3,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 3,99 €
Adley ist glücklich und arbeitet in ihrem Traumjob als Journalistin. Zumindest ist es das, was sie anderen zeigt. Nach einem tiefgreifenden Schicksalsschlag ergriff sie die Chance, bei einem Verlag in London zu arbeiten – weit weg von Boston und all dem, was sie stets an ihren schlimmen Verlust erinnert. Doch achtzehn Monate nach ihrem Umzug sorgt ihre Mum dafür, dass Adley sich auf den Weg nach Hause macht. Und dann sind sie da, die Erinnerungen und Cade, der Mann, den sie einst so sehr liebte. Wäre da nur nicht sofort wieder diese alte Vertrautheit zwischen ihnen. Aber kann es wirklich eine zweite Chance geben, wenn der Mensch, den man liebt, ausgerechnet auch der ist, der einen an die schwerste Phase im Leben erinnert?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Content Note
Teil 1
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Teil 2
Kapitel 25
Kapitel 26
Epilog
Nachwort und Danksagung
Über Mia B. Meyers
Erstauflage September 2022
Copyright © 2022
Mia B. Meyers
c/o F. Meyer Kleinunternehmen
Hohenbünstorf 41
29587 Natendorf
E-Mail: [email protected]
www.miabmeyers.com
Covergestaltung: www.sturmmöwen.at
Covermotiv: Shutterstock.com
Lektorat: Susan Liliales
Korrektorat: www.sks-heinen.de
Alle Rechte vorbehalten!
Nachdruck, auch auszugsweise,
nur mit schriftlicher Genehmigung
der Autorin.
Personen und Handlungen dieser Geschichte sind frei erfunden.
Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen, Orten oder Ereignissen sind zufällig und unbeabsichtigt.
Markennamen, die genannt werden, sind Eigentum ihrer rechtmäßigen Eigentümer.
ISBN: 9798352145029
Imprint: Independently published
Für die beiden Menschen, die mich gelehrt haben, dass Liebe absolut unbeschreiblich, ohnegleichen, unendlich, und bedingungslos ist – meine Kinder.
Liebe Leserin, lieber Leser,
in diesem Buch wird ein Thema behandelt, das bei manchen Personen negative Gefühle auslösen könnte. Um nicht zu spoilern, gehe ich an dieser Stelle jedoch nicht weiter ins Detail, um niemandem den Lesegenuss zu verderben. Solltest du dich diesbezüglich absichern und Genaueres wissen wollen, findest du über den Link die vollständige Warnung .
Triggerwarnung
Ich weiß nicht, ob es überhaupt möglich ist, dass wir dieses Leid überstehen. Aber wenn, nur getrennt. Gemeinsam werden wir es nie bewältigen, denn sobald ich in deine Augen sehe, ist es, als würde ich in einen Spiegel schauen. Ich erkenne darin nichts anderes mehr als den unbändigen Schmerz, den ich selbst verspüre.
»Ich komme schon, ich komme ja schon!«, rufe ich und eile zwischen den chaotisch angeordneten Tischen des Großraumbüros entlang, in dem sich mein Arbeitsplatz befindet. Ich halte meine Handtasche mitsamt meiner Jacke vor die Brust gedrückt, um an niemandem hängen zu bleiben, und springe über einen im Weg stehenden Mülleimer, als ich endlich an meinem Schreibtisch ankomme.
»Er ruft dich schon zum dritten Mal«, teilt Melissa mir mit einem Grinsen mit, das ich unweigerlich erwidere. Seit ich bei Newstime angefangen habe, sitzt sie mir gegenüber. Anfänglich, damit sie ein Auge auf meine Arbeit hat, und inzwischen, weil wir es beide nicht mehr ändern möchten.
»Adley!«, dröhnt die Stimme unseres Redaktionsleiters Kent durch den Raum, sodass ich meine Handtasche sowie die Jacke nur schnell auf den Stuhl werfe und zu ihm laufe. Durch die Glaswände, die sein Einzelbüro von uns niederen Journalisten abschirmen, beobachtet er jeden von uns genau. Meist hat er dabei die Arme verschränkt und auf seinem stattlichen Bäuchlein abgelegt. So auch heute und natürlich beäugt er jeden meiner flinken Schritte, bis ich mit einem tiefen Seufzen in seinem Büro zum Stehen komme.
»Da bin ich schon«, japse ich und zupfe an meinem T-Shirt, um mir Luft zuzufächeln.
»Pünktlich wie immer«, entgegnet er schmunzelnd und hält mir eine Packung Kekse entgegen. Ich schüttle dankend den Kopf, woraufhin er sich selbst einen nimmt und einen Stapel Papiere anhebt. »Ich habe hier das aktuelle brandheiße Thema für dich, du wirst begeistert sein.«
»Ach ja?« Grinsend trete ich an Kents Schreibtisch und nehme ihm die Dokumente aus der Hand. »Sinnliche Massage? Ernsthaft?«
»Unsere Leser lieben solche Artikel«, rechtfertigt er sich, wobei ihm ein paar Krümel aus dem Mund bröseln, und nimmt einen weiteren Keks. »Und er wird auf Seite sechs erscheinen.«
Resigniert seufze ich auf und schnappe mir nun frustriert doch einen der Kekse. Den letzten, was Kent mit heruntergeklappter Kinnlade registriert. »Ganz, wie du willst«, gebe ich zurück und halte wieder auf die Bürotür zu, die, solange ich hier bin, noch nie geschlossen war. »Bis wann muss der Text fertig sein?«
»Ich möchte ihn am Montag um neun auf meinem Tisch haben.«
Ich salutiere, ohne mich ein weiteres Mal umzudrehen, und höre Kent leise lachen.
Dass ich vor eineinhalb Jahren diese Stelle bekam, war das Beste, was mir passieren konnte. Wir sind ein wahnsinnig tolles Team, was unter anderem an Kent liegt, der uns stets auf Augenhöhe begegnet und dennoch von allem respektiert wird. Dass ich in Melissa gleich zu Beginn eine Art Freundin gefunden habe, ist natürlich ein weiterer Vorteil, doch das Erfreulichste an allem ist, dass hier niemand meine Vorgeschichte kennt. Nichts in London erinnert mich an die Dinge, vor denen ich weggelaufen bin. Kein Mensch konfrontiert mich damit, indem er nachfragt oder noch schlimmer, mir mitleidige Blicke schenkt. Als ich Boston damals verließ, waren sich meine Eltern, mein Bruder Matt und meine beste Freundin Charlotte einig, dass ich vor etwas davonlaufe, vor dem ich nicht flüchten kann, und auch wenn ich es ungern zugebe, haben sie damit, zumindest teilweise, recht behalten. Die neue Umgebung und die Leute, die mich ohne Altlast kennenlernten, sind hilfreich, aber das, was in mir ist, kann ich dennoch nicht komplett zurücklassen. Kurz nachdem ich nach London zog, begann ich sporadisch in einem Forum zu schreiben. Einem, in dem alle Ähnliches erlebt haben, und vor allem ist es anonym. Nur dort erlaube ich mir gelegentlich, mein Innerstes nach außen zu kehren, manchmal drücke ich mich aber selbst davor. Es ist qualvoll, meine Gedanken und Gefühle aufzuschreiben, denn mit jedem Mal scheine ich mich dadurch aufzulösen, um mich danach anders wieder zusammenzusetzen. Expressives Schreiben als eine Art Eigentherapie. Mitunter frage ich mich, ob mir das überhaupt etwas bringt. Doch die Wahrheit ist, wenn ich es nicht täte, würde ich diesen Ballast in mir belassen und das tun, was ich kontinuierlich mache – es, so gut es mir möglich ist, verdrängen. Nur dass ich dabei stetig merke, wie es mich zunehmend weiter von innen heraus zerfrisst und immer weniger von der früher so unbeschwerten Adley zurückbleibt.
»Na, was für ein grandioses Thema hast du dieses Mal bekommen?«, reißt Melissa mich aus den Gedanken, während ich meine Handtasche vom Stuhl in eine Schreibtischschublade räume und die Jacke über die Stuhllehne hänge.
»Sinnliche Massage. Und du?«
»Kohlenhydratarme Gerichte für viel beschäftigte Frauen. Wenn du willst, können wir tauschen?«, schlägt sie – natürlich vollkommen uneigennützig – vor und ich schüttle energisch den Kopf.
»Nein, danke. Dann massiere ich doch lieber.« Wenig begeistert lasse ich mich in meinen Bürostuhl fallen und erwecke den Computerbildschirm zum Leben.
»Den Typen vom vorletzten Wochenende?«, hakt Melissa nach und wackelt mit den Augenbrauen.
»Ich fürchte, ich muss mich selbst kneten. Oder willst du dich zur Verfügung stellen?«
»Sag nicht, den hast du laufen lassen? Der Typ sah aus wie Channing Tatum.« Melissa wirft ratlos die Hände in die Luft. »Ich sage es nicht zum ersten Mal, aber du bist bindungsgestört oder so was. Langsam solltest du das mal in den Griff bekommen.«
Ich schüttle schmunzelnd den Kopf und öffne meine Mails. »Ich habe jetzt leider zu tun«, erkläre ich grienend und Melissa wendet sich ebenfalls ihrer Arbeit zu. Unterdessen schaue ich in mein E-Mail-Postfach, ohne jedoch wirklich etwas zu lesen. Dank Melissa sind meine Gedanken bei besagtem Typen – Shawn –, der überhaupt nicht aussah wie Channing Tatum und selbst wenn … Meist ist es doch so: Man vereinbart eine lockere Affäre und irgendwann kommen bei einer der beiden Parteien Gefühle auf und diese verkomplizieren alles. Im schlimmsten Fall wäre ich diese Partei. Melissas vorletzter Beitrag handelte von der »Generation bindungsgestört« und nun ist sie sich sicher, dass ich zu ebendieser Kohorte gehöre. Dabei passe ich in keine ihrer Kriterien: Ich bin wohlbehütet aufgewachsen, habe ein großartiges Verhältnis zu meinen Eltern sowie zu meinem Bruder Matt, habe nie schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht und bin genau genommen auch kein Typ für One-Night-Stands. Und dennoch, wenn ich eins ganz und gar nicht gebrauchen kann, dann ist es eine feste Beziehung.
Ich schüttle die Gedanken ab, überfliege erneut den Posteingang und öffne das Suchfenster des Browsers. Sinnliche Massage … da kommen mir doch direkt Bilder von mehreren nackten Paaren in einem Raum in den Sinn, die den Anweisungen des Lehrers folgen, der mit einer Klangschale zwischen den jauchzenden Pärchen herumspaziert. Ein vollkommenes Klischee, das ist mir klar. Ich binde meine langen Haare zu einem wirren Dutt und scrolle mich durch ein paar Websites, wobei ich mir einige Anbieter in der unmittelbaren Umgebung notiere, die ich um ein Interview bitten werde.
»Ich gehe mir einen Kaffee holen. Möchtest du auch einen?«, fragt Melissa und sieht neben meinem Schreibtisch stehend auf mich herunter.
»Adley ist doch gerade erst gekommen, die braucht nicht schon wieder Kaffee«, ruft Clive im Vorbeigehen und schenkt mir dieses Lächeln, mit dem er jede herumbekommt. Seine Worte, ganz sicher nicht meine.
»Danke, Melissa, ich nehme gerne einen«, antworte ich Melissa und grinse Clive abfällig an. Stöhnend strecke ich die Beine unter dem Tisch aus, lege den Kopf in den Nacken und reibe mir über die Augen. Jeden Morgen beteuere ich, dass ich abends eher ins Bett gehe, um zu Tagesbeginn nicht immer so durchzuhängen. Wie mein Zustand beweist, ist es bisher aber bei einem Vorsatz geblieben.
»Hey, Adley. Ich habe dir eine Mail geschickt. Kannst du den Text für mich gegenlesen, bevor ich es Kent schicke? Ist auch nur eine Seite.« Ich öffne die Augen und blicke direkt in das grinsende Gesicht unseres Praktikanten, das sich nur wenige Zentimeter vor meinem befindet und nach Pfefferminz riecht.
»Klar, ich schaue es mir gleich an«, gebe ich zurück und Harris strahlt freudig. Obwohl ihm jeder hier helfen würde, kommt Harris trotzdem stets mit all seinen kleinen Artikeln zu mir. Vielleicht merkt er, dass ich seiner jugendlichen Unschuld verfallen bin. Nein, mit leidenschaftlichem Verfallen hat das nichts zu tun, eher beneide ich ihn um die Unversehrtheit, die er mit jeder Pore ausstrahlt. Als hätte er noch nie Berührung mit dem Bösen dieser Welt gehabt und ich könnte nur ein wenig davon abbekommen, sobald ich in seiner Nähe bin. Wobei das natürlich Quatsch ist. Niemand von uns kann wissen, was in den Köpfen der anderen vor sich geht und was diejenigen womöglich schon erlebt haben, ohne es jedoch nach außen zu tragen. Ebenso wie ich. Wenn andere mich wahrnehmen, sehen sie eine Frau mit durchschnittlicher Figur, braunen Augen und dunklem Haar, das im Kontrast zu ihrer blassen Haut beinahe schwarz wirkt. Eine, mit der man feiern, der man aber auch Dinge anvertrauen kann und die immer ein Lächeln auf dem Gesicht zur Schau trägt. Eine Seite an mir, die ich schon so lange hervorhebe, dass ich die andere – echte – Seite selbst manchmal vergesse. Ja, jeder Mensch ist geprägt von seiner Vergangenheit, vermutlich sogar Harris.
»Hier, dein Latte mit einmal Süßstoff.« Melissa stellt das Glas auf die Papiere, die Kent mir vorhin gegeben hat, und ich lächle sie zum Dank an. Sie nimmt ihr Telefon in die Hand und ich angle meins ebenfalls aus der Jackentasche. Eines unserer Rituale: Wenn einer von uns Kaffee geholt hat, checken wir die sozialen Medien nach gutem Stoff für eine Story. Ich tippe auf den Bildschirm, auf dem mir drei Anrufe in Abwesenheit von Mom angezeigt werden. In Boston ist es mitten in der Nacht, es muss irgendetwas wichtiges sein.
»Alles in Ordnung?«, will Melissa wissen und ich sehe fragend zu ihr.
»Ähm ja klar, ich geh mal eben telefonieren«, erkläre ich und deute mit dem Daumen in den hinteren Bereich des Büros. Ich öffne den Bildschirm des Smartphones, um Mom zurückzurufen, und gehe währenddessen in die Küche. Als ich den Anrufbutton drücke, schließe ich die Tür, was auf der Stelle die Geräusche von klappernden Tastaturen und ratternden Druckern verschluckt. Es klingelt dreimal, viermal und endlich klickt es in der Leitung.
»Adley«, ruft sie erfreut ins Telefon und ich spüre augenblicklich, wie ein Gewicht von meinen Schultern genommen wird. Irgendwie ist es doch jedes Mal komisch, wenn ich mehrere Anrufe bekomme und ich male mir automatisch irgendwelche wilden Katastrophen aus. Dass sie so fröhlich klingt, wischt diese Bedenken sofort beiseite.
»Was gibt es denn?«, komme ich gleich zur Sache und räume nebenbei die einsame Kaffeetasse, die in der Spüle steht, in den Geschirrspüler.
»Dein Bruder feiert am Wochenende die Eröffnung seiner Praxis.«
»Ähm ja, ich weiß. Deswegen rufst du an?«
»Nein. Ich rufe an, weil er mir heute mitgeteilt hat, dass du nicht kommen wirst.«
Ich beiße die Zähne aufeinander und atme möglichst leise aus, damit Mom es nicht hört.
»Matt hat so lange auf diesen Moment hingearbeitet und du hältst es nicht für nötig, an diesem großen Tag dabei zu sein?«
Ich lehne mich mit dem Hintern an die Küchenarbeitsplatte und kneife mir in die Nasenwurzel. Moms Worte klingen wie ein Vorwurf, nein Stopp, sie klingen nicht nur so, sie sind einer. Ich weiß, dass sie recht hat und ich an diesem Tag bei Matt sein sollte, so wie er auch immer für mich da ist.
»Mom, ich …«
»Adley«, unterbricht sie mich und ich höre ein Geräusch. Vermutlich eine Tür, die sie geschlossen hat, um Dad nicht aufzuwecken. »Niemand von uns kann sich auch nur im Entferntesten vorstellen, was du durchgemacht hast. Wir haben verstanden, weshalb du Boston verlassen hast und sogar, warum du seit eineinhalb Jahren nicht mehr hier gewesen bist, jedoch geht es dieses Mal um Matt. Ihr standet euch immer so nahe.« Sie seufzt und ich kann ihre Verzweiflung förmlich fühlen. »Matt würde aus Rücksicht auf dich nie zugeben, wie enttäuscht er ist, wenn du nicht dabei wärst. Ich kann dich zu nichts zwingen, aber denke bitte darüber nach, Liebes.«
Tausende Gedanken jagen mir durch den Kopf, die sich zu keinem vernünftigen Satz formen lassen, also bleibe ich still.
»Schatz, wir sprechen später noch mal, ja.« Einen Augenblick später ist das Gespräch beendet und ich halte weiterhin das Telefon an mein Ohr. Ein eiskalter Schauer überläuft mich und mein Magen zieht sich so heftig zusammen, dass ich glaube, würgen zu müssen. Ich greife mir an den Hals, der sich plötzlich wie zugeschnürt anfühlt, und sinke mit dem Rücken an der Spülmaschine zu Boden. Mom hat recht, dieses Mal bin ich es, die Matt zur Seite stehen muss. Es ist beschlossen, aber allein der Gedanke nimmt mir die Luft zum Atmen: Ich werde nach Hause fahren.
Fünf Jahre zuvor
»Stell dir mal vor, du wärst mit Cade zusammen. Das wäre schon cool, oder?«, sinniert meine beste Freundin Charlotte und sieht schmachtend zu meinem Bruder Matt hinüber, der mit Cade Popcorn für den Kinofilm besorgt. Als ich nichts erwidere, schaut sie mich fragend an und ich stoße sie lachend gegen den Oberarm. Nicht, weil die Idee völlig absurd ist, sondern um zu überspielen, dass ich allein bei dem Gedanken an die Möglichkeit feuchte Hände bekomme. Das, was Charlotte an dem Ganzen so cool fände, ist der Umstand, dass Cade Matts bester Kumpel und der wiederum seit einem Jahr ihr fester Freund ist. Laut Charlotte wären wir ein super Vierergespann. Nun könnte man ja meinen, Matt sei das Problem. Der große Bruder, der es verbietet, wenn der Buddy mit der jüngeren Schwester und so, aber das ist es nicht. Nein, es ist einfach so, dass Cade in mir noch immer das kleine Mädchen sieht, das mit ihren Barbiepuppen zu ihm gelaufen kommt, damit er ihnen die Haare bürstet. Matt hat mir sogar einmal gesteckt, dass Cade mich als die kleine Schwester empfindet, die er selbst immer haben wollte. Na toll, wenn das nicht der Unkrautvernichter für jedes noch so zarte Pflänzchen der Hoffnung ist, dann weiß ich ja auch nicht.
»Seid ihr so weit?« Cade kommt mit einem Eimer Popcorn sowie einer Jumbocola neben mich und hebt die Sachen leicht in meine Richtung. »Ist doch okay, wenn wir uns das teilen?«
Statt ihm zu antworten, starre ich auf die zwei Strohhalme in dem Getränkebecher und höre das Blut in meinen Ohren rauschen. Wir werden uns ein Getränk teilen – jetzt nur nicht hyperventilieren, sondern atmen. Cade lacht leise und wie immer dringt dieses Geräusch schnurstracks bis in meinem Bauch. Herrgott, Adley. Du bist 24 Jahre alt, also benimm dich gefälligst entsprechend.
»Kommt ihr, oder was?«, ruft Matt, der bereits an der Tür zum Kinosaal steht und mit dem Kopf zu sich deutet. Dankbar für die Unterbrechung steuere ich auf ihn zu und bete zu wem auch immer, damit ich nicht über meine eigenen Füße stolpere. Warum habe ich bloß diese mörderischen High Heels angezogen? Ach ja, weil ich Cade beeindrucken wollte und meine Beine in dem knielangen Faltenrock zu den Schuhen elend lang wirken. Man muss eben Prioritäten setzen.
»Wir sitzen hier«, ruft Charlotte und winkt übertrieben, sodass wir die Stufen zu ihnen hochgehen. Matt sitzt ganz rechts in der Reihe und Charlotte blockiert natürlich den Platz neben ihm. Das heißt, Cade wird neben mir sitzen und das wiederum bedeutet, ich werde rein gar nichts vom Film mitbekommen. Wobei das egal ist, ich habe ohnehin keine Ahnung, was laufen wird. Als Charlotte fragte, ob ich mitkommen möchte und im gleichen Atemzug erwähnte, dass Cade auch dabei sein wird, habe ich bereits zugesagt, ohne zu wissen, was wir ansehen werden.
Ich setze mich auf den Platz neben Charlotte und atme tief ein, als Cade sich ebenfalls setzt. Sein Duft nach frisch geduscht, zitronigem Aftershave und einfach nur ihm steigt mir in die Nase und ich schließe genießerisch die Augen. Gott, wie oft habe ich mir diesen Geruch schon ins Gedächtnis gerufen, wenn ich mit seinem Bild im Kopf mastur…
»Addy, geht es dir gut?« Ich zucke zusammen und schaue Cade an. Er ist der einzige Mensch auf dieser Welt, der mich Addy nennt und bei dem es mir auch noch gefällt.
»Natürlich. Warum?«
»Du hast gerade gestöhnt.«
Ich schlucke gegen das trockene Gefühl im Mund an und krame in meinem Gehirn nach einer lockereren Erwiderung. Wie so oft fällt mir keine ein und auch die Erde unter mir öffnet sich nicht. Es ist auf nichts Verlass. Cade starrt mich weiterhin an und wartet offenbar immer noch auf eine Antwort. Zum Glück ist die Beleuchtung im Saal bereits heruntergedimmt, sodass er meine glühenden Wangen nicht bemerkt.
»Ähm. Ich hatte einen Krampf im Zeh.« Im Zeh, ernsthaft?
Den verblüfften Ausdruck auf Cades Gesicht kann ich auch trotz der spärlichen Funzel erkennen. Charlotte unterdrückt grunzend ein Lachen, sodass ich reflexartig zu ihr herumwirble.
»Bei dir krampft was ganz anderes als dein Zeh«, zischt sie mir zu und nippt an ihrer Coke.
»Allerdings, dieses Angeschmachte ist langsam nicht mehr auszuhalten«, seufzt Matt und nimmt ebenfalls einen Schluck, als Charlotte ihm den Becher reicht.
Wie bitte?
Das Licht im Saal wird noch schwächer und der Vorhang der Leinwand öffnet sich. »Was meint ihr …«, will ich nun genauer wissen und werde mit einem scharfen »Scht« von der Reihe hinter uns unterbrochen. Missmutig gebe ich meine Nachforschungen auf und lasse mich in den Sessel sinken, wobei ich unauffällig zu Cade hinüberschiele. Entweder er hat Matt und Charlottes Bemerkungen wirklich nicht gehört, oder er tut nur so.
Die Werbung bittet darum, die Telefone auszuschalten, und erinnert daran, dass es am Kiosk Eis gibt, mit dem das Filmerlebnis gleich noch zwanzigmal besser ist. Aus dem Augenwinkel linse ich zu Cade und beobachte, wie er sich etwas Popcorn in den Mund schiebt und direkt im Anschluss diese eine störrische Strähne zurückstreicht, die ihm ohnehin sofort wieder in die Stirn fallen wird. Er hat fast ebenso dunkles Haar wie ich, das immer ein bisschen unordentlich wirkt, und einen definierten Kiefer, den selbst Michelangelo seinerzeit nicht für möglich gehalten hätte – wie gemeißelt. Doch beides ist nichts im Vergleich zu Cades wasserblauen Augen, die eingerahmt von pechschwarzen langen Wimpern geradezu hypnotisch sind. Cade schaut zu mir herüber und ich sehe schnell auf die Leinwand. Mein Herz pocht mir bis in den Hals. Hat er meine Musterung bemerkt? Statt einer Antwort hält er mir den Popcorneimer vors Gesicht und ich schüttle verneinend den Kopf, ohne den Blick vom Film abzuwenden. Wir sind weiterhin beim Intro, aber es ist trotzdem schon klar, dass es sich hier um einen Actionstreifen mit viel Geballere und explodierenden Autos drehen wird. Also genau die Art von Film, die ich mir freiwillig niemals ansehen würde.
Noch immer glaube ich, Cades Blick auf mir zu spüren, und wische meine feuchten Handflächen am Stoff meines Rocks ab. Unsicher schaue ich zu Cade hinüber und halte die Luft an. Ich korrigiere, ich bilde es mir doch nicht nur ein. Mein ganzer Körper prickelt und erbebt unter der Intensität seiner Musterung. Wo ist nur mein Selbstvertrauen hin, wenn Cade in meiner Nähe ist? Das Licht der Leinwand spiegelt sich in seinen Augen wider und ich nehme am Rande wahr, dass er den Eimer neben sich stellt. Er schaut mich erneut an und blickt dann auf die Hände in meinem Schoß, die augenblicklich kribbeln, als würde ich sie in einen Ameisenhaufen stecken. Cade hebt seine Hand und zögert kurz. Will er etwa … Meine Atmung ist abgehackt, als wäre ich gerade einen Halbmarathon gelaufen und ich schlucke gegen die abrupte Trockenheit in meinem Mund an. Und plötzlich spüre ich sie, die Wärme seiner Hand, als er sie auf meine legt. Es ist, als würde um uns herum die Welt stillstehen. Der Ton des Films verblasst, ebenso wie das Knistern von Tüten, das von der Reihe hinter uns ertönt.