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Geschäftsführer Rauno Rämekorpi feiert seinen sechzigsten Geburtstag. Gratulanten gibt es viele, und so häufen sich Blumensträuße und Geschenke. Schade nur, dass seine Frau auf Blumen allergisch ist.
Die Blütenpracht muss also weg, jedoch keinesfalls auf den Müll! So beginnt Rauno eine Fahrt durch Helsinki, und mit einem Strauß in der Hand stattet er seinen verflossenen Liebschaften einen Besuch ab ...
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Seitenzahl: 289
Geschäftsführer Rauno Rämekorpi feiert seinen sechzigsten Geburtstag. Gratulanten gibt es viele, und so häufen sich Blumensträuße und Geschenke. Schade nur, dass seine Frau auf Blumen allergisch ist. Die Blütenpracht muss also weg, jedoch keinesfalls auf den Müll! So beginnt Rauno eine Fahrt durch Helsinki, und mit einem Strauß in der Hand stattet er seinen verflossenen Liebschaften einen Besuch ab …
Arto Paasilinna wurde 1942 im lappländischen Kittilä/Nordfinnland geboren. Er ist Journalist und einer der populärsten Schriftsteller Finnlands. Er wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet. Inzwischen hat er rund 40 Romane mit großem Erfolg veröffentlicht, von denen einige verfilmt und in verschiedene Sprachen übersetzt wurden. Auch bei uns erwarten die Fans jedes Jahr ungeduldig eine neue skurrile Geschichte vom finnischen Kultautor.
Arto Paasilinna
Zehn zärtlicheKratzbürsten
Roman
Aus dem Finnischen vonRegine Pirschel
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Deutsche Erstausgabe
© 2001 by Arto Paasilinna
Titel der finnischen Originalausgabe:
»Kymmenen riivinrautta«
Originalverlag: WSOY, Helsinki, Finnland
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2008/2015 by Bastei Lübbe AG, Köln
Titelgestaltung: FAVORITBUERO, München
Titelbild: © FAVORITBUERO, München unter Verwendung von Motiven von shutterstock/Hein Nouwens; shutterstock/NEILRAS
Datenkonvertierung E-Book:
hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7325-1270-6
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Der Tod schnauft uns entgegen wie eine unheimliche Dampflok, die alles auf ihrem Weg zermalmt, und keiner kann dem entkommen. Auf den Zug ins Totenreich wird jedermanns Leiche irgendwann aufgeladen, auch wenn der Fahrplan sich manchmal ändert. Vor dieser letzten Reise steht jedoch das Alter, und davor die späten mittleren Jahre. Und die beginnen, wenn der Mensch sechzig wird. Zu diesem Zeitpunkt sollte ein jeder, und besonders der Mann, sich bereithalten und auf die Abfahrt seines Zuges warten, sollte sich läutern und zur Ruhe kommen. Doch längst nicht alle tun dies.
Mit dampfendem Rücken verließ Direktor Rauno Rämekorpi die Sauna im Obergeschoss seines Reihenhauses und trat auf den Balkon hinaus, um sich abzukühlen. Unbekleidet stand er da und betrachtete den grauen Finnischen Meerbusen, der vor Westend in Espoo wogte. Es war Freitagmorgen, der siebte September. Hinter Rämekorpi lagen sechzig raue, rastlose und auch merkwürdige Jahre, vor sich hatte er zehn, hoffentlich zwanzig. Was würde der Rest des Lebens mit sich bringen, was konnte er noch erwarten, was musste er unbedingt noch tun? Vor sechzig Jahren, 1941, war Rauno im Dorf Riipinen, Gemeinde Sodankylä, zur Welt gekommen. Die Deutschen hatten Lappland besetzt. An allen Fronten hatten die Kämpfe des zweiten Weltkriegs getobt.
Am Himmel schrien Kraniche. Die großen Vögel schwebten im Kreis, suchten nach tragenden Luftströmen, formierten sich zu einer Pflugschar. Raunos Augen wurden feucht, als er nach oben schaute, er konnte es nicht lassen, musste beobachten, wie sich die stolzen Vögel auf ihre lange Reise vorbereiteten. Als sie ihre Formation gebildet hatten und zielstrebig gen Süden flogen, senkte der Direktor den Blick und trocknete seine Tränen. Die Kraniche waren davongeflogen. Auch sein eigenes Leben näherte sich in raschem Tempo seinem Ende.
Der Kranichzug hatte durchaus nichts Schicksalhaftes. Die Vögel flogen jedes Jahr nach Süden. Rauno fragte sich, was es letztlich war, das sie forttrieb. Er glaubte, dass sie im kalten Wind und im Frost des Nor-dens durchaus zurechtkommen würden, aber wie sollten sie in Lapplands Sümpfen Nahrung finden, da sich die Frösche bis unter die Frostschicht verkriechen würden. Futter war es, was die Vögel im Süden suchten, sonst gar nichts. Ein Kranich frisst keine Eichhörnchen, klettert nicht auf einen Baum. Aber wenn die Evolution dafür gesorgt hätte, dass ihm Greiffüße gewachsen wären, könnte man in Lapplands Schneestürmen eindrucksvolle Schauspiele beobachten, wenn sich die Langhälse ihren Weg in die dichten Wipfel der Fichten bahnen, Marder und Eichhörnchen verfolgen, die unglücklichen Fellknäuel schließlich packen und verschlingen würden. Nach erfolgreicher Jagd würden sie mit ihren langen Stelzen in den Baumwipfeln balancieren und zufriedene Schreie ausstoßen.
Raunos Frau Annikki trat auf den Balkon und legte sacht ihre Hand auf den Arm ihres Mannes.
Annikki: Erkälte dich nicht, Rauno. Komm herein, ich helfe dir in den Frack. Aber erst musst du dich rasieren und dein Haar trocknen.
Rauno sah sie an: eine dunkelhaarige, sanfte Frau, die auf schöne Art alterslos wirkte. Er war mit ihr seit fast dreißig Jahren verheiratet. Annikki war seine zweite Frau, seine erste Ehe hatte mit der Scheidung geendet, ihr entstammten zwei Söhne. Mit Annikki hatte er sich keine Kinder mehr angeschafft. Rauno spürte, dass er seine Frau auch nach Jahrzehnten noch liebte, obwohl ihr Zusammenleben nicht mehr so leidenschaftlich war wie in jungen Jahren. Sie unterhielten getrennte Schlafzimmer. Annikki hatte behauptet, dass Raunos Haare nach Rauch stanken, da er, besonders wenn er trank, pausenlos grüne North States qualmte. Bei Annikki war Asthma festgestellt worden, und ein Mann, der nach Zigaretten roch, war nicht gerade der ideale Bettgefährte. Trotzdem tappte Annikki jeden Morgen gegen sechs Uhr, wenn sie in ihrem eigenen Bett erwacht war, ins Schlafzimmer ihres Gatten und legte sich zu ihm, um noch ein Weilchen neben ihm weiterzuschlafen. Das war praktizierte Nähe und wortlose Liebe eines alternden Paares, eine schöne und zärtliche Geste, aus der ein angenehmes allmorgendliches Ritual geworden war.
Annikki brachte ihrem Mann von unten die Zeitung und das Frühstück herauf und stellte das Tablett neben seinem Bett ab. Rauno drehte sich auf die linke Seite und breitete die Zeitung auf dem Fußboden aus, in unmittelbarer Reichweite die Tasse Tee mit einer Scheibe Zitrone, dazu zwei leckere Sandwiches, die Annikki mal mit gebeiztem Lachs, mal mit Schinken, Mettwurst oder anderem Aufschnitt belegte und mit ein paar Zwiebelringen, Scheiben von Kiwifrüchten oder gekochtem Ei garnierte. Rauno aß also vom Fußboden wie eine Hauskatze oder ein Hund. Das war sehr praktisch, so brauchte er nicht extra aufzustehen und sich nach unten an den Frühstückstisch zu bemühen. Neben seinem Bett stand ein schmaler, hochbeiniger Tisch, an der Unterseite der Platte hatte Rauno zwei Leselampen festgeschraubt, deren Lichtstrahl auf den Fußboden gerichtet war. Oben auf dem Tisch lagen ein Stapel Bücher, einige Pillenschachteln, Schreibutensilien und das Handy. Wenn Annikki unten ihren Morgenkaffee getrunken hatte, kehrte sie noch einmal ins Bett ihres Mannes zurück und machte, an seinen Rücken gelehnt, ein Schläfchen. Diese morgendlichen Rituale zeugten von der tiefen Bindung der Eheleute, von einer wirklich schönen Beziehung.
Durch die offene Flügeltür flog eine muntere Kohlmeise herein und setzte sich im Wohnzimmer auf den Lampenschirm. Den hatte einst Annikki ausgesucht, es war eine stilvolle, große Glaskugel, die von Annikkis sicherem Geschmack zeugte. Das Wohnzimmer glich eigentlich mehr einem großen Saal, es war mehr als dreizehn Meter lang und fast sechs Meter hoch. Am anderen Ende des Hauses lag ein zwanzig Quadratmeter großer Raum, dort befand sich das Arbeitszimmer des Hausherrn, dahinter lagen die Schlafzimmer und der Saunabereich.
Die Meise musste verjagt werden, denn bald würden die Geburtstagsgäste eintreffen, und es wäre ein Unding, wenn der Vogel, vom Trubel verängstigt, seine Klackse in die Champagnergläser der Herrschaften oder auf die Frisuren der Damen fallen ließe. Rauno rannte nach unten ins Erdgeschoss und öffnete alle Türen und Fenster. Annikki klatschte in die Hände, aber die Meise begriff nicht, wohin sie fliegen sollte. Sie hatte den kleinen Kopf schräg gelegt und sah zu, wie der nackte Mann auf einen Küchenhocker stieg und sie zu verjagen versuchte. Als er schon fast die Hand an der Glaskugel hatte, flatterte die Meise auf die Gardinenstange – die Vorhänge bestanden aus weißem Stoff mit Reliefmuster, ebenfalls ausgewählt von Annikki. Das Geburtstagskind sprang vom Hocker und griff nach dem Mopp. Wieder flüchtete der Vogel, und da klingelte es an der Haustür.
Rauno Rämekorpi ging, um zu öffnen. Draußen stand die junge Botin eines Blumengeschäftes. Mit sachkundigem Blick musterte sie den älteren Herrn im Adamskostüm. Rauno war keine üble Erscheinung: groß und stabil gebaut, stramme Waden und Schenkel, ums Gemächt ein dichter Pelz, ein ziemlich praller Bierbauch, eine behaarte Brust, ein kräftiger Hals und ein typisch finnisches Gesicht mit breiter und hoher Stirn, die in einem dichten, feuchten Haarschopf endete. Ein Kerl wie ein Baum, sagte sich die junge Frau. Sie schätzte, dass er an die neunzig Kilo wiegen mochte. Mit ihm könnte man durchaus eine Menge Spaß haben. Gemeinsam trugen sie drei riesigen Blumensträuße ins Haus.
Annikki: Rauno, ich kümmere mich darum. Geh sofort und zieh dich an.
Rauno: Aber erst muss die Meise verjagt werden.
Annikki: Begreifst du nicht, dass du nichts anhast?
Rauno: Mir ist nicht kalt, ich komme ja gerade aus der Sauna.
Die Blumenbotin erklärte, dass sie sich darauf verstehe, verirrte Vögel aus Innenräumen zu vertreiben. Jetzt im Herbst, da es kühler wurde, kamen manchmal gleich mehrere durch das Lüftungsfenster in den Blumenladen, einmal hatte sich ein Dompfaff in einer kanadischen Thuja ein Nest gebaut und dort seine Eier ausgebrütet, zwölf Junge waren geschlüpft.
Rauno Rämekorpi glaubte die Geschichte nicht. Er sagte, dass der Dompfaff seines Wissens am Boden oder in Steinhöhlen niste, und im Herbst ganz sicher nicht, die Zeit sei vorbei. Es sei schlicht unnormal zu behaupten, dass es im Blumenladen das Nest eines Dompfaffs und eine Schar Jungvögel gebe.
Die junge Frau war über diese Bemerkung sichtlich erbost. Sie erklärte nachdrücklich, dass es ihrer Meinung nach auch keineswegs normal sei, dass sich vor ihr ein nackter Kerl spreize. Da sei es weit normaler, wenn ein Dompfaff im Blumenladen niste. Sie fand, Normalität sei einfach nur das, was die Masse tue: Wenn also jeder Kerl seine Klagen über die Blumenbotin unbekleidet loswürde, dann wäre das okay, aber dies hier sei schließlich das erste Mal, dass ein Kunde splitternackt vor ihr stehe und über einen Dompfaff diskutiere.
Annikki: Hört auf, euch über das Nisten zu streiten, und du, Rauno, rasier und kämm dich. Wir Frauen werden den kleinen Piepmatz schon gemeinsam verjagen.
Rauno Rämekorpi zog sich verärgert ins Badezimmer zurück. Bevor er die Tür schloss, sah er, wie die Frauen Ernst machten.
Blumenbotin: Püü-jiip, püü-jiip!
Als die kleine Meise die Stimme hörte, die an den Balzruf der Sperlingseule erinnerte, erkannte sie sofort, dass sie im Haus nicht mehr sicher war, und flog schleunigst durch die Doppeltür des Patio im Erdgeschoss nach draußen. Annikki Rämekorpi quittierte die Blumenlieferung, und so konnten die Festvorbereitungen weitergehen.
Die Leute vom Partyservice trafen mit dem Zubehör ein. Sie füllten Gläser mit Champagner. Im hinteren Teil des Wohnzimmers richteten sie ein Büfett mit belegten Broten, Kaffee und Kuchen her. Rauno Rämekorpi hätte seinen sechzigsten Geburtstag lieber allein mit seiner Frau verbracht, wenn möglich in seiner alten Anglerhütte im Dorf Riipinen in Sodankylä, am Ufer des Riipijärvi mit dem dunklen Wasser, aber seine Stellung als Chef eines florierenden Industrieunternehmens erlaubte das nicht. Er musste an seine Geschäftspartner und die Freunde und Bekannten denken. Auch war seine Frau nicht sonderlich begeistert gewesen von dem Gedanken, sich in die melancholische Landschaft des herbstlich verregneten Lappland zurückzuziehen. Sie hatte vorgeschlagen, Tickets erster Klasse für eine Kreuzfahrt in die Karibik zu reservieren, schließlich konnten sie es sich leisten. Immer hatte nur die Arbeit gezählt, während das Leben verflog, Rauno war ständig auf Achse gewesen. Jetzt könnten sie sich mal eine Auszeit gönnen. Zwei Wochen Kreuzfahrt vorbei an tropischen Inseln würden ihnen beiden gut tun. Rauno hatte den Gedanken empört zurückgewiesen, was denn, er sollte sich auf einen idiotischen Liebeskahn schleppen? Während eines langen Gesprächs zu Beginn des Sommers hatte Rauno seine Position eindeutig klargestellt. Er fand, sie seien beide ein wenig zu alt für einen Kuschelurlaub. Außerdem waren ihm seit jeher all jene Emporkömmlinge zuwider, die die Luxusliner bevölkerten, nur um zu faulenzen und sich von vorn und hinten bedienen zu lassen. Er hatte seine Frau daran erinnert, dass er nicht einmal richtig Englisch konnte, erst recht kein Amerikanisch, für solche Studien war seinerzeit kein Geld da gewesen. Finnen hatten Finnisch zu sprechen, sollten doch die anderen sprechen, was sie wollten. Außerdem würde zweiwöchiges ununterbrochenes Saufen die Leber zu sehr schädigen.
Annikki: Musst du denn unbedingt saufen? Auf den Schiffen gibt es auch Bibliotheken und Kinos und alles, was man sich nur wünschen kann.
Rauno: Ich zahle nicht zigtausend Mark dafür, dass ich dann in irgendwelchen amerikanischen Schwarten blättere oder alte Filme glotze, in denen zweitklassige Schauspieler Mist quatschen.
Annikki: Wir könnten Heilbäder nehmen, im Atlantik baden und bei Landgängen die fremden Verhältnisse und die Kultur kennenlernen. Und die dortigen Speisen sind herrlich gesund, lies den Prospekt und schimpf nicht herum.
Rauno hatte beteuert, lieber in die Rauchsauna zu gehen, als sich auf einem Luxusschiff Schlammbäder verpassen zu lassen. Man wusste ja gar nicht, welche Mollusken in dem Moder herumschwammen, womöglich bekam man für den Rest seines Lebens Ausschlag, und auf jeden Fall würden sich Bilharzialarven unter der Haut einnisten …, und in den Atlantik zu springen war sowieso gefährlich, gerade in der Karibik hatten die Meeresströmungen schon Hunderte dämlicher Touristen mit sich gerissen. Und man sollte auch an die Natur denken: Wenn so ein riesiges Schiff vor einer kleinen Insel auf Reede lag, dann zerstörten die tonnenschweren Anker das Korallenriff auf einer Fläche von mindestens einem Hektar, und das alles nur, damit fette Weiber ihre Krampfadern und ihre Cellulite spazieren tragen konnten. Die verhungerten Ureinwohner ernteten von den steinreichen Großkotzen höchstens einen kalten Blick, allenfalls bekam die bettelnde kleine Tochter einer blinden, alleinerziehenden Mutter ein paar Münzen, mehr nicht.
Rauno Rämekorpi hatte begonnen zu brüllen: Mit dem Massentourismus werde südamerikanisches Drogengeld gewaschen, damit wiederum wurden Diktatoren bestochen, und all die Millionenvölker stöhnten in ihrem Elend, während er und Annikki im tropischen Mondschein saßen und rülpsten, weil sie zu viele der vom Aussterben bedrohten Austern verschlungen hatten, und dazu hatten sie sauteuren Wein getrunken, dessen Trauben von kleinen Mädchen mit wunden Fingern gepflückt worden waren. In Schulbüchern würden diese Hände niemals blättern. Es wäre nur gerecht, wenn vom Äquator her ein schrecklicher Tornado über die Karibik fegen, den Luxusliner umkippen und die ganze prassende Meute in den Tiefen des Meeres begraben würde!
Annikki hatte spitz bemerkt, dass sie lieber allein als mit einem so kratzbürstigen Kerl auf Kreuzfahrt gehen würde. Über diese Bemerkung hatte sich der Gatte gefreut und plötzlich auch gute Seiten an der Kreuzfahrt entdeckt.
Rauno: Fakt ist natürlich, dass eine so kleine und kultivierte Frau wie du die tropische Natur nicht groß belastet …, auch hast du mit deinen guten Sprachkenntnissen die besten Voraussetzungen, mit den gebildeten Reisegefährten zu kommunizieren, du kannst dich unbesorgt an den Kapitänstisch setzen …, und mach dir wirklich kein schlechtes Gewissen, wenn du in den warmen Wellen planschst oder an gut organisierten Naturexkursionen teilnimmst, um Leguane und andere Echsen zu knipsen. Du hast dir mehr als jeder andere einen richtigen Erholungsurlaub verdient, schließlich sind wir schon zig Jahre miteinander verheiratet. Das Leben steckt voller neuer Herausforderungen, meine liebe Annikki, man muss sich ihnen nur mutig stellen, lass dir das gesagt sein.
Annikki: Hör auf zu spotten, ich hab längst verstanden. Du wärst nun mal ein netter Reisegefährte, besonders, wenn du dich durchringen könntest, nüchtern aufzutreten.
Für Direktor Rämekorpi war nämlich in aller Stille ein prachtvoller Ehrentitel beantragt worden. Man hatte seine Frau vorab informiert, sie gebeten, die Sache für sich zu behalten und dafür zu sorgen, dass der Jubilar an seinem sechzigsten Geburtstag im Lande wäre. Schon allein deshalb konnten sie an dem Festtag gar nicht verreisen.
Und der Ehrentitel war längst nicht alles. Eila Huhtavesi, verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit in Raunos Firma, hatte außerdem auch die Geschichte der Fabrik und zugleich die Biographie des Gründers, Direktors und Haupteigentümers in einem Buch verewigt. Das Buch war eine zweihundertseitige Hardcoverausgabe, und sie trug den bezeichnenden Titel: Vom Mann der Wälder zum Weltmann. Frau Annikki hatte den Probeabzug lesen dürfen, sie hatte ein paar Korrekturen vorgenommen, und jetzt war das Buch fertig: Es war in einer Auflage von tausend Stück gedruckt, und die ersten hundert Exemplare waren nummeriert. Das Werk war, außer einer Ehrenbezeigung für den langgedienten Industriellen, auch das passende repräsentative Geschenk für seine Geschäftsfreunde. Von diesem Projekt ahnte Rauno Rämekorpi ebenfalls nichts und wäre vermutlich auch kaum bereit gewesen, das Geschreibsel zu finanzieren. Rauno spielte gern den Bescheidenen, wie es Emporkömmlinge oft tun, aber in Wirklichkeit würde er sich sowohl über das Buch als auch über den Titel sehr freuen, denn wie alle Menschen liebte auch er Huldigungen.
Das Haus füllte sich mit Gratulanten. Der Direktor des Rämekorpi-Konzerns schien erstaunlich viele Geschäftspartner und Freunde zu haben. Man stieß auf den Jubilar an, es wurden kernige und humorvolle Reden gehalten, wie es sich gehörte. Obwohl Geschenke auf Wunsch des Geburtstagskindes in Form von Spenden an die Rauno-Rämekorpi-Stiftung zur Förderung der Berufsbildung hätten gehen sollen, schleppten die Gäste unzählige Blumensträuße herbei, dazu kistenweise Champagner, Gänseleber, Kaviar, Zigarren und andere Luxusgüter, sodass das Wohnzimmer am Nachmittag einem duftenden Blumenladen und einem Delikatessengeschäft glich.
Das Geburtstagskind strahlte vor Freude über all die Aufmerksamkeit, stieß mit den Gästen an und war besonders überrascht, als ihm das Buch überreicht wurde. Pressereferentin Eila Huhtavesi hielt eine Rede, in der sie die Firmengeschichte kurz zusammenfasste. Sie erzählte von der Kindheit des Direktors im Lappland der Kriegszeit, von seinen Jugendjahren beim Holzfällen in den Wäldern des Nordens, und dann von seiner ersten Firmengründung: Er hatte Blockhäuser hergestellt. Diese Firma hatte er später erweitert, um richtige Häuser zu bauen, daneben hatte er ein Sägewerk gegründet, das er später mit zäher Energie zu einem bedeutenden Exportbetrieb ausgebaut hatte. Aber leider war das Sägewerk zu Beginn der Rezession in den Siebzigerjahren einem Brand zum Opfer gefallen – das war der geeignete Zeitpunkt gewesen, die Produktionsrichtung zu ändern und in die Metallbranche zu wechseln, die in Fragen des Brandschutzes nicht so sensibel wie die mechanische Holzbearbeitung war.
Der Höhepunkt des Festes stand noch aus. Raunos Stellvertreter trat jetzt vor und überreichte ihm ein amtliches Schreiben, in dem die Staatspräsidentin bekannt gab, dass dem Firmenchef und Ingenieur Rauno Tapio Rämekorpi der Ehrentitel Industrierat verliehen worden war. Wie sich zeigte, war das Ganze rechtzeitig vor dem Jubiläumsgeburtstag in die Wege geleitet worden, die Initiatoren hatten im Grunde genommen bereits zwei Monate vor dem Fest alles geregelt. Auch die Stempelsteuer war bezahlt, natürlich auf Rechnung der Firma, und ein so feierlicher Titel kostete nicht wenig, sondern stattliche 172 000 Finnmark.
Rauno: Ihr Halunken! Ich bin schon seit zwei Monaten Industrierat, und ihr habt mir nichts gesagt! Ich hätte schon den ganzen Sommer damit angeben können … Allerdings frage ich mich, was ich mit diesem Titel anfangen soll, und er kostet so viel wie ein Luxusschlitten. Aber sei’s drum, habt vielen Dank, das ist eine verdammt rührende Geste.
Am Nachmittag, als auch die letzten Gäste gegangen waren und der Partyservice überall aufgeräumt hatte, blieben die erschöpften Eheleute allein. Die Feier hatte vor allem die Gattin ermüdet, die während der ganzen Zeit neben ihrem Mann gestanden und mit den Gästen geplaudert hatte. Jetzt umarmte sie ihn herzlich und überreichte ihm ein silbernes Zigarettenetui.
Annikki: Herzlichen Glückwunsch auch von mir, Rauno. Du warst mir ein guter Partner, treu und aufmerksam, ein richtiges Goldstück von einem Mann.
Rauno: Ohne dich hätte ich es nicht so weit gebracht, sofern denn dieses Buch und der Titel irgendetwas bedeuten.
Annikki: Wie schrecklich, dass die Leute all die Blumen und Geschenke mitgebracht haben, sie wollten einfach nicht glauben, dass ich Asthma habe und nicht in einem solchen Kräutergarten wohnen kann.
Rauno: Wir müssen das ganze Grünzeug aus dem Haus schaffen, in der Garage hat es auch nicht recht Platz, außerdem, wer sollte es dort bewundern? Ich muss es wohl auf die Müllkippe bringen.
Annikki bestellte telefonisch ein Großraumtaxi. Der Fahrer, ein gewisser Sorjonen, meldete sich direkt von der Säule. Die Eheleute rissen Fenster und Türen des Reihenhauses weit auf, damit Zigarrenrauch und Blumenduft aus dem Salon abzogen.
Rauno: Ruh dich aus, Schatz, ich bringe die Blumen auf die Müllkippe und die Reste vom Büfett in die Firma. Die Leute können nächste Woche in ihrer Mittagspause davon kosten.
Annikki: Danke, du bist wirklich lieb.
Rauno: Gönn dir eine Pause, ich bleibe nicht lange.
Durch die offene Balkontür flog wieder eine Kohlmeise herein, vielleicht war es dieselbe, die dem Haus bereits am Vormittag einen Besuch abgestattet hatte. Sie flog zielstrebig auf den Lampenschirm und schaute von dort mit schräg geneigtem Kopf herab. Diesmal machte Rauno keine Anstalten, sie zu verjagen – das Fest war vorbei, die Meise störte nicht mehr. Sorjonens schmuckes Taxi fuhr auch schon vor. Mithilfe des Fahrers trug der frischgebackene Industrierat die Blumen und die Delikatessen in den Wagen. Auf die Rückbank hievten die Männer eine Kiste Champagner.
Rauno Rämekorpi sagte sich, dass er nicht der Erste in seiner Familie war, der einen Ehrentitel trug. Sein Onkel war seinerzeit Kirchenrat und sein Schwiegervater director musices gewesen.
Taxifahrer Sorjonen war in den Vierzigern, ein blonder Mann mit Spitzbart. Er trug die typische Schirmmütze seiner Zunft, aber keine vollständige Uniform, sondern Jeans und einen blauen Popelineblouson. Ein sehniger, zielstrebig wirkender Mann. Er besaß ein neues Maxitaxi, in dem die Blumensträuße gut Platz hatten. Man war startklar. Der Fahrer sah Industrierat Rauno Rämekorpi an, als erkenne er ihn wieder.
Sorjonen: Sind Sie nicht Direktor Rämekorpi? In der Morgenzeitung war ein Interview mit Ihnen, heute ist Ihr sechzigster Geburtstag, oder? Glückwunsch! Ich heiße übrigens Sorjonen, Seppo Sorjonen. Wohin fahren wir?
Rauno: Zur Müllhalde von Ämmässuo. Ich heiße Rauno, wir können uns wohl duzen.
Sorjonen fragte verwundert, ob der Kunde eine größere Party auf der Müllkippe veranstalten wolle, da er einen Frack trage und die vielen Blumen sowie eine Kiste Champagner und jede Menge Delikatessen in den Wagen gepackt habe.
Rauno: Ich müsste zumindest all die Blumen irgendwie loswerden. Zu Hause können wir sie nicht brauchen, meine Frau ist allergisch.
Sorjonen fand es schade und eine große Verschwendung, die schönen Sträuße einfach in den Müll zu werfen. Hatte der Herr Direktor denn nicht Freunde oder Bekannte, an die er sie verteilen konnte? Rauno erklärte, dass eben gerade jene Freunde und Bekannte ihm die Blumen geschenkt hatten. Das waren alles Männer, die höchst selten Rosen kauften, auch ihren eigenen Frauen nur im äußersten Notfall, und nun hatten sie es für ihn getan, da er Geburtstag hatte. Er konnte ihnen die Sträuße unmöglich zurückbringen.
Sorjonen: Kein Grünzeug für Männer, das ist klar, aber immerhin gibt es auch Frauen in diesem Land. Laut Statistik ist sogar jeder zweite Bürger Finnlands eine Frau.
Rauno Rämekorpi dachte über den Gedanken des Fahrers nach. Gewiss, er kannte eine ganze Menge Frauen. In all den Jahren, die er gelebt hatte, war ihm diese und jene über den Weg gelaufen. Frauen hatten viel für sich, das war sicher … und gerade ihnen standen die Blumen zu. Wieso war er eigentlich nicht selbst darauf gekommen? Der Gedanke war wirklich ausgezeichnet! Im Geiste sah der Industrierat berauschende Bilder von all den großartigen Chancen, die ihm die Blumenpräsente eröffnen würden, ohne dass umständliche Vorbereitungen nötig waren. Ihm lief geradezu das Wasser im Munde zusammen, und zugleich hatte er das Gefühl, ein Mann mit Qualitäten zu sein – andererseits jedoch auch wieder ein ziemliches Schwein, ein Bär von der schlimmsten Sorte.
Die Blumenrunde erforderte Zusammenarbeit: Der Fahrer würde im Wagen warten müssen, während Rauno Rämekorpi seine Sträuße verteilte. Genug Geld für die Tour hatte er dabei, aber vielleicht würde dem Chauffeur die Zeit lang, immerhin war der ganze Fond des Wagens voller Blumen. Sie würden kreuz und quer durch die Stadt fahren und viele Adressen aufsuchen müssen. Sorjonen erklärte sich bereitwillig mit dem Vorhaben einverstanden und meinte, dass es ihm nicht langweilig würde.
Rauno Rämekorpi überlegte, wo er anfangen sollte. Er könnte natürlich das ganze Zeug zu seiner Fabrik nach Tikkurila schaffen, aber es war bereits kurz vor Feierabend, wem sollte er da die Blumen geben? Ob Pressereferentin Eila Huhtavesi noch in ihrem Büro säße? Mit ihr könnte er sich beraten, sie war eine so natürliche, zugleich aber auch zielstrebige Person.
Auf der Fahrt nach Tikkurila kam Rauno Rämekorpi auf die Idee, bei Tarja vorbeizuschauen, die im Stadtteil Malmi wohnte. Tarja Salokorpi war Lehrerin für Kunsterziehung, und Rauno hatte sie vor mehr als zehn Jahren in Tunesien kennengelernt, wohin er gereist war, um Blocksaunas zu verkaufen. Er war bei den Wüstensöhnen nicht eben viele Exemplare losgeworden, aber immerhin einige, da es ihm gelungen war, die finnische Saunakultur besonders attraktiv darzustellen. Er hatte dabei die finnische bildende Künstlerin und Lehrerin Tarja Salokorpi aufgegabelt, die in einer Wüstenschule in Sfax arabische Architekturstudenten in der Perspektivlehre unterwies. Rauno hatte sie überredet, ein großes Gemälde anzufertigen, das eine tunesische Oase darstellte. An den Rand des Palmenhains hatte er eine Abbildung seiner Blocksauna in Farbe geklebt. Sie hatte gut ins Gesamtbild gepasst, und ein paar Geschäftsabschlüsse waren überraschend leicht zustande gekommen.
Mit Tarja hatte er neben den geschäftlichen auch persönliche Kontakte gepflegt. Es war eine schöne Zeit gewesen. Sie hatten sich später noch gelegentlich in Helsinki getroffen, nachdem Tarjas Arbeit im Dienste der UNESCO beendet war. Tarja hatte beklagt, dass die tunesischen Studenten den europäischen Perspektivbegriff nicht recht verinnerlicht hatten, und das war kein Wunder: Die Menschen der Wüstenregion haben keine natürliche Vorstellung von der Dreidimensionalität, da dort das Auge im Allgemeinen nur den Horizont und davor unendliche Sandflächen sieht. Doch die Araber waren an sich äußerst fähige Künstler und Architekten, besonders im Gebrauch von Farben besaßen sie eine angeborene Begabung.
Rauno Rämekorpi bat Sorjonen, die Malminkaari 16 anzusteuern. Hoffentlich war Tarja zu Hause. Falls nicht, würden sie zur Fabrik weiterfahren.
Bei Tarja Salokorpi öffnete ein hübsch gekleidetes, etwa zehnjähriges, munteres kleines Mädchen, ein Halbblut, vielleicht eine Mulattin oder Kreolin. Für einen kurzen Augenblick kamen Rauno Zweifel, ob er an der richtigen Tür geklingelt hatte. Als er nach Tarja Salokorpi fragte, erzählte die Kleine zutraulich, ihre Mama sei auf dem Friedhof von Malmi, beim Begräbnis ihrer Patentante.
Das Mädchen: Mama hat nicht gewagt, mich mitzunehmen, weil ich so schwarz bin.
Der Industrierat hinterließ einen Blumenstrauß mit der Bitte, ihn ins Wasser zu stellen, desgleichen eine Flasche Champagner, die die Kleine sofort in den Kühlschrank brachte.
Rauno Rämekorpi fuhr mit dem Taxi zum Friedhof, wo zwei Beerdigungen im Gange waren. Der Industrierat und der Chauffeur bewaffneten sich jeder mit einem üppigen Strauß und schlossen sich der Trauergemeinde an, die ihnen gerade auf dem Kiesweg entgegenkam und in der Rauno die gesuchte Tarja Salokorpi entdeckt hatte. Hinter den Angehörigen schritt eine ganze Anzahl schwarz gekleideter Herren mit Blumengebinden in den Händen. An ihren Gesichtern war zu erkennen, dass ihnen die Verstorbene zu Lebzeiten sehr nahe gestanden hatte. Tarja Salokorpi drückte Raunos Hand, nachdem sie ihn erkannt hatte. Sie flüsterte:
Tarja: All diese Männer sind ehemalige Freunde und Lebenspartner von Saara.
Sorjonen: Das sind ja mindestens zehn Taxiladungen voll!
Es war offensichtlich, dass die Herren einander nicht kannten, aber sie ließen sich dadurch ihre andächtige Stimmung nicht verderben. Mit steifen, schlurfenden Schritten folgten sie schmerzgebeugt dem Sarg, der auf einem Karren in die Kapelle geschoben wurde. Nach einer kurzen Gedenkrede segnete der Pastor den Leichnam aus. Dann machten alle eine Kehrtwendung, und der Sarg wurde zum Grab gekarrt.
An Trägern mangelte es nicht. Nach kurzer, flüsternder Verständigung wählte die trauernde Herrenriege aus ihrer Mitte die sechs Wackersten, die den Sarg zur Gruft trugen. Ein Trauerchoral wurde gesungen. Langsam, quälend langsam senkte sich der Sarg mit der sterblichen Hülle der geliebten Toten in die Tiefe. Die Frauen schluchzten, und jeder der Herren trocknete sich die Tränen.
Als es Zeit war, die Tragegurte unter dem Sarg herauszuziehen, gab es Unstimmigkeiten, welche der Herren das Aufrollen der Gurte übernehmen sollten. Die Träger in der Mitte wollten beide den Gurt an sich reißen, jeder nach seiner Seite, keiner gab nach, und daraus folgte, das der Greis auf der linken Seite ins Wanken geriet und mitsamt dem Gurt in die offene Gruft fiel. Es dröhnte gewaltig, als der Unglückliche auf dem Sargdeckel aufschlug. Aus den Tiefen der Gruft war qualvolles Stöhnen zu hören. Die anderen Träger beugten sich vor, um sich ein Bild von der Situation zu machen. Wie sich zeigte, hatte der Alte, der hinuntergefallen war, seinen Fuß verletzt und konnte nicht aufstehen. Der Küster, selbst schon betagt, wusste keinen Rat. Er war kein Totengräber und wagte es nicht, hinabzusteigen, um dem vor Schmerzen jammernden Mann herauszuhelfen.
Nach kurzer Beratung entwickelten die Träger die Idee, dass zwei von ihnen hinuntersteigen sollten, um ihrem Schicksalsgefährten in der Not zu helfen. Ein weiterer Herr sagte, er sei in seiner Jugend Mitglied des Turnvereins gewesen und habe in dieser Eigenschaft seinerzeit auf vielen Sommerfesten bei Männerpyramiden mitgewirkt. Er schlug vor, jetzt zu improvisieren und ein ähnliches Gebilde zu formen, um so dem Verletzten wieder nach oben zu helfen. Drei Männer stiegen also in die Gruft, und schließlich auch noch die letzten beiden, als sich abzeichnete, dass zusätzliche Muskelkraft erforderlich war. Jetzt standen alle sechs Träger auf dem Sarg. Es wurde eng dort unten, trotzdem gelang es den Helfern, den Verunglückten einigermaßen formvollendet auf ihre Schultern und dann nach oben zu hieven. Mit gegenseitiger Unterstützung gelangten auch vier weitere Männer aus der Grube, aber der letzte blieb allein unten zurück, weil kein Helfer mehr da war.
Der Küster eilte fort, um eine Leiter zu holen, und mit ihrer Hilfe wurde auch der letzte Held aus der Gruft gerettet.
Die Männer atmeten tief durch und wischten sich den Schweiß von der Stirn. Dann hoben sie den Sarg noch einmal heraus, denn es erschien ihnen unpassend, die geliebte Tote nach diesem Schauspiel dort einfach so ruhen zu lassen. Es wurde beschlossen, die Bestattung noch einmal vorzunehmen, und wenn möglich ohne peinliche Missgeschicke. Die Männer hievten den Sarg auf den Karren, und der Vorgang begann von vorn.
Der Trauerchoral wurde ein zweites Mal gesungen. Jetzt senkten die Träger den Sarg würdevoll und ohne Zwischenfälle ins Grab, sie hatten aus der Erfahrung gelernt.
Selten sah man auf dem Friedhof von Malmi ein so üppiges Blumenmeer wie jenes auf dem Grabhügel von Tarjas Patentante. Als Letzte legten Industrierat Rauno Rämekorpi und Taxifahrer Seppo Sorjonen ihre Sträuße nieder. Nach Abschluss der Zeremonie gab der Pastor den Angehörigen die Hand und eilte dann herbei, um die des Industrierates zu schütteln.
Pastor: Mein tiefes Mitgefühl. Gleichzeitig nutze ich die Gelegenheit, Sie zu Ihrem Titel zu beglückwünschen, Herr Industrierat. Ich las davon heute Morgen in der Zeitung, denn dort war, außer Ihrem Geburtstagsinterview, auch eine entsprechende Notiz in der Spalte mit den Ehrentiteln. Rein zufällig wurde mein geistiger Vater, ein pensionierter Pastor aus der Grenzregion, bei gleicher Gelegenheit zum Probst ernannt. Er wohnt heutzutage in Sodankylä, ist schon seit Jahren in Rente.
Rauno: Ich stamme ebenfalls aus Sodankylä.
Pastor: Die Verstorbene wurde sehr geschätzt und geliebt …, waren Sie etwa auch …?
Tarja Salokorpi hakte Rauno unter.
Tarja: Nein. Ich nehme hier teil, weil Saara meine Patentante war. Dieser Herr begleitet mich.
Der Pastor holte einen Notizblock aus der Tasche seines Talars, schlug die Bibel auf, blätterte eine Weile darin und schrieb dann einige Worte auf einen Zettel.
Pastor: Da wir uns nun hier begegnet sind, gestatten Sie mir, Ihnen zur Erinnerung und als geistige Stütze für Ihre kommenden Jahre einen Bibelspruch zu überreichen, bitte sehr. Es sind die Verse eins und zwei aus dem Buch des Jesaja, Kapitel 9. Nochmals meinen Glückwunsch, und natürlich auch mein Beileid.
Als sie den Pastor los waren, konnten sie in Tarjas Wohnung zurückkehren. Sorjonen schlug vor, dass er ein, zwei andere Touren machen könnte, während sich der Industrierat bei der trauernden Dame aufhielt. Er war der Meinung, dass alle Anzeichen auf eine längere Gedenkfeier hindeuteten.
Ein ausgezeichneter Vorschlag.
Tarja und der Industrierat begannen mit einer gedämpften Feier zu Ehren der Patentante. Das Mulattenmädchen Sirena füllte die Gläser mit schäumendem Champagner, der bereits gut gekühlt war. Dann ging sie zur Ballettstunde. Beim Abschied legte sie ihrer Mutter noch ans Herz, nicht zu viel zu trinken.
Wer war Saara eigentlich gewesen? Welches Leben hatte sie geführt?
Tarja erzählte, dass Saara Lankinen bei ihrem Tod fast siebzig gewesen war, eine einst schöne und sinnliche Frau, die aus der Gegend um Kotka stammte. Ihr Leben war sehr wechselvoll gewesen: Die Arbeitertochter war in die Hauptstadt gekommen und hatte als Hilfe in einem Laden und Dienstmagd gearbeitet, hatte die Abendschule besucht und Fremdsprachen gelernt. Aber da sie schön und lebensfroh gewesen war, hatte das eintönige Leben einer Arbeiterin sie nicht reizen können. So hatte es sich ganz natürlich ergeben, dass sie den Laden gegen teure Restaurants eingetauscht hatte, sie hatte begonnen, sich zu schminken und modisch zu kleiden, ihr Leben voll auszukosten, im wahrsten Sinne des Wortes. Sie hatte viele glühende Verehrer und dadurch genügend Geld gehabt, sich zu pflegen und bequemer zu wohnen als gewöhnliche Arbeiter. Zunächst also die übliche Geschichte eines Mädchens vom Lande, aber Saara war dennoch keine elende Straßendirne geworden, sondern die geachtete Betreiberin eines Salons, die die Möglichkeit gehabt hatte, sich ihre Gefährten nach dem Bildungsstand, dem Äußeren und den Vermögensverhältnissen auszusuchen. Ihren schlichten Familiennamen hatte sie bereits in jungen Jahren abgelegt und stattdessen die abgewandelte Version Sara Langenskiöld benutzt. Sie hatte sich eine Wohnung in Kaivopuisto gemietet, fünf Zimmer, Blick aufs Meer.
Saara hatte auch ein paar Mal geheiratet, aber diese Verbindungen hielten natürlich nicht lange. Sie hatte selbst keine Kinder, und so hatte sie sich eine ganze Reihe Patentöchter gesucht, darunter Tarja. Sie hatte für ihre Ausbildung gesorgt, sie hatte immer Geld gehabt, außer in den letzten Jahren, da sie äußerlich nicht mehr so begehrenswert gewesen war. Aber die alten Freunde hatten sie nie im Stich gelassen, sie war ein anziehender und gutherziger Mensch gewesen. Das bewies auch die Schar der ehemaligen Liebhaber, die sich heute an ihrem Grab versammelt hatten.
Tarja: Die Herren blickten mächtig trübe drein!
Es hatte nicht viel gefehlt, und einige von ihnen wären ihrer Geliebten ins Grab gefolgt.
Tarja und Rauno erhoben das Glas auf die liebe Verstorbene. Tarja erzählte, dass sie selbst einige Male ernsthaft den Beruf des Freudenmädchens für sich erwogen habe, nachdem sie mit ihrem kleinen Mulattenbaby aus Nordafrika zurückgekehrt sei. Auf eine Ehe mit ihrem arabischen Liebhaber hatte sie sich zum Glück nicht eingelassen, das hätte erst einen richtigen Schlamassel gegeben. Das Kind wäre garantiert in Tunesien verblieben, und sie hätte das Nachsehen gehabt, so wie all die unzähligen jungen Närrinnen aus Finnland, die sich an den Mittelmeerstränden in die exotischen, dunklen Männer verguckten. Aber eine Hure war sie dennoch nicht geworden, denn Sara Langenskiöld hatte keine Mühen gescheut und mit ihrem Körper das nötige Geld verdient, um Tarja aus der Klemme zu helfen. Saara hatte ihre Patenkinder nie im Stich gelassen. Noch mit ihren letzten Kräften hatte sie die Türen ihres Salons geöffnet und ihre lieben, alten Verehrer empfangen, hatte sich mit viel Stil und in bewährter Weise um sie gekümmert und mit dem so erworbenen Geld ihren Schützling davor bewahrt, denselben Weg einzuschlagen, den sie selbst als Frau all die wilden Jahre gegangen war.