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Ray und Nancy Eldredge leben zusammen mit ihren Kindern in einer malerischen Siedlung an der amerikanischen Ostküste. Aber die Idylle trügt: Ein geheimnisvoller, neurotischer Mörder geht um, der die Kinder des jungen Ehepaares entführt. Zug um Zug wird eine grauenvolle Vergangenheit aufgedeckt, die sich zu wiederholen droht...
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Seitenzahl: 308
Seit sieben Jahren feiert Nancy Eldredge nun ihren Geburtstag nicht mehr. Denn an diesem Tag, genau vor sieben Jahren, verschwanden ihre beiden Kinder spurlos. Ihre kleinen Leichen wurden Wochen später gefunden und Nancy in einem aufsehenerregenden Prozeß des Mordes an ihren Kindern für schuldig erklärt. Nur wegen eines Verfahrensfehlers war sie freigekommen. Mit viel Sorgfalt hat sie sich seitdem eine neue Existenz aufgebaut. Sie ist wieder verheiratet, hat wieder zwei kleine Kinder und lebt mit ihrer neuen Familie an der amerikanischen Atlantikküste, weit weg von ihrer Vergangenheit. Das jedenfalls glaubte sie bis zu diesem trüben Novembermorgen. Die Kinder spielen draußen vor dem einsam gelegenen Haus, während sie oben die Betten macht. Als Nancy sie nach einer Viertelstunde hereinholen will, findet sie nur noch den Handschuh der kleinen Missy ... Mit Wintersturm, ihrem ersten Roman, schrieb sich Mary Higgins Clark 1975 mit Anhieb in die oberste Riege der Autoren von Spannungsliteratur. Meisterlich subtil entblättert sie Seite für Seite die Abgründe der menschlichen Psyche.
Mary Higgins Clark wurde 1928 in New York geboren. Mit ihren Spannungsromanen hat sie weltweit Millionen von Lesern gewonnen, und mit jedem neuen Roman erobert sie die Bestsellerlisten. Ihre große Stärke sind ausgefeilte und raffinierte Plots und die stimmige Psychologie ihrer Heldinnen. Beinamen wie »Königin der Sapnnung« und »Meisterin des sanften Schreckens« zeugen von ihrer großen Popularität. Die Aurorin lebt in Saddle River, New Jersey.
Zur Erinnerung an meine MutterNora C. Higgins, in Liebe,Bewunderung und Dankbarkeit
Er spürte, wie durch die Ritzen um die Fensterscheiben die Kälte hereindrang. Schwerfällig stand er auf und schleppte sich zum Fenster hinüber. Er langte nach einem der dicken Handtücher, die er immer zur Hand hatte, und stopfte es um den faulenden Rahmen.
Der hereindringende Luftzug zischelte leise in dem Handtuch. Es war ein Ton, der ihm eigentümlich angenehm war. Er blickte hinaus in den verhangenen Himmel und beobachtete die Schaumkronen in dem aufgewühlten Wasser. Von dieser Seite des Hauses aus war es oft möglich, Provincetown zu sehen, drüben, auf dem gegenüberliegenden Ufer der Bucht von Cape Cod.
Er haßte das Kap. Er haßte seine Öde an einem Novembertag wie diesem; das trostlose Grau des Wassers; die gleichmütigen Menschen, die nicht viel sagten, einen aber mit den Augen musterten. Er hatte es auch in dem einen Sommer gehaßt, den er hier verbracht hatte – die Massen von Touristen, die sich da an den Stränden lümmelten; die steile Uferstraße zu diesem Haus heraufkletterten; mit blöden Gesichtern in die unteren Fenster glotzten und die Hände über den Augen zusammenlegten, um hineinzuspähen.
Er haßte die großen Schilder ZU VERKAUFEN, die Ray Eldredge auf der Vorder- und Rückseite des großen Hauses aufgestellt hatte, und die Tatsache, daß Ray und diese Frau, die da für ihn arbeitete, jetzt angefangen hatten, Leute zur Besichtigung hereinzuschleppen. Im vergangenen Monat war es nur Zufall, daß er gerade daherkam, als sie durchs Haus wollten, und nur Dusel, daß er vor ihnen ins Obergeschoß gelangte und das Teleskop noch forträumen konnte.
Die Zeit ging allmählich zu Ende. Irgend jemand würde dieses Haus kaufen, und er könnte es dann nicht noch einmal mieten. Das war der Grund, weshalb er den Artikel an die Zeitung geschickt hatte. Er wollte noch hier sein und seinen Spaß daran haben, wenn sie vor diesen Leuten als das angeprangert wurde, was sie war... jetzt, wo sie bestimmt gerade angefangen hatte, sich in Sicherheit zu wiegen.
Es gab da noch etwas, was er tun mußte, aber die Gelegenheit dazu hatte sich bisher noch nicht ergeben. Sie paßte immer so scharf auf die Kinder auf. Doch er konnte es sich nicht leisten, noch länger zu warten. Morgen...
Ruhelos lief er im Zimmer auf und ab. Das Schlafzimmer in der Obergeschoßwohnung war geräumig. Das ganze Haus war geräumig. Es war das entstellte Gebilde eines alten Kapitänshauses. Begonnen im siebzehnten Jahrhundert auf einem Felsrücken, der das Panorama der ganzen Bucht beherrschte, war es ein prätentiöses Monument menschlichen Verlangens, immer und ewig auf der Hut zu sein.
Das Leben war nicht so. Es zeigte sich nur stückchenweise, wie Eisberge, von denen man nur die Spitze sieht. Er wußte Bescheid. Er rieb sich mit der Hand über das Gesicht. Ihm war heiß und unbehaglich, obgleich es im Zimmer kalt war. Seit sechs Jahren hatte er das Haus im späten Sommer und Herbst gemietet. Es war noch fast im gleichen Zustand wie damals, als er es zum ersten Mal betreten hatte. Nur ein paar Dinge waren anders: das Teleskop im Vorderzimmer; die Kleidungsstücke für die besonderen Anlässe; die Schirmmütze, die er sich ins Gesicht zog und die es so gut abschattete.
Im übrigen war die Wohnung unverändert: das altmodische Sofa, die Tische aus Kiefernholz und der gehäkelte Vorleger im Wohnzimmer. Das Haus und die Wohnung waren für seine Absichten ideal gewesen, bis Ray Eldredge ihm in diesem Herbst mitteilte, daß er sich ernsthaft bemühe, das Anwesen als Restaurant zu verkaufen und es nur unter der Voraussetzung vermietete, daß es nach telefonischer Anmeldung besichtigt werden konnte.
Raynor Eldredge. Er lächelte bei dem Gedanken an diesen Mann. Was würde Ray morgen denken, wenn er den Zeitungsbericht las? Hatte Nancy Ray je gesagt, wer sie war? Vielleicht nicht. Frauen konnten durchtrieben sein. Wenn Ray nicht Bescheid wüßte, wäre es sogar noch besser. Wie herrlich wäre es, Rays Gesichtsausdruck tatsächlich beobachten zu können, wenn er die Zeitung aufschlug! Sie wurde morgens kurz nach zehn zugestellt. Ray würde in seinem Büro sein. Einige Zeit lang würde er sie vielleicht nicht einmal beachten.
Voll nervöser Ungeduld wandte er sich vom Fenster ab. Die abgetragene schwarze Hose spannte sich um seine dicken, stämmigen Beine. Er würde froh sein, wenn er etwas abnehmen konnte. Es würde zwar bedeuten, daß diese schreckliche Hungerei wieder anfinge, aber er könnte es schaffen. Er hatte es schon früher geschafft, wenn es notwendig gewesen war. Unruhig strich er sich mit der Hand über den Schädel, der ein wenig juckte. Er würde froh sein, wenn er das Haar wieder natürlich wachsen lassen konnte. An den Seiten war es immer sehr dicht gewesen. Wahrscheinlich war es jetzt fast grau.
Er strich mit einer Hand langsam am Hosenbein entlang, dann stapfte er unruhig in der Wohnung hin und her und blieb schließlich vor dem Teleskop im Wohnzimmer stehen. Es war ein besonders starkes Teleskop – ein Gerät, das man in dieser Art im allgemeinen nicht kaufen konnte. Sogar viele Polizeidienststellen hatten so eines noch nicht. Aber irgendwie gab es immer eine Möglichkeit, an die Dinge zu kommen, die man brauchte. Er beugte sich nach vorn und linste hinein, ein Auge zugekniffen.
Es war ein dunkler Tag, und in der Küche brannte Licht. So war es leicht, Nancy deutlich zu erkennen. Sie stand hinter dem Küchenfenster, dem Fenster über dem Spülbecken. Vielleicht war sie gerade dabei, etwas fürs Abendessen vorzubereiten, um es anschließend in den Ofen zu stellen. Aber sie hatte eine warme Jacke an, wahrscheinlich wollte sie ausgehen. Sie stand ganz ruhig da und blickte einfach nur zum Wasser hinüber. Woran dachte sie gerade? An wen dachte sie? Die Kinder – Peter... Lisa...? Er hätte es zu gern gewußt.
Er spürte, wie sein Mund trocken wurde. Nervös fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen. Sie sah heute sehr jung aus. Ihr Haar war zurückgekämmt. Sie färbte es dunkelbraun. Wenn sie es in seiner natürlichen rotgoldenen Tönung behalten hätte, wäre sie bestimmt von jemandem erkannt worden. Morgen würde sie zweiunddreißig. Man sah ihr das Alter immer noch nicht an. Sie wirkte verführerisch jung, zart, frisch und weich.
Er schluckte nervös. Er spürte eine fiebrige Trockenheit in seinem Mund, während seine Hände und Achselhöhlen feucht und heiß waren. Er würgte und schluckte noch einmal, und der Laut ging in ein tiefes Glucksen über. Sein ganzer Körper erbebte vor Vergnügen und ließ das Teleskop erzittern. Nancys Bild verschwamm, aber er hatte keine Lust, die Linse scharf einzustellen. Er hatte kein Interesse mehr daran, sie heute noch länger zu beobachten.
Morgen! Er konnte sich schon genau vorstellen, welchen Gesichtsausdruck sie morgen um diese Zeit haben würde. Vor der ganzen Welt entlarvt als das, was sie war; wie betäubt und starr vor Schmerz und Furcht, wenn sie versuchte, auf die Frage zu antworten... auf die gleiche Frage, die ihr die Polizei vor sieben Jahren immer und immer wieder entgegengeschleudert hatte.
›Kommen Sie schon, Nancy‹, würde die Polizei wieder sagen. ›Machen Sie reinen Tisch. Sagen Sie die Wahrheit. Sie müßten doch eigentlich wissen, daß Sie damit nicht davonkommen. Sagen Sie es uns, Nancy – wo sind die Kinder?‹
17. November
Ray kam die Treppe herunter und zog den Knoten seiner Krawatte fest. Nancy saß am Tisch, Missy, noch schlaftrunken, auf ihrem Schoß. Michael aß in seiner bedächtigen, nachdenklichen Art sein Frühstück.
Ray zauste Mikes Haare und beugte sich nach vorn, um Missy einen Kuß zu geben. Nancy lächelte zu ihm hinauf. Sie war so verdammt hübsch. Sie hatte feine Fältchen um ihre blauen Augen, aber noch immer würde sie keiner für zweiunddreißig halten. Sie war nur ein paar Jahre jünger als Ray, doch er hatte immer das Gefühl, er wäre unendlich viel älter als sie. Vielleicht war es diese schreckliche Empfindlichkeit. An den Wurzeln ihres dunklen Haares bemerkte er Spuren von Rot. Ein dutzendmal hatte er sie im letzten Jahr darum bitten wollen, ihr Haar auswachsen zu lassen, aber er hatte es nicht gewagt.
»Herzliche Glückwünsche zum Geburtstag, Liebling«, sagte er sanft.
Er bemerkte, wie die Farbe aus ihrem Gesicht wich.
Michael blickte überrascht auf. »Mami hat heute Geburtstag? Das hast du mir gar nicht gesagt.«
Missy richtete sich auf. »Mami hat Geburtstag?« Es klang sehr erfreut.
»Ja«, bestätigte Ray. Nancy starrte vor sich auf den Tisch. »Und heute abend wird gefeiert. Heute abend bringe ich einen großen Geburtstagskuchen mit und ein Geschenk, und wir laden Tante Dorothy ein, zum Abendessen herzukommen. Einverstanden, Mami?
»Ray... nein.« Nancys Stimme klang leise und beschwörend.
»Doch. Erinnere dich nur. Im vergangenen Jahr hast du versprochen, daß wir dieses Jahr...«
Feiern war nicht das richtige Wort. Das konnte er nicht sagen. Aber er war sich seit langem darüber klar, daß sie eines Tages beginnen mußten, ihren Geburtstag auf eine andere Weise zu begehen. Anfangs hatte sie sich immer ganz von ihm zurückgezogen, war um das Haus gegangen oder am Strand entlanggewandert wie ein stummer Geist, in einer Welt für sich.
Aber im vergangenen Jahr hatte sie schließlich angefangen, über sie zu sprechen... über die beiden anderen Kinder. Sie hatte gesagt: »Sie wären jetzt schon so groß – zehn und elf. Ich versuche mir vorzustellen, wie sie heute aussehen würden, aber anscheinend kann ich mir nicht einmal vorstellen, wie... Alles, was jene Zeit betrifft, ist so verschwommen. Wie ein Alptraum, als hätte ich es nur geträumt.«
»Das ist wohl immer so«, hatte Ray zu ihr gesagt. »Laß das alles hinter dir, Liebling. Denk nicht mehr an das, was geschehen ist.«
Die Erinnerung daran bestärkte ihn in seinem Entschluß. Er beugte sich über Nancy, und mit einer gleichermaßen beschützenden wie sanften Gebärde strich er ihr über das Haar.
Nancy blickte zu ihm auf. Der beschwörende Ausdruck in ihrem Gesicht wurde schwächer. »Ich glaube nicht –«
Michael unterbrach sie. »Wie alt bist du, Mami?« fragte er sachlich.
Nancy lächelte – ein echtes Lächeln, das wunderbarerweise die Spannung löste. »Das geht dich nichts an«, antwortete sie ihm.
Ray nahm schnell einen Schluck von ihrem Kaffee. »Brav, mein Schatz«, sagte er. »Hör mal, Mike. Ich hole dich heute nachmittag nach der Schule ab, und wir kümmern uns dann um ein Geschenk für Mami. Ich glaube, es wird Zeit, daß ich mich auf den Weg mache. Heute kommt jemand, um das Hunt-Haus zu besichtigen. Ich möchte noch die Akte zusammenstellen.«
»Ist es nicht vermietet?« fragte Nancy.
»Ja. Dieser Parrish, der es schon öfter gemietet hat, ist wieder drin. Aber er weiß, daß wir das Recht haben, es jederzeit zu besichtigen. Für ein Restaurant hat es eine einzigartige Lage, und es wäre kein Problem, es umzubauen. Wenn ich es verkaufe, bringt es eine ganz hübsche Provision ein.«
Nancy nahm Missy vom Schoß und begleitete ihn zur Tür. Er gab ihr einen leichten Kuß und fühlte, wie ihre Lippen unter seinen zitterten. Wie sehr hatte er sie durch das Geburtstagsgerede aus der Fassung gebracht? Instinktiv drängte es ihn zu sagen: Wir wollen nicht bis heute abend warten. Ich bleibe zu Hause, und wir nehmen die Kinder und fahren heute nach Boston.
Statt dessen stieg er ins Auto, winkte, setzte den Wagen zurück und steuerte in den engen Feldweg hinein, der sich durch einen kleinen Wald schlängelte und schließlich in die Überlandstraße zum Kap mündete. Von hier gelangte er ins Zentrum von Adams Port und zu seinem Büro.
Ray hatte recht, dachte Nancy, als sie langsam zum Tisch zurückging. Einmal kam die Zeit, da man aufhören mußte, den Mustern der Vergangenheit zu folgen, und immer wieder zurückzudenken, eine Zeit, wo man nur noch in die Zukunft blicken durfte. Sie wußte, etwas in ihr war immer noch wie erstarrt. Sie wußte, daß die menschliche Psyche einen schützenden Vorhang über schmerzliche Erinnerungen herabließ – aber es war mehr als das.
Es war so, als ob ihr Leben mit Carl nur eine nebelhafte Erinnerung wäre... die ganze Zeit mit ihm. Es fiel ihr schwer, sich an das Fakultätsgebäude auf dem Universitätsgelände zu erinnern, an Carls gedämpfte Stimme... an Peter und Lisa. Wie hatten sie ausgesehen? Dunkles Haar, alle beide, wie das von Carl, und viel zu still... zu gehorsam... von ihrer Unsicherheit angesteckt... und dann verschwunden – alle beide.
»Mami, warum siehst du so traurig aus?« Michael blickte sie mit Rays offenem Gesichtsausdruck an, und er sprach auch mit der gleichen Direktheit.
Sieben Jahre, dachte Nancy. Das Leben war eine Reihe von Sieben-Jahr-Zyklen. Carl hatte immer gesagt, daß sich in dieser Zeit der ganze Mensch veränderte. Jede Zelle erneuere sich. Es wurde jetzt wirklich Zeit für sie, nach vorn zu sehen... zu vergessen.
Sie ließ ihren Blick durch die geräumige, freundliche Küche wandern mit dem alten Ziegelkamin, den breiten Eichendielen, den roten Vorhängen und den Volants, die die Sicht über den Hafen nicht behinderten. Und dann sah sie Michael und Missy an...
»Ich bin nicht traurig, Schatz«, sagte sie. »Ganz bestimmt nicht.«
Sie nahm Missy auf den Arm fühlte ihre Wärme und süße Klebrigkeit. »Ich habe über dein Geschenk nachgedacht«, sagte Missy. Ihr langes rotblondes Haar fiel ihr in Locken über die Ohren und in die Stirn. Die Leute fragten manchmal, woher sie nur das schöne Haar habe – wer war denn nun der Rotschopf in der Familie?
»Großartig«, erwiderte Nancy. »Du kannst draußen weiter darüber nachdenken. Es wäre besser, ihr ginget jetzt bald an die frische Luft. Später soll es regnen und sehr kalt werden.«
Als die Kinder sich angezogen hatten, half sie ihnen in ihre Windjacken und setzte ihnen ihre Mützen auf. »Da ist mein Dollar«, sagte Michael mit Genugtuung in der Stimme, als er in die Brusttasche seiner Jacke langte. »Ich war ganz sicher, daß ich ihn da drin gelassen hatte. Jetzt kann ich dir ein Geschenk kaufen.«
»Ich habe auch Geld.« Missy hielt stolz eine Handvoll Pennys empor.
»Oh, hört mal, ihr solltet euer Geld aber nicht mit nach draußen nehmen«, sagte Nancy zu ihnen. »Ihr werdet es nur verlieren. Kommt, ich hebe es für euch auf.«
Michael schüttelte den Kopf. »Wenn ich es dir gebe, vergesse ich es vielleicht, wenn ich mit Vati einkaufen gehe.«
»Ich verspreche dir, ich passe auf, daß du es nicht vergißt.«
»Meine Tasche hat einen Reißverschluß. Siehst du? Ich stecke es da hinein, und ich kann auch Missys Geld darin aufbewahren.«
»Schön...« Nancy zuckte die Schultern und gab auf. Sie wußte nur zu gut, daß Michael den Dollar nicht verlieren würde. Er war wie Ray, sehr zuverlässig. »Hör mal, Mike. Ich werde jetzt aufräumen. Paß du auf, daß du bei Missy bleibst.«
»Okay«, sagte Michael vergnügt. »Los, komm, Missy. Zuerst gehen wir auf die Schaukel.«
Ray hatte den Kindern eine Schaukel gebaut. Sie hing an einem Ast der riesigen Eiche am Waldrand hinter ihrem Haus.
Nancy zog Missy die Fausthandschuhe über die Hände. Sie waren hellrot und hatten auf den Außenseiten Lachgesichter, die mit flauschiger Angorawolle aufgestickt waren. »Laß sie an«, befahl sie ihr, »sonst bekommst du kalte Hände. Es wird wirklich schon ungemütlich kühl. Ich weiß gar nicht, ob ihr überhaupt nach draußen gehen solltet.«
»Oh, bitte!« Missys Lippen begannen zu zucken.
»Schon gut, schon gut. Nur kein Theater«, beeilte sich Nancy zu sagen. »Aber höchstens eine halbe Stunde.«
Sie öffnete die Hintertür und ließ sie hinaus. Als der kalte Wind hereinblies, fröstelte sie, schloß schnell die Tür und begann die Treppe hinaufzusteigen. Es war ein echtes altes Kap-Haus, und die Treppe war nahezu senkrecht. Ray meinte, daß die alten Siedler etwas von Schneeziegen an sich gehabt haben mußten, so wie sie ihre Treppen gebaut hatten. Aber Nancy liebte alles an diesem Haus.
Sie erinnerte sich noch gut an das Gefühl von Ruhe und Geborgenheit, das sie empfunden hatte, als sie es zum ersten Mal sah, damals, vor mehr als sechs Jahren. Sie war ans Kap gekommen, nachdem das Urteil für ungültig erklärt worden war. Der Bezirksstaatsanwalt hatte nicht auf einen neuen Prozeß gedrängt, weil Rob Legler, sein wichtigster Belastungszeuge, verschwunden war.
Sie war hierher geflüchtet, quer über den ganzen Kontinent von Kalifornien weg, so weit wie möglich; weit weg von den Menschen, die sie gekannt hatte, der Umgebung, in der sie gewohnt hatte, und dem College dort und der ganzen akademischen Gesellschaft. Sie wollte sie nie wiedersehen – die Freunde, die sich nicht als Freunde erwiesen hatten, sondern als feindliche Fremde, die von dem ›armen Carl‹ sprachen, weil sie ihr auch an seinem Selbstmord die Schuld gaben.
Sie war nach Cape Cod gekommen, weil sie immer gehört hatte, daß die Neu-Engländer und die Menschen am Kap schweigsam und zurückhaltend waren und mit Fremden nichts zu tun haben wollten, und das war gut so. Sie brauchte einen Winkel, in dem sie sich verbergen, in dem sie wieder zu sich selbst finden konnte, um mit allem fertig zu werden und um all das, was geschehen war, zu überdenken und zu versuchen, ins Leben zurückzufinden.
Sie hatte sich ihr Haar abgeschnitten und es dunkelbraun gefärbt, und das genügte, um sie völlig anders aussehen zu lassen als auf den Bildern, die während des Prozesses überall im Land auf den Titelseiten der Zeitungen erschienen waren.
Sie war überzeugt, daß es eine Fügung des Schicksals war, als sie sich für Rays Maklerbüro entschieden hatte, damals, als sie ein Haus zu mieten suchte. Eigentlich hatte sie sogar noch eine Verabredung mit einem anderen Immobilienmakler getroffen, aber, einem plötzlichen Impuls folgend, hatte sie Rays Büro betreten, um zuerst mit ihm zu verhandeln, weil ihr sein handgedrucktes Firmenschild und die mit gelben und champagnerfarbenen Chrysanthemen gefüllten Blumenkästen am Fenster gefielen.
Sie hatte gewartet, bis er einen anderen Kunden bedient hatte – einen alten Mann mit einem Gesicht wie Leder und dichtem, lockigem Haar, und sie hatte es bewundert, wie Ray dem Mann empfohlen hatte, an seinem Besitz festzuhalten, und wie er ihm versprochen hatte, daß er sich bemühen werde, für das Apartment in dem Haus einen Mieter zu finden, um die Unkosten zu decken.
Nachdem der alte Mann gegangen war, sagte sie: »Vielleicht komme ich gerade zum rechten Zeitpunkt. Ich möchte ein Haus mieten.«
Er wollte ihr das alte Hunt-Haus aber nicht einmal zeigen.
»›Der Ausguck‹ ist zu groß, zu einsam und zu windig für Sie«, sagte er. »Doch ich habe gerade einen Vermieterauftrag für ein echtes Kap-Haus hereinbekommen, das in hervorragendem Zustand ist und voll möbliert. Wenn Sie Wert darauf legen, könnten Sie es vielleicht sogar kaufen. Wie viele Zimmer benötigen Sie, Miß... Mrs....?«
»Miß Kiernan«, entgegnete sie. »Nancy Kiernan.« Instinktiv gab sie den Mädchennamen ihrer Mutter an. »Nicht viele, eigentlich. Ich werde sicherlich keine Gäste oder Besucher haben.«
Es gefiel ihr, daß er keine Fragen stellte und sie nicht einmal neugierig anblickte. »Das Kap ist die richtige Umgebung für jemanden, der allein sein möchte«, sagte er. »Man kann sich da gar nicht einsam fühlen, wenn man am Strand entlangwandert oder den Sonnenuntergang beobachtet oder am Morgen einfach aus dem Fenster schaut.«
Dann hatte Ray sie hierhergebracht, und sie hatte sofort gewußt, daß sie bleiben würde. Der alte Salon, der einst den Mittelpunkt des Hauses gebildet hatte, war in ein kombiniertes Wohn- und Eßzimmer umgestaltet worden. Sie liebte den Schaukelstuhl vor dem offenen Kamin und die Art und Weise, wie der Tisch vor das Fenster gestellt war, so daß man beim Essen über den Hafen und die Bucht blicken konnte.
Sie hatte sofort einziehen können. Sollte sich Ray darüber gewundert haben, daß sie nichts hatte als die beiden Koffer, mit denen sie aus dem Bus gestiegen war – gezeigt hatte er es nicht. Sie hatte gesagt, daß ihre Mutter gestorben sei und daß sie ihr Haus in Ohio verkauft und beschlossen habe, sich an der Ostküste niederzulassen. Sie hatte es einfach vermieden, über die sechs Jahre zu sprechen, die dazwischen gelegen hatten.
Damals, zum ersten Mal seit Monaten, hatte sie die ganze Nacht fest durchgeschlafen – einen tiefen, traumlosen Schlaf, in dem sie nicht hörte, wie Peter und Lisa nach ihr riefen, in dem sie nicht in einem Gerichtssaal saß und erlebte, wie Carl sie verdammte.
An jenem ersten Morgen hier hatte sie Kaffee gekocht und danach am Fenster gesessen. Es war ein klarer, heller Tag gewesen – purpurblau der wolkenlose Himmel; ruhig und still die Bucht; die einzige Bewegung ein Schwarm von Seemöwen, der in der Nähe der Fischerboote schwebte.
Ihre Hände hatten die Kaffeetasse umschlossen, und sie hatte an dem Kaffee genippt und hinausgeschaut. Die Wärme des Kaffees war durch sie hindurchgeströmt. Die Sonnenstrahlen hatten ihr Gesicht erwärmt. Die heitere Stille des Bildes hatte das Empfinden innerer Ausgeglichenheit, das schon nach dem langen, traumlosen Schlaf in sie eingekehrt war, noch verstärkt.
Frieden... gib mir Frieden. Das war ihr Gebet gewesen während des Prozesses und im Gefängnis. Ich muß lernen, es hinzunehmen. Vor sieben Jahren...
Nancy holte tief Luft, als sie bemerkte, daß sie noch immer auf der untersten Treppenstufe stand. Es war so leicht, sich in Erinnerungen zu verlieren. Deshalb hatte sie sich so angestrengt, jeden Tag bewußt zu leben... und nicht in die Vergangenheit und auch nicht in die Zukunft zu schauen.
Langsam stieg sie die Treppe hinauf. Wie konnte es je Frieden für sie geben, wo sie wußte, daß man sie erneut als Mörderin vor Gericht stellen würde, wenn Rob Legler je wieder auftauchen sollte. Daß man sie von Ray und Missy und Michael trennen würde! Einen Moment lang legte sie ihr Gesicht in die Hände. Nicht daran denken, sagte sie sich. Es hat keinen Zweck.
Oben auf dem Treppenabsatz angelangt, schüttelte sie entschlossen den Kopf und ging schnell ins Schlafzimmer. Sie riß die Fenster auf und fröstelte, als der Wind ihr die Vorhänge entgegenwehte. Wolken zogen auf, und auf dem aufgewühlten Wasser in der Bucht hatten sich Schaumkronen gebildet. Die Temperatur sank sehr schnell, und Nancy lebte nun schon lange genug am Kap, um zu wissen, daß ein so kalter Wind wie dieser bald in einen Sturm umschlagen würde.
Aber eigentlich war es noch klar genug, um die Kinder draußen zu lassen. Sie hatte es gern, wenn sie morgens möglichst lange an der frischen Luft waren. Nach dem Essen hielt Missy einen Mittagsschlaf, und Michael ging in den Kindergarten.
Sie wollte gerade die Bettücher von dem großen Doppelbett abziehen, als sie einhielt. Gestern war Missys Nase gelaufen. Sollte sie hinuntergehen und ihr einschärfen, bloß nicht den Jackenkragen zu öffnen? Das war eine ihrer beliebten kleinen Unarten. Missy beklagte sich immer darüber, daß ihre Sachen am Hals zu eng wären.
Nancy zögerte und überlegte einen Augenblick, dann schlug sie die Laken ganz zurück und zog sie ab. Missy hatte einen Rollkragenpullover an. Selbst wenn sie die Knöpfe öffnete, wäre ihr Hals bedeckt. Außerdem dauerte es höchstens zehn oder fünfzehn Minuten, bis sie das Bettzeug abgezogen, gewechselt und in die Waschmaschine gesteckt hätte.
Höchstens zehn Minuten, nahm sie sich vor, um die quälende Unruhe zu unterdrücken, die sie unentwegt drängte, nach draußen zu den Kindern zu gehen, auf der Stelle.
Manchmal ging Jonathan Knowles morgens zu Fuß zum Drugstore, um seine Morgenzeitung zu holen. An den übrigen Tagen fuhr er mit dem Fahrrad. Sein Ausflug führte ihn immer an dem alten Nickerson-Haus vorbei, dem Haus, das Ray Eldredge gekauft hatte, als er die hübsche Kleine heiratete, die da zur Miete wohnte.
Als das Haus noch dem alten Sam Nickerson gehörte, war es langsam verfallen. Jetzt aber sah es sauber und solide aus. Ray hatte das Dach neu gedeckt und das Holz gestrichen, und seine Frau verstand wirklich etwas von Gartenarbeit. Die gelben und orangefarbenen Chrysanthemen in den Blumenkästen gaben selbst dem trübsten Tag ein wenig Wärme und Freundlichkeit.
Bei schönem Wetter war Nancy Eldredge oft schon frühmorgens draußen bei ihrer Gartenarbeit. Sie hatte stets einen freundlichen Gruß für ihn und wandte sich dann wieder ihrer Arbeit zu. Jonathan hatte einen solchen Zug an einer Frau immer bewundert. Er hatte Rays Familie schon gekannt, als er und Emily hier oben noch Sommergäste waren. Natürlich – die Eldredges waren schon bei der Besiedlung des Kaps dabeigewesen. Rays Vater hatte Jonathan den ganzen Stammbaum der Familie aufgezählt – bis zu dem Mann zurück, der mit der Mayflower herübergekommen war.
Die Tatsache, daß Rays Liebe zum Kap so groß war, daß er sich sogar entschloß, sich hier eine berufliche Existenz zu gründen, war in Jonathans Augen besonders bemerkenswert. Das Kap hatte Seen und Weiher und die Bucht und den Ozean. Es hatte Wälder, in denen man wandern konnte, und Land, auf dem sich die Leute ausbreiten konnten. Es war der richtige Ort für ein junges Paar, um Kinder aufzuziehen, und es war die richtige Umgebung für Leute, die sich zur Ruhe setzen und hier ihren Lebensabend verbringen wollten. Jonathan und Emily hatten hier immer ihren Urlaub verlebt und sich schon auf die Zeit gefreut, in der sie hier für immer wohnen würden. Sie hatten es auch schon fast geschafft. Emily hatte es aber leider nicht mehr erlebt.
Jonathan holte tief Luft. Er war ein kräftiger Mann mit dichtem weißem Haar, einem breiten Gesicht und dem Ansatz zu einem Doppelkinn. Er war Rechtsanwalt und jetzt im Ruhestand, doch die Untätigkeit bedrückte ihn. Im Winter konnte man nicht angeln gehen, und in den Antiquitätenläden herumzustöbern und Möbel aufzuarbeiten, machte auch nicht mehr so viel Spaß wie damals, als Emily noch bei ihm war. Inzwischen war mehr als ein Jahr vergangen, seitdem er sich endgültig am Kap niedergelassen hatte, und er hatte jetzt angefangen, ein Buch zu schreiben.
Zunächst war es nur ein Hobby gewesen. Doch inzwischen war daraus eine Betätigung geworden, die ihn Tag für Tag ganz ausfüllte. Einer seiner Freunde, ein Verleger, hatte an einem Wochenende ein paar Kapitel davon gelesen und ihm sofort einen Vertrag geschickt. Das Buch sollte eine Fallstudie berühmter Mordprozesse werden. Jonathan arbeitete jeden Tag fünf Stunden daran, sieben Tage pro Woche, und er begann pünktlich morgens um halb zehn.
Der Wind blies ihm scharf entgegen, und er zog seinen Schal fester zusammen. Die Sonnenstrahlen verkündeten Regen, doch als er zur Bucht hinüberblickte, tat es ihm wohl, sie auf seinem Gesicht zu spüren. Die Büsche und Sträucher hatten ihr Laub verloren, und man konnte durch sie hindurch bis zum Wasser sehen. Nur das alte Hunt-Haus auf seiner hohen Klippe ragte in sein Blickfeld – das Haus, das sie ›Der Ausguck‹ nannten.
Wenn er bei seiner Wanderung an dieser Stelle ankam, blieb er immer stehen, um einen Blick auf die Bucht zu werfen. Auch an diesem Morgen. Aber als er den Kopf zur Seite wandte, mußte er blinzeln. Verärgert blickte er wieder auf die Straße zurück. Die stürmischen, aufgewühlten Wellenkämme hatte er kaum wahrgenommen. Dieser Kerl, der das Haus da gemietet hatte, mußte irgend etwas Metallisches hinter dem Fenster haben, dachte er. Ein verdammter Unfug. Er hatte nicht übel Lust, Ray zu bitten, es diesem Kerl zu sagen. Doch ein wenig kleinlaut schob er den Gedanken dann beiseite. Der Mieter schlug vielleicht einfach vor, Jonathan möge doch gefälligst die Bucht an einer anderen Stelle des Weges inspizieren.
Unwillkürlich zuckte er mit den Schultern. Er befand sich direkt vor dem Haus der Familie Eldredge. Nancy saß gerade am Frühstückstisch beim Fenster und sprach mit dem kleinen Jungen. Das Mädchen saß auf ihrem Schoß. Jonathan blickte schnell weg, denn er fühlte sich wie ein Eindringling und wollte ihrem Blick nicht begegnen. Na schön, er würde die Zeitung holen, sich ein Frühstück bereiten und sich danach an den Schreibtisch setzen. Heute wollte er sich den Mordfall Harmon vornehmen, von dem er vermutete, daß er zum interessantesten Kapitel des Buches werden könnte.
Ray stieß die Tür zu seinem Büro auf. Er war nicht imstande, die quälende innere Unruhe abzuschütteln, die wie ein undefinierbarer Schmerz in ihm pochte. Was war los? Es war nicht allein, daß er Nancy dazu gebracht hatte, sich zu ihrem Geburtstag zu bekennen und er das Risiko eingegangen war, alte Erinnerungen in ihr wachzurufen. Tatsächlich war sie ja sehr ruhig geblieben. Er kannte sie gut genug, um es sofort zu spüren, wenn sich in ihr die nervöse Spannung wegen ihres früheren Lebens wieder verstärkte.
Diese Spannung konnte durch alles mögliche hervorgerufen werden, beispielsweise durch einen dunkelhaarigen Jungen, den sie mit einem Mädchen zusammen sah, besonders wenn beide etwa im Alter ihrer anderen Kinder waren, oder durch die Diskussion über den Mord an diesem kleinen Mädchen, das man im vergangenen Jahr in Cohasset tot aufgefunden hatte. Aber heute morgen war mit Nancy alles in Ordnung gewesen. Es war etwas anderes, was ihn beunruhigte – eine Vorahnung von Unheil.
»Nanu! Was hat das denn zu bedeuten?«
Ray blickte verdutzt auf. Dorothy saß an ihrem Schreibtisch. Ihr Haar, eher grau als braun, umrahmte locker ihr schmales hübsches Gesicht. Ihr schlichter beiger Pullover und ihr brauner Tweedrock verrieten eine fast gewollte Lässigkeit und ließen erkennen, daß ihre Trägerin keinen Sinn für modischen Firlefanz besaß.
Als Ray damals sein Geschäft eröffnete, war Dorothy seine erste Kundin gewesen. Das Mädchen, das er eingestellt hatte, war nicht erschienen, und Dorothy hatte sich bereit erklärt, ein paar Tage auszuhelfen. Von da an war sie bei ihm geblieben.
»Merken Sie nicht, daß Sie die ganze Zeit den Kopf schütteln und die Stirn runzeln?« fragte sie ihn.
Ray lächelte verlegen. »Ach, vermutlich ist das nur ein kleiner Morgentatterich. Wie geht es Ihnen?«
Dorothy wurde sofort sachlich. »Danke. Ich habe die Akte über den ›Ausguck‹ zusammengestellt. Wann erwarten Sie diesen Mann, der das Haus besichtigen möchte?«
»Gegen zwei«, erwiderte Ray. Er beugte sich über ihren Tisch.
»Wo in aller Welt haben Sie denn diese Pläne ausgegraben?«
»Sie waren bei den Akten in der Bibliothek. Sie wissen ja, daß das Haus sechzehnhundertneunzig begonnen wurde. Es würde ein herrliches Restaurant abgeben. Wenn jemand bereit ist, Geld für die Renovierung auszugeben, kann es ein Schmuckstück werden. Die Lage am Wasser ist einzigartig.«
»Mr. Kragopoulos und seine Frau haben schon eine Reihe von Restaurants eingerichtet und wieder verkauft, und ich denke, sie werden kaum etwas dagegen haben, ihre Dollars anzulegen, damit alles so wird, wie es sein sollte.«
»Ich habe noch nie einen Griechen kennengelernt, der nicht imstande gewesen wäre, ein Restaurant in Schwung zu bringen«, bemerkte Dorothy, als sie die Akte schloß.
»Und alle Engländer sind schwul, und kein Deutscher hat Humor, und die meisten Puertoricaner – ich meine Spics – leben von der Wohlfahrt... Mein Gott, wie ist es mir zuwider, jemandem ein Etikett anzuhängen!« Ray zog seine Pfeife aus der Brusttasche und klemmte sie sich zwischen die Zähne.
»Wie bitte?« Dorothy blickte bestürzt zu ihm auf. »Ich wollte bestimmt niemandem ein Etikett anhängen – das heißt, ich meine, vielleicht habe ich es getan, aber nicht so, wie Sie es aufgefaßt haben.« Sie wandte ihm den Rücken zu und stellte die Akte weg, während Ray in sein eigenes Büro ging und die Tür hinter sich schloß.
Er hatte sie gekränkt. Ohne Gefühl und ohne Grund. Was zum Teufel war nur mit ihm los? Dorothy war der anständigste, gerechteste und unvoreingenommenste Mensch, den er kannte. Wie gemein, so etwas zu ihr zu sagen. Er holte tief Luft, langte nach der Tabakdose auf dem Tisch und stopfte seine Pfeife. Eine Viertelstunde lang paffte er nachdenklich vor sich hin, dann nahm er den Hörer auf und wählte Dorothys Nummer.
»Ja.« Ihre Stimme klang förmlich, als sie den Hörer aufnahm.
»Sind die Mädchen schon da?«
»Ja.«
»Der Kaffee schon fertig?«
»Ja.« Dorothy erkundigte sich nicht, ob er schon welchen haben wollte.
»Könnten Sie mit Ihrem Kaffee zu mir herüberkommen und mir auch eine Tasse mitbringen? Und bitten Sie die Mädchen, eine Viertelstunde lang keine Anrufe durchzustellen.«
»In Ordnung.« Dorothy legte auf.
Ray stand auf, um ihr die Tür zu öffnen, und als sie mit den dampfenden Tassen hereinkam, schloß er sie leise wieder.
»Frieden«, sagte er zerknirscht. »Es tut mir schrecklich leid.«
»Das glaube ich«, sagte Dorothy, »ist schon gut. Aber was ist bloß los?«
»Bitte setzen Sie sich doch.« Ray deutete auf den rostfarbenen Ledersessel an seinem Schreibtisch. Er nahm seinen Kaffee zum Fenster hinüber und starrte trübsinnig in die sich verdüsternde Landschaft hinaus.
»Hätten Sie Lust, heute abend zum Abendessen zu uns zu kommen?« fragte er. »Wir wollen Nancys Geburtstag feiern.«
Er hörte, wie sie tief Luft holte, und fuhr herum. »Meinen Sie, das ist ein Fehler?«
Dorothy war die einzige am Kap, die alles über Nancy wußte. Nancy hatte es ihr selbst erzählt und sie um Rat gefragt, ehe sie einwilligte, Ray zu heiraten.
Als Dorothy antwortete, blickte sie nachdenklich vor sich hin, und ihre Stimme klang zögernd. »Ich weiß es nicht genau, Ray. Welche Überlegung steckt hinter dieser Feier?«
»Es ist die Überlegung, daß man nicht so tun kann, als hätte Nancy nie Geburtstag! Natürlich ist es mehr als nur das. Es bedeutet auch, daß Nancy mit ihrer Vergangenheit brechen muß, daß sie aufhören muß, sich zu verstecken.«
»Kann sie denn mit ihrer Vergangenheit brechen? Kann sie denn überhaupt aufhören, sich zu verstecken, wenn ihr die Angst vor einem Mordprozeß dauernd im Nacken sitzt?«
»Aber das ist es doch gerade. Die Angst davor. Dorothy, bedenken Sie doch, daß man von dem Kerl, der gegen sie ausgesagt hat, seit über sechs Jahren nichts mehr gesehen oder gehört hat! Weiß der Himmel, wo der steckt, ob er überhaupt noch lebt. Nach allem, was wir wissen, ist er heimlich und unter einem anderen Namen ins Land zurückgekehrt. Er ist genauso daran interessiert wie Nancy, daß die ganze Geschichte nicht wieder aufgerollt wird. Vergessen Sie nicht, daß er offiziell ein Fahnenflüchtiger ist. Und wenn er geschnappt wird, muß er schon mit einer ziemlich saftigen Strafe rechnen.«
»Das ist vielleicht richtig«, stimmte Dorothy zu.
»Das ist richtig. Und gehen wir noch einen Schritt weiter. Einverstanden? Was denken die Leute hier in der Stadt von Nancy – und damit meine ich auch die Mädchen hier in meinem Büro?«
Dorothy zögerte. »Sie denken, sie ist sehr hübsch... sie bewundern die Art, wie sie sich kleidet... sie sagen, sie ist immer sehr freundlich... und sie denken, daß sie sehr zurückgezogen lebt.«
»Das ist sehr nett ausgedrückt. Ich habe gehört, wie über meine Frau gestichelt wurde, daß sie wohl glaube, sie sei zu gut für die Leute hier in der Gegend. Im Klub werde ich immer öfter gehänselt, warum ich nur die Mitgliedschaft für den Golfklub erworben hätte und warum ich nicht mal meine hübsche Frau mit herüberbrächte. In der vergangenen Woche rief jemand von Michaels Schule an und erkundigte sich, ob Nancy bereit wäre, in irgendeinem Komitee mitzuarbeiten. Unnötig zu sagen, daß sie abgelehnt hat. Im letzten Monat habe ich sie soweit gebracht, daß sie mit mir zu einem Empfang der Grundstücksmakler gegangen ist, aber als dann ein Gruppenbild gemacht wurde, war sie auf der Toilette.«
»Sie hat Angst, erkannt zu werden.«
»Das verstehe ich ja. Aber sehen Sie denn nicht ein, daß die Wahrscheinlichkeit, im Lauf der Zeit erkannt zu werden, immer geringer wird? Und selbst wenn jemand zu ihr sagte: ›Sie haben eine unwahrscheinliche Ähnlichkeit mit der jungen Frau in Kalifornien, die da angeklagt war wegen...‹ Sie verstehen schon, was ich meine, Dorothy. Für die meisten Leute wäre die Sache damit erledigt. Eine Ähnlichkeit. Punkt. Schluß. Du lieber Himmel. Denken Sie doch bloß an diesen Burschen, der da immer auftrat und für Whisky und Banken Reklame machte, diesen Doppelgänger von Lyndon Johnson. Ich war mit seinem Neffen bei der Armee. Manche Menschen sehen sich eben sehr ähnlich. So einfach ist das. Und wenn es je wieder einen Prozeß gibt, dann möchte ich, daß Nancy bei den Menschen hier Wurzeln geschlagen hat. Ich möchte, daß die Leute hier das Gefühl haben, Nancy ist eine von ihnen, damit sie Stimmung für sie machen. Denn wenn sie freigesprochen ist, wird sie hierher zurückkommen müssen und das alte Leben wieder aufnehmen. Das gilt für uns alle.«
»Und wenn es zum Prozeß kommt und sie nicht freigesprochen wird?«
»Diese Möglichkeit möchte ich einfach nicht in Betracht ziehen«, sagte Ray entschieden. »Nun, wie steht’s. Sind wir für heute abend verabredet?«
»Ich würde wirklich sehr gern kommen«, sagte Dorothy. »Und im großen und ganzen stimme ich auch mit dem, was Sie gesagt haben, überein.«
»Im großen und ganzen?«
»Ja.« Sie blickte ihn fest an. »Ich glaube, Sie werden sich selbst fragen müssen, inwieweit Sie diesen plötzlichen Wunsch, ein normales Leben führen zu wollen, Nancys wegen verspüren oder inwieweit ihm andere Motive zugrunde liegen.«
»Das heißt?«
»Ray, ich war dabei, als der Staatssekretär von Massachusetts Sie drängte, in die Politik zu gehen, weil das Kap junge Männer von Ihrem Format als Repräsentanten braucht. Ich habe gehört, wie er sagte, er würde Ihnen jede mögliche Hilfe und Unterstützung gewähren. Es ist schon ganz schön schwer, ihn hier nicht beim Wort nehmen zu können. Aber wie die Dinge liegen, können Sie das nicht. Und das wissen Sie auch.«
Dorothy verließ das Zimmer, ohne ihm eine Möglichkeit zu einer Antwort zu geben. Ray trank den Kaffee aus und ließ sich an seinem Schreibtisch nieder. Sein Ärger und seine Gereiztheit und die Spannung fielen von ihm ab, und er fühlte sich niedergeschlagen und schämte sich vor sich selber. Natürlich hatte sie recht. Er wollte auch nicht so tun, als ob da nicht eine Drohung auf ihnen lastete, als ob alles in bester Ordnung wäre. Aber er hatte auch verdammt starke Nerven. Er hatte genau gewußt, worauf er sich einließ, als er Nancy geheiratet hatte. Und sie hätte es ihm bestimmt klargemacht, wenn er es nicht ohnehin gewußt hätte. Sie hatte sich wirklich alle Mühe gegeben, ihn zu warnen.
Mit leerem Blick starrte Ray auf die Postsachen auf seinem Schreibtisch. Er dachte daran, daß er in den vergangenen Monaten auch Nancy ein paarmal so grundlos angeraunzt hatte wie Dorothy heute morgen. Wie er reagiert hatte, als sie ihm das Aquarell zeigte, das sie von ihrem Haus gemalt hatte. Sie müßte eigentlich Kunst studieren. Jetzt schon war sie so gut, daß sie auf lokaler Ebene ausstellen konnte. Er hatte gesagt: »Es ist hervorragend. Aber – in welchem Geheimzimmer wirst du es denn jetzt verstecken?«
Nancy hatte so verletzt ausgesehen, so hilflos. Er hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen. Er hatte sich entschuldigt: »Liebling, es tut mir wirklich leid. Es ist doch nur deshalb, weil ich so stolz auf dich bin. Ich möchte, daß du es ausstellst.«
Wie viele dieser Ausbrüche wurden dadurch heraufbeschworen, daß er es leid war, seine und Nancys Unternehmungslust ständig zügeln zu müssen?
Er holte tief Luft und begann, die Post durchzusehen.
Genau um Viertel nach zehn riß Dorothy die Tür zu seinem Büro auf. Ihre normalerweise gesunde und rosige Gesichtsfarbe war einem kränklichen aschfahlen Ton gewichen. Er sprang auf und wollte ihr entgegengehen. Aber sie schüttelte den Kopf, stieß die Tür hinter sich zu und streckte ihm die Zeitung entgegen, die sie unter ihrem Arm verborgen hatte. Es war der wöchentlich erscheinende Lokalanzeiger von Cape Cod. Dorothy hatte den zweiten Teil aufgeschlagen, den Teil, der immer eine rührselige Geschichte brachte. Sie ließ die Zeitung auf seinen Schreibtisch fallen.