polizeibeamten hereinkamen.

»Warum haben Sie das denn nicht früher gesagt?« wollte Burden wissen.

Er und Detective Sergeant Vine hatten an der Theke Platz genommen. Alkohol war beiden angeboten und von beiden abgelehnt worden. Vine trank ein Mineralwasser, das er bezahlt hatte.

»Was meinen Sie mit früher?«

»Als sie vermisst gemeldet wurde. Ihr Bild war doch in allen Zeitungen. Und im Fernsehen.«

»Ich schau’ bloß Lokalfernsehen«, erwiderte Dickson. »Ich seh’ immer bloß Sport. Wenn einer im Bargeschäft ist, hat er nicht viel Freizeit. Mir bleibt kaum Zeit übrig.«

»Aber als Sie sie im Courier sahen, haben Sie sie sofort erkannt?«

»Klar, war doch ein hübsches Ding.« Dickson sah über seine Schulter, wie um sich zu vergewissern, und grinste dann.

»Flotte Motte.«

»Ach ja? Erzählen Sie uns mal vom dritten April.«

Sie war etwa um zwanzig nach zehn in die Bar gekommen, ein junges blondes Mädchen, »so angezogen, wie sie heute alle angezogen sind«, ganz in Schwarz, aber mit einer besonderen Art von Jacke. Einem Anorak oder Dufflecoat, so genau wusste er es nicht, aber jedenfalls in Braun. Sie hatte eine Schultertasche dabei, eine große, vollgestopfte Schultertasche, keinen Rucksack. Wie kam es, dass er sich nach beinahe drei Monaten noch so gut daran erinnern konnte?

»Na, ich hab’ doch ein Foto!«

»Was haben Sie?« fragte Vine.

»Es war gerade ein Frauenabend in Gang«, sagte Dickson. »Eine von den Mädels wollte am Donnerstag im Standesamt von Kingsmarkham heiraten. Sie bat meine Frau, von ihr und ihren Freundinnen am Tisch ein Foto zu machen, und gibt ihr die Kamera, und wie meine Frau das Foto macht, kommt das deutsche Mädel rein. Darum ist sie auf dem Bild mit drauf, im Hintergrund.«

»Sie haben also einen Abzug von dem Foto? Sie sagten aber doch, es war gar nicht Ihr Apparat?«

»Das Mädel – also, die Braut –, die hat uns einen Abzug geschickt. Dachte wohl, wir hätten gern einen, wo es doch im Brigadier aufgenommen war. Wenn Sie wollen, zeig’ ich’s Ihnen.«

»Und ob wir wollen«, sagte Burden.

Ulrike Ranke stand ziemlich versteckt hinter der lachenden Frauenrunde, zwar nicht in hellsten Licht, doch sie war es eindeutig. Ihr Mantel hätte braun oder grau sein können, vielleicht sogar dunkelblau, doch ihre Jeans waren unzweifelhaft schwarz. Eine Perlenkette war auf dem dunklen Stoff ihrer Bluse oder ihres Pullovers gerade noch auszumachen. Die mit Leder besetzte Leinentasche auf ihrer rechten Schulter sah übervoll und schwer aus. Sie hatte einen ängstlichen Gesichtsausdruck.

»Wie ich das Bild im Courier gesehen hab’, sag’ ich zu meiner Frau, geh, hol mal das Foto, und sobald ich das dann angeschaut habe, war es mir klar.«

»Wieso ist sie hereingekommen? Um etwas zu trinken?«

»Ich hab’ ihr gesagt, dass sie nichts mehr kriegt«, sagte Dickson tugendhaft. »Ich hatte schon Schankschluss ausgerufen. Sie wollte aber gar nichts trinken, meinte sie, bloß fragen, ob sie vielleicht mal telefonieren könnte. Hatte eine komische Art zu reden, so mit einem Akzent, konnte manche Wörter nicht richtig aussprechen, aber wir kriegen hier ja alle möglichen Leute rein.«

Burden fand es immer wieder erstaunlich, dass die Briten, die in der überwiegenden Mehrheit keine Sprache außer ihrer eigenen beherrschen, sich über ausländische Besucher mokieren, deren Englischkenntnisse nicht ganz perfekt sind. Er erkundigte sich, ob Ulrike ihren Telefonanruf getätigt hatte.

»Dazu komm’ ich gleich«, erwiderte Dickson. »Sie fragte also, ob sie mal das Telefon benutzen könnte – nannte es ›Fernsprechapparat‹, den Ausdruck hab’ ich schon lang nicht mehr gehört –, und sagte, sie wollte ein Taxi. Eine Taxifirma wollte sie anrufen, und ob ich eine wüsste. Na klar, wir kriegen hier draußen oft Anfragen wegen Taxis. Ich sagte ihr, neben dem Telefon steht eine Nummer, bei uns steckt nämlich an dem Brett beim Telefon eine Firmenkarte. Sie müsste aber das Münztelefon benutzen, sagte ich, vom Büro aus wollte ich sie nicht telefonieren lassen.«

»Und, hat sie das gemacht?«

»Klar doch. Dann kam sie wieder rein. Die Gäste waren inzwischen alle gegangen, und meine Frau und ich haben aufgeräumt. Dann fing sie damit an, dass sie per Anhalter mit einem Lastwagen von Dover hergefahren war. Der Fahrer hätte gesagt, er würde sie so weit mitnehmen, wie er fuhr, und hat sie hier abgesetzt, weil er über Nacht auf einem Rastplatz geparkt hat. Ich sag’ noch zu meiner Frau, die hatte ja Glück, dass er sie tatsächlich abgesetzt hat, so ein attraktives junges Ding, wie die war.

»Sie hatte kein Glück«, bemerkte Burden.

Dickson hob verdutzt den Kopf.« Nein, äh, Sie wissen schon, was ich meine.«

»Sie hat also ein Taxi bestellt? Wissen Sie, bei wem?«

»Bei Contemporary Cars. Die Karte neben dem Telefon war von ihnen. Dort hing auch noch ein Zettel mit ein paar anderen Nummern, aber das war die einzige Firmenkarte.«

»Und ist das Taxi gekommen?«

Zum ersten Mal sah Dickson alles andere als stolz auf sich aus; das Bild von Rechtschaffenheit und ernsthafter Integrität verrutschte ein wenig. »So genau weiß ich es nicht. Sie meinte, die hätten gesagt, in einer Viertelstunde, Stan käme in einer Viertelstunde, und als ich etwa eine halbe Stunde später nach oben ins Bett ging und aus dem Fenster sah, war sie weg, also dachte ich mir, er wird schon gekommen sein.«

»Wollen Sie damit sagen?« fragte Burden, »sie hat nicht hier im Lokal auf ihn gewartet? Sie haben sie zum Warten nach draußen geschickt?«

»Hören Sie mal, das hier ist ein Hotel und keine Jugendherberge … «

»Es ist ein Gasthaus«, erwiderte Vine.

»Hören Sie, meine Frau war schon ins Bett gegangen, die hatte einen harten Tag hinter sich, und ich hab’ noch aufgeräumt. Wir hatten einen Wahnsinnstag hinter uns. Draußen war es gar nicht so kalt. Und geregnet hat es auch nicht.«

»Sie war neunzehn Jahre alt«, sagte Burden. »Ein junges Mädchen, eine ausländische Besucherin. Sie haben sie zum Warten hinausgeschickt in die Dunkelheit, um elf Uhr nachts.«

Dickson drehte ihm den Rücken zu. »Das werd’ ich mir schwer überlegen«, brummte er, »ob ich euch noch mal mit Auskünften anrufe.«

Am selben Tag wurde Stanley Trotter, Fahrer bei Contemporary Cars und neben Peter Samuels Geschäftsführer der Firma, nach mehrstündiger Vernehmung wegen Mordes an Ulrike Ranke festgenommen.

3

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Sheila Wexford wollte ihr Baby zu Haus bekommen. Hausgeburten seien in Mode, und Sheila, meinte ihr Vater mit einer gewissen säuerlichen Zärtlichkeit, habe schon immer den neuesten Moden angehangen. Er hätte es lieber gesehen, wenn sie sich etwa vier Wochen vor dem Entbindungstermin in der besten Frauenklinik der Welt einquartiert hätte, egal, wo sich diese befand. Wenn die Wehen einsetzten, hätte er am liebsten den landesweit besten Geburtshelfer nebst einer Reihe fürsorglicher medizinischer Assistenten und einem Schwarm Hebammen mit hervorragenden Abschlussexamen dabeigehabt. Gleich nach der ersten Kontraktion wäre eine Epiduralanästhesie zu verabreichen und – falls die Wehen länger als eine halbe Stunde anhalten sollten – ein Kaiserschnitt zu machen, möglichst in Schlüssellochgröße.

So jedenfalls, meinte Dora, hätte er es am liebsten.

»Unsinn«, erwiderte Wexford. »Mir behagt bloß die Vorstellung nicht, dass sie es zu Hause bekommt.«

»Sie wird das tun, was sie will. Wie immer.«

»Sheila ist keine Egoistin«, meinte Sheilas Vater.

»Das habe ich auch nicht behauptet. Ich habe nur gesagt, dass sie tut, was sie will.«

Wexford ließ sich den Widerspruch zwischen diesen Begriffen durch den Kopf gehen. »Du fährst doch hin, um ihr beizustehen, oder?«

»Daran hatte ich eigentlich nicht gedacht. Ich bin ja keine Hebamme. Wenn das Baby da ist, fahre ich bestimmt hin.«

»Ist doch komisch, nicht?« sinnierte Wexford. »Da sind wir nun so weit mit sexueller Aufklärung und der Gleichberechtigung gekommen und haben die alten Etiketten und Schlagwörter abgelegt. Männer sind ganz selbstverständlich bei der Geburt ihrer Kinder dabei, und Frauen stillen in aller Öffentlichkeit. Frauen sprechen ganz offen über alle möglichen gynäkologischen Details, während sie früher eher gestorben wären, als sie zu erwähnen. Aber es ist unvorstellbar, dass jemand bei der Vorstellung, ein Vater könnte dabei sein, wenn seine Tochter entbindet, nicht wenigstens zusammenzuckt, oder? Siehst du, jetzt habe ich dich schockiert. Du wirst rot.«

»Aber natürlich, Reg. Du willst doch nicht etwa dabei sein bei Sheilas …?«

»Wochenbett? Natürlich nicht. Ich würde wahrscheinlich in Ohnmacht fallen. Ich sage ja nur, es ist nicht normal, dass du dabei sein kannst und ich nicht.«

Sheila lebte mit dem Vater ihres Kindes, dem Schauspieler Paul Curzon, in einer schicken Wohnung in London, einer umgebauten Remise hinter der Welbeck Street. Dort würde das Baby auf die Welt kommen. Wexford, dessen Ortskenntnis von London etwas lückenhaft war, sah in seinem Straßenatlas nach und stellte fest, dass die Harley Street in beruhigender Nähe lag. In der Harley Street gab es, wie jeder wusste, jede Menge Ärzte und wahrscheinlich auch Krankenhäuser.

Contemporary Cars war in einem provisorisch wirkenden Fertigbau auf einem ansonsten leeren Platz an der Station Road untergebracht. Früher hatte dort das Railway Arms gestanden, ein zusehends spärlich besuchtes Pub, da dessen ehemalige Gäste die Bierpreise exorbitant und die Promillegesetze drakonisch fanden. Das Railway Arms machte zu und wurde schließlich abgerissen. An seine Stelle wurde nichts Neues gebaut, und es gab Stimmen in Kingsmarkham, die alles leergefegte, müllübersäte Areal, von Brennnesseln gesäumt und von dürren Bäumchen umgeben, als Schandfleck bezeichneten. Ihrer Ansieht nach wurde die Lage durch die Ankunft des umgebauten Wohnwagens kaum verbessert, doch Sir Fleance McTear, Vorsitzender sowohl von KABAL als auch der Historischen Gesellschaft Kingsmarkham, meinte, dies sei in Anbetracht der geplanten Umgehungsstraße ja wohl die geringste Sorge.

Peter Samuels, von eigenen Gnaden Hauptgeschäftsführer von Contemporary Cars, erzählte jedem, dass sein Betrieb demnächst an einen festen Firmensitz verlagert würde, aber bisher gab es dafür noch keine Anzeichen. Der frühere Standort des Railway Arms bot ausreichend Parkplätze für Taxis und eine sehr praktische Zufahrt zum Bahnhof. Und in diesen wohnwagenmäßigenBüroräumen mit den wegklappbaren Tischen, der Duschkabine und den herunterklappbaren Betten aus früheren Reisezeiten führte Burden seine erste Vernehmung von Stanley Trotter durch.

Zunächst leugnete Trotter, Ulrike Ranke überhaupt gekannt zu haben. Es half seinem Gedächtnis allerdings auf die Sprünge, dass Vine William Dickson zitierte und den deutschen Akzent des Mädchens erwähnte, und so erinnerte sich Trotter schließlich doch, Ulrikes Anruf entgegengenommen zu haben – an den Anruf erinnerte er sich, nicht aber daran, zum Brigadier hinausgefahren zu sein. Er hatte es zwar selbst vorgehabt, sagte er, aber dann sollte er jemanden vom letzten Zug aus London abholen und gab den Auftrag deshalb an einen der anderen Fahrer weiter, an Robert Barrett.

Schwierig wurde es, als sich Barrett auf Befragen hin nicht mehr an seine Aktivitäten am Abend des 3. April erinnerte, oder nur insoweit, als er sich sicher war, den ganzen Abend Fahrgäste gehabt zu haben; an dem Abend war viel los gewesen. Während der ganzen Woche war schon viel los gewesen – wahrscheinlich hing es mit Ostern zusammen, dachte er. Aber in einem Punkt war er sich sicher: In den ganzen fünf Monaten, die er schon für Contemporary Cars arbeitete, hatte er nie einen Fahrgast vom Brigadier abgeholt.

Burden bat Stanley Trotter, sich auf der Polizeiwache von Kingsmarkham zu melden. Inzwischen hatte er herausgefunden, dass Trotter vorbestraft war und ein ziemlich happiges Vorstrafenregister hatte. Sein erster Gesetzesbruch, vor etwa sieben Jahren begangen, war der Einbruch in einem Geschäft in Eastbourne, sein zweiter, weit schwerwiegenderer, war Raub, ein Begriff, der einen tätlichen Angriff nahelegte. Er hatte eine junge Frau mit der Faust ins Gesicht geschlagen, sie zu Boden geworfen, getreten und dann ihre Handtasche entwendet. Sie war um Mitternacht ganz allein auf der Queen Street nach Hause gegangen. Für beide Straftaten war Trotter ins Gefängnis gewandert und hätte für die zweite eine viel längere Strafe bekommen, wenn sein Opfer mehr als nur einen Bluterguss am Kiefer davongetragen hätte.

Doch für Burden war es ausreichend, oder jedenfalls fast ausreichend. Er hatte Trotter dazu gebracht, zuzugeben, dass er tatsächlich am 3. April um Viertel vor elf zum Brigadier hinausgefahren war. Ursprünglich, sagte er, habe er zu viel Angst gehabt, es zuzugeben. Er fuhr hin, kam kurz vor elf am Pub an, aber dort wartete gar kein Fahrgast. Falls sie überhaupt je dort gewesen war, war sie inzwischen gegangen.

An dem Punkt angelangt, verlangte Trotter einen Anwalt, und Burden blieb nichts anderes übrig, als zuzustimmen. Ein cleverer junger Rechtsanwalt von Morgan de Clerck in der York Street kam umgehend herüber, und als Trotter sagte, er könne sich nicht mehr erinnern, ob er beim Brigadier geklingelt habe oder nicht, belehrte er Burden, sein Mandant habe gesagt, er könne sich nicht mehr erinnern, und das müsse wohl genügen.

Draußen vor dem Vernehmungsraum meinte Vine: »Dickson sagte, sie stand draußen auf der Straße. Trotter hätte gar nicht klingeln müssen.«

»Stimmt, aber er wusste ja nicht, dass sie draußen gewartet hat, oder? Er hätte doch bestimmt gedacht – hätte wohl, jeder –, sie wäre im Pub drinnen, und dann selbstverständlich geklingelt. Wollen Sie mir etwa weismachen, er ist um elf Uhr abends am Pub aufgetaucht, und als er niemanden vorfand, ist er gleich wieder umgekehrt und zur Station Road zurückgefahren?«

»Er will es Ihnen weismachen.«

Sie setzten Trotters Vernehmung fort. Der Anwalt von Morgan de Clerck nagelte bei jeder kleinen Einzelheit fest, während er seinen Mandanten mit einen unendlichen Nachschub an Zigaretten versorgte, obwohl er selbst Nichtraucher war. Trotter, ein dünner, ungesund aussehender, etwa vierzigjähriger Mann mit abfallenden Schultern, war am Ende des Nachmittags bei zwanzig Stück angelangt, und die Luft im Vernehmungsraum war blau vom Rauch. Der Anwalt unterbrach ständig das Gespräch, indem er unablässig fragte, wie lange sie Trotter denn dazubehalten gedächten, und sich schließlich erkundigte, ob gegen ihn Anklage erhoben werden sollte.

Leichtsinnig stieß Burden fast atemlos das Wörtchen »Ja« hervor. Doch erhob er keine Anklage gegen ihn, sondern hielt ihn nur auf dem Polizeirevier von Kingsmarkham fest. Als Wexford davon erfuhr, reagierte er ziemlich skeptisch, aber dann besorgte sich Burden einen Durchsuchungsbefehl, woraufhin Trotters Wohnung in der Peacock Street in Stowerton nach Beweismaterial durchforstet wurde. Dort, in der Zweizimmerwohnung über dem von einem bengalischen Brüderpaar geführten Lebensmittelgeschäft, fanden die Detective Constables Archbold und Pemberton eine Kunstperlenkette und eine Reisetasche aus braunem Segeltuch mit dunkelgrüner Plastikeinfassung.

Für Wexford hatte sie nicht viel mit der Schultertasche auf Dicksons Foto gemeinsam und stimmte auch nicht mit der Beschreibung der Tasche seiner Tochter überein, die Dieter Ranke der Polizei gegeben hatte. Die gefundene war ein viel billigeres Modell und im Übrigen braun und grün statt braun und schwarz. Die Rankes waren gutsituiert, beide Eltern in angesehenen Berufen tätig, und Ulrike, ihrem einzigen Kind, hatte es an nichts gefehlt. Die Perlenkette bestand aus sorgfältig ausgewählten, gleichmäßig großen Zuchtperlen, ein Geschenk an Ulrikes achtzehntem Geburtstag, für das ihre Eltern umgerechnet dreizehnhundert Pfund bezahlt hatten.

»Der arme Kerl wird sich die Tasche ansehen müssen«, sagte Wexford und meinte Ranke, dachte aber an sich selbst und seine Töchter. »Er ist ja wegen der amtlichen Leichenschau noch im Lande.«

»Es wird nicht so schlimm sein wie die Identifizierung der Leiche«, meinte Burden.

»Nein, Mike, mit Sicherheit nicht.« Wexford wollte sich dazu nicht weiter auslassen, weil er sonst vielleicht etwas sagte, was ihm später leid tat. »Ich habe erfahren, dass das Verkehrsministerium beim Obersten Zivilgericht den Antrag gestellt hat, die Baumleute zur Räumung zwingen zu dürfen.«

Burden sah hoch erfreut aus. Die Aussicht auf eine Umgehungsstraße hatte ihm immer sehr behagt, vor allem weil er der Meinung war, dass dann die Verkehrsverstopfung in der Innenstadt und auf der alten Umgehungsstraße aufhörte. »Früher hat doch auch niemand so ein Theater gemacht«, sagte er. »Wenn die Regierung beschloss, es wird eine neue Straße gebaut, dann haben die Leute das eben akzeptiert. Sie waren völlig korrekt der Meinung, mit der Wahl ihres Repräsentanten ins Parlament ihre demokratische Pflicht erfüllt zu haben und sich den Regierungsbeschlüssen beugen zu müssen. Sie haben keine Baumhäuser gebaut und sind nicht flitzen gegangen – heißt es so, flitzen? Sie haben keine strafbare Sachbeschädigung begangen und Holzfäller verstümmelt, die doch bloß ihre Arbeit machen. Sie haben begriffen, dass so eine Straße zu ihren eigenen Wohle gebaut wird.«

»›Erwusste nicht, was aus dieser Welt noch werden sollte‹«, sagte Wexford. »Das wird mal auf Ihrem Grabstein stehen.« Er warf Burden einen Seitenblick zu. »Morgen ist große Demonstration. KABAL, der Sussex Wildlife Trust, Friends of the Earth und SPECIES, und das Ganze wird angeführt von Sir Fleance McTear, Peter Tregear und Anouk Khoori.«

»Das bedeutet bloß mehr Arbeit für uns. Mehr erreichen sie damit nicht. Die Umgehungsstraße wird trotzdem gebaut.«

»Wer weiß?« sagte Wexford.

Er vernahm Trotter nicht persönlich. Burden gelang es, nachdem ihn Damian Harmon-Shaw von Morgan de Clerck unter Druck gesetzt hatte, die Zeit, die er Trotter festhalten durfte, um zwölf Stunden verlängern zu lassen. Er wusste, wenn die Zeit um war, musste er entweder Anklage gegen ihn erheben oder ihn laufenlassen, da das Magistratsgericht aufgrund der Beweislage wahrscheinlich nicht überzeugt werden konnte, einen weiteren Befehl zur Haftverlängerung auszustellen.

Die drei Vauxhall und drei VW Golf im Fuhrpark von Contemporary Cars wurden alle untersucht. Peter Samuels hatte nichts dagegen. Jedes der Autos war seit dem 3. April mindestens zehnmal außen und innen gereinigt worden und hatte Hunderte von Fahrgästen befördert. Falls in einem davon je Spuren von Ulrike Rankes kurzer Anwesenheit existiert hatten, ein Haar vielleicht, ein Fingerabdruck, ein Faden von ihrer Kleidung, waren sie inzwischen längst entfernt oder unkenntlich geworden.

»Sie haben überhaupt keine Beweise, Mike«, sagte Wexford, nachdem er sich das Band angehört hatte. »Das einzige, was Sie haben, sind seine Vorstrafen und die Tatsache, dass er zum Brigadier gefahren und, nachdem er dort niemanden angetroffen hat, umgekehrt und wieder nach Hause gefahren ist.«

»Er kennt Framhurst Great Wood. Er hat zugegeben, dass er auf dem Picknickplatz war, als seine Kinder noch klein waren.« Der Umstand, dass Trotter Frau und kleine Kinder verlassen hatte, seine nachfolgende Scheidung, Wiederverheiratung und die blitzschnelle zweite Scheidung hatten Burden ebenfalls gegen Trotter eingenommen. »Er kennt den Weg, der in den Wald hineinführt, und er weiß alles über die Parkmöglichkeiten am Picknickplatz. Die Leiche wurde zweihundert Meter von dort gefunden.«

»Die halbe Bevölkerung von Kingsmarkham kennt den Picknickplatz. Ich war mit meinen Kindern auch schon dort und Sie mit Ihren. Es war doch eigentlich ziemlich ehrlich von ihm, zuzugeben, dass er den Platz kennt. Er musste ja nicht.«

Burden bemerkte kühl: »Ich weiß, dass er schuldig ist. Ich weiß, dass er sie umgebracht hat. Er hat sie wegen der Perlenkette getötet, dem Schmuckstück, das man am einfachsten loswird, und wegen der fünfhundert Pfund, die sie bei sich hatte.«

»Wissen Sie denn, ob er knapp bei Kasse war?«

»Solche Leute sind immer knapp bei Kasse.«

Zwei Stunden, bevor Burdens Haftverlängerung ablief, traf Dieter Ranke in Kingsmarkham ein. Burden und Detective Sergeant Karen Malahyde hatten Trotter inzwischen erneut vernommen, aber keine Fortschritte erzielt. Ulrikes Vater wies die braune Segeltuchtasche nach einem flüchtigen Blick zurück. Die billige Perlenkette, die man in Trotters Wohnung gefunden hatte, bewirkte einen Zornesausbruch. Ranke schrie Barry Vine an, entschuldigte sich dann und fing an zu weinen.

»Sie werden meinem Mandanten nun wohl gestatten zu gehen«, sagte Damian Harmon-Shaw mit samtweicher Stimme und lächelte dabei herablassend.

Burden blieb nichts anderes übrig. »Da kommt er nun ungeschoren davon«, sagte er zu Wexford, »dabei weiß ich, dass er sie umgebracht hat. Ich finde das unerträglich.«

»Sie müssen es aber ertragen. Ich werde Ihnen sagen, was wirklich passiert ist, wenn Sie wollen. Als dieser Schurke Dickson sie hinausgesetzt hatte, war es Ulrike da draußen auf der Straße ohne ein anderes Haus in Sicht nicht ganz geheuer. Als nämlich die Lichter am Pub ausgeschaltet waren, gab es dort gar kein Licht mehr, dann war es tatsächlich stockfinster da draußen an der alten Umgehungsstraße. Sie wartete auf das Taxi, aber bevor es kam, hielt ein anderer Wagen an, und der Fahrer bot an, sie mitzunehmen. Ein Wagen oder ein Laster – wer weiß?«

»Und sie wäre ungeachtet aller Gefahren eingestiegen?«

»Im Einzelfall läuft es doch immer anders, nicht wahr? Man hält sich für einen guten Menschenkenner. Man glaubt, jemanden dem Gesicht oder der Stimme nach beurteilen zu können. Es ist dunkel, es ist schon spät, sie friert, sie hat keine Ahnung, wo sie in dieser Nacht schlafen wird, wenn überhaupt, sie weiß nicht, wann sie Aylesbury erreicht. Da kommt in einem warmen, hellerleuchteten Auto ein Mann angefahren, ein netter Mann, nicht jung, ein väterlicher Typ, der keine persönlichen Bemerkungen macht, der sie nicht fragt, was denn so ein nettes Mädchen in dieser finsteren Nacht macht, sondern bloß sagt, er sei auf dem Weg nach London und ob sie gern mitfahren möchte. Vielleicht sagt er auch mehr, etwa, dass er seine Frau in Stowerton abholt, um sie nach London zu fahren. Wir wissen es nicht, aber wir können es uns vorstellen. Und Ulrike, die müde ist und friert und es einem anständigen, älteren Mann doch ansieht …«

»Großartiges Szenario«, sagte Burden. »Ich habe nur einen Einwand. Trotter war es.«

Doch am folgenden Tag war Trotter wieder in der Arbeit und vollauf damit beschäftigt, gemeinsam mit Peter Samuel, Robert Barrett, Tanya Paine und Leslie Cousins, die aus London eintreffenden Horden von Demonstranten gegen die Umgehungsstraße am Bahnhof abzuholen und zum allgemeinen Treffpunkt zu chauffieren.

Einige gingen auch zu Fuß. Es war nur eine Meile dorthin. Die jungen und mittellosen waren gezwungen, zu Fuß zu gehen. Einige der Aktivisten besaßen buchstäblich keinen roten Heller. Eine relativ wohlsituierte Elite – also die meisten vom WWF, ein paar Friends of the Earth und eine größere Anzahl von unabhängigen, aber sehr engagierten Umweltschützern – bildete vor dem Bahnhof eine lange Warteschlange bei den Taxis von Station Taxis, All the Sixes (so genannt wegen ihrer Telefonnummer, die aus lauter Sechsen bestand), Kingsmarkham Taxis, Harrison Brothers und Contemporary Cars.

Treffpunkt war der Kreisverkehr an der Straße zwischen Stowerton und Kingsmarkham. Gut fünfhundert Leute versammelten sich dort. Mitglieder einer Gruppe namens Heartwood trugen die Äste, von den tags zuvor gefällten Bäumen, so dass es aussah, wie Wexford sich frei nach Shakespeare ausdrückte, als käme Birnams Wald nach Dunsinan.

Sie marschierten durch die Stadt in Richtung Pomfret zu dem Bauplatz, an dem die neue Umgehungsstraße beginnen sollte. Stadträtin Anouk Khoori, gemeinsam mit ihrem Mann Geschäftsführerin der Crescent-Supermarktkette, hatte sich von Kopf bis Fuß in passendes Grün gekleidet – bis hin zu grünem Lidschatten und grün lackierten Nägeln.

Das absterbende Laub an den grünen Ästen von Heartwood fiel entlang der Marschroute nach und nach ab und hinterließ eine Spur mitten auf der Straße. Debbie Harper mit ihren beiden Plakatbrettern war auch wieder dabei, doch diesmal trug sie darunter offensichtlich Bluejeans und ein grünes T-Shirt. Nachdem von ihrem Mann keine Einwände gekommen waren – »Ich würde dich gern begleiten«, hatte er gesagt –, marschierte Dora Wexford in den geordneten Reihen der gutbürgerlichen KABAL mit. Deren Mitglieder hatten es ostentativ vermieden, grüne Kleidung zu tragen, oder überhaupt alles, wodurch sie in die Nähe von New Age geraten könnten.

Wexford, der den Marsch aus seinem Bürofenster beobachtete (und seiner Frau zuwinkte, die ihn aber nicht sah), bemerkte einige Neulinge, deren Transparent sie als Mitglieder von SPECIES auswies. Er amüsierte sich eine Weile mit Raten, wofür diese Abkürzung wohl stehen könnte – Sicherheit und Protektion der Erde gegen Chemie und Initiative für die Errichtung etc. oder Sanktuarium zur Prävention der Erdzerstörung und charismatische Integration etc., etc.

An der Spitze marschierte eine ehrfurchtgebietende Gestalt, hochgewachsen, mindestens so groß wie Wexford selbst, der gut über eins fünfundachtzig maß. Er trug kein Transparent, schwenkte keine Fahne, und seine Kleidung unterschied sich beträchtlich von der Einheitskluft, einer Mischung aus Jeansstoff und mittelalterlichem Pilgergewand. Dieser Mann mit dem glattrasierten Schädel trug einen weiten Umhang aus blassem, sandfarbenem Stoff, der beim Gehen mitschwang und flatterte. Etwas erstaunt bemerkte Wexford, dass er barfüßig war. Seine Beine schienen ebenfalls nackt zu sein, jedenfalls soweit man sehen konnte, da die schwingenden Falten des Umhangs den größten Teil verdeckten.

Hätte er sich nicht auf den Anblick dieses Mannes konzentriert, auf sein Profil mit der extrem hohen Stirn, der Hakennase und dem langen Kinn, hätte er vielleicht gesehen, wie einer der Marschierenden plötzlich einen Stein in das Fenster der Concreation-Büros an der Pomfret Road warf.

Dieses umgebaute Haus im georgianischen Stil, in dem die Firma, die die Umgehungsstraße baute, ihren Sitz hatte, war von der Straße durch einen Rasen und eine Autoauffahrt getrennt. Niemand schien zu wissen, wer den Stein geworfen hatte, obgleich es zahlreiche Vermutungen gab. Die etwas konservativeren Demonstranten machten ein Mitglied von SPECIES oder Heartwood dafür verantwortlich. Wexford fragte Dora später danach, doch sie hatte nicht gesehen, wie der Stein geworfen wurde, nur den Aufprall gehört und sich nach dem zertrümmerten Fenster umgedreht.

Die Demonstration verlief danach ohne weitere Zwischenfälle. Drei Tage später wurden den Bewohnern der vier Camps an der geplanten Trasse die Räumungsbefehle zugestellt. Doch bevor der stellvertretende Sheriff von Mid-Sussex die Räumungen durchführen konnte, hatte man schon an zwei neuen Camps zu bauen angefangen, einem in Pomfret Tye und dem anderen in Stoke Stringfield, »unter der Schirmherrschaft« von SPECIES, wie es in deren Pressemitteilung ziemlich wichtigtuerisch hieß.

Das Absperrband am Fundort von Ulrike Rankes Leiche wurde entfernt, und die Dachsumsiedler nahmen ihre Arbeit wieder auf. Die Britische Gesellschaft der Schmetterlingskundler teilte mit, an einigen Brennnesseln in der neuen Plantage seien Eier der Araschnia levana entdeckt worden, aber noch keine Larven geschlüpft.

Es war August, und man war bereits wieder am Roden, als eines Nachts vermummte Plünderer in Kingsmarkham einfielen und die Geschäftsräume von Concreation verwüsteten.

4

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Sie drangen in das Gebäude ein und zertrümmerten Fensterscheiben, Computer, Faxmaschinen, Telefone und Fotokopierer. Sie rissen die Schubladen der Karteischränke auf und zerrissen den Inhalt oder warfen ihn in den Reißwolf. Die Polizei war sofort vor Ort, doch noch während die Festnahmen erfolgten hatte eine andere Gruppe bereits das Hauptbüro des Stadtrats von Kingsmarkham besetzt. Eine dritte wütete in den Geschäften auf der High Street und schlug alles kurz und klein.

Ein paar von den Festgenommenen waren Baumleute, aber die vermummten, die sich schwarze Strümpfe mit Mund- und Augenlöchern über den Kopf gezogen hatten, waren Neuankömmlinge. Sie waren tagsüber eingetroffen und hatten an der geplanten Route für die Umgehungsstraße ein neues Camp aufgebaut, das siebte inzwischen. Allerdings waren zusätzliche Räumungsbefehle angefordert worden.

Am Tag nach dem – wie es später heißen sollte – wilden Wüten von Kingsmarkham richtete Mark Arcturus, ein Sprecher der Kampagnenabteilung von Friends of the Earth, einen dringenden Appell an alle, bei dem Protest weiterhin im Rahmen der Gesetze zu bleiben. »Alles, was wir erreichen können«, sagte er, »geht verloren, wenn die Öffentlichkeit den Protest mit Gewalt und kriminaler Zerstörung in Verbindung bringt. Dann verlieren wir die allgemeine Unterstützung, die wir bisher genossen haben und die uns so ermutigt hat. Bis gestern ist unsere Aktion friedlich und zivilisiert verlaufen. Lasst uns dafür sorgen, dass es so bleibt.«

Sir Fleance McTear sagte, KABAL habe sich dem friedlichen Protest verschrieben. »Gewalt können wir nicht gutheißen, nicht einmal für eine so gute Sache.«

Nur der Kingsmarkham Courier brachte den Kommentar eines gewissen Conrad Tarling, in dem es hieß, verzweifelte Situationen erforderten verzweifelte Maßnahmen und was der Bevölkerung eigentlich übrigbleibe, wenn die Regierung die Stimme des Volkes ignorierte? Tarling bezeichnete sich als König des Waldes und Anführer der SPECIES-Fraktion auf dem Baugelände. Wexford erkannte ihn auf dem Foto, das die Story begleitete, wieder. Es war der Mann im Umhang, der bei dem Protestmarsch mitgelaufen war.

Eine Gruppe von Arbeitern rückte unter Bewachung an, um die Bolzen und Drähte von den Baumstämmen zu entfernen. Die Baumleute sahen ihnen bei der Arbeit zu und warteten, bis die Wachen, die zeitweilig in Schichten rund um die Uhr aufpassten, schließlich nach Hause gingen.

Patrick Young von English Nature, der englischen Naturschutzorganisation, verkündete im New Scientist die Entdeckung von Psychoglypha citreola, einer seltenen Köcherfliege, in der Brede; die Larven leben in einer mosaikartigen Hülle, dem Köcher, ausgewachsen wird die gelbflügelige Fliege etwa zweieinhalb Zentimeter lang. Daraufhin überlegten die Naturschutzberater der Regierung, ob bestimmte Abschnitte des Flusses zu Gebieten von besonderem wissenschaftlichem Interesse erklärt werden sollten.

»Gemäß dem europäischen Habitat- und Artenschutzerlass«, sagte Young, »verleiht der Status als Super-Reservat die höchstmögliche Schutzstufe. Der Psychoglypha könnte es immer noch gelingen, die unvergleichliche Schönheit dieses Standorts seltener Arten zu retten. Ihre Entdeckung zeigt nur noch deutlicher, dass es das Verkehrsministerium bisher unterlassen hat, ein angemessenes Umweltprüfverfahren von Brede und Stringfield Marsh durchzuführen.«

An einem heißen Nachmittag gegen Monatsende fing eins der Baumhäuser im Camp von Elder Ditches Feuer. Seine Bewohner, ein Mann und eine Frau, hatten bei SPECIES führende Positionen inne. Das Baumhaus sowie der dazugehörige Baum wurden zerstört, doch nach der ersten Aufregung einigte man sich, dass es sich bei dem Feuer um einen Unfall gehandelt hatte, hervorgerufen durch einen umgefallenen Spirituskocher, mit dem man Tee zubereiten hatte wollen.

»Diese Leute«, sagte Burden zu Wexford, »zerstören mehr, von der Umwelt, als sie retten.«

»Einen Baum. Machen Sie sich nicht lächerlich.«

»Recht zu haben wirkt auf den ersten Blick oft lächerlich«, moralisierte Burden. »Wie geht es Sheila?«

»Gut. In drei Wochen soll das Baby kommen. Mir wäre sehr viel wohler, wenn sie, es in der Klinik bekäme.« Wexford fuhr fort, eigentlich vor allem, um den Inspector auf die Palme zu bringen: »Ein Freund von ihr hat sich dem Protest ebenfalls angeschlossen. Er heißt Jeffrey Godwin und ist Schauspieler. Ihm gehört das Weir-Theater.«

»Die umgebaute Mühle in Stringfield? Auch so eine Schnapsidee.«

»Er hat das Theater überredet, ein Proteststück zu spielen; nächste Woche ist Premiere. Es heißt Ausrottung.«

»Klingt ja höchst amüsant«, sagte Burden. »Na, ich werde jedenfalls keine Karten kaufen.«

Am letzten Augustmontag fuhr die Baufirma Concreation ihre Erdbaumaschinen vom Acker bei Pomfret Monachorum, und der erste Bagger grub seine riesige, gezahnte Schaufel in die grüne Hügellandschaft.

Wexford war ein paar Monate lang etwas besorgt gewesen, nachts manchmal aufgewacht und hatte sich die eisige Leere, den großen, gähnenden Abgrund vorgestellt, der sich vor seinen Füßen auftäte, falls Sheila bei der Geburt sterben sollte. Er hatte zwar nie persönlich von einem Todesfall bei der Entbindung gehört – der einzige Fall in seinem Umfeld war einer Tante zugestoßen, als er vier gewesen war –, machte sich aber trotzdem Sorgen. An das kommende Kind dachte er auch, aber nicht an es selbst, sondern was es für Sheila bedeuten würde, wenn es nicht ganz perfekt sein sollte, an ihren Kummer, der dann natürlich auch sein Kummer sein würde.

Doch er wusste während dieser Monate auch, dass seine Sorgen nichts waren verglichen mit den Ängsten, die ihn an den Tagen kurz vor Sheilas Entbindungstermin quälen würden, und auch an den Tagen danach, denn das erste Baby, heißt es doch, kommt nie pünktlich, und – die Vorstellung war unerträglich – sobald er wusste, dass die Wehen eingesetzt hatten. Diese Ängste standen aber noch bevor, begannen nicht vor dem 4. September. Er schalt sich, doch kein Narr zu sein, sich diese Gedanken zumindest bis zu besagtem Termin aus dem Kopf zu schlagen, denn es hat keinen Sinn, sich zweimal Sorgen zu machen, einmal tatsächlich und einmal wegen der Aussicht auf eine bevorstehende Sorge. »Das meiste, worüber man sich Sorgen macht«, sagte er am Abend des 1. September zu Dora, »tritt nie ein.«

»Ich weiß«, erwiderte sie, »den Leitsatz habe ich dir beigebracht«, und noch während sie es sagte, klingelte das Telefon.

Er meldete sich.

»Hallo, Pop«, sagte Sheila. »Ich hab’ gerade das Baby bekommen.«

Er musste sich setzen. Zum Glück stand ein Sessel da.

»Kannst du mich hören, Pop? Ich hab’ das Baby bekommen, und sie ist einfach sagenhaft. Sie heißt Amulet und hat schwarze Haare und blaue Augen. Und weißt du, was – es war alles halb so schlimm.«

»Ach, Sheila …«, sagte er und dann zu Dora: »Sheila hat das Baby bekommen.«

»Und, willst du mir denn nicht gratulieren?«

»Gratuliere, mein Liebling.«

»Sie wiegt drei Komma vier Kilo. Keine Ahnung, was das in Pfund ist, dazu müsst ihr euch eine Umrechnungstabelle besorgen. Ich hätte euch anrufen können, als die Wehen losgingen, aber ich wusste, du würdest dir bloß Sorgen machen, und dann ging plötzlich alles so schnell …«

»Hier ist deine Mutter«, sagte er. »Erzähl das alles deiner Mutter.«

Dora redete eine Viertelstunde lang. Als sie schließlich auflegte, erkläre sie Wexford, in zwei Tagen würde sie nach London fahren. »Sie hat mich gebeten, morgen zu kommen.«

»Warum fährst du dann nicht morgen?«

»Ich habe hier zu viel zu erledigen. Ich kann doch nicht einfach alles stehen- und liegenlassen. Außerdem, finde ich, sollte man ihr ruhig ein, zwei Tage Zeit lassen. Damit sie sich an das Baby gewöhnt. Ich habe ja dort nicht direkt etwas zu tun, außer ihnen Gesellschaft zu leisten. Sie hat eine private Hausschwester.«

»Amulet«, sagte Wexford. »Na ja, ich werde mich schon noch daran gewöhnen.«

»Keine Sorge. Man wird Amy zu ihr sagen.«

SPECIES und die anderen Baumleute schwärmten während der Nacht über die Erdbaumaschinen aus, entfernten Metallteile, schnitten Kabel durch, setzten Motoren außer Gefecht und mischten Eisenspäne in den Diesel-Treibstoff. Einige wurden festgenommen, ein Wachmann wurde auf den Baggern postiert, und James Freeborn, der Deputy Chief Constable von Mid-Sussex, beantragte bei der Regierung Finanzmittel in Höhe von zweieinhalb Millionen Pfund für den Polizeischutz an der geplanten Strecke.

Wexford bat ihn um eine Unterredung, um die sich plötzlich häufenden Fälle von Ladeneinbruch und Diebstahl in Sewingbury und Myfleet zu besprechen. Vierhundert von der Autobahnbehörde eingestellte Sicherheitskräfte wurden in baufälligen Hütten auf dem früheren Armeestützpunkt in Sewingbury untergebracht. Die Ortsbewohner schoben ihnen die Schuld zu und beklagten sich, sie seien für die Raufereien in den Pubs verantwortlich, und die Busse, die sie zur Baustelle für die Umgehungsstraße fuhren, verursachten Verkehrsstau, Lärm und Luftverschmutzung.

»Paradox, nicht wahr?« sagte Wexford zu Dora. »Wer soll nun der Hüter des Hüters sein? Aber wegen dieser Besprechung werde ich dich nicht zum Bahnhof fahren können.«

»Ich nehme mir ein Taxi. Wenn ich nicht all die Sachen zu tragen hätte, all die Geschenke, auf denen du bestehst, würde ich zu Fuß gehen.«

»Ruf mich heute Abend an. Ich will alles wissen über dieses Kind. Ihre Stimme will ich hören.«

»Das einzige, was sie in dem Alter von sich geben«, meinte Dora, »ist Geschrei, und davon bekommen wir hoffentlich so wenig wie möglich zu hören.«

Er ging um neun aus dem Haus zu seiner Besprechung. Davor hatte er ihr eigentlich noch sagen wollen, nicht Contemporary Cars anzurufen. Es war zwar nicht besonders wichtig, doch die Vorstellung, dass Stanley Trotter seine Frau chauffierte, behagte ihm nicht besonders. Natürlich konnte es auch ein anderer als Stanley Trotter sein, etwa Peter Samuels oder Leslie Cousins, und selbst wenn es Trotter war, würde er Wexford wahrscheinlich nicht erwähnen, weder seine Festnahme noch Burdens unbegründete Verdächtigungen. Es hing wirklich davon ab, ob Trotter paranoid war und sich ungerecht behandelt fühlte, oder, ob er einfach erleichtert war, am Ende freigelassen worden zu sein. Jedenfalls hatte er seine Frau nicht vorgewarnt, doch da er Trotter ihr gegenüber bis dahin noch mit keiner Silbe erwähnt hatte, konnte sie sich, wenn es ganz dumm kam, einfach auf ihre Unwissenheit berufen.

Sein Treffen ging zu Ende, ohne dass man sich auf eine feste Vorgehensweise geeinigt hätte, doch seine Anwesenheit brachte Freeborn offensichtlich auf einen Gedanken. Falls Wexford nachmittags nichts Besseres vorhabe, wolle er den stellvertretenden Chief Constable vielleicht auf eine Besichtigungstour zu den Naturschutzstellen begleiten? Sie sollte vor dieser Umweltprüfung von Brede und Stringfield Marsh stattfinden, und bei den teilnehmenden Gruppen handelte es sich unter anderem um English Nature, Friends of the Earth, den Sussex Wildlife Trust, KABAL und die Königliche Gesellschaft der Insektenkundler.

Wexford fielen eine Menge Dinge ein, die er lieber getan hätte. Er hatte keine Ahnung, weshalb Freeborns Anwesenheit erforderlich war, geschweige denn seine eigene, und erinnerte sich recht wehmütig an seinen Entschluss, nie wieder in die Nähe von Framhurst Great Wood zu gehen, ein Entschluss, den er bereits einmal gebrochen hatte.

Selbstverständlich sagte er zu, es blieb ihm kaum etwas anderes übrig. Vogel-Strauß-Politik nützte in diesen Dingen nicht viel, er musste dem Bevorstehenden ins Auge sehen wie alle anderen auch. Vielleicht konnte er den Insektenkundlern ja von seiner Entdeckung des Landkärtchen-Schmetterlings erzählen. Als er gerade darüber und über die Frage nachdachte, weshalb manche Tiere, Insekten und sogar einige Pflanzen ungern aus ihrem Habitat versetzt werden, auch wenn dieses nur ein paar Meilen entfernt liegt, kam im Polizeirevier von Kingsmarkham ein Anruf von Contemporary Cars an.

Nicht von Trotter, sondern von Peter Samuel. Es war kurz nach zwölf Uhr mittags. Er war zum Büro in der Station Road zurückgefahren und hatte dort seine Telefonistin gefesselt, geknebelt und an einen Stuhl gebunden vorgefunden, das Büro verwüstet und die Kasse gestohlen.

Barry Vine fuhr mit Detective Constable Lynn Fancourt hin.