Yarui - Sandra Gernt - E-Book

Yarui E-Book

Sandra Gernt

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Beschreibung

Die Schicksalsgeister meinen es nicht gut mit Yarui. Durch Hinterlist und Heimtücke wurde er zum Rechtlosen gebrandmarkt. Jeder, der die passenden Dokumente in der Hand hält, darf ihn auf jegliche Weise benutzen, als Arbeitssklaven beanspruchen oder auch umbringen. Nach einem Kartenspiel, in dem er als Einsatz dient, wechselt sein Besitzer. Das bedeutet jedoch nicht, dass sich die Dinge für ihn bessern, denn sein neuer Besitzer befindet sich im Kampf gegen mächtige Feinde – dieselben, die auch Yaruis Leid zu verantworten haben. Ca. 100.000 Wörter Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 500 Seiten.

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Die Schicksalsgeister meinen es nicht gut mit Yarui.

Durch Hinterlist und Heimtücke wurde er zum Rechtlosen gebrandmarkt. Jeder, der die passenden Dokumente in der Hand hält, darf ihn auf jegliche Weise benutzen, als Arbeitssklaven beanspruchen oder auch umbringen. Nach einem Kartenspiel, in dem er als Einsatz dient, wechselt sein Besitzer. Das bedeutet jedoch nicht, dass sich die Dinge für ihn bessern, denn sein neuer Besitzer befindet sich im Kampf gegen mächtige Feinde – dieselben, die auch Yaruis Leid zu verantworten haben.

 

Ca. 100.000 Wörter

Im normalen Taschenbuchformat hätte diese Geschichte ungefähr 500 Seiten.

 

1/2020

©opyright: Sandra Gernt

Korrektur: Brigitte Melchers

Layout und Design: Sandra Gernt

Bildrechte Cover:

Mann vor Schloss: ©herryfaizal – shutterstock.com

Girlande: ©OpenClipart-Vectors – Pixabay.com

Blätterornament: ©margot3001 – Pixabay.com

Initalen: ©GDJ – Pixabay.com

Absatztrenner: ©GDJ – Pixabay.com

www.sandra-gernt.de

Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder anderweitige Verwertung ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin gestattet.

von

Sandra Gernt

 

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Epilog

 

Ein Jahr voller Fantasy

 

 

 

urücktreten! Auf mein Kommando!“

Der zackige Befehl erfolgte nun schon zum vierten Mal.

Rowin starrte zu Boden, wollte nicht verfolgen, wie das riesige Beil gehoben wurde, wie die Sonne auf dem Stahl blitzte. Wollte die Blutschlieren nicht sehen, die von den drei vorherigen Opfern daran hafteten. Wollte nicht beobachten, wie es hinabschlug.

Stattdessen blickte er auf die Risse in den Steinfliesen. Sah die Gräser, Moose und Kräuter, die sich in den Spalten auszubreiten versuchten. Die Ameisen und anderen kleinen Insekten und Käfer, die in diesen grünen Oasen überleben wollten. Die Füße von Jaruk, der vor ihm in der Reihe stand, ebenso mit Ketten gefesselt wie Rowin, bewacht von über fünfzig königlichen Gardisten. Jaruk trug abgewetzte Lederschuhe, nicht die neuen Stiefel, die er sich vergangene Woche für teures Geld vom Schuster hatte anfertigen lassen.

„Ein Mann sollte zu jeder Gelegenheit das bestmögliche Schuhwerk tragen“, hatte er gesagt, als sie ihn dafür neckten, welch eitler Narr er war, dass er so viele Silberlinge leichtherzig verschleuderte. „Gleich ob fürs Tagewerk oder dem Tempelgang am Feiertag, es ist wichtig, die Füße zu ehren, die einen so treu tragen, und ihnen den Platz und Halt zu bieten, den sie dringend benötigen. Schlechte Schuhe bringen Blasen und Schmerzen.“

War es ein seltsamer Gedanke, dass Rowin sich wünschte, man hätte Jaruk seine schönen Stiefel anziehen lassen? Ihm auch für den letzten Gang ermöglichen, bequem laufen zu können? Vielleicht ja, vielleicht war es seltsam, und dennoch wünschte Rowin es sich so sehr, dass es ihm das Herz abdrückte. Es half, darüber nachzudenken.

Ein Schrei. Metall, das durch die Luft sirrte. Krachen. Ein dumpfer Aufprall. Mulik war tot. Das vierte Opfer des Hinrichtungkommandos. Trockenes Schluchzen in der endlos langen Reihe. Es zerfetzte die Nerven, dieses Warten. Das Erleben, wie ein Freund und langjähriger Kamerad nach dem anderen zum Block gezerrt, gefesselt und enthauptet wurde.

Bis gestern waren sie noch hochgeehrte Orumati gewesen. Geweihte der Schicksalsgeister, gesegnet mit den Gaben der Göttlichen. Nur die Orumati besaßen die Fähigkeit, die Welt mittels Magie zu verändern. Jeder Neugeborene wurde von den Geweihten untersucht. Wer die Gabe besaß, musste ab seinem siebten Lebensjahr in den Tempel gebracht werden, um dort eine strenge Ausbildung zu absolvieren. Niemand durfte Magie anwenden, wie es ihm gefiel! Ausschließlich im Dienst an den Schicksalsgeistern und zum Schutz und zur Verteidigung des Reiches war es erlaubt.

Vor vier Monaten hatte Archim III. den Thron bestiegen. Der neue König hatte mehrere Jahre an der Grenze zu Halderland gelebt und dort sein Fürstentum regiert. Die Halderländer hingen anderen Glaubensvorstellungen an, beteten zu einem einzigen Gott, verfolgten mit strikter Härte jeden, der an die Schicksalsgeister glaubte und töteten jene Kinder, die mit der Gabe geboren wurden – mitsamt deren Müttern. Ihrer Überzeugung nach stammte Magie nicht von den Göttlichen, sondern waren der Beweis, dass die Mütter sich mit Dämonen eingelassen haben mussten. Andernfalls wären alle Menschen zur Magie fähig.

König Archim hatte die Glaubenswelt der Halderländer übernommen und sofort nach der Thronbesteigung Pläne geschmiedet, jeden Tempel im Reich besetzen lassen. Mit einem Mal war es tatsächlich geschehen und der König hatte verfügt, dass die Orumati hingerichtet werden sollten. Kein Gnadengesuch war möglich. Eine Gerichtsverhandlung hatte es nicht gegeben. Die Soldaten waren gekommen, um sie zu töten. Von einem Tag auf den anderen waren sie keine hochgeachteten Geweihten der Göttlichen mehr, sondern Dämonenbälger, die vernichtet gehörten.

Es dauerte zu lange, um Magie zu wirken, Minuten bis mehrere Stunden, um genau zu sein. Darum hatten sie sich nicht zur Wehr setzen können, nicht mithilfe ihrer Gabe jedenfalls. Fluchtversuche und körperliche Gegenwehr waren brutal niedergeschlagen worden.

Nun standen sie also in der milden Spätfrühlingsonne, hörten das Zwitschern der Vögel, das Summen der Bienen, die hier im Tempel gezüchtet wurden, rochen die Blütenpracht, die sich auf einer nah gelegenen Wiese entfaltete. Das Leben um sie herum ging weiter, während ihr eigenes Leben endete. Es war vollkommen irreal.

„Zurücktreten! Auf mein Kommando!“

Metall, das durch die Luft sirrte. Ein panischer Schrei, geboren aus tiefster Not. Krachen. Ein dumpfer Aufprall. Garom war tot.

Sie rückten einen Schritt nach vorne. Rowin blickte kurz hoch. Noch siebenundfünfzig Männer standen vor ihm in der Reihe. Die weiblichen Orumati befanden sich auf einem anderen Innenhof, wo sie ebenfalls durch Enthauptung hingerichtet wurden.

Kirlan war der Nächste. Er war noch so verdammt jung, gerade erst zwanzig geworden. Elf Jahre jünger als Rowin. Die Kinder und Jugendlichen bis zum fünfzehnten Lebensjahr waren im Haupthaus eingesperrt. Sie sollten betäubt und im Schlaf stranguliert werden. Das war zumindest der Befehl gewesen – die Soldaten hatten großzügig jeden zu den Jugendlichen sortiert, der jung genug aussah, darum war Kirlan tatsächlich der Jüngste, der heute sein Leben verlieren sollte. Der arme Kerl weinte so sehr, dass er nach vorne zum Hinrichtungsblock gezerrt werden musste, da er keinen Schritt allein laufen konnte. Sie hätten ihn als Erstes sterben lassen sollen. Dann wäre ihm ein wenig von der panischen Angst erspart geblieben.

Rowin senkte den Kopf und schloss die Augen. Wären seine Hände nicht mit Eisenschellen gefesselt, würde er sie gegen die Ohren pressen, um auch nichts mehr hören zu müssen. Er war derartig aufgewühlt, dass er das Prickeln auf der Haut beinahe nicht bemerkt hätte. Irritiert riss er die Lider auf. Das war Magie! Er spürte Magie! Auch die anderen Geweihten schauten sich um, während die Gardisten offenbar nichts fühlten, denn sie reagierten nicht.

Mit einem Mal fror die Szenerie vor Rowins Augen ein. Ein Schmetterling hing in der Luft fest. Der Wind wehte nicht mehr länger. Rowin konnte sich nicht mehr bewegen, nicht mehr atmen. Nicht einmal sein Herz schlug, zumindest glaubte er das – so sehr, wie er sich fürchtete, müsste es ihm sonst hart und schmerzhaft gegen die Rippen hämmern. Das Einzige, was hartnäckig weiterfloss, waren seine Gedanken.

Welcher Magier steckte dahinter? Welcher Orumati war entkommen? Waren es vielleicht die Jugendlichen? Doch die waren einzeln in ihre Kammern eingesperrt worden, jeder mit Eisen gefesselt. Ohne die Hände oder Füße gebrauchen zu können, war es unmöglich, Magie zu wirken! Also wer? Rowin vermisste niemanden. Keiner der Männer war entkommen, da war er sich sicher. Dann war es sicherlich eine der Frauen? Bei ihnen wusste er nicht, ob sie vollzählig in den benachbarten Innenhof getrieben wurden, wie eine Herde Lämmer, die man in den alten Zeiten den Schicksalsgeistern geopfert hatte.

Hastige Schritte wurden hinter ihm laut.

„Bei den Geistern, ich bin zu spät!“, rief eine Stimme, die er nicht sofort einordnen konnte. Ein Ruck, eine Hand packte ihn hart am Arm und riss ihn aus der Reihe der regungslosen Verdammten. Die Ketten zerbröselten spröde zu Staub.

Rowin brauchte einen Moment, bis Herzschlag und Atmung wieder funktionierten und seine Muskeln bereit waren, ihn aufrecht zu halten. Sein Blick verlor kurz den Fokus. Dann erkannte er den Mann, der vor ihm stand.

„Nolg!“ Rund ein Jahr lang hatte er ihn nicht mehr gesehen. Sie waren damals zeitgleich im Tempel aufgenommen worden, gemeinsam aufgewachsen, zu vollwertigen Orumati ausgebildet worden. Während Rowin sich entschieden hatte, selbst zum Ausbilder zu werden, war Nolg vor einigen Jahren nach Truching gewechselt. Ein Tempel, der sich der Forschung verschrieben hatte. Astrologie, Mathematik, Geometrie, Geologie, Architektur und selbstverständlich Magietheorie. Nolgs Spezialgebiet war letzteres, er hatte schon mehrere weithin anerkannte Aufsätze darüber verfasst.

„Uns bleibt nicht viel Zeit“, sagte Nolg und umarmte ihn. „Eine Stunde haben wir, um alle zu befreien.“ Er drückte sich eng an ihn heran, als wären sie Liebhaber, und raunte ihm ins Ohr: „Du musst die Frauen retten. Stell dich gleich vor die Reihe, so wie ich es hier tun werde, und sage ihnen laut, dass sie keine Zeit verschwenden dürfen. Dass sie fliehen müssen, denn nach einer Stunde zerfällt mein Zauberbild und die Gardisten werden erwachen und sie verfolgen. Sie sollen kein Gepäck oder Wertgegenstände holen und auf niemanden warten, jeder muss rennen, so schnell er kann und sich niemals umdrehen. Nur so kann sichergestellt werden, dass wenigstens einige von uns überleben. Das ist natürlich eine Finte für die Gardisten! Sie sollen glauben, die Flüchtlinge wären im unmittelbaren Umkreis zu finden, ganz in der Nähe in den Wäldern. Danach trittst du zu jedem Einzelnen und sprichst ihnen hauchleise ins Ohr. Die Soldaten können hören und sehen, das lässt sich nicht vermeiden, darum fasse dich kurz. Sag ihnen, dass sie die Gardisten nicht berühren dürfen, auch nicht leicht streifen, denn sonst wachen sie auf. Sie müssen auf Insekten achten. Insekten erwachen genauso, fliegen und krabbeln umher und wecken alles, was sie anschließend berühren. Oh! Und sag ihnen, dass sie in die große Halle kommen sollen. Beeile dich! Die Ketten zerfallen bei Berührung, wie es bei dir geschehen ist. Derjenige von uns beiden, der zuerst fertig wird, kümmert sich um die Kinder und Jugendlichen. Wir treffen uns dann alle gemeinsam in der großen Halle. Achtet bitte, bitte auf die Insekten, die sind eine unkontrollierbare Gefahr. Und nun renn!“

Nolg gab ihm einen flüchtigen Kuss auf den Mund und rief laut: „Ich bin so froh, dass ich nicht zu spät für dich war!“ Dann ließ er Rowin los und eilte die lange Reihe der erstarrten Orumati entlang, während Rowin sich umdrehte und weisungsgemäß durch das Tor lief, das ihn in den benachbarten Innenhof führen würde. In seinem Inneren herrschte Aufruhr. Kaum zu glauben, dass er tatsächlich noch lebte! Dass er frei war, ohne die Ketten, die er in den vergangenen Stunden beinahe als Teil seiner Selbst zu akzeptieren gelernt hatte. Dass er nun doch eine Chance erhielt, den Sonnenuntergang zu erleben – und den nächsten Sonnenaufgang. Dass sein Kopf noch eine Weile mit seinem Hals verbunden bleiben würde.

Drei kopflose Frauenleichen lagen achtlos in einer Ecke, fortgeworfen wie Unrat. Die zugehörigen Köpfe fanden sich in einem Weidenkorb, grotesk gestapelt, als wäre es Kohl auf dem Bauernmarkt. Aride, Yanni und Halla. Drei Orumati mittleren Alters. Die Gardisten hatten auch sie vollkommen zufällig zusammengetrieben und aneinandergekettet, statt sie nach Alter zu ordnen und so den Jüngsten ein wenig Gnade zu gewähren. Man konnte ihnen zugestehen, dass dies nicht aus Grausamkeit geschehen war, sondern aus Mangel an Übung. Unter dem alten König, Nartus dem Wohltäter, hatten sie jahrzehntelang in Frieden und Wohlstand gelebt. Massenhinrichtungen kannte man nur noch aus den Schauergeschichten der Alten, da es weder Grund zu Aufständen gab noch Bedingungen vorherrschten, die die Gründung großer Räuberbanden mit sich brachten.

Rowin rief mit weithin hallender Stimme, was Nolg ihm aufgetragen hatte, beschwor die Frauen eindringlich, nach ihrer Erweckung zu fliehen und niemals zurückzublicken, damit die Gabe überlebte. Bizarr sah es aus, dieser Haufen von Menschen, die in der Bewegung erstarrt waren. Kayra hatte offenbar den Kopf geschüttelt, als der Zauber sie erwischte. Das lange, hellbraune Haar hing in der Luft und verdeckte ihr das halbe Gesicht. Sie wäre die Nächste in der Reihe gewesen. Einer der Gardisten hielt sie am Arm, und das bedeutete ein Problem – sobald Rowin sie erweckte, würde auch der Gardist aufwachen. Ein Problem, das sich nur mit Gewalt lösen ließ.

Um es aufzuschieben, eilte er erst einmal an das Ende der Reihe und erweckte nacheinander die Frauen. Erst wisperte er ihnen ins Ohr, was sie im Geheimen erfahren mussten, dann berührte er sie und schickte sie fort. In Windeseile leerte sich der Hof. Vor Glück weinende, aufgelöste Frauen fielen einander in die Arme, nahmen lautstark Abschied, wünschten sich gegenseitig Glück und den Segen der Geister. Ein gelungenes Schauspiel vor den Gardisten, die dazu verdammt waren, als stumme Statuen dabeizustehen und sie regungslos zu beobachten.

Zuletzt war nur noch Kayra übrig. Sie trug den Beinamen „Kleine Mutter“. Zum einen weil sie sehr kurz geraten war, Rowin kaum bis zur Brust reichte, obwohl er selbst bloß mittlere Größe besaß. Zum anderen kümmerte sie sich bevorzugt um die Jüngsten, die kleinen Jungen und Mädchen, die oft verheult und verängstigt im Tempel ankamen und nicht wirklich fassen konnten, dass sie ihre Familien für immer zurücklassen mussten, bloß weil sie über irgendeine befremdliche Göttergabe verfügten. Kayra war diejenige, die die Kleinen in den Schlaf sang, ihre Tränen trocknete, sie umarmte, ihnen Geschichten erzählte. Die sie mit in die Küche nahm, um mit ihnen Honigkuchen zu backen. Sie war mit ihren rund vierzig Jahren noch zu jung, als dass sie auch für Rowin eine Ersatzmutter hätte sein können. Dennoch war er unendlich froh, dass nicht auch ihre Leiche auf dem Haufen dort hinten lag, achtlos verworfenes, verschwendetes Leben. Er wisperte ihr rasch zu, was sie wissen musste. Dass es keine Möglichkeit gab, sie zu befreien, ohne auch den Gardisten aufzuwecken. Dass sie sich sofort von ihm fortbewegen müsse, auch wenn sie unmittelbar nach dem Bruch des Zauberbannes noch desorientiert sein würde.

Sie gehorchte, ließ sich auf die Knie fallen, sobald ihre Ketten zerfielen. Der Gardist bewegte sich, als wäre er volltrunken. Es war mit großer Sicherheit das erste Mal überhaupt, dass er mit Magie in Kontakt gekommen war, und dann gleich eine Zeitdilatation. Ein schwerer Schock für Körper und Geist. Es machte es leichter für Rowin, der noch niemals einen Menschen mit der Faust geschlagen hatte. Er holte aus, traf ihn mit all seinem Zorn im Unterbauch. Befehlsempfänger oder nicht, diese Männer hatten seine Freunde ermordet!

Keuchend sackte der Mann zusammen, fiel zu Boden. Rowin holte aus, wollte ihm gewaltsam in die Rippen treten, um noch mehr Hass und Wut und Verzweiflung rauszulassen. Mulik war sein Freund gewesen! Yanni hatte Hand in Hand mit ihm gearbeitet, um die Gruppe der zwölf- bis sechzehnjährigen zu unterrichten, ihnen Mathematik und das Zeichnen von Sternenkarten beizubringen. Ihr scharfer Verstand, ihre geistreichen Anmerkungen, das würde fehlen. Genau wie Muliks sanfte Hand, der die Bienenstöcke versorgt und den Kräutergarten gepflegt hatte.

Dennoch verharrte er, hinderte sich selbst daran, seinen Zorn an diesem wehrlosen Mann abzureagieren. Es würde die Toten nicht zurückbringen. Es würde bloß Zeit verschwenden. Darum zerrte er sich den Gürtel vom Leib und fesselte dem Gardisten damit die Hände auf den Rücken, kontrollierte zweimal die Knoten, um sicherzustellen, dass sie fest genug saßen, um die größtmögliche Katastrophe zu verhindern – das Erwachen der Soldaten, noch bevor der Zauber beendet war.

Dann rannte er, was seine Füße hergaben, um zum Haupthaus zu gelangen, streng auf der Hut vor Schmetterlingen, Bienen und Fliegen.

Er sah, wie seine Gefährten bereits von Raum zu Raum liefen, um die dort eingesperrten Kinder und Jugendlichen zu befreien. Da die Türen von außen ver- und entriegelt werden konnten, verloren sie keine Zeit damit. Zufrieden, dass hier alles seiner Wege ging, hastete Rowin in seine eigene Kammer, warf Kleidung, Gebrauchsgegenstände, einige wertvolle Kleinode, Geld und Magierkreide in einen großen Tragbeutel. Was für eine Flucht hilfreich erschien, wurde eingepackt. Was bloß totes Gewicht bedeutete, musste zurückbleiben. In einigen Tagen würde er womöglich um das eine oder andere trauern. Im Moment hatte er keine Zeit übrig, um diesen materiellen Dingen auch nur einen zweiten Blick zu gönnen.

Sobald er halbwegs sicher war, zumindest das Lebensnotwendige zusammengekratzt zu haben, rannte er zurück in die Halle. Dort waren schon fast alle anderen versammelt, die letzten kamen herbei, trugen weinende Kinder in den Armen. Nolg winkte Rowin zu sich und stellte sich mit ihm zusammen vor die Gruppe der Orumati.

„Hört mir für einen Augenblick zu!“, rief er und schaffte es dabei, das erregte Flüstern zu unterbinden. „Freunde! Gefährten! Orumati! Es gäbe tausende Dinge zu sagen, doch dafür fehlt die Zeit. Mein Dilatationszauber zerfällt in etwa einer Viertelstunde. Ich flehe darum um Vergebung, die ich nicht verdiene, dass ich zu spät kam, um das Leben aller zu retten. Ich konnte aus Truching fliehen, wo bereits gestern Abend dasselbe geschah wie hier. Sämtliche Geweihten wurden getötet, es gab außer mir keine Überlebenden.“

Zutiefst schockiert starrten sie einander an. Es war nicht zu begreifen. Unvorstellbar. Dass ein König in seinem gesamten Reich nicht bloß die Magie, sondern zuvorderst die Hüter des Wissens vernichtete … Es war nicht zu begreifen. Und dennoch, es war die Wahrheit.

„Shamar und Alera, die Obersten des Tempels, konnten mich verstecken, als wir durch die Garde überrannt wurden. Sie schlossen mich im Keller in eine Kiste ein und gaben mir den wichtigsten Schatz von Truching mit.“

„Den Geisterkristall?“, rief Barn, der männliche Oberste von Cairal, ihrem Tempel. Keineswegs jedes Haus der Orumati besaß einen solchen den Schicksalsgeistern geweihten Kristall. Er bündelte die magischen Strömungen, wovon jeder Bewohner profitierte, und in ihm war das gesamte Wissen magisch hinterlegt, über das ihr Haus verfügte. Sie waren seltene, unendlich kostbare magische Artefakte.

„Der Geisterkristall, ja.“ Nolg zerrte am Kragen seines Überwurfs und offenbarte den rötlich schimmernden Edelstein. „Ich habe Gespräche der Gardisten belauscht, als diese den Keller durchsuchten, ohne auf die Idee zu kommen, auch in meine winzige Kiste zu schauen. Sie haben offenbar den Auftrag, explizit diese Kristalle zu suchen und waren sehr wütend, weil in Truching keiner zu finden war. Ich entkam mittels Magie, zauberte mich hierher nach Cairal und begann sofort, die notwendigen Zaubergemälde anzulegen, um euch zu retten. Es dauerte länger als erhofft, weil ich nicht nur die Zeitdilatation erstellen und viele Details einbauen musste, damit die Ketten zerfallen. Es war unabdingbar, die Fluchtbilder zu malen, die wir gleich nutzen müssen. Es gibt zwei. Eines führt ins Nachbarreich, in den Tempel von Arimar. Dorthin sollten alle Frauen und Kinder und jeder, der die Landessprache halbwegs beherrscht, denn ausschließlich dort ist das Überleben garantiert. Wer lieber auf dieser Seite der Grenze bleiben und verfolgen will, was die Zukunft bringt, der nimmt das zweite Fluchtbild. Es führt in die Stadt Murisla, nah dem Ostmeer und der großen Handelsstraße. Bestens geeignet, um in der Bevölkerung unterzutauchen, denn niemand kann einen Orumati äußerlich von anderen Menschen unterscheiden. Im Notfall gibt es Schmugglerwege, um in Sicherheit zu gelangen, und es sollte möglich sein, Kontakt mit Arimar herzustellen und aufrecht zu erhalten. Die Fluchtbilder zerfallen, sobald auch die Dilatation endet. Wer also noch Schätze retten will, muss jetzt rennen. Die Bilder sind im Kellergewölbe, hinter den Weinvorräten.“

„Nolg … Es gibt keine Worte, die ausdrücken können, wie dankbar wir dir sind“, stammelte Barn. „Du willst vermutlich, dass Rowin dich begleitet und den Geisterkristall von Cairal an sich nimmt?“ Das er selbst diese Aufgabe übernahm, war undenkbar. Barn war alt und von Krankheit gebeugt, er wäre dieser Verpflichtung nicht gewachsen.

„Das war der Plan“, entgegnete Nolg. „Niemand könnte besser geeignet sein als er. Wir müssen die anderen Geisterkristalle ausfindig machen. Wir müssen erfahren, was König Archim mit ihnen plant – ob er sie etwa als Dämonenwerk zerstören will oder andere Absichten dahinterstecken. Das Wichtigste jedoch ist, dass so viele Orumati wie möglich überleben und in Sicherheit gebracht werden.“

„Flieht!“, rief Barn und gab den anderen einen Wink. Ein jeder begann zu rennen. Die einen strebten sofort in Richtung Kellergewölbe, die anderen hasteten in ihre Kammern oder zur großen Bibliothek, um noch den einen oder anderen Wissensschatz mitzunehmen. Barn und Elaila hingegen, die beiden Obersten, führten Nolg und Rowin so eilig wie möglich in das Heiligtum des Tempels. Dort, über dem Altar, leuchtete nach wie vor der Geisterkristall. Für einen Moment hatte Rowin befürchtet, er könnte aus seiner Fassung herausgerissen und fortgeschafft worden sein. Der Kristall von Cairal leuchte bläulich. Elaila fädelte ihn rasch auf die Goldkette, die genau für diesen Zweck bereitlag, da der Geisterkristall bei manchen Hochfeiertagen für Rituale von den Obersten getragen wurde. In wenig zeremonieller Geste legte sie das unvergleichbar wertvolle Artefakt in Rowins Hände und verließ dann das Heiligtum im Sturmschritt.

„Ich erflehe den Segen der Schicksalsgeister auf euch. Es gäbe so viel zu sagen, und so wenig Zeit bleibt dafür …“ Er rang hilflos mit den Händen, folgte dann Elaila.

Rowin fühlte sich überschwemmt, überfordert. Wo sollte er hin? Was sollte er jetzt tun? Wie sollte er die unglaubliche Veranwortung für den Geisterkristall tragen? Sie waren nicht bloß von entscheidender Bedeutung für ihren Glauben, sondern höchst mächtige Artefakte – und konnten nicht magisch versteckt werden. Mehr noch: Einem Orumati, der einen Geisterkristall umlegte, konnte dieser nicht entrissen werden, es sei denn, man tötete ihn zuvor. Den Kristall zu tragen, war somit auch eine extreme Gefahr und er wollte niemand anderem dieses Risiko aufbürden.

„Komm. Wir beide nehmen ein anderes Fluchtbild“, sagte Nolg und zerrte ihn am Handgelenk hinter sich. „Hast du, was du mitnehmen willst?“, hakte er noch kurz nach, was Rowin bejahte. Es war seltsam still im Tempel. Ihre Schritte hallten in den baumhohen Räumen von den weißen Stuckwänden wider. Man konnte spüren, dass sie die letzten Menschen in diesen hehren Hallen waren. Die Statuen der Heiligen starrten finster und missbilligend auf sie herab, oder so fühlte es sich für Rowin an. Vollkommen taub und innerlich leer stolperte er voran, folgte Nolg in den Gewölbekeller. Gerade eben erst hatte er versucht, mit seinem nahenden Tod fertig zu werden, sich auf die Begegnung mit den Schicksalsgeistern vorbereitet. Und nun? Es war zu viel, und doch durfte er jetzt noch nicht zusammenbrechen, musste funktionieren, durchhalten!

Er sah fantastische Magiebilder, die Nolg in Rekordzeit erstellt hatte. Sie bedeckten alle vier Wände, zeigten in aufregenden, bestechenden Details die notwendigen Szenerien. So funktionierte die Magie der Orumati: Man ermalte sich die Welt, wie man sie sich wünschte, und veränderte damit die Realität. Es kostete unglaublich viel Zeit, so etwas zu leisten. Je komplexer die Veränderungen, desto mehr musste man an Aufwand betrieben werden. Kraft hingegen war weniger das Problem. Ein trainierter Orumati konnte vieles bewegen, bevor ihn die Anstrengung in die Knie zwang.

Eine Wand war der Zeitdilatation gewidmet. Eine Wand zeigte den Tempel von Arimar, die andere den Marktplatz an der Küstenstadt. Die letzte Wand schien unbemalt, bis Nolg die Hand auflegte. Da zeigte sich, dass hier eine versteckte Tür aufgemalt war. Sie schwang sich auf, Rowin und Nolg schritten in die Dunkelheit hinein, die sich dahinter offenbarte.

Wenige Atemzüge später standen sie mitten im Wald. Keine Tür, kein Tempel weit und breit. Sie waren weit, weit fort von Cairal. Wo genau – das wusste Rowin nicht. Hier war der Himmel bewölkt, leiser Nieselregen fiel auf die Baumkronen über ihren Köpfen, zu schwach, um sie hier am Boden zu erreichen. Altes Laub und rostbraune Fichtennadeln bedeckten die Erde. Es gab keinen Weg, doch der Wald war eher licht, ein Durchkommen sollte möglich sein. Bloß: Wohin von hier? Welches Ziel sollten sie anstreben? Wie sollte Rowin seine Tage von nun an füllen, jetzt, wo man ihm sein Lebenswerk entrissen hatte? Keine Kinder mehr, die er lehren konnte. Keine festen Strukturen und festgelegten Pflichten. Seine Freunde und Gefährten – alle fort, in sämtliche Windrichtungen verstreut. Einige von ihnen tot, kein einziger von ihnen in echter Sicherheit …

Aufschluchzend sank er auf die Knie, vollkommen überwältigt von dem, was in zu kurzer Zeit auf ihn niedergegangen war.

„Rowin.“ Nolg kniete sich neben ihm nieder, zog ihn in die Arme, ganz der gute Freund, der er immer gewesen war. Sie waren wie Brüder aufgewachsen. „Es tut mir leid. Ich flehe dich an, vergib mir, dass ich nicht jeden retten konnte. Es tut mir leid …“

„Nein. Nein.“ Rowin rang um Atmung und seine Fassung. „Nein. Es ist nicht deine Schuld. Du hast getan, was getan werden musste, so viel riskiert, deine eigenen Freunde und Schützlinge verloren. Es ist nicht deine Schuld.“

Nein. Die gehörte dem König, und ihm allein.

„Hör zu. Heute Nacht werden wir zusammenbleiben“, sagte Nolg eindringlich. „In deinem Zustand kann ich dich nicht alleinlassen. Morgen aber trennen wir uns. Ich werde versuchen, noch andere Tempel zu erreichen und die Bewohner zu warnen und es wäre gut, wenn du Ähnliches versuchst. Je weiter weg von der Hauptstadt Helekarna, desto länger werden die Soldaten brauchen, um jedes einzelne Heilige Haus zu erreichen. So viele Menschen wie möglich müssen gerettet werden. So viele Geisterkristalle wie möglich der Vernichtung entkommen. Darüber hinaus habe ich noch keine Pläne. Überleben. Andere retten. Den Kristall beschützen. In Bewegung bleiben, damit man ihn nicht aufspüren kann. Vielleicht treffen wir uns wieder, sobald feststeht, dass sämtliche Tempel in Vallynn geräumt wurden? Vielleicht … Ich weiß es nicht.“

Erschöpft lehnte sich Rowin gegen ihn. Er selbst wusste auch nicht weiter. Das Einzige, was er sicher wusste: Sie durften heute Nacht nicht rasten oder ruhen. Es würde weitere Leben kosten. Zu viele Leben.

„Wir trennen uns sofort“, sagte er darum und kam taumelnd auf die Füße. „Ich versuche, nach Nagirod zu kommen und mich von da ab südlich zu halten.“

„Dann gehe ich nach Talimo und somit nach Osten, und kehre über die Nordroute zurück“, entgegnete Nolg. „Bist du sicher, dass du nicht erst Ruhe brauchst?“

„Ruhen können die Toten“, grollte Rowin grimmig und wühlte in seinem Tragebeutel nach der Magierkreide. „Außerdem müssen wir uns sofort bewegen, sonst finden sie uns hier mit runtergelassenen Hosen und den Geisterkristallen um den Hals. Irgendjemand hat diesen Soldaten Portale geschaffen. Irgendjemand sammelt die Kristalle ein. Dieser Jemand kann uns verfolgen.“ Er musste sich ein Tor zu Nagirod malen. Zwar war er nie dort gewesen und wusste darum nicht, wie der Tempel aussah, doch das war auch nicht notwendig, damit die Magie wirkte. Es brauchte eine Tür und seine feste Vorstellung, wohin diese Tür führen sollte. Ansonsten war nichts weiter als ein Baum notwendig, dessen Stamm ihm die Leinwand bot.

„Ich wünsche dir alles Glück dieser Welt, und den Segen der Schicksalsgeister“, sagte Nolg.

„Desgleichen“, erwiderte Rowin und umarmte ihn rasch noch einmal. „Und wenn du meine Hilfe brauchst, egal wann, egal für was, rufe nach mir. Mein Leben liegt in deinen Händen, du hast mich gerettet.“

Sie trennten sich, suchten mit ausgreifenden Schritten nach alten Bäumen, breit genug, stark genug, um die Magie ertragen zu können. Natürlich konnte jede Art von Untergrund dienlich sein, aber wenn sie die Wahl hatten, bevorzugten sie immer einen möglichst starken, stabilen Träger.

Rowin atmete tief durch. Er musste sich der Magie öffnen. Musste ins Ungewisse schreiten, weit genug vom Tempel entfernt, um fliehen zu können, sollten die Soldaten Nagirod bereits erreicht haben. Musste seinen Verstand zusammenhalten. Das Schicksal der Orumati hing davon ab, dass er sich jetzt konzentrierte.

Noch ein weiteres Mal durchatmen. Dann hob er die Kreide und begann.

 

 

arui setzte einen Fuß vor den anderen.

Laufen. Er musste weiterlaufen. Es war unerträglich. Tarik hatte ihm weder die Ketten abgenommen noch sonst irgendetwas getan, um ihm sein Schicksal erträglicher zu machen. Es war zu erwarten gewesen …

Seit endlosen Stunden lief er hinter Tariks Pferd her. Durch Matsch und schneidende Kälte, vor dem er keinen Schutz besaß, durch eisigen Nieselregen, der sich wie ein Totenhemd auf die Haut legte und ihm all seine Kraft raubte. Er hatte jegliches Recht verloren. Auch das Recht, Klagen auszustoßen oder um Gnade zu bitten. Nicht einmal atmen durfte er noch, von Rechts wegen. Sein Körper atmete dennoch hartnäckig weiter. Yarui hoffte, dass er möglichst bald damit aufhören würde. Vor dem Tod fürchtete er sich nicht. Lediglich davor, zu lange leiden zu müssen, bis er endlich eintrat.

Genau genommen war er ein Narr. Er könnte sich fallen lassen und darauf hoffen, dass das Pferd ihn zu Tode schleifte, oder? Gewiss, er hatte den direkten Befehl erhalten zu laufen. Als Rechtloser musste er solche Befehle befolgen. Aber irgendwann endete alles. Auch die Kraft, gehorsam zu sein.

Gerade war er soweit mit seinen matten, stark verlangsamten Überlegungen gekommen, die träge wie Sirup durch sein Bewusstsein rannen, als er gegen das Pferd stieß. Es war stehengeblieben und schnaufte nun empört über sein Missgeschick. Zum Glück war es ebenfalls zu müde, um nach ihm auszukeilen.

Yarui öffnete die Augen, verwirrt, weil er nicht bemerkt hatte, dass sie geschlossen waren. Sie standen vor einem Gasthaus, etwas abseits von der matschigen, von zahllosen Händlerfuhrwerken zerlöcherten Straße. Es dämmerte. Der Tag war vergangen und er hatte es nicht bemerkt. Tarik war abgestiegen und sprach mit einem Mann, gab ihm eine Münze dafür, dass er das Pferd absatteln, striegeln, füttern und nach bestem Vermögen versorgen sollte. Mit routinierten Handgriffen löste Tarik sein Gepäck vom Sattel und schnallte die Ketten ab.

„Komm!“, befahl er und zerrte Yarui hinter sich her. Gegen das schmerzliche Winseln war Yarui machtlos. Jeder einzelne Knochen im Leib schmerzte. Jeder Muskel. Seine Füße fühlten sich an, als würde er auf blutigen Stümpfen laufen. Die Kälte. Sie vernichtete ihn. Sein Kopf stach und hämmerte, als würden glühende Eisenstäbe darin stecken, die ein Schmied mit seinem größten Hammer bearbeitete.

Wenigstens war es warm, ja, im Vergleich beinahe heiß im Inneren der Gaststube. Licht empfing ihn, eine Glocke aus heimelig warmer Luft stülpte sich über seinen Körper. Tausende vertraute Gerüche, manche angenehm, andere abstoßend. Bier, Holunderschnaps, Rauch von Holzfeuern, Pfeifentabak, gebratenes Fleisch, Zwiebeln, nasse Wolle, Pferdeausdünstungen, menschlicher Schweiß – von frisch bis sehr, sehr alt –, Kohl, Steckrüben, Bohnerwachs, Stroh, Exkremente, nasse Hunde.

Tarik zerrte ihn zu einem freien Tisch. Die Gespräche der Gäste flachten ab, man sah nicht allzu häufig Männer in Begleitung eines Rechtslosen. Solche Kreaturen waren bedrohlich. Er war bedrohlich. Entwertet. Abfall. Jeder konnte es sehen, dass er Abfall war. Die Blicke brannten auf Yaruis Haut. Noch vor einigen Stunden hätten sie ihn schwer verletzt. Inzwischen war er viel zu erschöpft, um sie wirklich zu bemerken. Dankbar, nicht mehr länger laufen zu müssen, rollte er sich neben Tariks Stuhl zusammen, sehr darauf bedacht, weder seinen Herrn zu behindern, der behaglich die Beine ausstreckte, noch in den Weg der Leute zu geraten, die den Tisch passieren könnten. Es störte ihn nicht, dass er hier im Dreck lag. Es interessierte ihn nicht, dass Tarik ausschließlich für sich selbst Essen und Trinken bestellte. Hunger hatte er sowieso keinen, dafür war er zu erschlagen. Wasser wäre schön, der Durst quälte ihn sehr. Aber was machte das schon. Ohne Verpflegung würde er schneller sterben. Da Tarik als Besitzer eines Rechtlosen genauso unerfahren war wie Yarui in seiner neuen Rolle, konnte er hoffen. Hoffen, dass dieser Verräter ihn in seiner Ahnungslosigkeit und Arroganz und dem wilden Triumph, Yarui endlich bezwungen zu haben, versehentlich umbringen würde. Dass er eher plante, ihn auf Monate bis Jahre leiden zu lassen, das war vollkommen klar, da hegte Yarui auch keine Illusionen.

Das Essen wurde geliefert. Ein Holznapf mit Eintopf war es wohl, den Geräuschen nach, die bald über Yaruis Kopf erklangen; Schlürfen, das Klappern von Holzlöffel gegen hölzernes Behältnis. Dazu sicherlich ein Humpen Bier, den Tarik sich gerne abends genehmigte, sofern er keinen Dienst hatte. Tausende Male hatte Yarui ihn dabei beobachtet, wenn sie in einem Raum saßen, durch mehrere Tische voneinander getrennt, und das Nachtmahl verspeisten.

Er dämmerte langsam dahin. In seiner jetzigen Haltung waren die Schmerzen erträglich, es war warm, trocken. Zwar saß die Kälte tief in Yaruis Knochen, doch sie konnte nicht noch tiefer vordringen. Hoffentlich blieb Tarik noch eine Weile sitzen, bevor er ihn wieder hochjagte, die Treppe hinauf, um den Schlafsaal zu beziehen. Jedenfalls ging Yarui davon aus, dass sie im Gemeinschaftsraum übernachten würden, ein Einzelzimmer kostete ein Vermögen. Geld, das Tarik nicht besaß. Ihm war es gleich. Sein gesamtes Leben hatte er in Gemeinschaftsräumen geschlafen. Die vergangenen drei Nächte, die er allein in einem zugigen, nachtschwarzen Verlies liegen musste, waren niederhöllische Qual gewesen – es gab sicherlich zahllose Gründe, warum er dort auf den grob behauenen, kalten Steinplatten kein Auge schließen konnte, doch die Einsamkeit, die Abwesenheit anderer Menschen um ihn herum, war auf jeden Fall einer davon gewesen.

Gemeinsam mit der Dunkelheit. Der Angst. Den Ketten, die bei jeder Bewegung klirrten. Die ungewisse Angst.

Angst.

Stiefel stießen gegen sein Bein, als jemand an den Tisch trat. Yarui zuckte, versuchte sich noch kleiner zusammenzurollen.

„Mögen die Schicksalsgeister Euch wohlgesonnen sein“, dröhnte die tiefe Stimme eines Mannes weit über seinem Kopf. Noch immer war der Glaube an die Geister allgegenwärtig. Daran änderten auch die Bemühungen des Herrschers nichts, den einen Gott, den Gott ohne Namen, im Königsreich Vallynn einzuführen. „Habt Ihr Lust auf ein Kartenspiel? Ihr sitzt hier allein und auch ich habe keine Gesellschaft heute Nacht.“

„Ein Kartenspiel? Gerne doch, der Herr, so vertreibt sich die Zeit gleich viel angenehmer. Setzt Euch!“, rief Tarik gut gelaunt. „Tarik ist mein Name. Wie heißt Ihr?“

„Rowin. Ich bin Botenläufer, gerade ohne Auftrag, und auf dem Rückweg nach Ogrund.“

„Diese Stadt ist mir nicht geläufig. Ich habe mein ganzes Leben in unserer schönen Königsstadt verbracht und bin jetzt auf dem Weg nach Kalioste.“

„Ein schönes Städtchen. Weinberge, kleine Lehen, besseres Wetter. Ihr habt eines vom König erhalten? Ein Lehen, meine ich.“

„Ihr seid ein weltgewandter Mann, Rowin, kennt Euch gut aus. Ja, ich habe für meine Verdienste etwas Land und einen Weinberg erhalten.“

„Ihr müsst ein wahrlich verdienter Mann sein, Tarik, viel mehr als fünfundzwanzig Sommer könnt Ihr noch nicht zählen.“

Es waren siebenundzwanzig. Genauso viele, wie Yarui zählte. Angenehme Gesellschaft und ein Kartenspiel bedeutete, dass sie noch etliche Stunden in der Schankstube zubringen würden. Hoffentlich verlor Tarik all sein Geld! Obwohl, nein, das wäre schlecht, denn dann würden sie den Rest der Reise im Freien nächtigen, und danach hatte Yarui gar kein Verlangen. Wenn schon sterben, dann bitte im Warmen. Umgeben von Menschen, die ihn weder hassten noch verachteten. Hier in der Gaststube hasste und verachtete ihn bloß Tarik. Alle anderen fürchteten ihn und versuchten ihr Bestes, so zu tun, als gäbe es ihn nicht.

Er beschloss, nicht länger gegen den Schlaf anzukämpfen. Tarik würde ihn schon wachtreten, wenn er bereit war, den Abend zu beenden.

 

 

Rowin wusste nicht, was ihn an diesen Tisch getrieben hatte. Nicht die Sehnsucht nach guter Gesellschaft, so viel war gewiss. Dieser Tarik war keineswegs schlechte Gesellschaft. Höflich, gebildet, mit guten Manieren gesegnet. Er plauderte angenehm, hörte zu, interessierte sich offenkundig für das, was Rowin über seine Arbeit zu berichten hatte. Botenläufer kamen in der Welt herum, sahen viele Städte, das weite Land, kannten jede Taverne und wussten, welche empfehlenswert waren. Natürlich interessierte sich Tarik für das, was Rowin ihm über den Weg nach Kalioste zu berichten hatte. Es war überaus schmeichelnd, so viel Beachtung zu finden.

Trotzdem war dies nicht der Grund, warum er sich hergesetzt hatte, den Wirt um Spielkarten bat und einen Kupferkreuzer als Pfand hinterlegte, für den Fall, dass die Karten beschädigt werden sollten. Während er mischte, dachte er intensiv darüber nach, was seine wahren Beweggründe gewesen sein mochten. Wirklich bloß die Neugier, was ein solch junger Kerl angestellt haben mochte, um zum Besitzer eines Rechtlosen zu werden? Rowin hatte auf einem Blick erkannt, dass diese Rollen für beide Beteiligte neu sein musste. Üblicherweise benötigte man die Ketten bloß in den ersten ein, zwei Wochen. Danach war der Wille des Rechtlosen gebrochen und er versuchte nicht mehr zu fliehen. Der junge Mann unter dem Tisch war noch viel zu wach und aufrecht, um schon lange entrechtet sein zu können. Tarik hatte sich ebenfalls auf eine Art durch den Schankraum bewegt, der Rowin verriet, dass dieser noch niemals zuvor Verantwortung für einen lebendigen Besitz übernommen hatte. Zu misstrauisch, zu sehr auf der Hut, wie man auf ihn reagieren würde. Dieser Verdacht bestätigte sich rasch, da er seinem Besitz weder Nahrung noch Essen zukommen ließ, obwohl der junge Mann sichtlich am Ende seiner Kräfte war. Besitz musste gepflegt werden, das war ihm wohl nicht klar.

Inzwischen wusste er, dass Tarik ein Soldat gewesen war, ehrenhaft entlassen und für überragende Dienste für Reich und König belohnt worden war. Etwas an dieser Geschichte schien ihm seltsam. Der Mann war entschieden zu jung, um seine Dienstzeit beendet zu haben. Glattrasiert war er, die Abendstoppeln zeigten sich fein und hell, wie es bei einem Mann mit strohblondem Haupthaar zu erwarten war. Die letzten Spuren jugendlicher Zartheit schwanden bloß langsam aus seinem Gesicht, egal wie breit er in den Schultern war, wie muskulös seine Arme. Hochgewachsen dazu, auf schlichte Art gut aussehend, ein wenig jungenhaft. Er hatte zwar die Frage nach seinem Alter nicht beantwortet, aber auf gar keinen Fall konnte er bereits fünfunddreißig sein – das gewöhnliche Alter, in dem Soldaten aus dem Dienst schieden, die sich nicht für höhere Laufbahnen qualifiziert hatten. Dienstunfähig schien er auch nicht zu sein, er besaß beide Augen, sämtliche Gliedmaßen, seine Hörfähigkeit war bestens, geistig verwirrt wirkte er nicht. Er hatte sich mühelos, kraftvoll und elegant durch die Gaststube bewegt.

Gewiss, ein überragender Dienst für Reich und König beinhaltete für gewöhnlich eine Heldentat, bei der man selbst sein Leben riskierte und nicht selten teuer dafür zahlte. Schlachtfeldgrauen merkte man den Betroffenen nicht unbedingt an – Soldaten, die zu viel gesehen und erlebt hatten, die nachts schreiend aus dem Schlaf schreckten, tagsüber manchmal ohne erkennbaren Grund in der Bewegung einfroren, weinend zusammenbrachen oder Freund und Feind nicht mehr voneinander unterscheiden konnten. Das war nicht selten und keineswegs auf Soldaten beschränkt. Auch das schien nicht auf Tarik zuzutreffen, es sei denn, er war geübt darin, es hinter lebendig funkelnden Augen und zugewandter Plauderei zu verstecken. Gewöhnlich waren frische Opfer des Schlachtfeldgrauen eher abweisend und schweigsam, wollten lieber allein sein und ließen sich ungern auf Fremde ein. Die langjährig Geübten hingegen kamen meist zurecht und man musste sie nicht fortschicken.

Warum also die Entlassung? Warum prahlte er nicht ausführlich mit seiner Heldentat, für die er so reichlich belohnt wurde? Warum hatte man einen solch tapferen Mann nicht behalten? Warum übergab man ihm einen Rechtlosen, wenn er offenkundig nicht wusste, dass Lebewesen starben, wenn man sie überanstrengte und ihnen anschließend Wasser und Nahrung verweigerte? Fragen über Fragen …

Und die plötzliche Gewissheit, dass er ihm den Rechtlosen abnehmen wollte. Sollte Tarik sich Arbeiter für sein Lehen und den Weinberg suchen, so wie jeder andere auch! Sollte er Leute dafür bezahlen, dass sie sich um die Tiere und Besitztümer des werten Herrn Gardesoldaten im Ruhestand kümmerten! Der erschöpfte Junge da unter dem Tisch war eine Wertanlage, die Rowin gut gebrauchen konnte, während Tarik ihn vermutlich spätestens morgen Abend tot im Gebüsch zurücklassen musste, zerschunden, vernachlässigt und verschwendet. Nein, das gönnte er dem Burschen mit seinen Geheimnissen und Lügen nicht! Jetzt musste er es bloß sehr geschickt anstellen, damit alles seinen Weg ging.

„Lasst uns spielen, Herr Tarik!“, sagte er und gab dem Wirt ein Zeichen, seinem Tischgefährten einen weiteren Humpen Bier zu bringen, während er selbst sich an seinem Becher festhielt und gedachte, heute Nacht keinen Tropfen mehr zu trinken. „Ich schlage eine schöne Runde Geistertreiben vor, was sagt Ihr? Das macht zu zweit am meisten Spaß, wie ich finde.“ Zudem war es ein Spiel, das ebenso auf Glück wie Strategie und Können basierte. Es ließ sich nur extrem schwierig manipulieren und kaum je wurde der Vorwurf erhoben, der Gewinner habe betrogen.

„Brillanter Vorschlag! Geistertreiben ist mein Lieblingsspiel. Sagen wir, ein Silberling als Einsatz, ja?“ Tarik legte eine Münze in die Mitte des Tisches und begann die Karten zu mischen und auszulegen. Beide Spieler erhielten je die Hälfte der Karten. Wer gemischt hatte, legte die oberste Karte auf seinem Stapel blind aufgedeckt auf den Tisch. Um sie herum mussten nun nacheinander Karten angelegt werden, die im Wert passend waren. Zur Herrin der Winde etwa durften sich die andern drei Herinnen, alle Luft- und Wasserkarten gepaart werden.

Feuer und Erde waren die Elemente, die als andere Paarung möglich war. Schaffte man es, Herrinnen, Herrscher, Orumati und Gardisten eines Elements in Sternform anzuordnen, durfte man diese Karten aus dem Spiel und in seinen Stapel nehmen sowie den Geisterkristall des zugehörigen Elements für sich beanspruchen. Dafür musste man nicht jede dieser Karten selbst abgelegt haben, sondern bloß derjenige sein, der die letzte Karte passend hatte. Da man seinen Stapel anschauen durfte, war hier mit etwas Strategie und Erfahrung viel zu erreichen. Man durfte den anderen Spieler blocken, unter bestimmten Bedingungen Karten auf dem Tisch austauschen und Handel mit dem Spielpartner betreiben. Gewonnen hatte, wer am Ende alle vier Kristallkarten der Elemente erobert hatte.

Eine Partie Geistertreiben konnte sich über etliche Stunden ziehen, wenn sich die Spieler auf hohem Niveau ebenbürtig waren. In der Regel war es nach etwa einer halben Stunde erledigt.

Rowin ließ Tarik vorlegen, hielt sich zurück, studierte, welchen Strategien sein Gegner folgte. Es zeigte sich schnell, dass er ein intelligenter, bedachter Mann war, der nicht leichtherzig auf Fallen und Provokationen einging. Er gewann die erste Runde und bot sofort die Möglichkeit zur Vergeltung. Rowin legte den Einsatz aus, übernahm diesmal das Mischen. In der zweiten Runde spielte Tarik wie erwartet schneller, mit weniger Vorsicht. Er hatte sich seine Meinung über Rowins Fähigkeiten gebildet, fühlte sich überlegen. Auch der Alkohol half. Rowin taktierte hart, um Tarik ein spannendes Spiel zu liefern und ihm dennoch zum Sieg zu verhelfen. Keine offenkundigen Fehler, keine dummen Handlungen, wie eine Geweihte der Erde gegen einen Wassergardisten einzutauschen – das würde Tarik misstrauisch werden lassen, ihm die Freude am Spiel verderben. Nein, er musste fehlerfrei spielen, scheinbar mit aller Kraft um den Sieg kämpfen und knapp genug scheitern, um Tarik gut gelaunt jubeln zu lassen. Es war deutlich, dass Tarik ein Mann war, der keine Niederlage einstecken mochte und sich am wohlsten fühlte, wenn er glaubte, der Überlegene zu sein.

„Ach! Das war knapp!“, rief Tarik, als er den vierten Kristall an sich nahm und Rowin mit einem Schnaufen Enttäuschung zeigte.

„Noch ein Spiel?“

„Auf jeden Fall.“ Rowin legte seine letzte Silbermünze auf den Tisch und frohlockte, als Tarik sich zeitgleich ein weiteres Bier bestellte. Um die Spannung zu halten, sorgte er diesmal für einen hauchknappen Sieg für sich selbst. Er bejubelte ihn laut und Tarik prostete ihm lachend zu, obwohl man ihm ansah, dass er ihm den Sieg übelnahm.

„Noch einmal!“, rief er auch sofort, wie erwartet. „Du musst mir die Chance geben, mein Geld zurückzugewinnen!“

„Ich sag dir was, Tarik“, entgegnete Rowin. „Wir klären mit dem nächsten Spiel ein für alle Mal, wer der Beste von uns beiden ist. Und damit es richtig juckt, erhöhen wir den Einsatz. Ich biete dir mein Pferd. Es ist ein gutes, kräftiges Tier, wovon du dich überzeugen kannst. Treu, ruhig und ausdauernd. Ein wahres Arbeitspferd. Du wirst in der nächsten Stadt einen hervorragenden Preis dafür erzielen. Oder du nimmst es mit nach Kalioste, wo es auf deinen Äckern und dem Weinberg gute Arbeit leisten wird. Gewinne ich hingegen, erhalte ich dafür den Rechtlosen.“

Tariks Lachen erstarb. Ein kalter Ausdruck erwachte in seinem Blick. Mit neuem Misstrauen musterte er Rowin, der dies ausdruckslos über sich ergehen ließ.

„Warum willst du den Kerl?“, fragte er schließlich.

„Ein Mann hat Bedürfnisse … Vorstellungen … Wünsche … Und nicht immer lassen sie sich verwirklichen. Mit einem Rechtlosen könnte ich wenigstens einmal im Leben das tun, was mir das Gesetz sonst strikt verbietet. Mich schlimmstenfalls an den Galgen bringen könnte.“ Rowin sprach leise. Ihm war bewusst, dass ihr Spiel von den anderen Tavernengästen beobachtet wurde, einfach weil solche Dinge stets die Neugier weckte, man zusehen wollte, wer gewann, wie sich der Verlierer hielt. Bislang war niemand zu ihnen an den Tisch getreten, weil sie bloß um kleine Summen spielten und damit die Spannung nicht groß genug war, um die anderen von ihren bequemen Stühlen fortzulocken. Das sollte sich hoffentlich auch nicht ändern, Rowin hatte keinen Bedarf an zu viel Aufmerksamkeit. Er wollte auch nicht zu deutlich werden, welche angeblichen Bedürfnisse er hegte. Falls Tarik doch kein Ehrenmann sein sollte, könnte dieser ihn ansonsten erpressen. Ihm den Rechtlosen verweigern, auch wenn Rowin der Gewinner war, und ihn stattdessen mit dem Landesfürsten und Hinrichtung drohen. So schätzte er diesen Mann allerdings nicht ein.

„Welches Pferd gehört dir?“, fragte Tarik schließlich.

„Der Apfelschimmel. Die dunkelgrauen Flecken sind besonders an der rechten Flanke ausgeprägt. Der Stallbursche kennt meinen Namen.“

Wortlos erhob sich sein Spielpartner, warf sich den schwarzen Mantel über und verließ den Schankraum. Rowin widerstand der Versuchung, sich herabzubeugen und nach dem Rechtlosen zu schauen. Er spürte dessen Bewegungen an seinem Bein. Eine Weile lang schien der Junge geschlafen zu haben, doch jetzt war er eindeutig wach – und hatte vermutlich gehört, dass er als Spieleinsatz dienen sollte. Das könnte ein Problem werden, aber kein unüberwindliches. Rowin nutzte die Zeit, die ihm blieb, in der er noch unbeobachtet war, und schüttete den Rest aus seinem Bierhumpen auf die Tischplatte. Eine bedeutungslose kleine Lache entstand, in der Rowin langsam mit dem Finger zu rühren begann, als wäre er bloß gelangweilt.

Tarik kehrte derweil zurück und setzte sich bedächtig wieder auf seinen Platz.

„Ein sehr schöner Wallach“, sagte er langsam. „Ein Rennen gewinnt man nicht mit ihm, zum Arbeiten hingegen sehr wertvoll.“

Wertvoller als ein Rechtloser, selbst wenn dieser als Bauer oder Winzer aufgewachsen sein sollte und darum die notwendigen Fähigkeiten und Fachkenntnis mitbringen würde. Arbeiter fand man an jeder Ecke. Arbeitspferde kosteten viel Geld.

„Es würde wehtun, ihn zu verlieren“, erwiderte Rowin. „Glaube nicht, dass ich dir den Sieg gönnen würde. Für die Möglichkeit, ein einziges Mal in meinem Leben meiner finstersten Seite begegnen zu können … Dafür riskiere ich es. Ich will den Rechtlosen.“

„Ich hätte Freude an deinem Pferd“, sagte Tarik, immer noch recht verlangsamt. „Mein Eigentum zu verlieren fände ich hingegen sehr schmerzhaft. Es ist riskant.“

„Na los, wag es! Du darfst eben nicht verlieren. Oder fürchtest du dich vor der Herausforderung?“

Wie erwartet straffte sich Tarik sofort und schob ihm die Karten zu.

„Misch und teil aus!“ forderte er. „Ich war ein Soldat des Königs. Ich fürchte mich vor gar nichts!“

„Gesprochen wie ein wahrer Veteran!“, rief Rowin laut. „Wir machen es etwas anders. Ich mische, du teilst aus, ich decke die erste Karte auf. So kannst du sicher sein, dass ich nichts tue, um dich zu betrügen.“

Das war kein ungewöhnliches Ansinnen, gerade bei hohen Einsätzen wurde gerne auf diese Weise verfahren. Rowin mischte gründlich, übergab dann die Karten. Während Tarik verteilte, malte Rowin konzentriert das Bild fertig, das er vorhin bereits begonnen hatte. Seine Magie konnte er nicht nutzen, um in aller Hast den gesamten Kartenstapel zu beeinflussen. Das brauchte er auch nicht, um zu gewinnen, denn er kannte nun Tariks Spielweise, seine bevorzugte Strategie.

Darum malte Rowin bloß, um dafür zu sorgen, dass die Ausgangskarte der Herr des Wassers war. Tarik bevorzugte die entgegengesetzte Elementpaarung und gleichgültig, wie die Karten ausgeteilt waren, er würde darauf hinarbeiten, zuerst die Geisterkristalle von Erde und Feuer zu gewinnen. Rowins Plan sah vor, ihm das Wasser unterzuschieben und sich dann vom Spielverlauf leiten zu lassen, bevor er den Wasserkristall zurückeroberte und einen knappen Sieg davontrug.

Das Spiel zog sich. Tarik hatte Feuer gefangen, er war müde, hatte zu viel getrunken, war zu sehr von seinen eigenen Fähigkeiten überzeugt. Er glaubte fest an seinen Sieg, spielte darum hastiger, fahriger und weniger strategiebetont als zuvor. Er wollte ihn mit einem massiven Schlag triumphierend vernichten. Rowin musste beinahe zum Äußersten greifen und einen offenkundigen Fehler begehen, um Tarik zu Besonnenheit und mehr Konzentration zu zwingen. Zum Glück genügte sein langes Zögern und das Halten einer besonders wertvollen Karte auf eine Weise, dass Tarik sie erkennen konnte, um ihn zurück auf die Kampflinie zu zwingen.

„Das läuft gut für mich!“, rief er triumphierend, als er den Feuerkristall gewann.

Rowin grollte bloß zustimmend und übernahm den Wasserkristall nach einige Spielrunden. Tarik vervielfachte seine Anstrengungen, doch er hatte nun keine Chance mehr, gegen ihn zu bestehen. Eine gute halbe Stunde später musste er Rowin auch den Feuerkristall zurückgeben und blieb dann wie erstarrt sitzen, als langsam durchsickerte, was gerade geschehen war: Er hatte seinen Rechtlosen verloren.

„Brillantes Spiel. Ich gratuliere“, knurrte er, wühlte in seiner Manteltasche und zog das Besitzdokument sowie den Schlüssel zu den Ketten hervor. „Damit verabschiede ich mich. Ein Spiel auf Revance ist mir nun doch zu riskant. Ein Soldat muss anerkennen, wenn die Schlacht verloren ist.“ Tarik erhob sich, neigte respektvoll den Kopf und ging zum Wirt hinüber, um seine Zeche zu begleichen.

Rowin atmete aus. Der Schankraum hatte sich stark geleert, wie ihm jetzt erst bewusst wurde; die meisten Gäste waren nach Hause zurückgekehrt oder schlafen gegangen. Welche Stunde bereits geschlagen hatte, ließ sich nicht feststellen, doch müde, wie er war, musste es mindestens schon Mitternacht sein. Langsam realisierte er, was er getan hatte. Nie zuvor hatte er versucht, beim Kartenspielen zu betrügen, um einen Sieg zu erzwingen, oder um einen Einsatz gespielt, den er unbedingt für sich gewinnen wollte. Bis zum heutigen Tag war Kartenspiel für ihn nichts weiter als ein amüsanter Zeitvertreib unter Freunden.

Und nun? Er hatte nicht wirklich betrogen, lediglich die Ausgangskarte festgelegt. Der Rest des Spiels war sein eigener Verdienst gewesen. Dennoch quälte ihn das schlechte Gewissen. Überhaupt, dass er einen Menschen als Besitz gewonnen hatte … Es ging gegen jegliche Überzeugung, die ihm jahrzehntelang gelehrt worden war. Doch in den vergangenen zwei Jahren hatte er lernen müssen, dass es furchtbar gleichgültig sein konnte, welch hehre Überzeugungen man hegte; selbst der gütigste und freundlichste Mensch konnte durch die Henkersaxt sterben, wenn es den Mächtigen gefiel.

Darum schluckte er sein Unbehagen, ging zum Wirt, zahlte ebenfalls die Zeche, gab die Karten zurück und bat um einen weiteren Krug Wasser für die Waschschüssel.

„Der Rechtlose gehört jetzt Euch, ja?“, fragte der Wirt ohne großes Interesse. Auch er wirkte müde und konnte es wahrscheinlich kaum erwarten, bis auch die letzten Zecher endlich gegangen waren. „Ich schicke gleich einen meiner Jungen, er bringt Euch das Wasser.“

Rowin dankte es ihm, indem er den Kupferling, der als Pfand für die Karten hinterlegt wurde, auf dem aus dunklen Holz roh gezimmerten Tresen liegenließ. Als er zum Tisch zurückkehrte und darunterschaute, starrten ihn riesig aufgerissene dunkle Augen furchtsam aus einem bleichen, schmalen Gesicht an. Der Rechtlose bebte am ganzen Leib, dennoch gehorchte er, als Rowin ihm einen Wink gab, und kroch mit langsamen, steifen, sichtlich schmerzerfüllten Bewegungen hervor.

„Komm“, befahl Rowin und schob ihn in Richtung Treppe. „Es ist spät, wir beenden den Tag.“ Eine Berührung am Arm bestätigte den Verdacht, dass der Rechtlose erstaunlich sehnige, harte Muskeln besaß. Er war vielleicht zwei Fingerbreit kleiner als Rowin, wirkte schmal und ausgezehrt, was keineswegs der Wahrheit entsprach. Viel zu leichte, oft geflickte, schlammbedeckte, feuchte Kleidung hing um einen athletisch geformten Körper. Die hatte man ihm wohl im Verlies aufgezwungen, nachdem man ihm die Gardistenuniform entrissen hatte.

Ja, er war überzeugt, dass dieser Junge ein vormaliger Kamerad von Tarik sein musste. Möglicherweise war das Verbrechen, das er begangen hatte, von Tarik aufgedeckt worden, und nur deshalb war er in Tariks Besitz geraten. Schmutzig war er. Bartstoppeln überzogen Wangen und Kinn, was seltsamerweise den Eindruck von verletzlicher Jugend eher verstärkte statt milderte. Sein Haar war eine Handspanne lang, wie beim Militär vorgeschrieben, und besaß einen weichen, dunkelblonden Ton. Die Augen hingegen waren dunkelbraun, was einen schönen, seelenvollen Kontrast bildete. So verängstigt, wie sein Blick an Rowin hing, vermittelte er eher den Eindruck eines sterbenden Rehs und ließ keineswegs an einen jungen, tapferen Soldaten denken.

Ein weiteres Mal zwang sich Rowin zu geistiger Ordnung. Der Junge würde ihm sämtliche Geldsorgen lösen, die ihn plagten. Gesund und stark, wie er war, würde jeder Großbauer und adlige Pächter in Gold für ihn zahlen. Rechtlose waren überaus beliebte Zwangsarbeiter. Noch mehr Geld könnte Rowin für ihn erhalten, würde er ihn an einen Minenbetreiber oder ein Bordell verkaufen. Doch Taten, aus grundloser Gier begangen, fanden keine Gnade vor den Schicksalsgeistern. Also nein: Rowin würde ihn ein bisschen pflegen, um den Wert zu erhöhen, und ihn dann einem Großbauern überlassen. Mehr als genug Geld für ihn, ein halbwegs anständiges Leben für den jungen Mann. Rechtlose Zwangsarbeiter erhielten zwar mehr Schläge als Brot, das war kein Geheimnis. Dennoch durften sie leben, zumindest untereinander heiraten und Familien gründen, wenn ihre Besitzer es erlaubten, und konnten sinnvolle Arbeit leisten, um ihre Verbrechen zu sühnen. Man wurde schließlich nicht jeglicher Rechte beraubt, nur weil man aus Hunger einen Apfel gestohlen hatte.

Er führte sein neues Besitzstück die Treppe hinauf zu seinem Zimmer. Eine Einzelkammer, wie üblich. Rowin durfte nicht in Gemeinschaftsschlafsälen übernachten, auch wenn sie bloß einen Bruchteil von dem kosteten, was Einzelzimmer verschlangen. Die Gefahr, dass man erkannte, welches Geheimnis er bei sich trug, war viel zu groß.

 

 

Dumpf, innerlich wie ausgehöhlt, starrte Yarui seinen neuen Besitzer an. Er hätte nie gedacht, dass Tarik sich bei einem Spiel wie Geistertreiben derartig leicht übertölpen lassen würde. Tarik war bei der Garde als exzellenter Spieler berühmt und berüchtigt gewesen. Hohe Wetteinsätze war er stets nur eingegangen, wenn er sicher gewesen war, das Spiel gewinnen zu können. Anscheinend hatte ihn der triumphale Sieg über Yarui leichtsinnig werden lassen.

Nun war er also auf Gedeih und Verderb einem Mann ausgeliefert, der von sich selbst gegenüber einem Fremden sagte, dass er eine finsterschwarze Seite besaß. Eine, die er an einem Rechtlosen ausleben wollte. Falls sich dahinter die Lust verbarg, einen Menschen lebendig häuten, kleine Stücke aus ihm herausschneiden und diese vor Yaruis Augen zu braten und zu verspeisen, dann würde ihm wohl noch nicht heute Nacht ein entsetzliches Martyrium bevorstehen. Wer klug genug war, Tarik im Spiel zu besiegen, der beherrschte seine unheiligen Gelüste auch lange genug, bis er nicht mehr in einer Taverne weilte, wo dutzende Zeugen die qualerfüllten Schreie des Opfers mitanhören würden. Es war zwar gestattet, auch solche Dinge mit einem Rechtlosen zu betreiben – da gab es wirklich nicht die geringste Begrenzung, sofern man die Besitzurkunde in der Hand hielt; trotzdem würde der Wirt sich die Ruhestörung und Beschmutzung des Zimmers nicht gefallen lassen. Sollte es sich allerdings eher darum drehen, einen hilflos gefesselten Mann vergewaltigen zu können, das würde schon anders aussehen. Mit einem Knebel im Mund, der ärgste Lärm unter einem Kissen erstickt, könnte es gleich losgehen. Vielleicht ein paar Spritzer Wasser fürs leichtere Gleiten, schließlich wollte sein neuer Besitzer sich kaum selbst am besten Stück verletzen – und hatte er nicht um einen Krug Wasser gebeten?

Sie betraten die Kammer, schwach erhellt von der Glut eines Kaminfeuers. Der Mann, der sich Rowin nannte, schob Yarui in die Mitte des Raumes und kümmerte sich dort erst einmal darum, das Feuer wieder anzufachen und eine Laterne zu entzünden, deren matter Schein gerade genügte, um die wichtigsten Details erkennen zu können. Etwa dass die Kleidung, die Herr Rowin trug, von anständiger Qualität war. Weißes und grün gefärbtes Leinen, das Hemd fein bestickt, hochwertige Lederstiefel, ein schwerer Mantel, der Wasser und Kälte fernzuhalten vermochte. Gewiss war er kein Adliger, und auch nicht unmäßig reich, doch er achtete auf seine Kleidung und Ausrüstung. Als Botenläufer, der das gesamte Jahr hindurch viel in der Wildnis unterwegs war und dennoch vor sämtlichen Mächtigen und Wichtigen des Reiches vorsprechen musste, war das nachvollziehbar.

Yarui schätzte ihn auf Anfang dreißig, vielleicht etwas älter. Das hellbraune Haar, zum Zopf gebunden und sorgsam gepflegt, lichtete sich jedenfalls noch nicht, und im kurzen Vollbart war noch kein Hauch von Altersfrost zu sehen. Auch das Gesicht war von Reife unberührt, keine Linien oder Fältchen. Es lag eher an der breitschultrigen Statur und einer Aura von Traurigkeit und Ernst, dass er ihn für älter als Mitte Zwanzig ansah. Die Art, wie er sich bewegte, zeigte, dass man im Kampf mit ihm vorsichtig sein musste. Dieser Mann wusste, wie man sich zu verteidigen hatte und verstand womöglich auch einiges von Attacken.

Da war kein Raum für Illusionen. Was auch immer sein neuer Besitzer ihm antun wollte, Yarui könnte sich in seinem jetzigen Zustand nicht dagegen erwehren. Zwar hatte er auch gar nicht das Recht, solche Dinge zu versuchen, doch das war der einzige Vorteil, dass ihm alles genommen wurde – er durfte zumindest versuchen, seinen Herrn zu töten und die Besitzurkunde an sich zu reißen, ohne damit ein Verbrechen zu begehen. Es würde in der Konsequenz dazu führen, dass man ihn anschließend wie einen tollwütigen Hund erschlug, und damit seinem jämmerlichen Dasein ein rasches Ende setzen.

Er ließ den Kopf hängen, als Herr Rowin sich ihm zuwandte, und harrte der Dinge, die auf ihn warteten. Was auch immer es war, er hoffte, er durfte dabei liegen. Seine Füße brachten ihn um und nach wie vor wütete die Kälte in seinen Knochen. Ob sie es war, oder die unterschwellige Angst, die ihn zittern ließ, wer wusste das schon? Und wen sollte es kümmern?

 

 

„Zieh dich aus“, kommandierte Rowin, nachdem es kurz geklopft und ein müde aussehender Mann ihm einen Krug Wasser angereicht hatte. Er stellte den Krug beiseite, verriegelte die Tür und kontrollierte das Fenster, ob die schweren hölzernen Innenläden ebenfalls fest arretiert waren. Als er sich umdrehte, starrte ihn der Rechtslose lediglich an und streckte ihm die Arme entgegen.

Ah. Selbstverständlich war es nicht möglich, sich mit den engen Eisenschellen aus der Kleidung herauszuschälen, das sah er ein. Er befreite ihn darum von seinen Ketten, scharf auf der Hut vor plötzlichen Attacken. Es steckte noch viel Lebensgeist in diesem jungen Mann. Doch der versuchte es nicht einmal, sondern warf sofort die Kleider ab, mit steifen, schmerzgequälten Bewegungen. Auch beim Leibtuch zögerte er nicht. Schon stand er nackt vor Rowin, hielt den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen, von Gänsehaut überzogen und vor Kälte – oder Angst – schlotternd.

Rowin schob ihn näher an das Feuer heran, begutachtete die breiten Abschürfungen an Hand- und Fußgelenken, die von den Eisenschellen der Ketten hinterlassen worden waren, strich bewundernd über die deutlich definierten Muskeln an Bauch, Schenkeln und Armen, inspizierte im Laternenschein die Prellungen und schwarz-blauen Flecken, die seinen Körper überzogen. Es gab einige und dennoch viel weniger als gedacht. Am Rücken entdeckte er mehrere feine, weiße Narben, Hinterlassenschaften von Prügelstrafen, die wohl jeder Gardist besitzen dürfte. Man wuchs nicht auf, um Teil einer militärischen Elite zu werden, ohne harte Züchtigung ertragen zu müssen. Dass es eher wenige dieser Narben waren, bezeugte, dass der junge Mann zu den Braven und Gehorsamen gehört hatte. Genau der Eindruck, den er vermittelte. Doch wo waren die frischen Striemen?

„Wieso hast du keine Stockhiebe erhalten?“, fragte er und beendete die Inspektion. Sein Besitz war in sehr viel besserem Zustand, als er es vermutet hätte. „Du siehst nicht aus, als hätte man dich einen Monat lang zu den schlimmsten Verbrechern ins Verlies gesperrt und täglich mit dem Stock geschlagen.“ Was den munteren Lebensgeist erklärte und trotzdem irrsinnig war.

Der junge Mann zögerte. Man sah, dass er sprechen wollte und sich selbst mit Gewalt daran hinderte. Er hatte auch das Recht auf freie Rede verloren. Rowin zog ihn zum Bett, drückte ihn darauf nieder, leuchtete ihm mit der Laterne ins Gesicht. Erschrocken zuckte der Rechtlose vor ihm zurück, als Rowin die Hand hob, um das Brandmal zu betasten.

---ENDE DER LESEPROBE---