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Im Hafravatn, einem See in der Nähe von Reykjavík, wird ein Tourist mit schweren Kopfverletzungen tot aufgefunden. Der Mann wurde offenbar ermordet. Erste Ermittlungen ergeben, dass er der Freund eines vor Jahrzehnten verschwundenen Mannes war. Als der pensionierte Kommissar Konrád davon erfährt, wird er hellhörig und beginnt auf eigene Faust zu ermitteln. Mit der Verbindung des Ermordeten zu dem Vermisstenfall aus den 1970er Jahren holt ihn dann seine eigene Vergangenheit ein. Je intensiver Konráð sich mit dem Fall beschäftigt desto mehr wird ihm die Atmosphäre aus der Zeit des Kalten Krieges wieder gegenwärtig, das unbestimmte Gefühl von Wut - und das Denken in Gut-Böse-Kategorien ...
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Seitenzahl: 382
Veröffentlichungsjahr: 2024
Im Hafravatn, einem See in der Nähe von Reykjavík, wird ein Tourist mit schweren Kopfverletzungen tot aufgefunden. Der Mann wurde offenbar ermordet. Erste Ermittlungen ergeben, dass er der Freund eines vor Jahrzehnten verschwundenen Mannes war. Als der pensionierte Kommissar Konrád davon erfährt, wird er hellhörig und beginnt auf eigene Faust zu ermitteln. Mit der Verbindung des Ermordeten zu dem Vermisstenfall aus den 1970er Jahren holt ihn dann seine eigene Vergangenheit ein. Je intensiver Konráð sich mit dem Fall beschäftigt desto mehr wird ihm die Atmosphäre aus der Zeit des Kalten Krieges wieder gegenwärtig, das unbestimmte Gefühl von Wut – und das Denken in Gut-Böse-Kategorien …
Arnaldur Indriðason, 1961 geboren, graduierte 1996 in Geschichte an der University of Iceland und war Journalist sowie Filmkritiker bei Islands größter Tageszeitung Morgunbladid.
Heute lebt er als freier Autor mit seiner Familie in Reykjavik und veröffentlicht mit sensationellem Erfolg seine Romane. Arnaldur Indriðasons Vater war ebenfalls Schriftsteller.
1995 begann er mit Erlendurs erstem Fall, weil er herausfinden wollte, ob er überhaupt ein Buch schreiben könnte. Seine Krimis belegen allesamt seit Jahren die oberen Ränge der Bestsellerlisten. Seine Kriminalromane »Nordermoor« und »Todeshauch« wurden mit dem »Nordic Crime Novel’s Award« ausgezeichnet, darüber hinaus erhielt der meistverkaufte isländische Autor für »Todeshauch« 2005 den begehrten »Golden Dagger Award« sowie für »Engelsstimme« den »Martin-Beck-Award«, für den besten ausländischen Kriminalroman in Schweden.
Arnaldur Indriðason ist heute der erfolgreichste Krimiautor Islands. Seine Romane werden in einer Vielzahl von Sprachen übersetzt. Mit ihm hat Island somit einen prominenten Platz auf der europäischen Krimilandkarte eingenommen.
A R N A L D U R
INDRIÐASON
ZERBROCHENESTILLE
ISLAND KRIMI
Übersetzung aus dem Isländischenvon Freyja Melsted
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Titel der isländischen Originalausgabe:
»Sæluríkið«
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2023 by Arnaldur Indriðason
Published in the German language by arrangement with
Reykjavik Literary Agency, Iceland, www.rla.is
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2024 by
Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Textredaktion: Anja Lademacher, Bonn
Umschlaggestaltung: Jeannine Schmelzer und Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de
Umschlagmotiv: © AdobeStock: Zacon Studio
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-6542-8
luebbe.de
lesejury.de
Der Motor des Lada starb ein weiteres Mal ab, und sie schoben ihn das letzte Stück zur Laderampe des russischen Trawlers. Er war nicht mehr durch die Hauptuntersuchung gekommen, und die Reparatur eines so alten, ausgedienten Wagens wäre sehr kostspielig geworden. Also hatten sie ihn vor ein paar Monaten abgemeldet und diese letzte Fahrt ohne Kennzeichen riskiert. Bis dahin hatte er vor ihrem Wohnblock gestanden, die senfgelbe Lackierung war bereits matt und verblasst, und Rostflecken überzogen die Karosserie wie Herpesbläschen. Beim Einsteigen trat man die verrostete Bodenplatte auf der Fahrerseite jedes Mal fast durch.
Mühevoll bewegten sie die Schrottkarre die letzten Meter bis zur Laderampe, wo sie erst einmal verschnaufen mussten. Es war bereits dunkel, und der riesige Trawler türmte sich vor ihnen auf. Die Motoren dröhnten, das Schiff war zum Ablegen bereit. Sie standen im Licht der Scheinwerfer, und zwei Seeleute beugten sich über die Reling und riefen ihnen etwas auf Russisch zu, das sie nicht verstanden. Wahrscheinlich, um sie zu vertreiben.
Sie hatten keine Ahnung, wie diese Geschäfte abliefen, und als sich sonst niemand um sie zu kümmern schien, betraten sie die Laderampe. Plötzlich tauchten die beiden Russen wieder auf, versperrten ihnen den Weg und schickten sie fort. Sie lächelten, deuteten auf den Lada und erklärten in gebrochenem Englisch ihr Anliegen, aber die Russen zeigten kein Interesse und befahlen ihnen erneut, sich zu verziehen, diesmal ziemlich unmissverständlich.
Wieder erklang das Grummeln der Motoren. Sie waren zu spät. Die Russen waren bereit abzulegen.
»Selling car!«, rief die Frau, immer noch von der Laderampe aus. »Very cheap.«
»You can have it«, fügte der Mann hinzu.
»No, no, go away! No car!«, hörten sie einen der Russen rufen.
»Go, go away!«, schrie der andere.
Sie sahen einander enttäuscht an. In der Zeitung hatten sie gelesen, dass viele Isländer mit alten Ladas zum Hafen fuhren, um sie den Russen zu verkaufen. Und dass die Russen sogar in der Stadt nach den Karren Ausschau hielten. Offenbar gab es in Russland einen Markt dafür. Sie hatten gehört, dass die Seeleute oft eigene Ladas besaßen und sich auf diesem Weg brauchbare Ersatzteile aus den isländischen Autos beschafften, um den Rest dann irgendwo auf dem Weg ins gelobte Land über Bord zu werfen. Manche Wagen bekamen aber auch ein Leben nach dem Tod und landeten im Osten schnell wieder auf der Straße, als wären sie nie diese fahruntauglichen Schrottkarren aus dem finsteren Island gewesen.
Plötzlich bemerkten die beiden auf dem Deck einen anderen Lada, er war blau und fast vollständig von einem dicken dreckigen Segeltuch bedeckt, nur das Heck war zu erkennen. Nicht weit davon entfernt schienen sich ein paar Russen heftig zu streiten, bevor sie plötzlich verschwanden. Die Frau stieß ihren Mann mit dem Ellbogen an, um ihn darauf aufmerksam zu machen, aber der bekam von dem Getümmel nichts mit.
»Mist«, sagte er und ging rückwärts von der Laderampe hinunter. »Wahrscheinlich wollen sie keinen weiteren Lada.«
Die Frau sah noch einmal genauer hin und bemerkte, wie einer der Russen das Auto vollständig bedeckte.
»Was jetzt?«, fragte sie.
»Am besten machen wir uns aus dem Staub.«
»Und lassen den Lada einfach hier stehen?«
In dem Moment tauchte ein wütender Mann vor ihnen auf, wahrscheinlich der Kapitän des Schiffs. Er beschimpfte sie und scheuchte sie zurück zum Kai. Danach ging er auf die beiden Seeleute los, die ihnen den Weg versperrt hatten. Sie wehrten sich, doch das brachte den Mann vollständig zur Weißglut, er schrie sie weiter an und jagte sie schließlich unter Deck.
Der Trawler schien abfahrtbereit. Der Schiffsführer brüllte irgendwelche Anweisungen, ein Seemann machte eilig das Schiff los, dann wurde die Laderampe eingeholt. Die Motoren brummten, und der Trawler bewegte sich langsam aufs Meer hinaus.
Sie blickten ihm verwundert hinterher und machten sich auf den Weg zur nächsten Bushaltestelle. Mit dem Lada konnten sie vorerst nichts weiter anfangen, es war schon schwer genug gewesen, ihn zum Hafen zu bringen. Sie konnten sich nicht vorstellen, wie sie damit wieder nach Hause fahren sollten, also ließen sie ihn in seinem maroden Zustand auf dem Kai zurück.
Das war zu Beginn des Winters, und während sie in der Nähe der alten Heringsfabrik beim Hafen von Reykjavík auf den Bus warteten, fiel der erste Schnee.
»Was hat den Kerl bloß geritten?«, fragte der Mann. »Ob das der Kapitän war?«
»Ich dachte, er geht gleich auf dich los. Der ist ja völlig durchgedreht.«
»Russen …!«
»Sie haben sich richtig geprügelt«, sagte sie und betrachtete die Schneeflocken, die in der Windstille zu Boden schwebten. Sie versuchte, ein paar davon mit der Hand einzufangen, während in der Ferne der Bus um die Ecke bog.
»Geprügelt?«, fragte er.
»Sah jedenfalls danach aus«, antwortete sie. »Auf diesen Schiffen wird bestimmt viel gesoffen. Alles ertrinkt im Wodka. Es wirkte jedenfalls wie eine große Schlägerei.«
»Keine Ahnung, hab ich nicht mitbekommen.«
»Irgendetwas müssen wir mit dem Lada machen«, sagte sie.
»Lass uns morgen darüber nachdenken.«
»Vielleicht kann er da stehen bleiben, bis der nächste Trawler anlegt«, sagte sie, als sie in den Bus stiegen.
»Ja, ich weiß nicht, ob ich Lust habe, mich damit herumzuschlagen, vielleicht sollten wir es einfach lassen«, sagte ihr Mann entmutigt und warf einen Blick zum Hafen hinüber. »Wahrscheinlich wäre es am besten, die Karre einfach zu verschrotten.«
Er hatte den ganzen Nachmittag auf den Pisten verbracht, war aber ins Hotel zurückgekehrt, bevor es an der Bar laut wurde. Dort bestellte er eine Tasse Kakao mit einem Schuss Inländer-Rum, setzte sich draußen unters Fenster und beobachtete die Skifahrer. Die Schneeverhältnisse und das Wetter waren traumhaft, er hatte den Tag auf den Pisten genossen, auch wenn er einmal gestürzt war und sich den Kopf angeschlagen hatte. Das schob er aufs Alter. Hatte gedacht, er könnte immer noch Skifahren wie ein Teenager, und bezahlte jetzt den Preis für seinen Übermut. Der Ort war voller Skiurlauber, und obwohl er seit vielen Jahren hierher nach Österreich kam, hatte er ihn noch nie so voll erlebt.
Die ersten Tage des Urlaubs waren angenehm und sorgenfrei gewesen, bis er vorgestern einen Anruf erhalten hatte, es ging um Pétur von der Wäscherei. Dessen Auto war vor einer Weile fahrerlos auf Seltjarnarnes gefunden worden, und seitdem hatte niemand mehr von ihm gehört. Er fragte sich, ob es etwas mit ihren Machenschaften zu tun hatte und ob er die Polizei vielleicht über ihre Taten und die möglichen Folgen informieren sollte. So oder so hatte er beschlossen, seine Abreise vorzuziehen. Das würde sein letzter Tag in Österreich sein.
Das verlassene Auto ging ihm nicht aus dem Kopf. Er konnte sich nur schwer vorstellen, dass Pétur seinen Sohn nach allem, was passiert war, einfach so allein lassen würde. Der Tod von Ehefrau und Mutter war für sie beide sehr belastend gewesen, und sie hatten in der Trauer fest zusammengestanden. Pétur meinte, sie wären ohne einander nicht zurechtgekommen.
Er bestellte noch etwas zu trinken, und als der Barkeeper wieder gegangen war, kam eine Frau um die fünfzig auf ihn zu, sie wirkte sehr nett und fragte, ob sie sich zu ihm setzen dürfe. Die Bar hatte sich gefüllt, und es gab kaum noch freie Plätze. Er lud sie ein, sich an seinen Tisch zu setzen, und wie es typisch war für zwei, die sich nicht kannten, lächelten sie einander verlegen an, bevor sie im gleichen Moment zu sprechen begannen. Er fragte, ob sie zum Skifahren hier sei, und sie, ob er sich schon lange hier im Hotel aufhalte. Schon kurz darauf unterhielten sie sich angeregt auf Englisch, und er fand heraus, dass sie Witwe war, erzählte ihr, dass er nie geheiratet hatte, irgendwie sei das Leben vorbeigezogen und ihm die Gelegenheit dazu entgangen. Ein Beamter, sagte er. Aus Island. Allein unterwegs.
Er schätzte ihren Altersunterschied auf etwa zehn Jahre. Sie plauderten entspannt, und alles entwickelte sich sehr gut, bis er sich entschuldigte, um zur Toilette zu gehen. Als er zurückkam, war sie verschwunden. Er trank aus, und auf dem Weg zum Zimmer fragte er sich, ob er zu viel über sich selbst geredet und sie damit gelangweilt hatte. Im Aufzug wurde ihm ein wenig schwindlig, und er schob es auf den Sturz vorhin. Er würde sich erst einmal hinlegen, wenn er auf seinem Zimmer war.
Als ein Mitarbeiter des Skihotels am nächsten Tag zum Putzen kam, fand man ihn tot in seinem Bett. Er hatte einen Herzinfarkt erlitten.
Konráð ließ den Blick durch die Bowlinghalle schweifen, bevor er sich setzte und ein Bier bestellte.
Über der Bar hing ein Fernseher, und er verfolgte für eine Weile die Abendnachrichten. Es ging um das übliche Gezanke seiner Landsleute, ewige Streitereien wegen mehr oder weniger wichtiger Angelegenheiten, von denen müde Journalisten berichteten, indem sie allen, die etwas dazu zu sagen hatten, ein Mikrofon unter die Nase hielten. In den letzten Monaten hatten einige große wirtschaftliche und politische Skandale die Bevölkerung aufgerüttelt, doch jetzt schien vorerst Ruhe eingekehrt zu sein. Konráð musste schmunzeln, als der Nachrichtensprecher sich bei einer tragischen Meldung aus Nordisland verhaspelte: Sigríður Sigurðardóttir aus Siglufjörður sitzt seit sieben Tagen in ihrer Wohnung fest …
Der Barkeeper hatte genug davon und schaltete auf Fußball um.
Vor einigen Wochen hatten die Berichte über einen Leichenfund auf der Anhöhe Öskjuhlíð in Reykjavík ihnen allen eine Pause von den üblichen Streitereien beschert. Die Aufregung hatte sich mittlerweile wieder etwas gelegt, aber der Fall war eine Zeit lang immer unter den ersten Meldungen gewesen, schließlich ging es um Skafti Tímóteus Hallgrímsson, von dem man annahm, dass er in den Siebzigerjahren ermordet worden war.
Ein Mann war damals festgenommen worden, er hieß Natan, und nach langer Untersuchungshaft und unzähligen Verhören im Gefängnis in Síðumúli hatte er gestanden, Skafti auf der Landzunge Örfirisey umgebracht und die Leiche ins Meer geworfen zu haben. Die ersten Untersuchungen der Leiche von Öskjuhlíð deuteten jetzt allerdings darauf hin, dass Skafti nicht zwangsläufig ermordet worden war, sondern möglicherweise auch verunglückt sein könnte, vielleicht war er in eine tiefe Baugrube gestürzt, wie sie die britische Armee nach ihrer Stationierung zur Zeit des Zweiten Weltkriegs dort hinterlassen hatte. So oder so gab es berechtigte Zweifel an Natans Geständnis, das in der Untersuchungshaft und unter sehr speziellen Umständen zustande gekommen war. Nun allerdings wurde auch die damalige Vorgehensweise der Polizei und der Staatsanwaltschaft noch einmal ins Visier genommen, um zu klären, ob man seinerzeit mit gewaltsamen Methoden falsche Geständnisse erzwungen hatte. Natan war zur Höchststrafe verurteilt worden, die er im Gefängnis Litla-Hraun absaß. Der Leichenfund auf Öskjuhlíð konnte jedoch als Beweis seiner Unschuld angesehen werden.
Der Skafti-Fall hatte auch Polizei und Justiz erschüttert. Mindestens zwei offizielle Untersuchungen gab es, um zu klären, wie so etwas hatte passieren können, und die Hinterbliebenen des vermeintlichen Mörders, der mittlerweile verstorben war, forderten seine Rehabilitation und Schadensersatz. Die Medien wollten wissen, wer seinerzeit für den Fall verantwortlich gewesen war und warum es bei den Ermittlungen derartig schwerwiegende Fehler gegeben hatte.
Zwei Polizisten, die Konráð kannte, betraten die Bowlinghalle und richteten sich bei einer der Bahnen ein. Sie hatten lange Karrieren hinter sich und standen kurz vor der Pensionierung. Konráð würde ihnen gerne sagen, dass der Ruhestand kein Zuckerschlecken sei und sie so lange wie möglich weitermachen sollten. Dass es nur noch halb so viel Spaß machte, wenn alle Tage gleich wären.
Aber er war nicht gekommen, um betagten Polizisten Ratschläge fürs Leben zu geben. Er wollte Leó treffen, der früher in der Bowlingmannschaft der Polizei gewesen war und hier immer noch oft mit seinen ehemaligen Kollegen spielte.
Konráð ging zu ihnen und fragte, wie es so laufe, doch die beiden reagierten kaum. Auch Konráð hatte einmal für die Polizeimannschaft gespielt, kannte den Sport, hatte mit Leó und Rikki oft die Militärstation der US-Amerikaner in Keflavík besucht, um auf der Bahn dort zu spielen, bevor alles den Bach hinuntergegangen war.
»Habt ihr Leó gesehen?«, fragte Konráð.
Er warf einen Blick auf die blank polierten Bahnen. Es war nicht viel los, sie waren mehr oder weniger allein in der Halle.
»Was ist mit Leó?«, fragte einer der Polizisten, ein schwerfälliger Mann mit aufgedunsenem Gesicht, als hätte er zu viel fettes Fleisch gegessen. Konráð suchte den Blickkontakt, doch die Augen des Polizisten waren kaum zu erkennen.
»Er antwortet nicht auf meine Nachrichten«, sagte Konráð. »Ich wollte ihn treffen.«
»Wundert dich das?«, fragte der andere Polizist, der eine ähnliche Statur hatte wie der erste, einen dicken Bauch und lange, dicht behaarte Arme, perfekt fürs Bowling.
»Was willst du von ihm?«, fragte der mit dem aufgedunsenen Gesicht.
Das würde ich dir sagen, wenn es dich etwas anginge, dachte Konráð und hätte es beinahe laut gesagt. Etwas an dem Tonfall des Mannes nervte ihn.
»Ich habe schon lange nichts mehr von ihm gehört«, sagte er stattdessen. »Ich wollte wissen, wie es ihm geht.«
»Wegen der Sache mit Skafti?«, fragte der mit dem dicken Bauch.
»Gibt es da irgendwelche Neuigkeiten?«, fragte Konráð.
Die Männer sahen einander an.
»Warst du nicht auch in die Sache verwickelt?«
»Nein«, sagte Konráð. »Ich hatte nichts damit zu tun.«
»Aber ihr habt zu der Zeit eng zusammengearbeitet. Wart ihr nicht sogar befreundet?«
»Eng oder nicht. Wir haben zusammengearbeitet.«
»Du bist nicht der Einzige, der Leó sucht«, sagte der mit dem aufgedunsenen Gesicht. »Alle wollen mit Leó sprechen, da musst du dich schon hinten anstellen.«
»Wenn du uns jetzt bitte allein lassen würdest«, sagte der mit dem dicken Bauch, griff nach seiner Kugel und stopfte die dicken Finger in die drei Löcher, »wir versuchen, hier zu bowlen.«
Konráð sah die beiden abwechselnd an. Bei einer richtigen Sportart würden sie es nicht weit bringen, aber Bowling war etwas anderes. Man konnte den ganzen Tag faul herumsitzen, Bier trinken und schlechte Burger essen und am Ende trotzdem als Sieger dastehen. Aber er verspürte keinen Drang, sie deswegen aufzuziehen.
»Na gut, wenn ihr von ihm hört …«
»Alles klar«, sagte der mit dem aufgedunsenen Gesicht, als wäre das eher unwahrscheinlich.
Auf dem Weg nach draußen sah Konráð, dass im Fernseher über der Bar wieder die Nachrichten liefen, die gerade zu Ende gingen. Als die wichtigsten Meldungen des Tages zusammengefasst wurden, sah er Aufnahmen vom See Hafravatn in der Nähe der Hauptstadt. Ein ausländischer Urlauber sei dort tot aufgefunden worden, die Todesursache noch nicht bekannt. Konráð hatte bereits online davon gelesen. Der Besitzer eines Sommerhauses war bei einem abendlichen Spaziergang am Ufer auf die Leiche gestoßen. In einem Onlinemedium hieß es, es gäbe keine Anzeichen für eine Straftat. So wurde es immer ausgedrückt. Derartige Meldungen gehörten beinahe zum Alltag, seit das Land zu einem Tourismusmagneten geworden war und sich die Einwohnerzahl in der Hochsaison jedes Jahr beinahe versiebenfachte. Meist wurde von Urlaubern berichtet, die bei Unfällen auf den maroden isländischen Straßen ums Leben kamen, sich verirrten oder im Hochland vor Erschöpfung starben, von Felsen stürzten, im Meer oder in Seen ertranken oder tot in Hotelzimmern aufgefunden wurden. Der freiwillige Rettungsdienst hatte noch nie so viel zu tun gehabt wie seit Beginn des Tourismusbooms.
Zum jetzigen Zeitpunkt könnten weder Name noch Nationalität des Urlaubers bei Hafravatn bekannt gegeben werden. Auch eine dieser gängigen Formulierungen.
Was ihn zu dem See in der Nähe der Stadt geführt hatte, war ebenfalls noch nicht geklärt.
Konráð kletterte gerade auf seine ungelenke Art in den alten Jeep, als Marta ihn anrief. Er hatte sich schon länger nicht mit ihr unterhalten. Als eine der leitenden Ermittlerinnen bei der Kriminalpolizei Reykjavík hatte sie viel zu tun, das wusste er. Nach dem Leichenfund auf Öskjuhlíð hatte er versucht, sie zu erreichen, aber sie wollte nicht mit ihm über den Fall sprechen. Ging ihm eine Weile aus dem Weg, und als er sie konfrontierte, meinte sie, er sei zu stark in den Skafti-Fall verwickelt. Er versuchte noch, auf sie einzureden, aber sie blieb eisern und verabschiedete sich kühl.
Sie war nicht die Einzige, die dachte, dass Konráð mit dafür verantwortlich war, dass man einen Unschuldigen verhaftet hatte. Leó und er hatten in den Siebzigerjahren eng zusammengearbeitet, in der damals frisch gegründeten Kriminalabteilung der Polizei Reykjavík, wo nicht immer alles mit rechten Dingen zugegangen war. Immer wieder bekam Konráð Anrufe von Fremden, die ihm diese Machenschaften vorhielten, wenn er nicht schnell genug auflegte. Irgendwann zog er den Stecker des Festnetztelefons. Und nur wenige hatten seine Handynummer.
»Weißt du, wo Leó ist?«, fragte Konráð, als er ranging.
»Nein, keine Ahnung«, sagte Marta. »Er war neulich mal hier, um über den Skafti-Fall zu sprechen, aber seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen. Hast du Kontakt zu ihm? Wir müssen mit ihm reden.«
»Nein, ich erreiche ihn nicht. Was hat er euch erzählt?«
»Nichts, was dich betrifft, Konráð. Ich rufe an, weil ich dir sagen wollte, dass sie in dem Fall deines Vaters keine weiteren Schritte einleiten wollen. Sie glauben dir, dass Gústaf vor seinem Tod gesagt haben soll, es sei deine Mutter gewesen, die Seppi vor dem Schlachthof erstochen hat. Sie sehen keinen Grund, das anzuzweifeln.«
»In Ordnung«, sagte Konráð. »Danke, dass du Bescheid sagst.«
»Ist doch bestimmt eine Erleichterung?«
»Ja, das ist eine gute Nachricht. Aber sag mal, was ist mit diesem Urlauber bei Hafravatn, ist das etwa …?«
»Ach, Konráð«, sagte Marta, die nicht vorhatte, sich in ein Gespräch verwickeln zu lassen, »man kann dir nichts erzählen, ohne dass du gleich anfängst herumzuschnüffeln!«
Konráð startete den Motor und fuhr vom Parkplatz der Bowlinghalle Richtung Breiðholt weiter, wo er vor einem Wohnblock anhielt. Er meinte, die richtige Adresse zu haben, und ließ den Blick zögerlich nach oben wandern. Er hatte die Frau viele Jahre lang nicht gesehen. Sie waren einmal gute Freunde gewesen, zwei befreundete Ehepaare. Hatten sich regelmäßig getroffen, die Wochenenden auf dem Land verbracht, Ausflüge gemacht und in versteckten Birkenwäldern gezeltet. Doch seither war viel Wasser ins Meer geflossen.
Er fand die richtige Wohnung und klingelte. Als sie öffnete, fiel ihm sofort auf, dass sie sich mit dem Alter kaum verändert hatte. Ganz im Gegensatz zu ihm offenbar, denn sie erkannte ihn erst nicht.
»Moment … Konráð? Bist du das?«, fragte sie verwundert.
»Hallo, Dóra, vielleicht hätte ich vorher anrufen sollen«, sagte er entschuldigend. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«
»Was willst du hier?«
Er zögerte. Was wollte er eigentlich hier? Er wusste es selbst kaum.
»Ist … geht es um Leó?«, fragte sie.
Konráð bejahte und erklärte, dass er dringend mit ihm sprechen müsse, er aber wie vom Erdboden verschluckt sei. Von Leós Freunden und Bekannten habe ihm auch niemand weiterhelfen können.
Sie bat ihn hinein, und er setzte sich etwas verlegen an den Esstisch. Hatte nicht vor, lange zu bleiben. Nach der Scheidung von Leó hatte Dóra wieder geheiratet. Ihr zweiter Mann war um einiges älter gewesen als sie, und vor etwa zwei Jahren hatte Konráð seinen Namen in den Traueranzeigen gesehen. Eigentlich hatte er sie anrufen und sein Beileid ausdrücken wollen, schließlich waren sie einmal enge Freunde gewesen, aber dann vergingen die Tage und Wochen, und er tat es nie. Sie war zu Ernas Beerdigung gekommen. Seitdem hatten sie nicht miteinander gesprochen.
»Wie geht es dir, Konráð?«, fragte sie.
»Ich klage nicht«, sagte er. »Der Ruhestand langweilt mich nur ein wenig. Ich habe gesehen, dass dein Mann verstorben ist. Mein Beileid.«
»Danke, er war schon sehr krank, also … Soweit ich in den Nachrichten gesehen habe, hätte es dich auch beinahe erwischt. Dieser Arzt, der dich angegriffen hat, der seine Nichte ermordet hat und aus Litla-Hraun ausgebüxt ist. Wie hieß er noch mal? Hat er nicht versucht, dich umzubringen?«
»Gústaf Antonsson, Anästhesist. Er ist bei mir in Árbær eingebrochen, hat mir Medikamente verabreicht, die mir beinahe den Rest gegeben hätten.«
»Aber du konntest ihn noch rechtzeitig aufhalten. Ist er dann bei dir zu Hause gestorben? Also, seinen Verletzungen erlegen?«
»Ja, es war Notwehr«, sagte Konráð, aber eigentlich wollte er nicht wirklich darüber reden. »Er war … für ihn kam jede Hilfe zu spät.«
Dóra bot ihm Kaffee an, aber er lehnte dankend ab, er könne nicht lange bleiben.
»Was willst du von Leó?«, fragte sie. »Geht es um den Skafti-Fall? Ich bekomme schon Anrufe von Journalisten, diese aufdringlichen Schnüffler. Ich weiß nicht, wo er ist. Wir haben seit Jahren nicht miteinander geredet. Hält er nicht einfach den Ball flach, bis das wieder vorbeigeht?«
»Bestimmt«, sagte Konráð.
»Warst du daran beteiligt?«, fragte sie direkt. »Hast du mit ihm zusammen einen Mann getäuscht und ins Gefängnis gebracht? Diesen Natan?«
Konráð schüttelte den Kopf.
»Ich war bei ein paar Verhören dabei. Aber ansonsten habe ich nichts getan. Außer, dass ich meine Bedenken geäußert habe, ob der Mann auch fair behandelt wird. Unser Kollege Rikki hat auch was gesagt, du erinnerst dich vielleicht noch an ihn. Leó hat aber nicht auf uns gehört, und wir haben keine weiteren Schritte unternommen. Seitdem habe ich viel darüber nachgedacht. Wir hätten mehr tun sollen.«
»Und jetzt wisst ihr, was passiert ist?«
»Ja.«
»Es war also vor allem Leó?«
»Irgendwie hat er es geschafft, Natan festzunageln. Ich weiß nicht, was es war. Er hat dieses Geständnis von ihm bekommen, und der eine oder andere Hinweis aus den Ermittlungen passte dazu. Die Richter fanden es plausibel. Erst viel später stellte sich heraus, dass die ganze Argumentation auf einer Lüge basierte.«
»Ja, es ist natürlich schlimm. Was der arme Mann alles durchmachen musste, obwohl er unschuldig war.«
»Hast du eine Idee, wo Leó stecken könnte?«, fragte Konráð. »Gibt es vielleicht irgendeinen Ort, an den er sich früher zurückgezogen hat? Hat er vielleicht Zugang zu einem Sommerhaus? Irgendwas?«
»Was willst du tun, wenn du ihn findest?«
»Mit ihm reden. Über den Fall. Über ein paar Dinge, die ich zwischen uns klarstellen will.«
»Du weißt, warum ich ihn letztendlich verlassen habe?«, sagte Dóra. »Warum wir uns getrennt haben?«
»Ich hatte eine Vermutung.«
»Wusstest du, was er alles getan hat?«
Konráð zögerte.
»Ich wusste so manches«, sagte er zögerlich.
»Es hat mir gereicht«, sagte Dóra. »Ich hätte ihn gleich verlassen sollen, aber er hat sich entschuldigt und versprochen, es würde nie wieder vorkommen. Viele Jahre später habe ich herausgefunden, dass er eine Affäre in der Stadt hatte und mich jahrelang betrogen hat. Ich glaube, alle außer mir wussten davon. So ist das doch meistens, nicht wahr?«
»Vermutlich«, sagte Konráð, der in der Hinsicht selbst nicht ganz unschuldig war.
»Er war unfassbar.«
Konráð zögerte.
»Weißt du … weißt du, ob eine von ihnen …«
»Deine Erna war?«
»Er hat es einmal angedeutet, ja, sogar direkt ausgesprochen. Er war wütend auf mich und … und ich hatte gehofft, dass er es vielleicht nur gesagt hat, um mich zu verletzen. Dass es nicht wirklich stimmte.«
»Da kann ich dir nicht weiterhelfen«, sagte Dóra. »Keine Ahnung, wer sie alle waren, ich weiß nur, dass er in seiner Freizeit wohl kaum etwas anderes gemacht hat.«
Konráðs Handy klingelte, und er entschuldigte sich, er müsse da kurz rangehen. Es war sein Anwalt, den er sich wegen der Ermittlungen im Mord an seinem Vater hatte suchen müssen.
»Sie haben beschlossen, dir zu glauben«, sagte der Anwalt, als Konráð ranging.
»Ja, das habe ich schon gehört.«
»Aber sie sagen, dass es deine Aussage stärken würde, wenn du diese Fotos vorlegen könntest, die angeblich den Kindesmissbrauch bezeugen. Von dem Mädchen im Tjörnin und den anderen Kindern.«
»Ja, ich weiß«, sagte Konráð, »es wäre gut, die Bilder zu finden.«
Sie verabschiedeten sich, und Konráð steckte das Handy wieder ein.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Dóra, als sie seinen müden Blick bemerkte.
»Ja, alles in bester Ordnung.«
Für eine Weile schwiegen sie.
»Leó hat in der Nacht einen Anruf bekommen«, sagte Dóra schließlich. »Ich erinnere mich noch gut daran.«
»In der Nacht?«
»In der Nacht von Skaftis Verschwinden. Ich bin rangegangen. Es war sein Onkel, er wollte mit Leó sprechen. Ich habe ihm gesagt, dass Leó schon schläft, aber Alfons wollte unbedingt mit ihm sprechen, also ist Leó aufgestanden, und nach dem Telefonat hat er sich angezogen und ist rausgegangen.«
»Um Alfons zu treffen? Seinen Onkel?«
»Klar.«
»Weißt du, warum?«
»Nein, keine Ahnung«, sagte Dóra. »Leó … er hat nie darüber gesprochen. Das Verhältnis zu seinen Onkeln war etwas speziell, wie du weißt. Ich habe ihn gefragt, was mitten in der Nacht so wichtig sei, und er meinte nur, ich solle mir keine Sorgen machen. Aber ich erinnere mich, dass es an dem Abend war, weil ich sauer auf ihn war. Ich hatte am nächsten Tag Geburtstag, und er hat gar nichts gesagt. Sonst hat er immer an meinen Geburtstag gedacht, aber in dem Jahr hat er ihn einfach vergessen.«
Auf dem Begräbnis waren ungewöhnlich wenige Gäste. Soweit Konráð erkennen konnte, war nur der engste Familienkreis gekommen, und ein paar wenige aus der Baubranche. Sich selbst zählte er nicht als Gast, eigentlich war er gar nicht wirklich da. Er ging nicht in die Kirche, sondern blieb davor im Auto sitzen und beobachtete das Geschehen, in der Hoffnung, Leó zu sehen.
Von den Autos auf dem Parkplatz zu schließen, schien die Familie vor allem große schwarze Jeeps zu fahren. Konráð wusste, dass die Generation, die auf die Brüder gefolgt war, immer wieder in Konflikt mit dem Gesetz geriet, wegen Drogenschmuggel, Gewaltdelikten, Steuerhinterziehung und allerlei anderer Vergehen. Und auch die dritte Generation war nicht viel besser, der Enkel des einen saß wegen brutaler Körperverletzung hinter Gittern, er hatte ins Ausland fliehen wollen, war aber auf dem Weg zum Flughafen wegen Raserei angehalten worden. Konráð wusste nicht, ob er die Erlaubnis bekommen hatte, an der Beerdigung teilzunehmen.
In der Zeitung standen zwei Nachrufe, von Enkelkindern des Verstorbenen, wie Konráð annahm, die sich an die Familienausflüge ins Sommerhaus erinnerten und erzählten, was für ein wundervoller Großvater er gewesen sei. Ein wahrer Grillmeister, hieß es. Sonst hatte niemand einen Anlass gesehen, seiner zu gedenken.
Dennoch waren der Verstorbene und sein Bruder erfolgreiche Bauunternehmer und hatten, soweit Konráð das beurteilen konnte, einen ganz guten Ruf. Sie waren Leós Onkel väterlicherseits und immer im Doppelpack aufgetreten, bis einer von ihnen vor ein paar Tagen unter etwas peinlichen Umständen verstorben war. Er war Stammkunde einer Prostituierten gewesen, die einmal im Monat aus Budapest nach Reykjavík kam, um sich etwas dazuzuverdienen. Island habe sie gewählt, weil die Kunden, wie sie in gebrochenem Englisch erklärte, einigermaßen reinlich seien und eine Frau ihre Dienste hier legal anbieten dürfe. Das hätten die Rotstrümpfe und Feministinnen durchgesetzt, habe sie irgendwo gehört. Deshalb verbringe sie immer wieder ein, zwei Wochen am Stück in Island und fliege dann mit vollen Taschen zurück. Ihre Kunden finde sie übers Internet, die unterschiedlichsten Männer. Genauer wollte sie darauf nicht eingehen, denn viele ihrer Kunden hätten ihr eingeschärft, dass es in Island zwar legal sei, sich zu prostituieren, die Männer diese Dienste aber nicht kaufen dürften.
So hatte sie es den Polizisten erzählt, die auf ihren Notruf hin gekommen waren. Der Mann war sehr beleibt gewesen, kurzatmig und verschwitzt. Mitten im Akt habe er seltsam das Gesicht verzogen, sie hielt es für einen Orgasmus, aber vermutlich war es ein Schmerz in der Brust, denn danach hatte er das Bewusstsein verloren. Als sie den Ernst der Lage verstanden hatte, war sie von ihm heruntergeklettert, hatte mit einer wenig effektiven Herzmassage begonnen und Hilfe gerufen.
Das wusste Konráð von Marta, die selbst mit der Sexarbeiterin gesprochen hatte, während sechs starke Polizisten die Leiche mit viel Mühe aus der Airbnb-Wohnung der Ungarin getragen hatten. In der Familie überraschte die Geschichte kaum jemanden. Der Mann hatte nicht gerade einen gesunden Lebensstil gepflegt, sich den ganzen Tag mit Fastfood vollgestopft, geraucht wie ein Schlot und viel zu viel getrunken. Als es noch legale Stripclubs gegeben hatte, war er dort Stammgast gewesen, hatte die Betreiber gut gekannt und sich sogar finanziell beteiligt.
Es war nie gelungen, den Brüdern etwas anzuhängen, aber früher hatte man sie oft wegen Drogenschmuggel, Dokumentenfälschung, Währungsspekulationen und Geldwäsche im Visier gehabt. Viele Gerüchte gingen um, zum Beispiel, dass es den beiden nur aufgrund dieser illegalen Machenschaften gelungen wäre, diese saftigen Gewinne einzustreichen, während der Rest der Branche in Schulden versank. Sie waren nicht nur verwandtschaftlich mit Leó verbunden, sondern pflegten auch eine enge freundschaftliche Beziehung, und Konráð wusste, dass Leó ihnen innerhalb der Polizei ein wichtiger Verbündeter gewesen war.
Die Tür der Fossvogskirkja ging auf, und acht Sargträger traten langsam mit dem schneeweißen Sarg aus der Kirche heraus und mussten dafür all ihre Kräfte zusammennehmen. Es war stark bewölkt, und der Nieselregen fiel auf ihre Gesichter. Der Sarg wurde in einen Leichenwagen geschoben und zum Familiengrab auf dem nahe gelegenen Friedhof gebracht. Alles wirkte sehr würdevoll.
Hinter dem Sarg folgten die weiteren Gäste, unter ihnen auch Leó. Konráð hatte ihn nicht hineingehen sehen, aber dort war er mit seinen Verwandten, manchen schüttelte er die Hand, andere umarmte er. Konráð stieg aus dem Auto und folgte der Schar zum Friedhof, hielt sich aber im Hintergrund. Als der Sarg in die Erde gelassen wurde, stand Leó neben seinem verbliebenen Onkel. Er hieß Alfons und ähnelte seinem Bruder nicht im Geringsten, war ein kleiner schlanker Mann mit großer Hornbrille und kaum noch Haaren auf dem Kopf, tadellos gekleidet und würdevoll im Auftreten, er hätte sich nie tot bei einer Airbnb-Hure auffinden lassen. Vielleicht stimmte es sogar, was Leó einmal über ihn gesagt hatte, dass er der einzige Mann in der Familie sei, der tatsächlich was in der Birne habe.
Als alle Erde geworfen und ein Kreuz über dem Grab gemacht hatten, bewegte sich die Gruppe langsam zum Ausgang des Friedhofs und löste sich auf. Leó wollte offenbar noch mit seinem Onkel sprechen, doch der alte Mann wies ihn ab, sodass Leó ihn an der Hand packte und sie leise etwas besprachen. Die anderen bemerkten nichts. Auf dem Parkplatz wechselten die beiden ein paar letzte Worte, bevor der Onkel wegfuhr. Leó ging hinter die Kirche, wo er geparkt hatte. Als er Konráðs Schritte hörte, drehte er sich um.
»Was willst du hier?«, fragte er wütend.
»Mit dir reden«, sagte Konráð. »Du bist schwer zu erreichen.«
»Ich war nicht in Reykjavík«, sagte Leó. »Warum verfolgst du mich? Ich habe dir nichts zu sagen.«
»Wie hast du ihn dazu bekommen zu gestehen, Leó?«, fragte Konráð. »Was hast du ihm angedroht? Warum hat er behauptet, Skafti auf Örfirisey umgebracht zu haben?«
»Woher soll ich das wissen?«, sagte Leó. »Und was zur Hölle kümmert dich das?«
»Du hast einen unschuldigen Mann ins Gefängnis geschickt«, sagte Konráð. »Bei manchen Verhören war ich dabei, und ich hatte nie das Gefühl, dass wir den richtigen Mann hatten. Das habe ich dir auch gesagt. Aber du hast nichts getan. Ich habe dir vertraut. Dir alles geglaubt. Ich habe dir vertraut, und du hast gelogen.«
Leó hatte sich ins Auto gesetzt und wollte die Tür schließen, aber Konráð hielt sie fest.
»Wie hast du Natan dazu gebracht, einen Mord zu gestehen?«
»Ich habe gar nichts getan, du Idiot!«, sagte Leó. »Der Mann hat gestanden. Natan wurde ganz normal behandelt, das hast du mit deinen eigenen Augen gesehen. Er hat es zugegeben, und das Geständnis wurde für glaubhaft erachtet, damit war der Fall abgeschlossen. Lass die Tür los!«
»Bis Skaftis Leiche woanders aufgetaucht ist.«
»Ich habe keine Zeit für diesen Unsinn«, sagte Leó.
Er startete den Motor und trat aufs Gaspedal, sodass Konráð die Tür loslassen musste und beinahe das Gleichgewicht verlor. Leó schlug sie schnell zu und fuhr weg. Konráð blickte ihm hinterher, bevor er zu seinem Auto zurückging, wo er eine Weile auf dem Fahrersitz saß und nachdachte. Plötzlich klingelte das Handy in seiner Brusttasche, es war Marta.
»Ich bin bei dir zu Hause«, sagte sie.
»Was ist los?«
»Komm einfach!«
Marta saß in ihrem Auto vor Konráðs Haus in Árbær und zog an einer E-Zigarette. Warnungen über mögliche schädliche Folgen kümmerten sie nicht. Konráð hatte schon öfter Bemerkungen darüber gemacht, aber Marta antwortete immer nur, sie habe sich informiert und mache sich keine Sorgen deswegen. Vor den E-Zigaretten war sie Kettenraucherin gewesen, und sie behauptete felsenfest, dass sie das nur vorübergehend brauche, um völlig aufhören zu können. Konráð war da wenig hilfreich. Seiner Ansicht nach machte sie sich selbst etwas vor.
»Das steht natürlich alles schon im Internet«, seufzte sie, als sie sich begrüßten und er Marta hineinbat.
»Was?«, fragte Konráð.
»Wir sind nicht sicher, ob es tatsächlich ein Unfall war«, sagte Marta.
»Was?«
Sie sah ihn an, als müsste er wissen, wovon sie sprach.
»Skaftis Tod«, sagte sie und setzte sich in die Küche, wie sie es immer tat, wenn sie ihn besuchte. »Der Deutsche geht von Mord aus. Er denkt, dass Skafti umgebracht und dann zu dieser Baugrube auf Öskjuhlíð gebracht wurde, um es wie einen Unfall aussehen zu lassen.«
»Was …?«
Konráð sah Marta verwirrt an.
»Es ist auch nicht auszuschließen, dass Skafti noch am Leben war, als er in die Grube geworfen wurde«, sagte sie. »Er kann es nicht bestätigen, aber eben auch nicht ausschließen.«
»Der Deutsche?«
»Ein deutscher Rechtsmediziner, spezialisiert auf sterbliche Überreste, die in der freien Natur gefunden werden. Er wurde hergeholt, um uns zu helfen, und hat heute seinen abschließenden Bericht vorgelegt.«
»Und, was … was ist die Todesursache?«
»Ein schwerer Schlag auf den Kopf, der einen Schädelbruch zur Folge hatte. Der kann nicht von dem Aufprall in der Grube stammen, wie wir bisher angenommen haben. Anscheinend wurde der Bruch von etwas anderem verursacht, einem Hammer oder etwas Ähnlichem, und er meinte, es könnte sein, dass Skafti erst nach einer Auseinandersetzung bewegt worden war. Dass jemand von der Baugrube auf Öskjuhlíð wusste und ihn dorthin gebracht hat.«
Marta sah Konráðs schockiertes Gesicht. Er starrte seine Freundin an, als könnte er nur schwer glauben, was sie soeben gesagt hatte.
»Was habt ihr euch dabei gedacht, als ihr Natan festgenommen habt?«, fragte Marta, und ihr Tonfall klang vorwurfsvoll. »Warum war das so schlampig gemacht?«
»Warum?«, seufzte Konráð. »Wenn es darauf nur eine einfache Antwort gäbe.«
Er ließ sich auf den Stuhl neben Marta fallen und dachte an die Siebzigerjahre zurück, als Skafti eines Abends aus dem Haus gegangen und nicht mehr zurückgekommen war. Der Türsteher eines Tanzlokals meinte sich daran zu erinnern, am Abend davor einen Streit zwischen ihm und einem der Stammgäste, einem Jungen namens Natan, beobachtet zu haben. Natan wurde verhört und gestand, dass es zwischen ihm und Skafti zu einer Schlägerei gekommen war. Angeblich wollte Skafti ihn anmachen, darüber hätte er sich aufgeregt, mehr nicht. Später änderte er diese Aussage.
»Natan hat den Mord an dem Mann gestanden«, sagte Konráð. »Wir hatten es schwarz auf weiß.«
»Ja, nach langer und schwieriger Untersuchungshaft in einer Einzelzelle«, sagte Marta. »Er hat sich über die schrecklichen Bedingungen im Síðumúli-Gefängnis beschwert. Die schlechte Behandlung. Am Ende hat er gestanden, Skafti nach Örfirisey gefolgt zu sein, ihn umgebracht und die Leiche ins Meer geworfen zu haben. Was so nie passiert ist, wie wir mittlerweile wissen. Er hat die Untersuchungshaft nicht mehr ausgehalten. Das oberste Gericht hat die Höchststrafe verhängt. Seine letzten Jahre hat er auf der Straße verbracht. Vergangenen Winter ist er erfroren. War das gerechtfertigt? Willst du das damit sagen?«
»Ich? Das musst du Leó fragen. Er war für den Fall zuständig.«
Konráð schüttelte den Kopf. Die Arbeitsweisen der Polizei hatten sich in den letzten Jahren verändert. Ein Geständnis wurde nur noch akzeptiert, wenn es ausreichend mit Beweisen untermauert werden konnte.
»Leó behauptet, er hätte ihn zu nichts gedrängt«, sagte Marta.
»Na dann.«
»Er wird nie zugeben, dass er das Geständnis erzwungen hat.«
»Ist also auszuschließen, dass Natan etwas damit zu tun hatte?«, fragte Konráð.
»Höchstwahrscheinlich, ja«, sagte Marta. »Es kann zwar sein, dass er Skafti umgebracht und uns vorgelogen hat, die Leiche ins Meer geworfen zu haben, weil sie nicht gefunden werden sollte, aber …«
»Das ist doch ziemlich unwahrscheinlich? Er hat einen Mord gestanden. Warum hätte er uns nicht zur Leiche bringen sollen, wenn er wusste, wo sie war?«
Marta zuckte mit den Schultern.
»Er hat das Geständnis zurückgezogen, behauptet, er hätte es nicht getan …«
»Ja, stimmt.«
»Jetzt müssen wir natürlich wieder neu anfangen, die Suche nach Skaftis Mörder beginnt von vorne.«
»Hast du gesagt, dass er noch gelebt hat, als er in die Grube geworfen wurde?«
»Der Deutsche hält das für möglich.«
»Mein Gott … der arme Junge …«
»Ja, das ist kein schöner Fall«, seufzte Marta müde. »Und dann ist da jetzt auch noch dieser Tourist bei Hafravatn.«
»Was ist mit ihm?«
»Erstens war er schon mal kein Ausländer«, sagte Marta nach einer Weile. »Er war Isländer, hatte lange in Norwegen gelebt und deshalb einen norwegischen Pass.«
»Und?«
»Es sollte so aussehen, als wäre er da draußen in der Natur verunglückt. Du weißt schon, wie das bei Touristen manchmal vorkommt.«
»Aber?«
»Er starb an Kopfverletzungen. Und nicht bei Hafravatn, sondern woanders. Offenbar wurde er erst danach dorthin gebracht. Auf den ersten Blick sah es so aus, als wäre er am Ufer unterwegs gewesen und verunglückt. Sein Kopf lag neben einem messerscharfen Stein, und darauf waren Blutflecke, aber sie halten es für eine schlechte Inszenierung.«
Marta stieß eine dichte Dampfwolke aus.
»Es gibt da eine Verbindung zu einem alten Fall, an den du dich bestimmt erinnerst«, sagte sie.
»Welcher alte Fall?«
»Er mag als Urlauber unterwegs gewesen sein«, sagte Marta, die wie immer ihre Schweigepflichten vergaß, wenn sie mit Konráð an einem Tisch saß, »aber ursprünglich ist er in Island geboren und aufgewachsen und hat in Reykjavík gelebt. Bevor er ins Ausland gezogen ist, war er an einer Wäscherei mit chemischer Reinigung beteiligt. Hast du den Fall nicht seinerzeit untersucht? Du müsstest ihn irgendwann getroffen und mit ihm gesprochen haben.«
»Wovon redest du?«
»Es erinnert mich ein wenig an den Skafti-Fall. Die Leiche wurde bewegt. In der freien Natur gefunden. Der Deutsche hilft uns auch bei diesem Fall.«
»Bei welchem Fall, Marta? Schweif nicht ab.«
»Der Mann aus der Wäscherei. Der verschwunden ist. 1983.«
»Der Mann aus der Wäscherei? Dreiundachtzig?«
Konráð starrte Marta an.
»Meinst du … redest du von Pétur? Pétur Jónsson?«
»Ja.«
»Die Wäscherei betreibt jetzt der Sohn. Ich bringe manchmal Sachen zu ihm …«
Marta nickte.
»Warte, was ist mit Pétur?«, fragte Konráð.
»Dieser ›Tourist‹ bei Hafravatn kannte ihn«, sagte Marta und machte Anführungszeichen mit den Fingern, wie sie es öfter tat. »Vom Handball. Kurz nach Péturs Verschwinden ist er nach Norwegen gezogen.«
»Und wurde jetzt tot bei Hafravatn aufgefunden … der Miteigentümer einer Wäscherei. Hast du … war das etwa Franklín?«
»Genau. Franklín. Wir haben mit seiner Ex-Frau gesprochen. Vor einer Woche ist er als ganz normaler Urlauber nach Island gekommen«, sagte Marta und sog den Nikotindampf ein. »Und dann wird er tot bei Hafravatn aufgefunden. Was sagt uns das?«
Marta stieß den Dampf aus. Sie unterhielt sich gerne mit Konráð über Polizeiangelegenheiten, obwohl sie wusste, dass sie das eigentlich nicht sollte.
»Ein Rabe hat an ihm geknabbert«, sagte sie.
»An Franklín?«
»So wurde er gefunden. Ein Wanderer hat einen Rabenschwarm am Ufer bemerkt, der sich bereits über die Leiche hergemacht hatte.«
»Dann muss es kurz nach seiner Ankunft passiert sein.«
»Kann sein. Aber Raben finden so was schnell.«
»Das war also Péturs Freund.«
»Ja.«
»Was zur Hölle hat das zu bedeuten?«, seufzte Konráð und dachte an den Mann aus der Wäscherei, der eines Tages verschwunden war, wie vom Erdboden verschluckt.
»Sie hatten ihm schon die Augen ausgepickt«, sagte Marta. »Die Raben.«
Er erinnerte sich noch gut an den Moment, als er davon erfuhr. In seinem Büro saß ein anstrengender Mann, der ins Polizeipräsidium an der Hverfisgata gekommen war, um einen Autodiebstahl anzuzeigen. Der Mann meinte, er habe das Auto 1979, also vor vier Jahren gebraucht gekauft, eine ziemliche Schrottkarre, aber das meiste habe er selbst reparieren können und es bringe ihn von A nach B. Er hänge sehr daran, aber in der Nacht auf gestern hätte jemand den russischen Lada vom Parkplatz vor seinem Wohnblock gestohlen, fluchte der Mann.
Konráð notierte die Beschreibung des Autos, Viertürer, hellblau, das Kennzeichen, den Zustand und den Kilometerstand. Er hatte regelmäßig mit Autodiebstählen zu tun, und meist tauchten die Fahrzeuge wieder auf. Manche mit leerem Tank und völlig kaputt gefahren, andere in Unfälle verwickelt als Altmetall.
»War der Wagen nicht abgeschlossen?«, fragte Konráð eher gleichgültig und warf einen Blick aus seinem Bürofenster. Der Winter hatte Einzug gehalten, und draußen fiel gerade der erste Schnee. Autodiebstähle lösten sich normalerweise von selbst, auch wenn es Ausnahmen gab.
»Ich schließe immer ab«, sagte der Mann, der in einer dicken Winterjacke in Konráðs gut beheiztem Büro saß und so tat, als wäre die Frage völlig sinnlos. Er hatte eine kurze Arbeitspause genutzt, um zum Präsidium zu kommen, arbeitete für die Müllabfuhr und roch dementsprechend. »Das Auto war definitiv abgeschlossen«, behauptete er.
»Ganz sicher?«
»Ja, ganz sicher.«
»Ist dir in der Umgebung des Hauses etwas Verdächtiges aufgefallen, irgendwelche Personen, die sich in der Nähe des Autos aufgehalten haben? Hat dich in letzter Zeit jemand nach dem Wagen gefragt?«
»Nein, auf verdächtige Personen habe ich nicht geachtet, und nachgefragt hat niemand. Ich hatte den Wagen gerade durch die Hauptuntersuchung gebracht. Das war nicht immer leicht, aber neulich habe ich einiges reparieren lassen, und er war eigentlich in ganz gutem Zustand. Mit den Nachbarn habe ich schon gesprochen, von denen hat niemand etwas gesehen. Ich habe vorgestern Abend dort geparkt, und als ich gestern Morgen zur Arbeit wollte, war er weg.«
Der Mann hatte ein Bild von dem Fahrzeug mitgebracht, vielleicht könnte es der Polizei helfen. Es schien vor seinem Wohnblock aufgenommen zu sein. Er stand neben dem Auto, mit einer Hand auf dem vorderen Kotflügel, und lächelte in der Sonne.
»Das hat meine Frau gemacht«, sagte er. »Letzten Sommer erst.«
»Sag mal, wie fahren sich diese Autos eigentlich?«, fragte Konráð, als er das Bild entgegennahm. Obwohl sie in Island sehr beliebt waren, hatte er nie einen Lada gehabt, und eigentlich interessierten sie ihn auch nicht mehr als irgendwelche anderen russischen Autos.
»Sie sind etwas schwer zu lenken und ziemliche Benzinschleudern, aber ansonsten gute Fahrzeuge. Und sie sind billig. Das ist der springende Punkt. Viel billiger als die britischen und erst recht die amerikanischen Autos.«
»Hast du ein Bild, auf dem du nicht drauf bist?«, fragte Konráð. »Falls wir es benutzen, meine ich. Oder ist es dir egal, dass du darauf zu sehen bist.«
Er hatte den Mann nicht beleidigen wollen, aber die Frage schien ihm sauer aufzustoßen.
»Ich werde nachschauen, ob ich zu Hause noch etwas finde«, sagte er und nahm das Bild wieder an sich.
»Dann war’s das so weit«, sagte Konráð und blickte auf die Uhr. »Ich werde die Informationen weiterleiten, hoffentlich taucht der Wagen bald wieder auf.«
Der Besitzer des Lada war gerade erst fluchend verschwunden, als ein Junge um die achtzehn zu Konráð geschickt wurde. Er wollte die Polizei informieren, dass sein Vater nicht nach Hause gekommen sei, er habe keine Ahnung, wo er stecke.
Konráð verfasste einen Bericht. Der Junge hieß Ívan und war klug und etwas unbeherrscht, wirkte aber sehr besorgt. Sein Gesicht war abgemagert und erinnerte Konráð an den jungen Frank Sinatra. Er erzählte, seine Familie habe eine Weile in Russland gelebt. Sein Vater Pétur habe hier in Island Handball gespielt und in Moskau Sportwissenschaften studiert, wo er ein Mädchen namens Sólveig kennenlernte, das dort russische Literaturwissenschaften studierte. Kurz nach Ívans Geburt heirateten sie in Russland, doch etwa ein Jahr später zogen sie zurück nach Reykjavík. Kurz darauf erkrankte Sólveig plötzlich, ein Lymphom, wie sich herausstellte. Innerhalb von einem Jahr nach der Diagnose war sie tot.