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Minden in Westfalen im Jahre 785. Der Sachsenherzog Widukind kapituliert nach vielen Jahren erbitterten Widerstands gegen die Christianisierung und lässt sich taufen. Im Gegensatz zu ihm bringt es Wolfhard, einer seiner Unterführer, nicht über sich, den alten germanischen Gottheiten abzuschwören. Er widersetzt sich der Taufzeremonie und flieht in die dicht bewaldeten Hügel des Wiehengebirges. Von Verfolgern gehetzt verliert sich dort seine Spur. Jahre später gerät auch sein Sohn Wolfger mitten in die Fehde zwischen Sachsen und Franken. Und auch er wird vor die Frage gestellt, ob er den alten Göttern die Treue halten oder sich einem neuen Glauben und einer neuen Zeit zuwenden will. Eine Frage, die nicht nur von Wolfger größte Opfer einfordert, sondern auch das ganze Land in einen grausamen und blutigen Aufstand stürzt.
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Seitenzahl: 547
Jörg Kastner
Historischer Roman
Für Birgit und Andreasin Minden – mit Dank für die Unterstützung!
Karl der Große jedoch, der von allen Königen der tapferste war, trat nicht minder durch große Klugheit hervor. Denn er meinte, da er zu seiner Zeit an Weisheit nicht übertroffen wurde, dass sein berühmtes Nachbarvolk nicht dem leeren Irrglauben anhängen dürfe; er zerbrach seinen Kopf wie er den Stamm auf den rechten Weg führen könne. Und er brachte ihn teils durch sanfte Überredung, teils durch Feldzüge dazu …
Widukind von Corvey, Geschichte der Sachsen
Die besten seiner Helden, sie lagen in Sachsen totDa floh Carolus Magnus, der Kaiser, in großer Not.
Er kam da bald zurück mit neuer Heeresmacht,Damit er der Sachsen Lande zu seinem Reich gebracht.
August Kopisch
In Westfalen, dem ehemaligen Sachsen, ist nicht alles tot, was begraben ist. Wenn man dort durch die alten Eichenhaine wandelt, hört man noch die Stimmen der Vorzeit …
Heinrich Heine, Reisen in Deutschland
Anmerkung: Historische Personen sind hinter ihrem Namen mit einem (H) gekennzeichnet.
Abbio (H): Herzog der Ostfalen, Widukinds Schwiegersohn
Alda: Asmunds Geliebte
Almar: Alwigs Sohn
Alwig: Schmied auf dem Wolfshof
Amalwin (H): Höfling Karls des Großen
Angilram von Metz (H): Erzkaplan Karls des Großen
Anscher: Lite aus Hockeleve, Fährmann
Anwan: Brunolds Neffe, Kapitän der Begga
Asmund: Graf von Minden
Balthasar: Verkäufer frauenbeglückender Waren
Beatus: Priester, jüngerer Bruder des Rutinus
Benno: Brunolds Vetter, Kapitän der Otterschwanz
Brunold: Mindens mächtigster Kaufmann, Kapitän der Silbermöwe
Buddo: Dorfvorsteher bei Saxnots Schwert
Ditmar: Kaufmann aus Throtmani
Elso: friesischer Bettler
Erkanbert (H): Missionsbischof
Ermold: feister Panzerreiter, später Hauptmann von Minden
Eudo: Knecht Ditmars
Feuerschmied: sagenhafte Gestalt
Gerhild: Wolfgers Mutter, Gemahlin Wolfhards
Gisla: Brunolds jüngere Tochter
Gunda: Wolfgers Schwester
Hartnid: pockennarbiger Panzerreiter
Heidrun: junge Kräuterfrau
Hidde: junger Lite bei der Feuerschmiede
Hraban: Bettlerkönig
Hruodgar: Barde
Karl der Große (H): König der Franken
Ogger: Bettler, rechte Hand Hrabans
Rorich: Unterführer der Panzerreiter
Rul: junger Reiter
Rutinus: Archidiakon von Minden
Tanko: älterer fränkischer Soldat
Teida: Brunolds ältere Tochter
Tibor: Brunolds Haussklave aus dem Volk der Wilzen
Tjalf: schweinsgesichtiger fränkischer Soldat
Ulf: Wittichs Sohn
Weerta: alte Litin vom Wolfshof
Welf: Bettlerknabe
Widukind (H): Herzog der Sachsen
Wittich: Lite, rechte Hand auf dem Wolfshof
Wolfger: Herr des Wolfshofes, Sohn des Sattelmeiers Wolfhard
Wolfhard: Sattelmeier aus dem Wolfsgeschlecht
Anno Domini 785 Das war ein schwarzer Tag für Sachsenland,als Wittekind, ein tapferer Herzog, von Kaiser Karl geschlagen wurde …Heinrich Heine
»Wodan, o Allwissender, vergib mir! Donar, o Riesentöter, vergib mir! Saxnot, o Stammvater, vergib mir! All ihr Götter des mächtigen Asengeschlechts, verzeiht mir, dass ich euch abschwöre!«
Obwohl mit Inbrunst ausgerufen, verflogen die Worte im Tosen des Donnergottes. Wolfsgeheul. So klang das unablässige Brausen des schneetreibenden Sturmwinds, der in entfesselter Wut über das Wiehengebirge fuhr, die alten Götterbäume bog und selbst starke Äste brach. Donar, der Bauern-, Kriegs- und Wettergott der freien Sachsen, blies seinen Zorn über das Land, als wolle er es verheeren. Sogar das alte Heiligtum mit den mächtigen Eichen, Donars heiligen Bäumen, schien er nicht zu schonen. Wollte er die Welt der Menschen mitsamt ihren Bewohnern vernichten, weil sie sich von ihm und allen ihren angestammten Göttern abgewandt hatten?
Das fragte sich der einsame Reiter, der seinen kräftigen Rapphengst unter den winterkahlen Götterbäumen angehalten hatte und sich mit vorgeneigtem Körper gegen die Raserei des Donnergottes stemmte. Der dicke Pelzmantel, der um seine Schultern lag und auf der rechten Seite von einer silbernen Fibel zusammengehalten wurde, war mit unzähligen Schneeflocken bedeckt, wie das dunkle Fell des Rappen und das schulterlange Haar des Reiters, das hinter ihm wehte wie eine Fahne, die in die Schlacht getragen wird.
Aber die Zeit des Kampfes, der blutigen Schlachten, des erbitterten Widerstands gegen den Sachsenschlächter und seinen Christengott war vorbei, gestorben mit dem Kampfeswillen jenes Mannes, dem die freien Sachsen die Führerschaft über ihr Volk und damit auch ihr Schicksal angetragen hatten. Dreizehn Jahre hatten sie gegen den Frankenkönig gestritten, eine lange Zeit. Ohne Widukind, der sich vom westfälischen Edeling zum Herzog und Kriegsherrn aller freiheitsliebenden Sachsen aufgeschwungen hatte, wäre sie viel kürzer gewesen. Das wusste Wolfhard. Nur Widukinds Kriegskunst, seine Schläue und sein Einfluss auf das Volk hatten einen so langen Widerstand gegen das Meer fränkischer Krieger und ihren schier unbegrenzten Vorrat an tödlichem Eisen ermöglicht. Jeder Sachse hätte Widukind dafür dankbar sein müssen, aber Wolfhards Gefühle waren so gespalten wie die riesige Eiche, die sich in der Mitte des heiligen Hains erhob.
Donar hatte einst seinen Blitz in den Baum geschleudert, um einen Streit zwischen Edelingen der Westfalen und der Engern zu schlichten. Seit jener fernen Zeit galt dieser Ort als heilig, als Platz des Opfers und des Gerichts. Vorbei. Noch heute würde dieser Ort für alle Sachsen verboten sein, sobald Widukind sein Haupt gebeugt und die Taufe mit dem Wasser des Christengottes empfangen hatte.
Wolfhard wiederholte seine Worte: »Wodan, o Allwissender, vergib mir! Donar, o Riesentöter, vergib mir! Saxnot, o Stammvater, vergib mir! All ihr Götter des mächtigen Asengeschlechts, verzeiht mir, dass ich euch abschwöre!«
Der kampferprobte Reiter fuhr zusammen, als er durch das Sturmtosen eine Antwort zu vernehmen glaubte. Worte wie von einer Menschenstimme, aber doch zu undeutlich, um sie zu verstehen. Erst als der Rappe ein plötzliches Wiehern ausstieß und den Kopf umwandte, erkannte Wolfhard die Wahrheit. Sein Blick folgte dem des Pferdes, und er sah den anderen Reiter, der seinen ebenfalls schwarzen Hengst langsam heranlenkte.
Der große Mann saß gekrümmt im Sattel, aber nicht aus Trotz gegen den Sturm, sondern vor Schmerz. Jeder Schritt des Rappen war wie ein Dolchstich in seinen Körper. Die angestrengten Züge in dem länglichen Gesicht verrieten es. Wolfhard kannte seinen Herzog genau, er war lange mit ihm geritten. Und er fragte sich, ob die fortschreitende Krankheit nicht auch ein Grund für Widukind gewesen war, den Krieg zu beenden. Ein Kriegsherr, der nur noch mit Mühe in den Sattel kam und sich kaum noch aufrecht halten konnte, war wie ein lahmendes Pferd oder ein Sohn, der mit schwacher Brust geboren wurde: das unnütze Abbild des Nützlichen, die enttäuschte Hoffnung, mehr Last denn Gewinn.
Der Sachsenherzog zügelte sein Tier neben dem Wolfhards. Die beiden Rappen drängten sich eng zusammen, um einander zu wärmen und gegen den Schneesturm zu schützen. Doch die Männer, obwohl Waffenbrüder, hielten Abstand zueinander.
»Donars Atem trug mir dein Flehen zu, Meier Wolfhard«, sagte Widukind mit einer Stimme, deren schneidende Kraft zu dem geschwächten Körper in Widerspruch stand. Mit dieser eindringlichen, beschwörenden Stimme hatte er es wieder und wieder geschafft, die Sachsen auf seine Seite zu ziehen, hatte er aus losen Haufen ein geschlossenes Heer geformt, das fränkischer Übermacht trotzte.
»Du führst den Namen des Donnergottes im Mund, Herzog.« Wolfhards Worte klangen bitter, sein Blick verhehlte nicht den Widerwillen. »Wirst du es noch tun, wenn Nott ihre dunklen Schleier über das Land wirft? Oder kennst du dann weder Nott noch Donar, weder Saxnot noch Wodan?«
»Nott bringt nach jedem Tag die schlafspendende Nacht und wird es immer tun«, antwortete Widukind, ohne zu überlegen. »Donar ist der Herr dieser Berge und wird es immer sein. So, wie Saxnot immer unser Stammvater, wie Wodan, Gott der Wölfe und der Raben, immer der Ahnherr meiner Sippe sein wird.«
Wolfhards Ausdruck verriet Unverständnis. Sein Blick suchte in Widukinds unbewegten Zügen nach Antwort, während eine weit ausholende Armbewegung des Sattelmeiers den großen Eichenhain umfasste. »Wenn du so aus tiefstem Herzen denkst, Herzog, warum willst du dann das alles hier aufgeben und dem Christengott Gefolgschaft geloben?«
»Das eine bedeutet nicht das andere, ganz im Gegenteil.« Diesmal waren Widukinds Worte nur ein Seufzen, und der Blick des Herzogs verlor sich im Dickicht der Baumriesen, im Labyrinth der Zeit. Nach einer kleinen Unendlichkeit des Schweigens fuhr er fort: »Ich habe keinen einzigen Sachsen vergessen, der für seinen Stamm und für seine Götter mit erhobenem Schwert in den Tod gestürmt ist. Noch vergaß ich jenen Bluttag vor drei Wintern, der die Aller rot färbte mit dem Blut unserer Brüder. Ich weiß, nicht viele werden mich verstehen, kaum ein Bauer und selbst nur wenige meiner treuen Sattelmeier. Auch dir wird es schwerfallen, Wolfhard, und doch würde gerade das mir viel bedeuten. Denn du zählst du den Treuesten und Tapfersten. Was heute geschieht, ist kein Verrat an den Toten, sondern unser Tribut an sie. Nur so können wir verhindern, dass jeder Tropfen Sachsenblut vergebens vergossen war.« Widukinds Blick kehrte von den Schlachtfeldern der Vergangenheit zurück und fand erneut die Augen des Waffengefährten. Enttäuschung legte sich über das Antlitz des Herzogs, als er im Gesicht des anderen noch immer Unverständnis las.
»Wenn wir weiterkämpfen, werden wir alle untergehen, früher oder später, und mit uns die Götter unseres Stammes«, versuchte Widukind es noch einmal und schrie gegen den wieder stärker werdenden Sturmwind an, der die sich mit jedem Wort erneuernde Atemfahne zerfetzte. Er blickte nach Norden, wo in unsichtbarer Ferne das Blutfeld von Verdi lag. »Tausende Tote. Sie alle sind für nichts gestorben, wenn ihr Stamm und ihr Glaube untergehen!«
»Ihr Stamm – unser Stamm – geht auch unter, wenn wir uns den Franken unterwerfen. Und unser Glaube ist dahin, wenn wir ihn verleugnen.«
Widukind schüttelte den Kopf. »Windzeit ist gekommen, und schwerer Sturm braust über das Land. Aber entwurzelt und verweht wird nur, wer sich dem Frankensturm unbeugsam entgegenstellt. Wer sich unter dem Schwertschlag beugt, aber in seinem Herzen aufrecht bleibt, wird bestehen. Sachsen werden Sachsen bleiben, auch wenn von Karl eingesetzte Grafen anstelle frei gewählter Fürsten über unsere Stammesbrüder herrschen. Und die Namen unserer Götter werden mitsamt den alten Bräuchen fortleben, mag es auch nur hinter vorgehaltener Hand geschehen, in düsteren Nächten, im Schutz des Sturmwinds. Aber das kann bloß sein, wenn es noch Sachsen gibt. Nur dann kann unser Stamm zu neuer Macht erstehen!«
»Aber wenn er dann schon zu fest eingefügt ist ins Reich der Franken?«
Widukinds Blick ging durch Wolfhard hindurch, wirkte sehnsuchtsvoll. »Dann wird vielleicht einst sächsisches Blut in den Adern der Könige fließen!«
Der Sattelmeier nickte langsam, begann seinen Herzog allmählich zu verstehen. Doch es war nicht leicht, das umzuwerfen, wofür man ein Leben lang eingetreten war, wofür man Sommer für Sommer mit blutigem Sax gekämpft hatte.
»Folge mir, Wolfhard.« Es klang nicht wie ein Befehl des Herzogs, sondern wie eine Bitte, fast wie ein Flehen. »Ich brauche dich!«
»Um die anderen zu überzeugen?«
Widukind nickte.
Der Sattelmeier rutschte vom Pferd und stapfte durch den an manchen Stellen kniehohen Schnee zu der gespaltenen Eiche. Dort hielt er an, drückte die flachen Hände und die gesenkte Stirn gegen den winterkalten Stamm, die Augen fest geschlossen. Die Kühle half, seine heißen, wirren Gedanken zu beruhigen. Und doch wurde er das Bild nicht los …
Tausende von Sachsen, Bauern und Krieger, niederkniend, hinter ihnen die fränkischen Henker mit ihren scharfen, rotbefleckten Schwertern. Leiber ohne Köpfe, Köpfe ohne Leiber. Bäche von Blut, sich in die Aller ergießend, den Strom rot färbend. Raben und Geier, die kreischend über dem Strafplatz kreisen, in so großer Zahl, dass sie die Sonne verdunkeln. Dann stürzen die Aasfresser nieder, einer nach dem anderen, hacken in totes, noch warmes Fleisch, baden im Blut der Verratenen, der Gemordeten. Glasige Augen in abgeschlagenen Köpfen und doch anklagende Blicke. Besonders aus zwei großen grünblauen Augen …
»Wooolfraaam!«
Wolfhards lang gezogener Schrei übertönte noch Donars Wut und brachte sie zum Verstummen. Die Äste standen still, von einem Augenblick zum anderen. Kein Windstoß zerrte mehr an ihnen. Der Schnee fiel gerade und sanft zu Boden, nicht länger im stürmischen Durcheinander. Es war, als halte der Donnergott den Atem an angesichts einer Trauer und eines Zorns, nicht weniger tief als die Verbitterung des Riesentöters selbst.
»Der mächtige Donar scheint seinen Frieden gefunden zu haben«, erklang Widukinds Stimme. »Aber wie steht es mit dir, mein Freund?«
Wolfhard spürte eine Hand auf seiner rechten Schulter, drehte sich um und blickte in Widukinds besorgtes Gesicht. Der Herzog stand neben ihm. Hätte der Herzog einen Bart getragen, wäre so manche tiefe Furche verdeckt worden. Welche Mühe mochte es den einst gefürchteten Recken gekostet haben, sich aus dem Sattel zu quälen?
Der Sattelmeier ballte die Hände zu Fäusten, so stark, dass er das Fleisch seiner Handballen aufriss. »Wie kann ich Frieden finden nach allem, was mir und den Meinen angetan wurde?«
»Keine Sippe, keine Familie lebt in den Sachsengauen, die das nicht von sich behaupten kann. Und doch müssen sie alle ihren Frieden machen, mit den Nornen und mit den Franken. Nur das bedeutet Leben. Und nur Leben ergibt einen Sinn!«
»Vielleicht ist es so«, sagte Wolfhard nachdenklich und versuchte vergebens, das Bild des anklagend blickenden grünblauen Augenpaares zu verdrängen. »Du hast in so vielen Dingen recht gehabt und bist deshalb unser Herzog geworden. Wahrscheinlich hast du auch diesmal das Rechte erkannt, eher und deutlicher als jeder andere im Sachsenland.«
»Ich hoffe es«, entgegnete Widukind auffällig leise. »Wenn nicht, lade ich große Schuld auf mich.« Er zeigte zu den beiden Pferden, die noch dicht an dicht standen. »Reiten wir? Die anderen warten sicher schon in der Burg.«
Wolfhard nickte und begleitete Widukind zu den Rappen. »Wie hast du mich so schnell gefunden?«
»Frau Hulda hat erst spät begonnen, die Betten der Riesen auszuschütteln. Die Eisfedern fielen nicht so zahlreich, um deine tiefen Spuren im Schnee zu verdecken.« Der Herzog lächelte hintergründig. »Aber auch ohne deine Spur zu sehen, hätte ich gewusst, wo ich dich finde, Meier Wolfhard.« Als Wolfhard im Sattel saß, bemühte sich Widukind zum wiederholten Mal vergebens, sein hohes Ross zu erklimmen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht rutschte er zurück in den Schnee und stöhnte leise. Wolfhard stieg behände ab und kniete sich vor Widukinds Pferd.
»Nein, Wolfhard.« Widukind schüttelte den Kopf. »Von diesem Tag an soll kein Sachse mehr vor mir auf die Knie fallen. Euer Herrscher heißt jetzt Karl.«
»Noch nicht. Noch bist du mein Herzog und ich dein Sattelmeier.« Ein flüchtiges Grinsen vertrieb kurzzeitig Wolfhards trübe Gedanken. »Auch wenn der Name dies nicht meint, als Sattelmeier muss ich doch meinem Herzog helfen, in den Sattel zu kommen.«
Abermals schüttelte Widukind das Haupt und ließ sein schwarzes Haar hin und her wehen. Stumm packte er die Zügel und führte seinen Hengst zu dem großen flachen Felsen unweit der gespaltenen Eiche. Er stieg auf den Opferstein, den das in vielen Menschenaltern vergossene Blut dunkel gefärbt hatte, und kletterte von da aus auf den Rappen. Es sah grotesk aus – aber einmal im Sattel, hielt sich der Herzog gut, wenn auch in seiner eigentümlich krummen Stellung.
Zwischen Widukind und Wolfhard schien alles gesagt. Schweigend ritten sie inmitten schneebedeckter Eichen und Buchen, Kiefern und Tannen zurück zur alten Donarburg. Der Donnergott hielt noch immer den Atem an – oder hatte er der Welt der Menschen, der Verräter und Götterleugner, ganz den Rücken gekehrt?
Es dauerte eine ganze Weile, bis der gedankenverlorene Sattelmeier das lang gezogene Heulen bewusst wahrnahm, das den Winterwald durchschnitt. Klagend. Zugleich bedrohlich. Und unheimlich, wie von Geisterstimmen ausgestoßen.
Wolfhard spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Der kalte Schauer, der über seinen Rücken lief, ging nicht auf den eisigen Hauch der Frostriesen zurück. Das Geheul war daran schuld. Vielmehr das, was dahintersteckte. Er hielt sein Pferd an, richtete sich im Sattel auf und blickte sich suchend um, ohne etwas zu sehen.
»Wolfsgeheul«, stellte Widukind, der seinen Hengst ebenfalls gezügelt hatte, stirnrunzelnd fest. »Seltsam, dass wir es bei dieser Windstille hören; die Wolfsschlucht ist doch gar nicht so nah. Der Winter ist hart, und die Rudel jagen auch am Tag. König Karl wird seine wahre Freude am Wiehengebirge haben. Die Jagd soll seine Lieblingsbetätigung sein.«
»Die Jagd auf Wölfe oder die auf Sachsen?« fragte Wolfhard.
»Ich weiß nicht, ob er da Unterschiede kennt.«
Widukinds Antwort bewies dem Sattelmeier, dass der Herzog wirklich aus Sorge um seinen Stamm handelte und nicht etwa, weil Frankenkönig und Christengott ihn überzeugt hätten. Doch das erleichterte Wolfhard keineswegs, zumal neuerliches Geheul erscholl. Seine Verursacher schienen jetzt näher zu sein, blieben aber unsichtbar.
Die Rechte des Sattelmeiers fuhr an die linke Hüfte und berührte den Schwertknauf. »Das hört sich an wie Geisterstimmen.«
»Dann nützt dir dein Sax nicht viel«, meinte Widukind, der kein Bisschen besorgt schien.
»Vielleicht sind es Wodans Wölfe, die Gierigen«, flüsterte der Sattelmeier in einer Mischung aus Andacht und Furcht. »Vielleicht weinen sie.«
»Warum?«
»Um den verlorenen Sohn, Herzog Widukind. Um dich!« Widukind, dessen Name ›Wodans Kind‹ bedeutete und dessen Familie ihre Abstammung auf den – in den alten Erzählungen von Wölfen und Raben begleiteten – Göttervater zurückführte, wirkte für einen Augenblick betroffen. Dann verhärteten sich seine Züge wieder, und er trieb den Rappen an.
»Ich habe mich entschieden«, sagte er hart. »Nichts kann mich mehr zur Umkehr bewegen!«
Wolfhard folgte ihm und hielt vergebens nach Wölfen Ausschau. Er sah weder Geistertiere noch welche aus Fleisch und Blut. Aber das klagende Heulen begleitete die beiden Reiter auf dem gesamten Weg.
Wolfsgeheul.
Vor dem geistigen Auge des Sattelmeiers tauchten wieder die beiden anklagenden Augen auf. Wolfram. Rief der Sohn nach dem Vater?
Ein seltsames Gefühl ergriff den Sattelmeier. Wie die Berührung einer unsichtbaren Hand. Hatten die Fäden der Nornen ihn gestreift? Das unablässige Geheul schien ihm das Schicksal verkünden zu wollen. Vergebens suchte Wolfhard nach dem Sinn der Botschaft. Aber er wusste auf einmal, ohne die Sprache der Wölfe zu verstehen: sein Schicksal würde sich erfüllen, noch an diesem Tag.
Das Wolfsgeheul war verklungen, vertrieben vom Geläut der Glocken. Der Christenglocken. An der Sandfurt, wo König Karl sein Heer zusammengezogen hatte, läuteten sie das Lied des fremden Gottes, der den Menschen Liebe predigte, aber ihnen Leid und Tod gebracht hatte. Nicht mit eigener Hand, sondern durch die Eisen der Krieger, die ihre Hütten und Unterstände an beiden Ufern der Weser aufgeschlagen hatten. Trossleute und Fußkämpfer, Berittene und die gefürchteten Eisenreiter. Tausende.
Als sich der lange Zug der Sachsen aus dem Schatten des Wiehens löste und sich, einem gewundenen Pfad folgend, ins Tal schlängelte, erfasste Aufregung das große Heerlager an der Sandfurt. Trompetenklänge und Fanfarenstöße flogen über das weiße Land. In scheinbarer Unordnung liefen die Heerhaufen durcheinander, fanden sich aber, wie von einer unsichtbaren Hand geleitet, unter ihren Bannern zusammen. Im vollen Waffenschmuck erwarteten sie den Feind und seine Kapitulation. Oder gar einen heimtückischen Überfall – Widukinds letzte List?
Masse, Disziplin und die besten Waffen. Das waren schon immer die Vorteile der Franken gewesen. Hasserfüllt, aber auch ein wenig neidisch blickten die Sachsen den Feinden entgegen, während sich die lange Menschenschlange langsamen Schrittes bergab bewegte. Die Franken hielten das Land der Sachsen und die wichtige Sandfurt besetzt. Die Franken hatten ausreichend Lebensmittel, um nach dem letzten Winter auch diesen an der Weser zu verbringen. Sie hatten das Land der Sachsen geplündert. Sächsische Männer, Frauen und Kinder hungerten, damit sich fränkische Krieger und Priester die Bäuche vollschlagen konnten.
Das Winterlager an der Weser war vielleicht Karls geschicktester Zug in dem langen, blutigen Spiel um Sachsen gewesen. Früher hatten sich die Franken nach jedem Feldzug zum Überwintern an den Rhein zurückgezogen. Karl liebte es angeblich, des Winters in den heißen Wassern seiner Aachener Pfalz zu baden. Darauf hatten Widukind und die Sachsen immer gesetzt. Wenn die weißen Mäntel der Frostriesen gnädig das blutgetränkte Land bedeckten, hatten Edelinge, Frilinge und Liten ihre Wunden geleckt, neue Kräfte geschöpft und Pläne für den Kampf im nächsten Sommer geschmiedet. Doch dann blieb Karl im Land, und mit ihm blieben seine Eisenreiter. Auch im Winter jagten sie die Sachsen durch deren eigenes Land. Kein Verschnaufen mehr, keine Ruhe, keine Erholung, nur Kampf und Tod – und schließlich das Erlahmen der Kräfte. Das hatte Widukind gespürt, eher noch als alle anderen.
Die in Wolfhard aufkeimende Gewissheit, dass sein Herzog doch das Richtige tat, währte nicht lange. Der Reitertrupp, der den Sachsen entgegenpreschte und dabei den Schnee aufpflügte, nahm die Aufmerksamkeit des Sattelmeiers in Anspruch. Immer mehr Sachsen bemerkten die fremden Reiter, und die lange Menschenschlange stockte, erstarrte in Eis und Schnee, abwartend, hassend, furchtsam. Rufe wurden laut, flogen von Mund zu Mund: »König Karl!« – »Der Frankenkönig!« – »Der Sachsenschlächter!«
»Nein – der Anführer von diesen hier ist nicht Karl. Der König ist größer, kräftiger, beeindruckender.« Der das sagte, war der fränkische Edle Amalwin, Anführer der Geiseln, die König Karl dem Sachsenherzog zähneknirschend als Garantie für Widukinds Sicherheit zugestanden hatte. Auch Wolfhard hatte inzwischen den Anführer der fränkischen Reiter erspäht. Ein Mann von hoher, hagerer Gestalt, dessen Züge verbissen wirkten. Die wulstige Stirn, die ungewöhnlich weit seitlich sitzenden Augen und die lange, krumme Nase verliehen dem schmalen Gesicht etwas Raubvogelhaftes. Und wie ein Habicht oder Bussard auf der Suche nach Beute spähte der Reiterführer zu den Sachsen herüber, zu den Männern, die einmal seine Waffengefährten gewesen waren.
»Asmund, der Verräter!«, rief jemand dicht hinter Wolfhard.
Der Rufer musste ein Sattelmeier sein, wie Wolfhard einer war und wie, bis vor wenigen Wintern, der Enger Asmund einer gewesen war. Die Sattelmeier waren Widukinds treueste, ergebenste Gefährten. Sie hatten an seiner Seite gekämpft und ihm auf ihren Höfen stets Unterkunft und ein frisches gesatteltes Pferd zur Verfügung gestellt, wenn die Franken den Freiheitskämpfer durch das Sachsenland jagten. Asmund hatte den Treueschwur der Sattelmeier gebrochen und die Seiten gewechselt. Der Frankenkönig dankte es ihm, indem er ihn zum Wikgrafen der Sandfurt und zum Gaugrafen des ganzen Wesertals ernannte.
Auf einmal veränderte sich für Wolfhard das Bild, beherrschte die Erinnerung die Wirklichkeit. Nicht mehr weiß vom Schnee war das Land, sondern rot vom Blut der geschlachteten Sachsen. Viertausendfünfhundert Männer waren in Verdi gestorben. Zum Teil als Kriegsgefangene, zum Teil freiwillig in Geiselhaft gegangen und zum Teil von sächsischen Überläufern angelockt, hatten sie auf die Gnade des Frankenkönigs und seines angeblich so barmherzigen Gottes vertraut. Einer von ihnen war Wolfram gewesen, Wolfhards ältester Sohn, der in Asmunds Waffendienst gestanden hatte. Treu folgte Wolfram dem Sattelmeier Asmund in die fränkische Haft. Der Edeling Asmund erheischte Karls Gnade und, mehr noch, wurde ein Günstling des Frankenkönigs. Wolfram aber starb wie die viereinhalbtausend anderen Sachsen: gefangen, gefesselt, niederkniend – enthauptet.
Wolfhard stieß einen Schrei aus, der nichts Menschliches an sich hatte, rammte gleichzeitig die Sporen in seines Rappen Flanken und wollte nach vorn galoppieren, dem verhassten Verräter entgegen. Aber ein Reiter löste sich von der Spitze des Sachsenzugs und versperrte ihm den Weg: Widukind. Der Herzog beugte sich vor und hielt Wolfhards Hand fest, bevor der Sattelmeier das Schwert ziehen konnte.
»Nicht, Wolfhard!«, zischte der Herzog und bedachte ihn mit einem eindringlichen, warnenden Blick. »In einem einzigen Augenblick könntest du alles zerstören, wofür ich mich in den letzten Monaten eingesetzt habe.«
»Was ist?«, erkundigte sich besorgt Amalwin, der seinen Falben ebenfalls nach vorn gedrängt hatte. Sollte so kurz vor dem Ziel, vor Karls Heerlager, der Frieden noch gebrochen, das Leben der Geiseln verwirkt werden?
»Der Anführer von Karls Gesandtschaft ist Asmund, der früher zu meinen Sattelmeiern zählte«, erklärte Widukind dem Franken.
»Karl wird diese Wahl als Geste der Versöhnung getroffen haben«, sagte Amalwin, der Wolfhards Erregung nicht verstand.
»Als Asmund sich deinem König ergab, hatte er Wolfhards Sohn bei sich«, fuhr Widukind fort. »Jetzt weilt Wolfram in Walhall, falls Wodan enthauptete Gefangene in den Reihen der Einherier aufnimmt.«
»Verstehe«, murmelte der Franke betroffen. »Der König hat das bestimmt nicht gewusst.«
»Falls doch, hält er nicht viel vom Frieden zwischen unseren Völkern«, brummte Widukind und wandte sich wieder dem Waffengefährten zu. »Wirst du dich beherrschen können, Wolfhard? Oder willst du lieber die Nachhut meines Gefolges führen?«
»Den Triumph gönne ich Asmund nicht«, presste Wolfhard in einer Mischung aus Zorn und Bitterkeit hervor. Seine Hände zitterten. »Ich werde mich beherrschen, wenn es auch schwerfällt.«
Die Franken verlangsamten den Galopp, weil sie die Sachsen fast erreicht hatten. Eisenreiter! Ihr Anblick löste bei den Sachsen nicht gerade warmherzige Gefühle aus. König Karl hatte bei der Wahl seines Empfangskomitees wenig Geschick bewiesen. Oder beabsichtigte er eine Konfrontation? Sunnas Strahlen, die zwischen dicken Wolkenbänken hindurchbrachen, ließen metallene Schuppenpanzer, Kegelhelme und Beinschienen, Schilde, Schwerter und Lanzen in einem blutigen Rot aufglühen. Die Eisen- oder Panzerreiter bildeten das schlagkräftige Kernstück des fränkischen Heeres. Die gepanzerten Scaras erfochten mit stählerner Wucht oft den Sieg noch, wo Karls leichte Reiterei und die Fußtruppen schon zurückweichen wollten. Die großen Feldschlachten bei Theotmalli und an der Hasa und damit letztlich der Krieg ums Sachsenland waren von ihnen gewonnen worden. Für den tapfersten Sachsen waren Erschrecken und Furcht keine Schande, wenn sich vor ihm ein Eisenreiter in den Steigbügeln aufrichtete und die starke Lanze vorschoss.
Mit einer herrischen Handbewegung ließ Asmund die Panzerreiter halten. Die Blicke der fränkischen Soldaten waren nicht minder feindselig als die der Sachsen. Beide Seiten hatten sich oft, über viele Jahre hinweg, in erbitterter Feindschaft gegenübergestanden. Mancher Sachse und mancher Franke mochte daran denken, ob er dem Mörder seines Vaters, Sohnes oder Bruders in die Augen blickte.
Wolfhard spürte, dass ein Wort oder ein Schwertstreich genügte, um einen blutigen Kampf entbrennen zu lassen. Hunderte von Sachsen standen einer halben Hundertschaft der Eisenreiter entgegen. Der Sieg wäre trotz fränkischer Waffenkunst und Kampferfahrung auf der Seite der Sachsen gewesen. Aber was kam danach? Karls Rache gewiss – und damit der Waffengang gegen Tausende und Abertausende von Sachsen. Noch einmal würde sich Karl kaum auf Friedensverhandlungen einlassen. Wer jetzt das Schwert erhob, hatte den ganzen Sachsenstamm auf dem Gewissen. »Ich grüße dich, Meier Asmund«, sagte Widukind. »Endlich bin ich am Ziel.«
Wolfhard biss die Zähne zusammen. Welche Schmach! Widukind, der größte und verdienstvollste aller Sachsen, entbot dem Verräter Asmund seinen Gruß. Umgekehrt wäre es nach rechter Art gewesen: Der Sattelmeier hatte zuerst den Herzog zu grüßen.
Asmund zeigte sich der Höflichkeit, deren sich Widukind aus Sorge um die angespannte Lage befleißigt hatte, nicht würdig. Mit verächtlich herabgezogenen Mundwinkeln bellte der Überläufer: »Sattelmeier ist der falsche Ausdruck. Ich bin nicht länger einer deiner Pferdehalter, Widukind. Wenn die Sonne versinkt, wird es keine Sattelmeier mehr geben!«
Ungerührt fragte Widukind: »Wie also soll ich dich nennen, Asmund?«
»Graf Asmund.« Der Überläufer hob stolz das Haupt und zeigte, dass er sein Haar nach fränkischer Sitte kurzgeschoren trug; kaum eine Strähne lugte unter der Pelzkappe hervor. »Den Titel gab mir König Karl.«
Wolfhard konnte nicht länger an sich halten und rief: »Von was bist du der Graf, Asmund? Was hat dir dein König Karl noch gegeben als Belohnung für deinen Verrat?«
Widukind warf Wolfhard einen beschwörenden Blick zu, aber zu spät. Schon waren die beleidigenden Worte heraus. Asmunds Mundwinkel zogen sich noch tiefer nach unten. Es klirrte wie gebrochenes Eis, als die Eisenreiter nach ihren Waffen griffen. Und auch in die Sachsen kam Bewegung. Sie wollten aus der langen Marschreihe ausscheren, um sich in Schlachtformation aufzustellen.
Amalwin drängte seinen Falben erneut nach vorn, zwischen Franken und Sachsen, und rief den Panzerreitern zu: »Nehmt die Hände von den Waffen! König Karl will Frieden, keinen Krieg!«
Asmund funkelte Amalwin böse an. »Ich führe hier den Befehl!«
»Nicht mehr lange, wenn ich Karl erzähle, dass deine Befehle ihn den Frieden gekostet haben.« Der Franke hielt dem wütenden Blick des Grafen stand und lächelte dünn, ohne jede Erheiterung.
Asmunds Mienenspiel verriet seinen inneren Kampf. Schließlich veranlasste er mit einer knappen Handbewegung die Panzerreiter, die Schwerter in den Scheiden zu lassen und die Lanzen nicht zum Stoß zu senken. Widukinds Sattelmeier sorgten dafür, dass auch die Sachsen friedlich blieben und wieder in die Marschordnung zurückkehrten.
Wolfhard sah weder Widukind noch Asmund an. Er war auf die Ermahnung des Herzogs ebenso wenig begierig wie auf den Anblick des Mannes, dem er die Schuld an Wolframs Tod gab. Wolfhard blickte über die Marschreihen hinweg in das Gesicht seiner Frau. Sie wirkte wie versteinert. Ebenso sein zweiter Sohn. Seine Tochter war noch zu jung, um zu begreifen.
Angeführt von Asmunds Eisenreitern, setzten die Sachsen ihren Marsch fort und tauchten bald in die Ausläufer des fränkischen Heerlagers ein. Jetzt war es für jeden Sinneswandel zu spät, jede Umkehr war ausgeschlossen, verwehrt durch fränkische Übermacht. Die unter ihren Bannern versammelten Krieger Karls wirkten angespannt. Vermutlich erschien ihnen dieses Ereignis nicht weniger unglaublich als den Sachsen. Wie viele Sommer – und zuletzt auch Winter – hatten sie damit verbracht, Widukind zu jagen. Ohne Erfolg. Immer wieder entwand er sich ihrem Zugriff, wie ein Geist, der nur zum Kampf in die Menschenwelt kam und sie dann wieder auf einem Himmelsross verließ. Und jetzt ritt er aus freien Stücken in ihr Lager ein. Kein vor Stolz hoch aufgerichteter Recke, sondern ein kranker Mann, für den es schon eine Leistung war, sich im Sattel zu halten. Das sollte wirklich der gefürchtete Widukind sein?
Das Läuten der nahen Glocken war so laut, dass es auf Wolfhard betäubend wirkte. Jeder Laut war wie ein Keulenschlag gegen seinen Kopf. Und doch unterschied er zwei verschiedene Klänge, zwei Glocken. Eine schlug hell und klar, die andere dumpf und drohend. Wie ein Sinnbild des Christengottes, der Frieden verhieß und Krieg brachte. Es waren die Glocken der Siedlung an der Sandfurt. Hinter dem Wik, der Kaufmannsansiedlung, näher zur Weser gelegen, entstand ein beeindruckender Bau: eine Befestigung mit einem großen Glockenturm, aus dem die hellen und die tiefen Schläge erklangen. Hier bauten Franken und unterworfene Sachsen einen Königshof mit einer Missionsstation, von der aus die Christenprediger ihren Glauben tiefer ins Sachsenland tragen wollten. Zum Ruhme ihres Gottes und ihres Königs.
Karl!
Die Menge zwischen den Häusern, Hütten und Ställen im Wik und dem umliegenden Heerlager teilte sich und gab den Blick auf einen Mann frei, der niemand anders sein konnte als der Frankenkönig. Wolfhard wusste es, obwohl er Karl niemals zuvor aus der Nähe gesehen hatte, nur von fern in der Schlacht. Nicht nur die Ehrfurcht, die dem großen, stattlichen Mann auf dem kräftigen Schimmel seitens der Franken entgegengebracht wurde, ließ Wolfhard zu dem Schluss kommen. Es lag auch nicht an dem im Sonnenlicht blitzenden Aufputz: ein edelsteingespicktes Golddiadem auf dem großen, runden Haupt mit dem leicht gekräuselten Blondhaar; ein golddurchwirkter Mantel und goldschimmernde, mit Edelsteinen besetzte Schuhe; und auch das Prunkschwert an seiner Hüfte blinkte kostbar. Wolfhard erkannte den König an der stolzen und doch natürlichen Haltung, die der kräftige Mann zeigte; an dem gebieterischen Blick, den die großen, stets in Bewegung befindlichen Augen aussandten. Kaum einer hielt diesem Blick stand. Die meisten Franken beugten sich darunter wie unter einer schweren Last oder zuckten zusammen wie von einem Schwerthieb getroffen.
Das also war der Frankenkönig, den sie auch den Großen nannten. Carolus magnus. Der Erbe des Frankenreiches. Der Leuchtturm Europas. Der Schutzherr Roms und der Verteidiger der heiligen Kirche. Der Wegbereiter des christlichen Glaubens. Der Eroberer Sachsens.
Der Sachsenschlächter!
Wolfhard sah nichts mehr außer dem großen Reiter, der wandelnden Prunkstatue, die so gar nicht zu dem Bild passen wollte, das er sich von Karl dem Bluttrinker gemacht hatte. Wenn er in den vergangenen Jahren an den Frankenkönig gedacht hatte, stellte er ihn sich von Kopf bis Fuß in eiserner Rüstung vor, blutbeschmiert, mit erhobenem Schwert, das auf einen vor ihm knienden gefesselten Jüngling herabfuhr und mit einem kräftigen Hieb den Kopf von den Schultern trennte. In Wolfhards Gedanken war es Karl selbst, der Wolfram tötete. Und wenn nicht Karl, dann Asmund, der Doppelzüngige, der Verräter, der Überläufer.
Aber jetzt forschte der Sattelmeier vergeblich im Gesicht Karls nach jener unbändigen Grausamkeit aus seinen düsteren Träumen. Würdevoll blickte Karl, schien manchmal fast ein wenig heiter, dann wieder voller Verständnis, wenn seine Augen auf Widukind und den sächsischen Edelingen ruhten.
Eine Maske!, versuchte sich Wolfhard einzureden. Karl trägt die Maske eines gütigen, verständnisvollen Herrschers, um uns in Sicherheit zu wiegen. Doch bei nächster Gelegenheit fällt er uns in den Rücken und färbt mit unserem Blut das Wasser der Weser so rot, wie es vor drei Wintern die Wasser der Aller gewesen sind.
Doch sosehr Wolfhard sich auch bemühte, er vermochte keinen falschen Zug in Karls Antlitz zu erkennen. Der König schien es ehrlich mit den Sachsen zu meinen, aber der Sattelmeier sträubte sich gegen diese Erkenntnis.
Waren Augenblicke oder eine Ewigkeit vergangen, seit die Sachsen ihren unerbittlichen Widersacher erblickt hatten? Wolfhard wusste es nicht. Der Bann, der über ihm lag, brach erst, als Bewegung in das Prunkbild kam und Karl seinen Schimmel langsam auf die Sachsen zuschreiten ließ. Es war eine große Geste, dass der König dem Herzog, der Sieger dem Unterlegenen entgegenkam.
Widukind war nicht der Mann, der das in eitler Selbstüberschätzung ausnutzte. Auch sein Rappe setzte langsam Huf vor Huf in den zerstampften Schneematsch, und fast jeder Schritt führte zu einem schmerzhaften Zucken der Mundwinkel. Die lange Zeit im Sattel – erst der Ritt zum heiligen Hain und zurück zu den verfallenden Mauern der alten Fluchtburg, dann zur Sandfurt – hatte den Herzog sichtlich angestrengt.
In der Mitte zwischen beiden Gruppen trafen sich Karl und Widukind, hielten dicht voreinander ihre Tiere an und reichten sich die Hände. Jubel erscholl, besonders aus fränkischen Kehlen. Wolfhard aber fühlte, wie sich sein Herz zusammenkrampfte. Sein Mund wurde trocken, und Schwindel packte ihn. Der Pakt war geschlossen, der Frieden besiegelt – und damit die Niederlage der Sachsen. Es gab keinen Kampf mehr, keine Rache für Wolframs schmählichen Tod.
»Reiß dich zusammen, Wolfhard!«, herrschte ihn im Flüsterton Abbio an, der Herzog der Ostfalen und Gemahl von Widukinds Tochter Debra. »Wenn du aus dem Sattel sinkst, halte ich dich. Wenn du aber dein Schwert ziehst, bin ich schneller!«
Der westfälische Sattelmeier warf einen langen Blick auf den hochgewachsenen, schlanken Ostfalenherzog, der sich im Kampf wie im Frieden stets als getreuer Gefolgsmann seines Schwiegervaters erwiesen hatte. Abbios entschlossenes Antlitz ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass seine Worte ernst gemeint waren.
»So weit ist es also gekommen«, seufzte Wolfhard tief. »Lieber tötet ein sächsischer Edeling den anderen, als das Schwert gegen den Schlächter unseres Stammes zu führen!«
»Du hättest nicht mitkommen sollen«, stellte Abbio kopfschüttelnd fest. »Du trägst zu schwer an deinem Hass.«
Wolfhard schwieg, aber insgeheim gab er dem Ostfalen recht. Seine Gedanken und sein verwundetes Herz weilten bei Wolfram, dem geliebten Sohn. Die Reden, die Karl und Widukind in der Sprache der Franken hielten, hörte der Sattelmeier kaum. Selbst wenn er das Fränkische so gut beherrscht hätte wie sein Herzog, hätte er den hehren Worten nicht inniger gelauscht. Was er verstand, reichte ihm. Hohl und falsch klangen für ihn die Worte vom Frieden zwischen Franken und Sachsen, von dem neuen Volk, das einst aus beiden erwachsen würde, von dem wahren Glauben, der über die heidnischen Götter triumphierte.
Geschenke wurden ausgetauscht, darunter ein prachtvoller Schimmel, den Karl von einem Knappen heranführen ließ. Das Sattelzeug strotzte nur so vor Edelsteinbesatz und golddurchwirkten Stickereien.
»Man kennt und fürchtet dich als ›Schwarzen Reiter‹, Herzog Widukind«, sprach Karl mit seiner eigentümlich hohen Stimme, die so gar nicht zu seiner kraftvollen Erscheinung passen wollte. »Man sieht dich nur auf deinem Rappen, und mancher sagt, des Nachts verschmilzt dein Pferd mit den dunklen Schleiern und trägt dich fort in ein Versteck hoch in den Wolken.« Der König stieß ein heiseres Lachen aus, als er die missbilligenden Blicke seiner Priester auf sich spürte. »Aber das ist natürlich blühender Unsinn, heidnischer Aberglaube. Gleichwohl soll dieser Schimmel das Zeichen deiner Umkehr und deines neuen – des rechten – Glaubens sein. Er ist aus edelster Zucht, der Bruder meines eigenen Hengstes. Ich würde mich freuen, sollten wir beide auf den Brüderpferden, selbst wie Brüder, zu dem Gastmahl reiten, das meine Köche dir und deinen Edlen bereitet haben.«
Während die Frilinge und Liten aus Widukinds Gefolge von fränkischen Knechten mit Roggenbrot, Käse und Bier versorgt wurden, führte Karl seine edlen Gäste in einen massiven Holzbau, über dem das Banner des Königs schlaff in der windstillen Luft hing: goldene Kreuze und goldene Rosen auf rotem Grund. ›Oriflamme‹ wurde das Banner genannt, die Goldene Flamme. Rot war die Farbe der Liebe, des Feuers und des Blutes, der Eroberung und der Macht. Das Kreuz war das Zeichen der Christenheit; an ihm war Jesus Christus für die Sünden der Menschheit gestorben. Die Rosen waren das Sinnbild der Liebe Jesu; sie verkörperten sein vergossenes Blut.
In der hölzernen Halle brannten wärmende Herdfeuer. Räucherfisch, Bratfleisch, Weißbrot und gute Weine ließen viele Edelinge vergessen, dass dies kein Festtag für sie war. Wolfhard aß und trank nichts, sein Magen war wie zugeschnürt. Am liebsten hätte er sich mit Weib und Kindern in eine Ecke verkrochen, aber Widukind hatte darauf bestanden, dass seine Sattelmeier mit ihm an Karls Tafel Platz nahmen. Asmund hatte dort ebenfalls seinen Sitz, und sein selbstgefälliger Gesichtsausdruck vertrieb bei Wolfhard auch den letzten leisen Anflug eines Magenknurrens.
Karl, der mit offensichtlichem Genuss eine Hühnerkeule zerfleischte, hielt plötzlich inne, fixierte Wolfhard und fragte, langsam und betont sprechend, so dass der Sattelmeier ihn trotz der fremden Frankensprache gut verstand: »Weshalb isst du nichts, Sachse? Ist die fränkische Art, die Speisen zuzubereiten, nicht nach deinem Geschmack?«
»Nichts, was fränkisch ist, ist nach meinem Geschmack«, antwortete Wolfhard, ohne nachzudenken. Die Worte kamen aus seinem Herzen.
Alle an der großen Tafel erstarrten, selbst Widukind. Besorgte und ängstliche Blicke flogen zwischen dem König und dem Sattelmeier hin und her, um sich dann auf Karl zu konzentrieren. Der legte die abgenagte Keule auf die dicke, fettgetränkte Weißbrotscheibe, die ihm als Essensunterlage diente, wusch seine von Fett triefenden Finger in der Wasserschale, wie sie vor jedem Mann auf dem Tisch stand, und trocknete die Hände an dem groben Leinen des Tischtuches ab. Dann stützte er das runde, leicht fliehende Kinn auf die ineinander verschränkten Hände, während die Ellbogen auf der Tafel ruhten. Die Spitzen seines großen Schnurrbarts zitterten, als er die Mundwinkel wie zu einer ironischen Bemerkung nach oben zog. Ungewöhnlich starr wirkten die Augen des Königs, als sie Wolfhard festnagelten.
Der Sattelmeier wollte es nicht, doch er fühlte sich von diesem Blick gefangen. Er nahm kaum wahr, dass neben ihm auf der Holzbank Abbio unruhig hin und her zu rutschen begann.
»Verzeih, edler Sachse, aber ich kenne deinen Namen nicht«, erwiderte Karl seelenruhig, fast leise, doch seine Worte wurden an der ganzen Tafel vernommen. Niemand sprach, niemand kaute, niemand trank.
»Ich bin Wolfhard, Sohn Wolframs, Graf des Wolfsgaues und Sattelmeier des Herzogs Widukind.«
Wolfhard sprach leise, aber bestimmt, wie auch König Karl geklungen hatte. Der Sattelmeier spürte, dass die Nornen das Schicksal in seine Hände gelegt hatten. Er konnte den Frieden verhindern und damit die Unterwerfung. Die richtigen Worte – oder die falschen, ganz wie man es betrachtete – würden genügen, alles zu zerstören, was Widukind in mühsamen Verhandlungen erreicht hatte. Hass und Verbitterung waren groß, auf beiden Seiten. Die Glut glomm stark unter der dünnen Ascheschicht friedenslobender Reden. Es bedurfte nur eines starken Hauches, die verzehrenden Flammen wieder zu entfachen.
Karl bedachte ihn mit einem Nicken. »Ich habe schon von den Wolfskriegern gehört, Graf Wolfhard. Und manches Mal habe ich sie verflucht, weil sie im Kampf besonders unerbittlich waren. Ich schätze, das Blut vieler toter Franken klebt an deinem Schwert und an den Klingen deiner Krieger.«
Wolfhard ahmte Karls Nicken nach und sagte mit ansonsten unbewegtem Gesicht. »Ich bin stolz auf jeden Tropfen.«
Karl lächelte, zur allgemeinen Überraschung. »Ich freue mich über deine ehrlichen Worte, Graf Wolfhard. Ehrlichkeit ist das Fundament unseres Friedens. Niemand kann erwarten, dass jede Feindschaft und jeder Hass an einem einzigen Tag begraben werden. Nein, wir sollten ehrlich miteinander sein, aber auch nicht vergessen, dass Vergebung die Lehre unseres Glaubens ist, der bald auch der eure sein wird. Jesus Christus, der Sohn Gottes, dessen Geburtstag wir morgen gemeinsam begehen werden, hat die Vergebung gepredigt. Wir sollten ihm darin folgen, bei all unseren Schwächen.«
Die hohen Geistlichen, allen voran der Erzkaplan Angilram von Metz und der Missionsbischof Erkanbert vom Kloster Sankt Bonifatius an der Hamelmündung, nickten beifällig. Nur ein junger rothaariger Kleriker, dessen Namen Wolfhard nicht kannte, blickte so düster wie der Sattelmeier selbst. Die harten, tiefen Linien seines asketischen Gesichts wirkten wie mit der Axt hineingeschlagen, festgefügt und unverrückbar, drohend und unheilverkündend.
»Üben wir uns also in Vergebung, Graf Wolfhard«, fuhr Karl leutselig fort. »Auf beiden Seiten floss Blut, und alle, Sachsen wie Franken, tragen ihren Teil der Schuld. Es soll genug des Mordens und des Sterbens sein. Es gibt noch so viel anderes, Schöneres zu vollbringen, als Krieg zu führen.« Seine Hände lösten sich voneinander, und er schlug sie dreimal laut klatschend zusammen. »Ich selbst habe mich in letzter Zeit viel mit Kräutern und Gewürzen befasst. Ein Ergebnis dieser Tätigkeit möchte ich euch allen jetzt vorsetzen.« Als die Diener vor jeden Gast eine große Silberschale mit einer dicklichen, dampfenden, streng riechenden Flüssigkeit stellten, erklärte der König: »Das Rezept zu dieser Lauchsuppe ist von mir, edle Herren. Ein Mahl, das auch dem abgezehrtesten Recken zu neuen Kräften verhilft. Speck und kräftiges Dunkelbrot ist darin, das Weiße vom Lauch sowie süßer und saurer Rahm. Dazu die richtige Prise Salz und weißer Pfeffer und das Ganze mit Schnittlauch bestreut. Kostet die Suppe, und sagt mir, was ihr davon haltet!«
Alle, auch Widukind und Abbio, ergriffen die langen Zinnlöffel, um die Suppe zu kosten. Nur Wolfhard saß weiterhin unbeweglich und sann über die vertane Gelegenheit nach. Und darüber, mit welchem Geschick Karl der angespannten Situation die Schärfe genommen hatte. Wolfhard begriff, dass die Zunge des Frankenkönigs eine ebenso gefährliche Waffe war wie sein Schwert. Doch den Sattelmeier hatten die wohlgesetzten Worte nicht überzeugt. Sein Herz floss nicht vor Vergebung über, sondern weiterhin vor Trauer und Zorn.
Widukind tat, als hätte ihn der Wortwechsel zwischen Karl und Wolfhard nicht berührt. Erst nach dem Nachtisch, zu dem Weizenbrot und wahlweise Schwarzbeer- oder Birnenmarmelade gereicht wurden, als Karl die Tafel aufhob, um sich mit Widukind unter vier Augen zu unterhalten, zog Abbio den Sattelmeier beiseite und sagte streng: »Der Herzog wundert sich über dein Benehmen, Wolfhard!« Mit den Worten entströmte der Geruch von Wein und Gewürzen dem Mund des Ostfalen.
»Dich und Widukind scheinen fränkische Speisen ebenso zu sättigen wie fränkische Reden«, sagte Wolfhard in scharfem Ton. »Aber ich lasse mich nicht von diesem angeblich so großen König blenden. Zu uns spricht er von Vergebung, dabei hat er erst vor kurzem Gesetze erlassen, die unseren Stamm versklaven. Die jeden Mann mit dem Tod bedrohen, der die Gebote der fremden Priester nicht beachtet, der sich der Taufe verweigert und weiterhin dem Glauben seiner Väter folgt. Selbst wer die Fastenzeit missachtet oder nach alter Väter Sitte zu unseren Stammesthingen kommt, muss seinen Kopf hergeben. Nennen Karl und Widukind das Vergebung?«
Wolfhard sprach von den Gesetzen für das Sachsenland, die Karl unter der Bezeichnung Capitulatio de partibus Saxoniae vor drei Wintern auf dem Reichstag an den Lippequellen erlassen hatte.
Abbio sagte halblaut: »Der König hält das Sonderrecht für notwendig, um Frieden und Ordnung in unserem Land zu gewährleisten.« Es klang leiernd, wie auswendig gelernt.
»Du sprichst von einem Sonderrecht, Abbio. Ich nenne es ein besonderes Unrecht. Jeder Mann, der diese Gesetze befolgt, hört auf, ein freier Sachse zu sein!«
»Wir sind jetzt nicht mehr nur Sachsen, sondern ein Teil des fränkischen Volkes.« Wieder klang es hohl, als glaube der Ostfale selbst nicht an seine Worte.
Wolfhard warf einen Blick zum anderen Ende der großen Halle, wo Widukind und Karl an einem wärmenden Feuer saßen und sich angeregt unterhielten. »Und was hält der Herzog von diesen Sondergesetzen?«
»Ihm haben wir zu verdanken, dass Karl die strengsten Regeln immerhin gemildert hat, Wolfhard. Der Herzog hat zäh verhandelt und die Zwangslage des Königs ausgenutzt.«
»Welche Zwangslage?«, fragte Wolfhard erstaunt.
»Unruhen an der Grenze der Bretonischen Mark«, antwortete Abbio im Flüsterton. »Schon im Frühjahr droht der offene Krieg auszubrechen. Karl braucht volle Handlungsfreiheit, um den Aufstand niederzuschlagen. Neue Feldzüge in Sachsen kämen ihm höchst ungelegen. Außerdem munkelt man von einem drohenden Aufstand der starrsinnigen Baiern und Thüringer.«
»Dann verstehe ich dich und Widukind noch weniger«, sagte Wolfhard kopfschüttelnd. »Die Gelegenheit, das fränkische Joch abzuschütteln, ist günstig wie nie!«
»Du unterschätzt die Franken. Ihr Joch lässt sich nicht mehr abschütteln. Wir könnten noch einige Sommer hindurch Krieg gegen sie führen, gewiss, aber es gäbe keinen Gewinn, nur einen hohen Preis: unser Blut.«
Unruhe entstand, als Karl und Widukind sich von den gepolsterten Klappstühlen am Herdfeuer erhoben und Seite an Seite zum Ausgang der großen Holzhalle schritten. Sie verhielten zwischen fränkischen und sächsischen Edlen, und Karl erklärte: »Wir wollen uns jetzt zur Taufe an den Fluss begeben. Der Herzog der Sachsen hat mir die Ehre erwiesen, mich als Taufpaten anzunehmen.«
Hochrufe auf Karl und Widukind begleiteten die beiden, während sie an der Spitze der Edelinge zur Weser gingen. Die Luft war kalt, aber weiterhin windstill. Seit Wolfhards Besuch im heiligen Hain, als Donars Sturmwind plötzlich erstarb, hatte sich kaum eine Brise geregt. Die Götter hielten den Atem an.
Ort der Taufe sollte eine schmale Landzunge sein, die unweit des neuen Königshofes in den breiten Fluss ragte, der Weser hieß und aus dem Land der Hessen kam, ganz Sachsen durchströmte und sich bei den Friesen ins Meer ergoss. Wehmütig blickte Wolfhard auf das gurgelnde Wasser, das sich dem fernen Ziel entgegenwälzte und die Träume der freien Sachsen mit sich nahm. Hier hatten die Verteidiger die fränkischen Angreifer aufhalten wollen, doch die Flussgeister waren nicht mit den Sachsen gewesen. Freudig hatten sie Karl aufgenommen und ihm gestattet, die wichtige Furt zu besetzen.
»Mein Hofkaplan Angilram wird die Taufe im Namen des Herrn vornehmen«, erklärte Karl. »Ihm zur Seite stehen Erkanbert von Sankt Bonifatius und Rutinus, der zwar noch jung an Jahren ist, sich aber im Kloster an der Hamel so bewährt hat, dass er die neue Mission an der Sandfurt leiten wird.«
Die Bezeichneten traten vor. Rutinus war niemand anderer als jener rothaarige Geistliche, dessen harter Gesichtsausdruck Wolfhard in der Festhalle aufgefallen war.
Der Sattelmeier verfolgte die Zeremonie wie einen Alptraum, aus dem er nicht erwachen konnte. Widukihd trat zusammen mit Karl auf die Landzunge. Wegen der Kälte trug der Herzog, der sein Schwert abgelegt hatte, das weiße Taufgewand nicht auf dem nackten Leib, sondern über seiner Kleidung. Ein Stich ging durch Wolfhards Brust, als er sah, wie der Sohn Wodans sich vor Angilram beugte und sich auf eine große Flechtmatte kniete. Alle standen, nur Widukind senkte sein Haupt!
Den Mündern der fränkischen Geistlichen entströmten unverständliche Gebete in der seltsamen Sprache, die sie Latein nannten. Dann sprachen Angilram und Widukind die verhängnisvollen Worte.
»Widersagst du dem Teufel?«, fragte der Erzkaplan.
»Ich widersage«, antwortete Widukind zwar deutlich, aber mit seltsam unbeteiligter Stimme.
»Widersagst du den Werken und allen Wünschen des Teufels?«
»Ich widersage.«
»Widersagst du allen Blutopfern, die von den Heiden dargebracht werden, und allen Abgöttern und Götzenbildern, die sie als Gottheiten verehren?«
Widukind zögerte mit der Antwort. Abbio, Wolfhard und die anderen Sattelmeier blickten den Herzog ebenso gespannt an, wie es auch Karl und die Franken taten. Schließlich kam es zögernd und leiser als zuvor über die Lippen des Knienden: »Ich widersage.«
Streng und prüfend blickte Angilram auf Widukind hinab und fragte: »Widersagst du den falschen Göttern Wodan, Donar und Saxnot?«
Ein Ruck ging durch den Herzog, als müsse er einen inneren Widerstand überwinden. Mit brüchiger Stimme sagte er auch diesmal: »Ich widersage.«
Jetzt war es heraus und alle Hoffnung dahin. Widukind hatte seine Götter verleugnet. Obwohl darauf vorbereitet, konnte Wolfhard es nicht begreifen. Er hörte nicht mehr auf die Worte Angilrams und Widukinds, der seinen Glauben an den Gottvater, an Christus, den Sohn Gottes und Erlöser, an den Heiligen Geist, an den allmächtigen Gott in seiner Dreifaltigkeit und Einheit, an die heilige Kirche Gottes, an die Vergebung der Sünden in der Taufe und an das Leben nach dem Tod bejahte. Das Rauschen der Weser schien Widukinds Stimme zu übertönen, aber in Wahrheit hörte der erregte Sattelmeier das Pochen seines eigenen Blutes.
Dreimal schöpfte Angilram mit einer silbernen Kelle Wasser aus dem Fluss, um es über Widukinds Haupt auszugießen, dann war der Herzog ein Christ, und der Stamm der Sachsen hatte seinen größten Freiheitskämpfer verloren. Aber noch war die Tortur nicht beendet. Widukind erhob sich nicht. Er kniete jetzt vor Karl, legte seine gefalteten Hände in die des Königs und schwor ihm den Treueid: »Heiliger, mächtiger König Karl, ich, dein Gefangener Widukind, Herzog der Sachsen, entsage dem Gott Wodan, meinem Ahnherrn. So wie ich werden auch all meine Mannen, Krieger und Knechte, zu Christen. All mein Besitztum und Recht ist in deinem Willen und in deiner Hand. Wir bitten dich demütig um Leben und Frieden. In Treue stehen wir zu dir, unserem gnädigen König. Das schwören wir bei Gott dem Allmächtigen, dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist.«
Karl lächelte in vorgetäuschter Güte, half Widukind beim Aufstehen und sagte laut: »Ich nehme deinen Schwur und damit den Treueid aller Sachsen an, Herzog Widukind. Nicht mehr zwei Völker wollen wir sein, sondern eins. Und dieses Land soll mein sein wie auch dein. Mein und dein, so wollen wir diesen Ort, an dem der Pakt geschlossen ist, fortan nennen!«
Die Menge raunte Karls Worte nach: »Mein und dein.« Von Mund zu Mund geflogen, wurde daraus »Mein-dein«, »Min-din« und schließlich »Minden«. Ein Wort, das begeistert aufgegriffen wurde, auch von den Sachsen.
Diese Tölpel!, dachte Wolfhard bitter. Sie freuen sich über Karls Erklärung wie über ein Geschenk. Dabei hat der listige Fuchs ihnen nur gegeben, was ihnen längst gehört. Am liebsten wäre Wolfhard davongelaufen, doch die Menge bildete eine scheinbar undurchdringliche Mauer. Eine lebende, sprechende Mauer. Immer wieder ertönten Hochrufe auf König Karl, auf Herzog Widukind. Und zwischendrin erscholl der neue Name der Siedlung an der Sandfurt: »Minden.«
Längst hatte Widukind das weiße Gewand abgestreift. Sein Gesicht wirkte versteinert. Wie das des jungen rothaarigen Priesters, dem es nicht besonders viel Freude zu bereiten schien, seinem Gott zu dienen. Die Glocken an der Sandfurt, die jetzt die Glocken von Minden waren, läuteten ihren Jubel in den frostigen Wintertag hinaus, während ein edler Sachse nach dem anderen auf die Landzunge hinausging, das weiße Taufkleid überstreifte, vor Angilram niederkniete, den alten Göttern entsagte und den neuen Glauben bekräftigte. Nach den Herzögen kamen die Sattelmeier an die Reihe. Einige gingen gerade und stolz, andere mit gesenkten Häuptern wie Vieh, das zur Schlachtbank geführt wurde.
Für Wolfhard war die Landzunge genau das, eine Schlachtbank. Hier an der Weser wurde ihr Glaube geschlachtet, wie damals an der Aller viereinhalbtausend Menschen – der Kern des sächsischen Widerstands – geschlachtet worden waren. Die Weser erschien ihm plötzlich rot wie damals die Aller. Wie ein dichter Schleier legte es sich vor seine Augen. Der Schleier zerriss erst, als jemand an seiner Schulter rüttelte. Es war Abbio, der die Taufe schon empfangen hatte.
»Geh schon, Wolfhard!«, zischte der Ostfalenherzog. »Du bist an der Reihe!«
Wolfhard ging auf die Landzunge zu. Das heißt, seine Füße bewegten sich. Sein Herz und seine Gedanken blieben zurück, weilten in der Vergangenheit, in Verdi, beim Blutgericht. Und als zwei fränkische Priester ihm das Schwertgehänge abnehmen und das weiße Taufgewand überziehen wollten, waren es für ihn die Scharfrichter, die seinen Sohn Wolfram zum Richtblock führten. Mit einem Aufschrei stieß er die beiden Priester von sich weg. Einer fiel in den Uferschlamm.
Der andere aber, der das Taufkleid hielt, verlor den Halt und stürzte in den Fluss. Sofort riss die Strömung ihn mit sich. Der Missionar schrie, schien nicht schwimmen zu können. Er klammerte sich an das weiße Taufgewand, doch es brachte ihm keine Rettung. Der Priester verschwand in den kalten Fluten, die von rotem Haar umschlossene Tonsur wurde von den Wellen verschluckt. Nur das davontreibende Taufkleid war noch als kleiner werdender weißer Fleck zu sehen.
Bewaffnete Krieger umstellten Wolfhard. In ihrer Mitte sah er den Überläufer Asmund, der sein Schwert gezogen hatte und den Wachen zurief, den Aufrührer zu ergreifen. Wolfhard überraschte die Franken, als er nicht vor ihnen floh, sondern den Sax, das einschneidige Kurzschwert, aus der Scheide riss und auf die Männer in den Panzerhemden zulief. Mit wuchtigen Hieben trieb er zwei Krieger zur Seite und drang auf Asmund ein. Doch der verschwand vor seinen Augen, ging, von einem geschleuderten Stein getroffen, zu Boden.
Wolfhards Beispiel ermutigte mehr und mehr Sachsen zum Aufruhr. Friedfertig waren sie in Karls Lager gekommen. Aber zu sehen, wie sächsische Edelinge den Göttern ihres Stammes abschworen, hatte ihren Sinn gewandelt. Jetzt brach der aufgestaute Zorn aus.
Während eine große Schar Krieger zur Landzunge lief, um König Karl und seinen Erzkaplan zu schützen, stellte sich eine weitere Gruppe um den gestürzten Asmund. Wolfhard konnte den Verräter nicht erreichen. Fränkische Krieger drängten ihn ab. Ihre Zahl war so groß, dass er sich nur mit Mühe verteidigen konnte. Plötzlich bildete sich eine Gasse in der Menge. Es waren Sachsen, die ihn vor den Franken abschirmten.
»Du musst fliehen, Graf Wolfhard!«, rief beschwörend ein grauhaariger Bauer. »Du musst leben. Jetzt, wo Widukind seinem Vater Wodan abgeschworen hat, bist du Sachsens einzige Hoffnung. Dort, die Pferde!«
Mit zitternder, gichtiger Klaue wies der Graukopf auf ein Gehege aus Seilen, in dem die Pferde der sächsischen Edelinge untergebracht waren. Wolfhard handelte, ohne zu überlegen. Er rannte zu der Einhegung, stieß ein paar fränkische Knechte beiseite und ließ einen schrillen Pfiff hören. Sein Rappe antwortete mit einem freudigen Wiehern und drängte sich durch die anderen Tiere heran. Wolfhards Sax durchtrennte die Seile. Die Pferde waren frei und sorgten für zusätzliche Unruhe. Eine Unruhe, die Wolfhard half, auf dem Hengst zu entkommen.
Er flog durch das große Frankenlager und machte alles nieder, was sich ihm in den Weg stellte. Hunderte und Aberhunderte von Feinden bevölkerten den Ort, doch keiner schaffte es, ihn aufzuhalten. Hütten und Zelte wurden spärlicher, dann lag das offene Land in seinem weißen Winterkleid vor dem Sattelmeier. Er hielt auf die Berge zu, aus denen die Sachsen gekommen waren. Dort, in den Wäldern und Schluchten, konnte er Zuflucht finden.
Die seltsame Stimme, die wie ein Ruf war, schien es zu verheißen. Plötzlich auffrischender Wind trug ihm die lang gezogenen Laute zu. Dann erkannte er das Heulen: es war der Wolfsruf.
»Wo ist er?«, fragte Asmund mit belegter Stimme. Noch dröhnte sein Kopf, und zwei Knappen stützten ihn. Ärgerlich schlug er ihre Hände von seinem Leib.
»Graf Wolfhard?«, fragte einer der Knappen.
»Wer sonst?«, bellte Asmund.
»Fort«, sagte der Knappe. »Manche sagen, sogar auf seinem eigenen Pferd.«
Der Aufruhr hatte sich inzwischen gelegt. Zur Besänftigung der Sachsen hatten zum Teil die fränkischen Waffen und zum Teil die beschwichtigenden Worte Widukinds und Abbios beigetragen. Karl selbst schrie seinen Panzerreitern Befehle zu, die Verfolgung aufzunehmen.
»Meine Krieger sollen Wolfhard einfangen!«, rief Widukind.
»Deine?«, fragte der König ungläubig.
»Noch hat Wolfhard sich nicht unterworfen. Also ist er ein Sachse und soll von Sachsen eingebracht werden. Außerdem fällt sein Verhalten auf mich zurück.«
Asmund drängte sich vor und schrie: »Noch mögen die Sachsen auf Widukind hören, aber was ist, wenn sie von Wolfhards aufrührerischem Geist angesteckt werden?«
»Da ist etwas dran«, sagte Karl. »Treffen wir einen Kompromiss: Meine Panzerreiter werden Wolfhard verfolgen, aber anführen wird sie ein Sachse, der ehemalige Sattelmeier Asmund. Bist du damit einverstanden, Widukind?«
Widukind war es, zumal sich ihm keine große Wahl bot. Er konnte froh sein, dass Wolfhards Aufbegehren seine Friedensmission nicht durchkreuzt hatte. Die Sachsen durften König Karl nicht noch mehr verärgern. Immerhin hatte der junge Priester, den der Sattelmeier in den Fluss gestoßen hatte, dort den Tod gefunden.
Asmund dagegen war hoch zufrieden. Genauso hatte er es sich vorgestellt. Bald saß er im Sattel und führte die halbe Hundertschaft, die vor Stunden Widukinds Geleit gebildet hatte, auf die lang gestreckte Bergkette des Wiehens zu. Jenseits des Heerlagers fanden sie im Schnee die Spur von Wolfhards Rappen. Doch der Sattelmeier war schlau gewesen. Bald vermischte sich die Hufspur mit der vielfältigen Fährte des großen Sachsenzugs, der Widukind begleitet hatte.
»Was jetzt, Graf?«, fragte Rorich, ein Unterführer der Eisenreiter.
»Damit hat Wolfhard nicht viel gewonnen«, sagte Asmund verächtlich. »Wir brauchen nur die Spur zurückzuverfolgen. Sobald Wolfhard sich aus ihrem Schutz löst, haben wir ihn!«
So einfach war es nicht. In den Bergen waren die Sachsen aus verschiedenen Richtungen zusammengekommen. Es gab mehrere Spuren, die Wolfhard Gelegenheit gaben, seine Flucht zu tarnen. Asmund musste seinen Trupp aufteilen, mehrmals. Schließlich führte er selbst nur noch fünf Reiter durch steiniges, unwegsames Gelände, das durch den Schnee noch gefährlicher wurde.
Als der Rappe stolperte und im Stürzen Wolfhard abwarf, ohne wieder aufzustehen, hatte der Sattelmeier geglaubt, die Götter hätten ihn verlassen. Hatten sie ihm die Flucht aus Karls Heerlager nur ermöglicht, um ihn jetzt den Verfolgern auszuliefern? War ihr grausames Spiel die Rache dafür, dass die Menschen sich von ihnen abgewendet hatten?
Seine ganze linke Seite brannte und stach, als Wolfhard sich von dem harten, gefrorenen Boden erhob. Aber er konnte wenigstens noch stehen.
Das Pferd wälzte sich unter Schmerzensschreien am Boden. Es war ausgerutscht und hatte sich beim Sturz den rechten Vorderlauf gebrochen. Nun nicht länger eine Hilfe, war der Rapphengst sogar eine Last, eine Gefahr. Sein unablässiges Gewieher würde unweigerlich die Verfolger anlocken.
»Treu warst du im Leben, sei es auch im Tod!« Wolfhard zog den Sax und stach die Klinge zweimal tief in das Pferdeherz. Er bemühte sich, die Wunde klein zu halten, damit das Tier nicht so viel Blut verlor.
Dann zog er das tote Ross in ein nahes Gebüsch, das im Schatten dicht zusammenstehender Tannen lag. Von einer Tanne brach er auf der dem Weg abgewandten Seite einen Ast ab, um die Spuren zu verwischen. Er fegte etwas Schnee zusammen und bedeckte damit das Blut des Pferdes.
Geräusche störten ihn: Pferdegewieher.
Die Verfolger.
Eilig erkletterte Wolfhard die kleine Anhöhe gegenüber dem Tannenwald und verbarg sich hinter kahlen Felsen. Gerade noch rechtzeitig. Schon näherten sich im Galopp sechs Reiter. Ihr Anführer trug keine Panzerrüstung. Er war ein hagerer Mann mit einem Raubvogelgesicht, das halb im Schatten einer Pelzkappe lag: Asmund.
Vielleicht war der Sturz doch kein grausames Spiel der Götter gewesen. Wollten sie Wolfhard Gelegenheit geben, Rache an dem Mann zu üben, der seinen Sohn in den Tod geführt hatte?
Kurz dachte Wolfhard daran, dass ein Angriff auf den Reitertrupp für ihn fast ein sicherer Tod war. Er hatte noch einen Sohn, eine Frau und eine Tochter, die jetzt an der Sandfurt weilten. Aber wenn er sich versteckte, konnte er auch nicht zu ihnen zurück. Und auf seine Rache zu verzichten, um ein neuer Sachsenführer, ein zweiter Widukind zu werden, kam ihm nur kurz in den Sinn. Es schien nicht mehr viele Sachsen zu geben, die lieber den Tod fanden, als in die Knechtschaft zu gehen. Demütig beugten sie ihre Köpfe vor Karl und den Christenpriestern.
Die sechs Reiter hielten an. Asmund glitt aus dem Sattel, ging in die Knie, wischte etwas von dem Schnee beiseite und hielt dann die rechte Hand hoch.
»Blut!«, stieß er hervor. »Frisches, warmes Blut!«
Sein Ausruf ging in Wolfhards Schrei unter: »Rache für Wolfram! Vergeltung für Verdi!«
Die Spatha, das zweischneidige Langschwert, das er in der Scheide auf dem Rücken getragen hatte, mit beiden Händen über den Kopf erhoben, stürmte er von dem Hügel. Asmund und die Franken waren vor Überraschung wie versteinert. Als der Überläufer endlich reagierte, aufsprang und nach seinem eigenen Schwert griff, war Wolfhard schon heran und schlug zu. Die Klinge traf Asmunds Gesicht. Der Getroffene stieß einen lang gezogenen Schrei aus, taumelte und stürzte zu Boden. Dort lag er reglos, das Gesicht eine einzige blutige Fläche. Blut sickerte in den Schnee und bildete dort ein seltsames Muster, ähnlich den Teppichen, die Wolfhard in König Karls Festhalle gesehen hatte.
Nur kurz blickte der Sattelmeier befriedigt auf den gerichteten Verräter. Der Tod ihres Anführers löste die Eisenreiter aus ihrer Erstarrung. Sie trieben ihre Pferde auf Wolfhard zu und wollten ihn einkreisen.
Wolfram war gerächt. Gegen die fünf Schwerbewaffneten war Wolfhards Lage aussichtslos. Doch vielleicht hatten die Götter noch mehr mit ihm vor. Dieser Gedanke schoss Wolfhard durch den Kopf, als er wieder das Wolfsgeheul vernahm, jetzt sehr nah und deutlich. Mit einem Sprung saß er im Sattel von Asmunds Braunem und trieb das Pferd mit Fußtritten und Schreien an. Erschrocken stob das Tier davon.
Rorich führte seine beiden Gefährten durch das dichte Unterholz. Wolfhards Spur war deutlich zu erkennen, aber das Gelände war fremd, unwegsam und tückisch. Deshalb ließen die drei Franken ihre Pferde nur im Schritt gehen. Außerdem mussten sie mit einem Hinterhalt rechnen. Auch wenn dieser Sattelmeier allein war, er schien zu allem fähig, ein gefährlicher Gegner. Einer, der es durchaus wagen konnte, eine dreifache Übermacht anzugreifen.
Rorich bereute, dass er zwei Mann zurückgelassen hatte. Aber ein Reiter musste Verstärkung herbeiholen. Ein zweiter war bei Graf Asmund geblieben, der wider Erwarten noch atmete. Er war zwar nur ein Sachse, den mancher von Rorichs Kameraden gern verbluten lassen würde, doch einem Günstling des Königs durfte man die Hilfe nicht verweigern.
Der lang gezogene Laut, der plötzlich erscholl, ging den drei Männern durch Mark und Bein. Wie auf Befehl hielten sie ihre Pferde an. Die Dämmerung setzte ein, und der unbekannte Wald wirkte dadurch noch bedrohlicher. Als könnten die heidnischen Dämonen jeden Augenblick hervorbrechen, um Rache an den Feinden ihres Volkes zu nehmen.