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Prof. Dr. Michael Tsokos

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Beschreibung

​Band 5 der True Crime-Bestseller-Reihe: Der abschließende Höhepunkt von Michael Tsokos' True-Crime-Reihe um Rechtsmediziner Dr. Fred Abel, in dem ein religiöser Attentäter seine Opfer in Aufzügen attackiert Berlin wird von einer Reihe islamistischer Anschläge erschüttert. Ein Attentäter attackiert Menschen in Aufzügen – wiederholt, mit eskalierender Gewalt. Dabei agiert der Unbekannte so geschickt, dass keine Überwachungskamera ihn zeigt, keine Zeugen ihn beschreiben können. Rechtsmediziner Fred Abel, stellvertretender Leiter der rechtsmedizinischen BKA-Einheit "Extremdelikte", obduziert mit seinem Team unter Hochdruck die Opfer der Anschläge. Können die Verletzungen der Getöteten Rückschlüsse auf den Täter geben? Unterdessen schwebt die frühere Lebensgefährtin seines besten Freundes Lars Moewig in akuter Lebensgefahr. Marie wurde Zeugin eines eiskalten Mordes, und trotz Polizeischutz in einem Safe House entgeht sie nur um Haaresbreite einem Mordanschlag. Abel ist sich sicher, dass sich ein Maulwurf in den eigenen Reihen befindet, der ihm und Moewig immer einen Schritt voraus ist. In seinem letzten Fall muss Rechtsmediziner Fred Abel nicht nur sein gesamtes rechtsmedizinisches Können, sondern auch sein langjähriges kriminalistisches Wissen aufbieten, um die Täter zu finden und das Morden zu stoppen. Die spannenden True-Crime-Thriller um Dr. Fred Abel sind in folgender Reihenfolge erschienen: - Zerschunden (Michael Tsokos & Andreas Gößling) - Zersetzt (Michael Tsokos & Andreas Gößling) - Zerbrochen (Michael Tsokos & Andreas Gößling) - Zerrissen (Michael Tsokos) - Zerteilt (Michael Tsokos)

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Michael Tsokos

Zerteilt

True-Crime-Thriller

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Berlin wird von einer Reihe islamistischer Anschläge erschüttert. Ein Attentäter attackiert Menschen in Aufzügen – wiederholt, mit eskalierender Gewalt. Dabei agiert der Unbekannte so geschickt, dass keine Überwachungskamera ihn zeigt, niemand ihn beschreiben kann.

Rechtsmediziner Fred Abel obduziert mit seinem Team unter Hochdruck die Opfer der Anschläge. Können ihre Verletzungen Rückschlüsse auf den Täter geben?

Unterdessen schwebt die frühere Lebensgefährtin seines besten Freundes Lars Moewig in akuter Lebensgefahr. Marie wird Zeugin eines eiskalten Mordes, und trotz Polizeischutz entgeht sie nur um Haaresbreite einem Mordanschlag. Abel ist sich sicher, dass sich ein Maulwurf in den eigenen Reihen befindet, der immer einen Schritt voraus ist ...

Inhaltsübersicht

Vorwort

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

70. Kapitel

71. Kapitel

72. Kapitel

73. Kapitel

74. Kapitel

75. Kapitel

76. Kapitel

77. Kapitel

78. Kapitel

79. Kapitel

80. Kapitel

81. Kapitel

82. Kapitel

83. Kapitel

84. Kapitel

85. Kapitel

86. Kapitel

87. Kapitel

88. Kapitel

89. Kapitel

90. Kapitel

Nachwort

Danksagung

Leseprobe »Mit kalter Präzision«

Die Handlung in »Zerteilt« beginnt elf Wochen nach den Ereignissen in »Zerrissen« und findet zeitgleich zu den Geschehnissen in »Kaltes Land« statt.

Prolog

Die mannshohen Kirschlorbeerbüsche, die das gesamte Grundstück zur Straßenfront hin vor neugierigen Blicken abschirmten, warfen in der Abenddämmerung lange Schatten auf den akkurat gestutzten dunkelgrünen Rasen. Aus dem hinteren Teil des Gartens war das leise Surren des automatischen Mähroboters zu hören, der dort seine Bahnen zog.

Sie hatte bewusst auf der Straße vor dem Anwesen geparkt, nur wenige Meter entfernt von dem riesigen, gusseisernen Eingangstor. Das Tor stand seltsamerweise offen.

Bisher hatte er immer sehr darauf geachtet, dass während seiner Anwesenheit genauso wie während seiner Abwesenheit das Tor verschlossen blieb. Am Anfang ihrer Beziehung hatte sie ihn oft damit aufgezogen, wie penibel er darauf achtete, dass alle Türen und Tore verriegelt waren. Mittlerweile hatte sie sich an seine Vorsicht gewöhnt und mit Erstaunen das Schlüsselset von ihm entgegengenommen, das ihr nicht nur Zugang zu seinem Landhaus hier draußen, sondern auch zu seiner Villa im Grunewald gewährte. »Ein Zeichen meiner Liebe«, hatte er ihr damals ins Ohr gehaucht.

Obwohl sie sich, um möglichst wenig Geräusche zu erzeugen, langsam und bedächtig auf der etwa dreißig Meter langen, ebenfalls mit Kirschlorbeerbüschen gesäumten Kiesauffahrt dem Haupthaus näherte, knirschten die trockenen Steinchen bei jedem ihrer Schritte in der Abendstille. Leise verfluchte sie ihre schwarzen Stiefel mit den glatten Ledersohlen.

Als sie hinter einer kleinen Biegung fast das mit zwei imposanten Löwen aus grauem Steinguss gesäumte Eingangsportal erreicht hatte, schallte ihr aufgeregtes, stakkatoartiges Stimmengewirr aus dem Haupthaus entgegen. Sie hielt abrupt inne. Im nächsten Moment war alles wieder still. Trotz des lauen Spätherbstabends fröstelte sie. Der Tonfall, der in dem Stimmengewirr mitgeschwungen hatte – sie vermochte nicht zu sagen, ob es sich um zwei oder mehr Personen handelte, die dort anscheinend verbal aneinandergeraten waren –, machte ihr Angst. Es hatte sich nach Empörung und Ärger, vielleicht aber auch nach Wut angehört, selbst wenn sie kein einziges Wort, das da lautstark gesagt oder wahrscheinlich eher geschrien worden war, verstanden hatte.

Sie sah sich um. Kein fremder Wagen parkte in der Einfahrt. Lediglich sein schwarzer Jaguar stand vor der Doppelgarage, wie immer. Die Garage nutzte er nie für seine Fahrzeuge, sie war Abstellraum für allerlei Utensilien und Zubehör für seine diversen Wassersportaktivitäten.

Ein ungutes Gefühl beschlich sie. Nur selten empfing Ludger hier Gäste. Das Haus war sein Refugium, sein Rückzugsort vom hektischen Stadtleben.

Vielleicht mache ich mich doch besser bemerkbar?, fragte sie sich.

Aber gerade, als sie sich durch lautes Rufen seines Namens bemerkbar machen wollte, hielt sie erneut abrupt inne.

Die massive Ebenholzhaustür mit dem großen, messingfarbenen Türklopfer in Fischform stand spaltbreit offen.

Vorsichtig, Schritt für Schritt, noch behutsamer als schon zuvor, trat sie auf die Stufen des Eingangsportals zu. Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht!

Sie spürte, wie ihr Herz plötzlich schneller schlug, ihre Handflächen feucht wurden. Beinahe wäre ihr der Schlüsselbund entglitten. Hilfe suchend drehte sie sich um, doch das Grundstück mit den hohen Büschen schirmte sie von der Außenwelt ab. Schließlich nahm sie all ihren Mut zusammen und ging die vier breiten Stufen hoch. Sie blieb kurz stehen, ehe sie die schwere Eingangstür leise weiter öffnete.

Für einen Moment verharrte sie an der Schwelle.

Es herrschte völlige Stille im Inneren des großen Hauses. Sie trat in die mit Marmor geflieste und mit dunklem Edelholz getäfelte Diele. Die Kühle des Hauses, die sie im Sommer immer so geschätzt hatte, ließ sie jetzt noch mehr frösteln. Sie spürte, wie eine merkwürdige Nervosität von ihr Besitz ergriff. Während sie noch überlegte, ob sie sich jetzt bemerkbar machen oder leise weiter in das Innere des Hauses vordringen sollte, um dort nach dem Rechten zu sehen, krachte ein Schuss.

Sie erstarrte. Im letzten Moment konnte sie den Schrei unterdrücken, der in ihr hochstieg. Dann näherten sich Schritte. Marie drehte sich panisch in der weitläufigen Diele nach einem Versteck um.

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1

Berlin-Lankwitz,

Ufer des Teltowkanals,

21. Oktober, 08:53 Uhr

 

Fred Abel war an diesem Morgen der Frühbesprechung der rechtsmedizinischen Spezialeinheit »Extremdelikte« des BKA, die ihren Sitz in den Treptowers hatte, ferngeblieben. Das Bürogebäude war mit seinen einhundertfünfundzwanzig Metern das höchste Gebäude der Hauptstadt im Berliner Ortsteil Alt-Treptow.

Gemeinsam mit Beamten von Feuerwehr, Schutzpolizei und Berliner Landeskriminalamt sollte Fred Abel die Bergung einer Wasserleiche an ihrem Fundort am Ufer des Berliner Teltowkanals rekonstruieren. Allerdings handelte es sich in diesem Fall nicht um eine gewöhnliche Wasserleiche, sonst wäre er nicht in den Zuständigkeitsbereich der rechtsmedizinischen Spezialisten für »Extremdelikte« gefallen.

Der aus Sicht von Abel notwendigen Rekonstruktion war vorausgegangen, dass eine Woche zuvor der leblose Körper, im Teltowkanal in Berlin-Lankwitz treibend, von einer Spaziergängerin entdeckt und kurze Zeit später von den alarmierten Rettungskräften aus dem Wasser geborgen worden war. Eine Notärztin hatte die Tote, die später als eine zweiundsechzigjährige Frührentnerin aus Berlin-Lankwitz identifiziert werden konnte, noch eine knappe Stunde lang am Uferstreifen vergeblich zu reanimieren versucht. Die Handtasche der Verstorbenen war wenige Meter entfernt von ihrem Fundort in der Uferböschung entdeckt worden. Weil zunächst alles nach einem Suizid ausgesehen hatte, da die Frau nach Angaben ihres Lebensgefährten depressiv gewesen sei, war damals kein Rechtsmediziner angefordert worden. Zwei Tage später hatte sich aber bei der Obduktion der Toten im Berliner Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin der Verdacht auf eine todesursächliche äußere Gewalteinwirkung beziehungsweise ein Tötungsdelikt ergeben. Bei der Präparation des Kehlkopfskeletts und des Zungenbeins der Toten waren mehrere Brüche dieser Strukturen und zusätzlich dickschichtige Einblutungen in die Halsweichteile festgestellt worden. Und so war Doktor Fred Abel von der rechtsmedizinischen Spezialeinheit »Extremdelikte« des BKA ins Spiel gekommen.

Natürlich bestand auch die Möglichkeit, dass es sich bei den Halsverletzungen der Frührentnerin um ein Artefakt handelte, weil sie nichts mit dem Ableben der Frau zu tun hatten, da sie zum Beispiel entweder auf einen agonalen Sturz auf einen Gegenstand am oder im Wasser des Teltowkanals oder auf die Folge einer forcierten, um nicht zu sagen, unsachgemäßen Bergung ihres Leichnams zurückzuführen waren. Abel hatte in seinen fast fünfundzwanzig Jahren als Rechtsmediziner schon etliche Fälle gesehen, bei denen zunächst eine Gewalteinwirkung durch fremde Hand vermutet wurde, die sich dann als Bergungsverletzung herausstellte. Deshalb mussten auch in diesem Fall zunächst die genauen Abläufe der Leichenbergung exakt rekonstruiert werden. Und das konnte nur vor Ort erfolgen, am Schauplatz des Geschehens und mit denselben Personen, die damals die Frau aus dem Wasser geborgen hatten.

Die Morgenluft war noch kühl, und Abel fröstelte leicht, als er zwei Feuerwehrmännern zusah, wie diese einen bekleideten Dummy, eine lebensgroße Puppe aus Kunststoff, in Richtung des Kanalufers trugen. Nachdem die beiden den Dummy auf dem mit Gras und Unkraut überwucherten Uferstreifen des Teltowkanals abgelegt hatten, gesellten sich weitere vier Kollegen der Berufsfeuerwehr zu ihnen sowie zwei uniformierte Schutzpolizistinnen, die wie die Feuerwehrleute eine Woche zuvor bei der Leichenbergung aus dem Kanal anwesend gewesen waren. Auch zwei Beamte der sechsten Mordkommission des Berliner Landeskriminalamts waren vor Ort.

»Also, ich fasse die Obduktionsergebnisse der Kollegen vom Landesinstitut noch einmal zusammen, damit wir alle auf demselben Stand sind«, wandte sich Abel mit lauter Stimme an die Umstehenden. »Zeichen eines längeren Aufenthaltes der Frau vor ihrer Auffindung im Wasser, wie zum Beispiel Waschhautbildung, fanden sich an der Toten nicht. Ergo kann sie erst kurze Zeit vor ihrer Entdeckung in den Kanal gelangt sein. Dass ihre Handtasche dort drüben …« – Abel zeigte auf eine etwa sechs Meter entfernte Uferböschung, hinter der eine vierspurige Schnellstraße in Richtung Berlin-Tempelhof verlief und von der immer wieder die Geräusche vorbeifahrender Autos herüberdrangen – »… gefunden wurde, spricht ebenfalls dafür, dass sie nur kurze Zeit vor der Entdeckung durch eine Spaziergängerin ins Wasser gelangt sein muss. Sonst wäre sie zweifellos abgetrieben, wenn ich mir die Strömung hier so ansehe. Und das bestätigt zudem die Arbeitshypothese der zuständigen Mordkommission, dass sie hier ins Wasser gelangt ist.«

Abel machte eine kurze Pause und sah zu den beiden Beamten der Mordkommission, die daraufhin zustimmend nickten.

»Die Obduktion ergab als Todesursache ein Ertrinken. Daran habe ich aufgrund der Befunde, die die obduzierenden Kollegen vom Landesinstitut erhoben haben, keine Zweifel: punktförmige Unterblutungen der Lungenüberzüge, schaumiger Inhalt in den Bronchien und eine trockene Überblähung der Lungen. Allerdings steht die Frage im Raum, ob die Frau freiwillig, in suizidaler Absicht, oder im Rahmen eines wie auch immer gearteten Unfalls hier in den Teltowkanal gelangt ist, oder ob sie Opfer eines körperlichen Angriffes mit Gewalteinwirkung gegen ihren Hals wurde. Die Kollegen fanden nämlich Verletzungen ihres Kehlkopfskeletts und des Zungenbeins.«

Einige der Umstehenden nickten stumm, andere murmelten etwas zu ihren jeweiligen Nachbarn.

Abel registrierte neben den neugierigen Blicken eine gespannte Stimmung, vermutlich in Bezug darauf, welche weiteren Ausführungen er wohl noch machen würde. Allerdings war er mit seiner Sachverhaltsschilderung schon fast am Ende und schob nur noch kurz hinterher: »Ach ja, wichtig für die Gesamtbeurteilung ist die Tatsache, dass die Tote zum Zeitpunkt der Obduktion und damit auch zum Zeitpunkt ihres Todes Spuren eines Beruhigungsmittels im Blut hatte. Allerdings ist eine Aufhebung ihrer Handlungsfähigkeit aber aufgrund der geringen Konzentration nach Aussage unseres Toxikologen Doktor Fuchs nicht anzunehmen. Und deshalb sind wir heute hier, um zu klären, inwiefern die Halsverletzungen vielleicht ein Artefakt sind, oder ob es sich möglicherweise um eine Straftat handelt.«

Abel trat einen Schritt auf einen der Feuerwehrleute zu, einen drahtigen Mann mit grau melierter Kurzhaarfrisur, den er auf etwa Mitte vierzig schätzte und der sich ihm vorhin als Dienstgradältester und Verantwortlicher der Berliner Feuerwehr an diesem Tag vorgestellt hatte.

»Wenn Sie so weit sind …«, sagte Abel mit einer kurzen Kopfbewegung in Richtung des Dummys.

Der Angesprochene, in der blauen Schutzkleidung – samt gelblichen Leuchtstreifen um die Ärmelmanschetten und an Vorder- und Rückseite der festen Jacke –, rief daraufhin seine Kollegen auf: »Achim, Yannick, Judith, Nick, stellt euch auf! Zeigt dem Doktor, was genau ihr mit der Frau gemacht habt. Wie ihr sie rausgezogen habt und wie ihr dann hier an Land mit ihr vorgegangen seid.«

Erst jetzt erkannte Abel, dass sich eine Frau unter den Feuerwehrleuten befand, die ihm bisher durch die unvorteilhaft geschnittene Uniform und den riesigen zitronengelben Helm auf dem Kopf nicht aufgefallen war.

Die vier Angesprochenen traten an den Dummy heran, hoben ihn auf und trugen ihn an die Wasserkante.

»Yannick hat sie allein rausgezogen, er war als Erster am Ufer und an ihr dran«, sagte einer von ihnen.

»Okay, Yannick. Dann zeig mal, was du gemacht hast«, forderte sein Chef ihn auf.

Die als Judith angesprochene Frau und ein beleibter Kollege drehten die Puppe auf den Bauch und schoben sie mit den Füßen voran in den Teltowkanal, wobei sie darauf achteten, dass der Dummy nicht von der Strömung abgetrieben wurde. Ein weiterer der Männer, ein massiger Kerl undefinierbaren Alters, bei dem es sich um den angesprochenen Yannick handeln musste, beugte sich hinab, griff in den geschlossenen Kragen der Jacke, mit der die Puppe bekleidet war, und zerrte sie durch ruckartiges Reißen am Kragen die Böschung hinauf. Dann richtete er sich auf und sagte: »Genau so. Genau so habe ich sie da rausgeholt.«

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2

Berlin-Kreuzberg,

Wohnung von Marie Lindweg,

21. Oktober, 08:54 Uhr

 

Als Marie gegen 02:30 Uhr nachts vom Polizeipräsidium in Potsdam nach einer gefühlt endlosen Befragung durch die dortigen Beamten in ihre Wohnung zurückgekehrt war, war sie zitternd auf der Couch zusammengebrochen. Das Bild von Ludger hatte sich vor ihrem inneren Auge förmlich eingebrannt: sein Kopf in der immer größer werdenden dunkelroten Blutlache. Sie hatte den Rest der Nacht schluchzend und frierend in Schuhen und Jacke, nur in eine dünne Decke eingewickelt, in ihrem Wohnzimmer verbracht. Und immer, wenn ihre Augen vor Erschöpfung zugefallen waren, hatte sie Ludgers Kopf in einer Blutlache gesehen.

Vorsichtig streckte sie jetzt ihre tauben Glieder und streifte die Straßenschuhe von den Füßen, die mit einem dumpfen Geräusch auf den Holzboden fielen. Sie wusste nicht, ob sie geschlafen hatte, aber wenn, dann konnte es nicht lange gewesen sein. Ihr Kopf dröhnte, und in ihrem Mund hatte sich ein schaler Geschmack breitgemacht. Langsam sickerte die ganze Tragweite der Situation in ihr Bewusstsein. Ludger war eiskalt erschossen – ermordet – worden. Übelkeit stieg in ihr auf.

Was gestern Abend nach dem tödlichen Schuss genau passiert war, lag in ihrer Erinnerung wie in einem Nebel.

Ihr Anruf beim Polizeinotruf. Die Stimme, die ihr gesagt hatte, sie solle im Haus warten und ruhig bleiben und sich erst lautstark und vernehmlich zu erkennen geben, wenn Polizeibeamte vor Ort eingetroffen waren. Die Ewigkeit, die es gedauert hatte, bis weit weg mehrere Martinshörner ertönten, die zunehmend lauter geworden waren. Die Fahrzeuge, die sich unter Knirschen auf der kiesbedeckten Einfahrt dem Haupthaus näherten. Und schließlich die Beamten, die sie aufgelöst neben Ludger gefunden und nur mit Mühe in den Nachbarraum gebracht hatten.

Das ist nur ein Traum, Marie! Das ist alles nicht wirklich passiert!, hatte sie sich immer wieder und wieder eingeredet. Aber es war kein Traum gewesen. Es war die Realität. Eine brutale und erbarmungslose Realität. Eine Realität, fast zu monströs, um wahr zu sein, hatte dennoch von einer Minute auf die andere Einzug in ihr Leben gehalten.

Mal wieder. Als ob der Tod des eigenen Kindes in einem Leben nicht genug wäre …

Ihre Zähne klapperten, und ihre Fingerspitzen waren vor Kälte weiß und ohne jedes Gefühl, als sie sich jetzt völlig benommen erhob. Die Sofadecke über den Schultern, schlurfte Marie zum Heizkörper unter dem Wohnzimmerfenster und drehte ihn mit ihren tauben Fingern – ein Phänomen, das sich bei ihr mit zunehmendem Alter jedes Jahr stärker bei Kälte bemerkbar machte – unbeholfen auf die höchste Stufe. Dann ging sie in die Küche und setzte Wasser auf.

Kurze Zeit später – am Küchentisch, eine Tasse heißen, ungesüßten grünen Tee vor sich, an dem sie ihre Hände wärmte – musste sie sich eingestehen, dass ihr die Situation über den Kopf wuchs. Ludgers Tod würde sie ohne Hilfe nicht verkraften.

Der digitale Radiowecker auf dem alten Küchenunterschrank zeigte 09:05 Uhr. Sie sollte sich in knapp einer Stunde, um zehn Uhr, in der Keithstraße beim LKA zu ihrer erneuten Vernehmung als Zeugin einfinden. In der Nacht war zwischen den Brandenburger und Berliner Polizeibehörden vereinbart worden, dass die weiteren Ermittlungen aufgrund von Ludgers Hauptwohnsitz in Berlin über die hiesige Mordkommission laufen würden.

Der Gedanke an eine weitere Befragung ließ Panik in ihr aufsteigen. Tränen traten ihr in die Augen, leise schluchzend trank sie ihren Tee. Sie fühlte sich fürchterlich allein. Erneut hatte das Leben ihr eine geliebte Person entrissen. Sie spürte, wie sich dieser dunkle Schmerz ihrer bemächtigte, der nach Lillys Tod ihr ständiger Begleiter geworden war. Sie hatte keine Kraft mehr, zu kämpfen. Doch wer würde ihr nach dem gestrigen Vorfall schon helfen?

Marie schaute wehmütig auf das Foto, das an der gegenüberliegenden Küchenwand hing und ihre verstorbene Tochter Lilly als stolzes Schulkind zeigte. Und plötzlich wusste sie, wen sie um Hilfe bitten würde.

Ich rufe ihn jetzt an. Er ist der Einzige, dem ich vertrauen kann. Er wird mir helfen. Er wird wissen, was zu tun ist …

Sie ging zurück ins Wohnzimmer, dort lag ihr Handy auf dem gläsernen Couchtisch. Sie öffnete ihre Kontakte und rief die Nummer des Mannes auf, zu dem sie seit drei Jahren, seit dem Tod ihrer gemeinsamen Tochter, jeglichen Kontakt nicht nur gemieden, sondern strikt abgelehnt hatte.

Dann drückte sie auf die Anruftaste.

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3

Berlin,

Treptowers, BKA-Einheit »Extremdelikte«, Büro Prof. Paul Herzfeld,

21. Oktober, 11:49 Uhr

 

Die Mühe war leider umsonst, deinen Ausflug an den Teltowkanal heute Morgen hättest du dir sparen können. Die Damen und Herren der sechsten Mordkommission haben mich gerade informiert: Eine Fremdeinwirkung bei deiner Leiche aus Lankwitz kann definitiv ausgeschlossen werden. Die Ermittlungen sind eingestellt worden«, sagte Professor Paul Herzfeld, Leiter der rechtsmedizinischen Spezialabteilung »Extremdelikte«, zu seinem Stellvertreter.

Abel warf seinem Freund und Mentor einen fragenden Blick zu. Er war vor wenigen Minuten in den Treptowers angekommen und hatte begonnen, Herzfeld von der Rekonstruktion der Bergung der Wasserleiche unter Beteiligung der am Einsatz beteiligten Rettungskräfte zu berichten. Doch er war nur bis zu der Äußerung gekommen, dass ihm das ruckartige Reißen am Kragen der Jacke dazu geeignet erschien, die Verletzungen am Kehlkopf und dem umgebenden Weichgewebe im Sinne von Strangulationsbefunden zu erklären.

»Ich verstehe nicht ganz, was macht dich da so sicher, Paul? Ich meine …«

»Es gibt neue Erkenntnisse«, unterbrach Herzfeld ihn.

In diesem Moment vibrierte Abels Handy in der Innentasche seiner Lederjacke, aber er ignorierte den Anruf, denn er wollte erst einmal hören, was Herzfeld ihm zu sagen hatte.

»Vor nicht einmal zehn Minuten kam eine Mail der Sechsten, in der stand, dass bisher unbekanntes Videomaterial von einer Überwachungskamera auf dem Industriegelände aufgetaucht ist, das direkt neben dem Leichenfundort liegt«, fuhr Herzfeld fort. »Darauf ist eindeutig erkennbar, dass sich die Verstorbene allein und langsamen Schrittes der Wasserkante des Teltowkanals nähert. Keine andere Person weit und breit. Und dann sieht man, wie sie ins Wasser springt …«

Abel nickte kurz, ehe er sagte: »Okay, nicht das Schlechteste für alle Beteiligten.« Nach einer kurzen Pause schob er nach: »Wenn man mal von der Betroffenen selbst absieht.« Dann verabschiedete er sich.

Ein offener Fall weniger auf meiner Liste, dachte er erleichtert bei Verlassen von Herzfelds Büro. Da vibrierte das Handy in seiner Innentasche erneut.

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4

Berlin-Wedding,

Wohnung von Lars Moewig,

21. Oktober, 11:54 Uhr

 

Verdammte Scheiße, Freddy … Geh doch endlich ran.

Lars Moewig ging wie ein Tiger im Käfig zwischen dem Wohn- und Schlafzimmer und der Küche seiner vor wenigen Monaten bezogenen kleinen Wohnung im Wedding hin und her.

Es war zwar erst sein zweiter Versuch – innerhalb von gerade mal fünf Minuten –, seinen Freund auf dessen Handy zu erreichen, aber er brauchte dringend Informationen von dem BKA-Beamten. Zwar konnte er sie sich als Privatermittler auch irgendwie selbst beschaffen, aber das hätte einige Zeit in Anspruch genommen. Zeit, die er nicht hatte. Er brauchte die Infos jetzt. Sofort. Das Handy mit dem monotonen Freizeichen immer noch am Ohr, warf er einen Blick aus dem Küchenfenster.

Im Sommer war er kurz entschlossen aus seiner heruntergekommenen Wohnung in einer anonymen Mietskaserne am Heckerdamm in Charlottenburg-Nord ausgezogen und in seinen Kiez, den Wedding, zurückgekehrt. Seine finanzielle Lage als Privatermittler hatte diesen Umzug ermöglicht, obwohl es eigentlich die illegalen Machenschaften seiner direkten Nachbarn waren, zwei Mitglieder einer berühmt-berüchtigten Verbrecherorganisation, die ihn mehr oder weniger zu einem Umzug gezwungen hatten, wollte er sein Leben nicht bei einer Auseinandersetzung mit diesen Kriminellen riskieren.

Er ließ seinen Blick erneut aus dem Küchenfenster schweifen. Seine jetzige Wohnstraße war Tristesse pur und der Wedding einer von vielen Berliner Problemstadtteilen, in denen die Uhren gänzlich anders schlugen als in den schicken Villenvierteln, den eleganten Einkaufsstraßen oder dem Regierungsviertel der Hauptstadt. Abgebröckelte und mit Graffiti beschmierte Häuserfassaden, Ein-Euro-Shops neben Dönerläden und Shisha-Bars, heruntergekommene Autos, allesamt älteren Baujahrs, am Straßenrand und achtlos vor der Haustür entsorgter Sperrmüll. Trotzdem liebte Moewig den Wedding. Hier war er geboren, und hier gehörte er hin. Auch wenn ihn seine diversen Auslandseinsätze, zunächst als Bundeswehrsoldat in Afghanistan, danach als Fremdenlegionär und später als Sicherheitsberater – eine euphemistische Umschreibung seiner damaligen Tätigkeit als Söldner –, in verschiedene Länder in Nahost und in Afrika geführt hatten. Länder, die durchaus mehr zu bieten hatten als sein verwahrloster Kiez, und dennoch hatte es ihn immer wieder hierher zurückgezogen.

Moewig war in einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Von seinen afroamerikanischen Vorfahren hatte er die dunkle Haut geerbt.

Seit seine Tochter vor drei Jahren gestorben war, hatte es ihn nicht mehr hinaus in die Welt gezogen, er spürte, dass sein Platz in der Nähe von Lillys Grab war und er sie nicht noch einmal, wie früher so oft, zurück- und allein lassen durfte. Deshalb hatte er damals eine Gewerbelizenz als Privatdetektiv beantragt und schlug sich seitdem durchs Leben mit der Observation untreuer Ehemänner, dem Aufspüren angeblich gestohlener Fahrzeuge und anderer vermeintlicher Betrügereien für Versicherungsgesellschaften und manchmal als Security-Berater für mittelständische Unternehmen.

Während er noch seinen Gedanken nachhing, hörte er am anderen Ende der Leitung die Stimme seines alten Freundes.

»Lars? Du schreibst doch höchstens mal eine SMS und rufst sonst nie an. Ist alles in Ordnung?«

Abel hatte mit seiner Bemerkung recht, denn Moewig hasste Handys. Nicht nur wegen der damit verbundenen permanenten Erreichbarkeit, sondern auch wegen der Möglichkeit der Ortung eines Handynutzers. Ein Umstand, der für seinen Job definitiv kein Vorteil war. Deshalb steckte sein Handy auch die meiste Zeit ausgeschaltet in seiner Jackentasche oder lag im Handschuhfach seines alten Lada Niva.

»Nein, gar nichts ist in Ordnung, Freddy«, erwiderte er mit belegter Stimme. »Marie wurde gestern Abend Zeugin, wie ihr Freund erschossen wurde.«

»Wie bitte? Ist das dein Ernst? Wie geht es Marie?«, fragte Abel am anderen Ende der Leitung mit erschrockener Stimme.

»Es geht ihr den Umständen entsprechend. Sie war in einem anderen Raum des Hauses, als der Schuss fiel. Sie hörte den Knall, als sie gerade das Haus betreten hatte, und hat sich dann versteckt. Für sie bestand wohl keine unmittelbare Gefahr, da der Schütze nichts von ihrer Anwesenheit wusste. Aber … Ich brauche deine Hilfe, Fred. Ich benötige dringend Informationen über Ludger Bartrück. Das ist sein Name … ich meine, war sein Name. Maries Freund. Ich muss wissen …«

»Moment«, unterbrach Abel ihn. »Der Reihe nach, Lars. Erzähl mir erst genau, was passiert ist. Damit ich mir ein Bild machen kann. Die sieben Ws, du weißt schon.«

Moewig wusste nur zu gut, worauf sein alter Freund und Lebensretter anspielte. Die sieben Ws standen für die in der Kriminalistik am Anfang jeder Ermittlung stehenden sieben W-Fragen, deren Beantwortung zur Beurteilung eines Sachverhalts nicht nur essenziell, sondern auch ausschlaggebend für die weitere Planung der Ermittlungstaktik waren, nicht zuletzt, um unter Zeitdruck Prioritäten zu setzen: Was ist wo, wann, wie und warum geschehen? Wer war beteiligt, und woher stammt diese Information?

In Moewigs Kopf schossen Dutzende Gedanken umher. Er versuchte, sich zu konzentrieren.

»Der Reihe nach. Bitte, Lars. Wir können uns aber auch gern hier bei mir im Büro treffen, wenn du das möchtest. Du kannst …«

»Nein, es ist eilig, Fred«, unterbrach er Abel nun seinerseits und bemühte sich, ruhig zu klingen.

Fred hat recht. Ich muss ihm alles erzählen, nur so kann er mir helfen …

»Ich darf keine Zeit verlieren. Also, Marie hat seit einem knappen Jahr einen neuen Freund. Ich wusste bis heute Morgen nicht, dass sie in einer festen Beziehung ist, weil wir seit Lillys Tod vor drei Jahren keinen Kontakt mehr hatten.«

Bis auf meine von Marie nie beantworteten SMS zweimal im Jahr. Zu Lillys Geburtstag und zu ihrem Todestag.

»Ich habe sie das letzte Mal bei Lillys Beerdigung gesehen.«

Moewigs Stimme wurde brüchig.

»Das wusste ich nicht, Lars. Das tut …«

»… nichts zur Sache, Fred. Marie ist gestern am frühen Abend zu ihrem Freund, diesem Ludger Bartrück, rausgefahren. Nach Teupitz, südliches Brandenburg. Er hat da ein Wochenendhaus. Na ja, vielmehr einen imposanten Landsitz, nach dem, was Marie mir vorhin berichtet hat. Sie wollte ihn mit ihrem Besuch überraschen. Sie wusste, dass er dort ist, weil er sich am Vormittag mit einem Geschäftspartner in Leipzig treffen und die Nacht über in Teupitz bleiben wollte.

Marie fährt also zu ihm, und als sie sich dem Haus nähert, hört sie Stimmen. Eine kurze, aber heftige verbale Auseinandersetzung. Kurz danach kracht ein Schuss. Marie, die sich zu jenem Zeitpunkt bereits im Eingangsbereich in der Diele befindet, versteckt sich sofort in einem von der Diele abgehenden Gästebad. Als sie dann Schritte auf der Auffahrt hört, die sich vom Haus wegbewegen, lugt sie aus dem Badezimmerfenster und macht ein Handyfoto von dem mutmaßlichen Schützen, von dem Mann, der gerade das Haus verlassen hat.«

»Wow, das ist nicht nur sehr mutig, sondern auch blitzschnell und richtig reagiert. Was sieht man auf dem Foto?«, fragte Abel.

»Du kennst sie, Fred. Auf Maries Intuition konnte man sich schon immer verlassen. Sie tut eigentlich stets das Richtige im richtigen Moment«, erwiderte Moewig, dessen Gedanken zu seiner ehemaligen Lebensgefährtin, der Mutter seines einzigen, viel zu früh verstorbenen Kindes abschweiften. Aber sofort war er wieder fokussiert.

»Das Handyfoto zeigt einen Mann, allerdings nur von hinten. Er trägt einen schwarzen Overall mit Kapuze und dunkelblaue Latexhandschuhe. Als er das Haus verließ, hatte er die Kapuze noch auf. Das hat Marie beobachtet, als sie sich mit ihrem Handy in Position brachte. Aber in dem Moment, in dem Marie die Aufnahme macht, streift er die Kapuze herunter. Das Entscheidende dabei ist: Während er danach greift, rutscht der Ärmel des Overalls ein Stück herunter und enthüllt am erhobenen linken Unterarm den kleinen Ausschnitt eines Tattoos. Irgendein Tribal-Motiv, schlangenförmige Linien, so wie sie es mir beschrieben hat.«

»Und das konnte Marie von ihrem Versteck aus tatsächlich fotografieren?«, fragte Abel ungläubig.

»Da das Haus etwas erhöht gebaut ist, war Maries Perspektive ideal«, erwiderte Moewig knapp.

»Und dann?«

Moewig spürte die Anspannung in seiner Stimme.

»Dann nichts. Dann war er auch schon weg. Marie hat noch einige Zeit im Gästebad gewartet, ob er vielleicht zurückkommt, und ist dann ins Wohnzimmer geeilt. Dort lag Bartrück auf dem Rücken, eine riesige Blutlache unter seinem Kopf. Das Projektil ist wohl in der Mitte der Stirn eingetreten. Sie hat dann den Notruf gewählt.«

»Okay, ich hab jetzt einen ersten Überblick. Das Brandenburger Landeskriminalamt ist involviert und hat Marie bereits befragt, nehme ich an?«

»Korrekt. Das war gestern Abend. Sie war bis nach Mitternacht in Potsdam im Präsidium. Dort wurde ihr mitgeteilt, dass das Berliner LKA wegen des Hauptwohnsitzes von Bartrück in Berlin übernehmen würde und für seine Ermordung zuständig sei, allerdings in Zusammenarbeit mit den Brandenburger Kollegen. Sie ist jetzt gerade in der Keithstraße und wird dort als Zeugin vernommen.«

»Du stehst mit ihr in engem Kontakt?«

»Ja, Fred«, sagte Moewig und hatte Mühe, seine Stimme kräftig klingen zu lassen. »Ich bin froh, dass sie sich heute Morgen bei mir gemeldet hat. Dass sie mir anscheinend wieder vertraut …«

»Das ist gut. Was genau soll ich tun, Lars?«

»Ein paar Dinge bereiten mir riesige Sorgen. Erstens, der Mann, der das Haus verlassen hat, der Schütze, war ein Profi. Zumindest sagt mir das mein Gefühl. Zweitens, das Foto, das Marie gemacht hat, wird von der Polizei in den nächsten Tagen mit Sicherheit zu Fahndungszwecken eingesetzt. Das Tattoo wird seinen Weg in die Öffentlichkeit finden, davon bin ich überzeugt. Eine groß angelegte Öffentlichkeitsfahndung wird beginnen, sollte die Polizei bis dahin keinen Verdächtigen oder zumindest eine heiße Spur haben. Wir wissen beide, wie so was läuft.«

Moewig hörte ein zustimmendes Grunzen von Abel am anderen Ende der Leitung.

»Und das bedeutet …«, fuhr Moewig fort.

»… der Schütze wird zwangsläufig erfahren, dass bei seiner Tat ein Zeuge zugegen war«, beendete sein Freund den Satz.

»Ganz genau, Fred. Wenn auch nur eine indirekte Zeugin, denn die Schussabgabe hat Marie ja nicht gesehen. Aber sie …«

»Moment«, wurde er von Abel unterbrochen, »könnte es nicht sein, dass das Foto von einer Überwachungskamera auf dem Gelände stammt? Ich könnte mich dahinterklemmen, dass das von den zuständigen Ermittlern im Rahmen der Öffentlichkeitsfahndung so kommuniziert wird.«

»Vergiss es, Fred. Ich sage doch, ich bin mir sicher, da war ein Profi am Werk. Der oder die haben das vorher gecheckt. Weder am noch im Haus oder irgendwo auf dem weitläufigen Grundstück gibt es laut Marie Kameras.«

»Sackgasse«, erwiderte Abel mit zerknirscht klingender Stimme am anderen Ende.

»Ich befürchte«, fuhr Moewig fort, »dass Marie in Gefahr geraten, sogar ins Visier des Täters geraten könnte. Sie hat ihn schließlich gesehen und könnte ihn in einem Prozess anhand des Tattoos identifizieren. Wenn der Schütze und seine Hintermänner …«

»Hintermänner?«, fragte Abel alarmiert. »Was meinst du mit Hintermännern? Lars, worauf willst du hinaus?«

»Ludger Bartrück war nicht der, der er vorgab, zu sein«, erwiderte Moewig.

»Was heißt das?«, wollte Abel wissen.

»Ich habe mich über Bartrück schlaugemacht. Er hatte anscheinend ein gutes Gespür für lukrative Geschäfte. Eine Villa im Grunewald, eine Jacht an der Côte d’Azur, ein Chalet in den Schweizer Alpen und das riesige Anwesen in Brandenburg direkt am Teupitzer See. Marie hat er erzählt, dass er mit Immobiliengeschäften sein Geld verdient. Ich habe das heute Vormittag überprüft, und siehe da: Seine Immobilienfirma ist anscheinend nur eine Briefkastenfirma. Ich habe noch nicht herausgefunden, was genau er getrieben hat, aber er hatte definitiv Dreck am Stecken. Und zwar gewaltigen Dreck, wie ich von einem Informanten erfahren habe.«

»Drogen? Waffen? Prostitution? Was sagt dein Informant?«

»Auf jeden Fall Organisierte Kriminalität. Bartrück war keine Ich-AG, definitiv kein Ein-Mann-Betrieb, so viel ist sicher. Er steckte in irgendetwas Großem mit drin. Etwas so Großem, dass niemand gern darüber redet, wie es scheint. Ich habe selten solch eine Mauer des Schweigens erlebt – bei denjenigen, mit denen ich in der Kürze der Zeit versucht habe, über Bartrück zu sprechen«, antwortete Moewig.

»Und Marie soll in dem ganzen Jahr ihrer Beziehung zu Bartrück nichts davon mitbekommen haben?«

»Sagt sie jedenfalls«, entgegnete Moewig.

»Und das glaubst du ihr?«

»Ja, das glaube ich ihr.«

»Hat Marie denn nie hinterfragt, wo so viel Geld herkommt?«, insistierte Abel weiter. »Was ihr Freund in Wahrheit so treibt, um sich die imposanten Häuser leisten zu können? Hat sie in dieser Zeit nie irgendwelche dubiose Geschäftspartner gesehen? Hast du sie das mal gefragt?«

»Natürlich. Sie sagt, da war nichts. Andererseits … du kennst sie ja. Für Geld oder Geschäfte hat sich Marie noch nie interessiert. Sie sagt, er habe ihr nach Lillys Tod Halt gegeben, sie hätte sich wieder lebendig gefühlt an seiner Seite. Alles andere hat sie vermutlich ausgeblendet.«

Für einen kurzen Moment herrschte Schweigen zwischen den beiden Männern.

»Was soll ich tun, Lars? Welche Informationen soll ich dir beschaffen?«

»Was wissen die Behörden über Bartrück? Was hat er wirklich getrieben? Mit wem hat er sich angelegt? Ich muss wissen, wer hinter seiner Ermordung steckt. Für Marie.«

»Du hast Angst, dass sie ins Fadenkreuz von Bartrücks Mörder gerät, wenn bekannt wird, dass sie den Täter identifizieren kann. Das kann ich gut nachvollziehen, Lars.«

»Ich würde es mir nicht verzeihen, wenn ich jetzt nichts unternehme und Marie etwas zustößt«, sagte Moewig und atmete dabei tief, fast seufzend, aus.

»Hast du Marie irgendetwas gesagt? Dass sie vielleicht in Gefahr sein wird, wenn die Ermittlungen und insbesondere das Foto publik werden?«, wollte Abel wissen.

»Nein. Natürlich nicht. Kein Wort. Das würde sie in ihrem momentanen Zustand nicht verkraften. Bartrücks Tod setzt ihr ziemlich zu. Außerdem ist es ja noch ein Stochern im Nebel, nur ein dumpfes Gefühl, dass das Ganze aus dem Ruder laufen könnte. Fred, hier geht es um meine Familie. Oder den Rest von dem, was mal meine Familie war.«

Moewig wurde schwindelig bei dem Gedanken, dass der Tod, nachdem er sich schon Lilly geholt hatte, jetzt auch noch nach ihrer Mutter greifen könnte.

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5

Berlin,

Treptowers, BKA-Einheit »Extremdelikte«, Büro Dr. Fred Abel,

21. Oktober, 12:22 Uhr

 

Nachdem er den Anruf beendet hatte, starrte Abel noch einige Zeit lang nachdenklich auf das Display seines Handys. Viele Gedanken und Erinnerungen schossen ihm durch den Kopf. Das Telefonat mit seinem alten Freund hatte etliche, auch schmerzliche Erinnerungen in ihm geweckt, nicht nur an Lars’ mit zwölf Jahren an Leukämie verstorbene Tochter Lilly. Lilly, die ihrem Vater alles bedeutet hatte.

Sie hatten in ihrer mittlerweile dreißig Jahre zurückliegenden Bundeswehrzeit beide als Zeitsoldaten bei den Fernspähern gedient, einer Spezialeinheit in der Ära des Kalten Krieges. Dort hatten sie sich kennen- und schätzen gelernt. Trotz aller persönlichen und sozialen Unterschiede waren sie Freunde geworden. Eine Freundschaft, die jetzt schon seit drei Jahrzehnten bestand und einige Höhen und Tiefen überstanden hatte. Vor drei Jahren war Lars in Verdacht geraten, der »Miles & More-Killer« zu sein, ein wahnsinniger Serienmörder, der wochenlang eine blutige Spur durch halb Europa gezogen hatte. In verschiedenen europäischen Städten war es in unmittelbarer Nähe der dortigen Flughäfen zu bestialischen Morden gekommen. Lars war damals, nicht ganz ohne Abels – allerdings ungewolltes – Zutun verdächtigt worden, in Nähe des Berliner Flughafens Tegel, der zu jener Zeit noch in Betrieb war, eine ältere Frau in ihrer Wohnung getötet zu haben. Auch für einen weiteren Mord in London in direkter Nähe  um dortigen Heathrow Airport schien er aufgrund des Ergebnisses einer von Abel veranlassten speziellen DNA-Analyse verantwortlich zu sein. Dieser Mord an einer ebenfalls betagten Dame ähnelte in Vorgehensweise und Ausführung auffallend der Tat in Berlin, und Lars, der sich exakt zu jener Zeit in London aufgehalten hatte, besaß für den Tatzeitraum kein Alibi. Genauso, wie er den Behörden für den Zeitraum der Tat in Berlin ein Alibi schuldig blieb.

Lars saß also damals unter Mordverdacht in Untersuchungshaft, während seine an Leukämie erkrankte Tochter Lilly im Krankenhaus im Sterben lag. Abel hatte daraufhin Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um die Unschuld seines Freundes zu beweisen, und hatte den »Miles & More Killer« quer durch Europa gejagt. An Lillys Todestag war sein Freund schließlich aus der Untersuchungshaft entlassen worden.

Obwohl die Beziehung zwischen Marie Lindweg und Lars schon vor Lillys Geburt beendet gewesen war, bereute Abel es nach wie vor, nicht schneller mit seinen eigenmächtig geführten Ermittlungen gewesen zu sein, weil Lars Lillys Mutter nicht in ihren schwersten Stunden am Sterbebett ihrer Tochter zur Seite stehen konnte. Mit Lillys Tod hatte Lars alles verloren, was ihm im Leben bis dahin wichtig gewesen war, und es hatte lange gedauert, bis er wieder zurück ins Leben gefunden hatte.

Abel riss sich aus seinen Gedanken und loggte sich mit seinen Zugangsdaten im zentralen Datenarchiv des BKA ein. Nach etwa zehn Minuten hatte er gefunden, wonach er suchte.

»Mein lieber Mann!«, entfuhr es ihm, nachdem er sich einen ersten Überblick verschafft hatte.

Lars hatte mal wieder den richtigen Riecher gehabt. Ludger Bartrück war kein unbeschriebenes Blatt bei den deutschen Polizeibehörden. Im Gegenteil. Sowohl beim Berliner LKA als auch beim BKA hatte sich ein beachtlicher Akteninhalt über seine Person angesammelt.

Fast alle Dokumente waren als Verschlusssachen deklariert, entweder als VS – Nur für den Dienstgebrauch oder mit der nächsthöheren Sicherheitseinstufung VS – Vertraulich. Der Rechtsmediziner war froh, dass er die Dokumente mit seiner Sicherheitsklassifizierung öffnen und einsehen konnte. Ihm wurde schon nach dem Überfliegen der ersten Seiten der zum Teil mehrere Hundert Seiten umfassenden PDF-Dateien auf seinem Computermonitor klar, warum der Zugang zur Personalie Bartrück nicht für jeden im System zugänglich war.

Gegen Ludger Bartrück war zweieinhalb Jahre zuvor ein Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit dem Verdacht des Menschenhandels und der gewerbsmäßigen Schleusung von nicht aufenthaltsberechtigten Ausländern nach Deutschland eingeleitet worden. Allerdings hatte Bartrück anscheinend damals recht schnell erkannt, dass sich eine Schlinge um seinen Hals zuzog, die er aus eigener Kraft nicht lösen konnte, und dass nur ein Seitenwechsel ihn vor der öffentlichen Zurschaustellung seiner Person und einer langjährigen Gefängnisstrafe bewahren würde. Nach Zusicherung einer Strafmilderung durch die Ermittlungsbehörden hatte er sich, ohne zu zögern, bereit erklärt, gegen seine Komplizen und Mittäter auszusagen. Abel war wie elektrisiert, als er las, gegen wen die Ermittlungen wegen Menschenhandels und gewerbsmäßiger Schleusung von nicht zur Einreise nach Deutschland berechtigten Personen sowie wegen Fälschung von Asylanträgen geführt wurden: Asad Saad.

Der Mann war der Kopf eines in Berlin-Neukölln ansässigen libanesischen Clans, der nicht nur in der Hauptstadt, sondern bundesweit agierte. Die Eltern von Asad Saad waren mit ihrem ältesten Sohn und seinen drei jüngeren Brüdern Abadi, Abdelkarim und Amir in den Achtzigerjahren nach Westberlin gekommen. Die vier Brüder hatten unter der Führung von Asad Saad, der in libanesischen Familienkreisen aufgrund seiner Macht und der ihm zugeschriebenen Stärke ehrfürchtig »der Löwe« genannt wurde, eine steile kriminelle Karriere hingelegt.

Der Saad-Clan agierte mittlerweile seit fast zwei Jahrzehnten als kriminelles Kartell und war neben Drogenhandel, Prostitution und Schutzgelderpressung auch in bandenmäßige Überfälle auf Luxuskaufhäuser, Museen und Kunstsammlungen verwickelt. Trotz aller polizeilicher und staatsanwaltschaftlicher Anstrengungen, die je nach politischer Couleur und rechtsstaatlicher Ausrichtung des jeweilig zuständigen Innensenators und Justizsenators des Berliner Senats mal vehementer, mal laxer betrieben wurden, hatten die Saads es bis vor Kurzem immer wieder geschafft, trotz zahlreicher Anklagen und Gerichtsprozesse einer Verurteilung zu entgehen. Was neben einem geschickt taktierenden Heer von Strafverteidigern auch dem komplizierten, kaum durchdringbaren Geflecht von Firmen, Scheinfirmen und Komplizen, die das schmutzige Geld aus den verschiedenen Verbrechen wuschen, geschuldet war. Erst vor knapp drei Monaten hatten Asad Saad und seine Brüder dann aber doch nicht nur ihre Maske fallen lassen und öffentlich ihr wahres Gesicht zur Schau gestellt, sondern unwiderruflich eine Grenze überschritten. Auch ihre gewieften und mit allen Wassern gewaschenen Anwälte hatten Abdelkarim und Abadi Saad sowie mehrere weitere Personen aus dem inneren Zirkel des Clans nicht mehr vor dem Zugriff der Behörden und ihrer Verhaftung bewahren können.

Vorausgegangen war, dass Amir Saad, der jüngste der vier Brüder, mit einer schweren Schussverletzung in einer der an der Charité als »Rettungsstellen« bezeichneten Notaufnahmen aufgenommen worden und wenige Stunden später dort trotz einer Notoperation den Folgen seiner Schussverletzung erlegen war.

Während die Ärzte noch um Amir Saads Leben kämpften, hatte sein Bruder Abdelkarim Saad, der im Clan als der Mann fürs Grobe galt, mit einem Dutzend Gefolgsleuten die Rettungsstelle der Charité verwüstet. Sie hatten nicht nur Angehörige des Sicherheitspersonals der Klinik zum Teil schwer verletzt, sondern auch medizinisches Personal und Patienten bedroht und ein wahres Schlachtfeld hinterlassen. Wenige Tage später töteten die Saads den diensthabenden Chirurgen und verantwortlichen Operateur in jener Nacht, dem sie die Schuld am Tod ihres Bruders Amir gaben.

Die Anwälte der Saads hatten kurz zuvor gegen die Besatzung des Rettungshubschraubers, mit dem Amir Saad in die Charité geflogen worden war, gegen die gesamte Nachtschicht der Rettungsstelle sowie die Geschäftsführung der Charité Strafanzeige wegen fahrlässiger Körperverletzung und Beihilfe zum Mord durch Unterlassen gestellt.

Abel war bei den »Extremdelikten« gemeinsam mit seiner Kollegin Sabine Yao die undankbare Aufgabe zuteilgeworden, den erschossenen Amir Saad zu obduzieren und mit seinem anschließenden rechtsmedizinischen Gutachten Stellung dazu zu nehmen, ob die von Notärzten und Operateuren ergriffenen medizinischen Maßnahmen adäquat gewesen waren. Oder ob man bei einer anderen Art der medizinischen Versorgung beziehungsweise des operativen Vorgehens von einem Überleben des Patienten hätte ausgehen können. Das eindeutige Ergebnis von Abels Obduktion, dass sich nämlich aus rechtsmedizinischer Sicht keine Anhaltspunkte für ein Unterlassen ergaben und den behandelnden Ärzten kein Behandlungsfehlervorwurf gemacht werden konnte, hatte nun wiederum ihn bei den Saads in Ungnade fallen lassen. Mit der Konsequenz, dass der Clan nicht nur ihm nach dem Leben trachtete, sondern dass Abadi Saad in Abels Wohnhaus eingedrungen war und einen Mordanschlag auf seine Lebensgefährtin Lisa Suttner verübt hatte.

Ein Mordanschlag, den Lars in letzter Minute verhindert hatte.

Abels Gedanken schweiften kurz zu Lisa, mit der er bereits seit mehr als zehn Jahren zusammen war, mit der er gemeinsam alt werden wollte, die gerade im sechsten Monat schwanger war und mit der er sehnsüchtig auf die Geburt ihres Sohnes wartete.

Während sich Abadi und Abdelkarim seit knapp drei Monaten in Untersuchungshaft befanden und auf ihren Prozess warteten, hatte sich Asad Saad, der Kopf des Clans, seiner Verhaftung entziehen können und war seitdem auf der Flucht. Was allerdings nicht bedeutete, dass er aus der Welt war oder seine kriminellen Aktivitäten ruhen ließ.

Diese verdammten Saads …

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6

Berlin,

Hauptbahnhof,

21. Oktober, 12:35 Uhr

 

Das war also Berlin. Die Hauptstadt des Landes, das für so viele seiner Landsleute das Ziel ihrer Träume war. Das Land, in dem sie sich ein besseres Leben erhofften.

Was soll das für ein Leben sein? Ein Leben unter Ungläubigen? In einer Welt, in der Frauen dieselben Rechte wie Männer haben, in der sich Juden und andere Nichtmuslime frei bewegen und sogar die Frechheit besitzen dürfen, in öffentlichen Ämtern aktiv zu sein? Frauen als Politikerinnen, die Staatsgeschäfte lenken?

Der junge Mann mit den schwarzen Locken, die ihm tief in die Stirn und den Nacken fielen, spuckte bei diesen Gedanken verächtlich aus, während er mit einer der langen Rolltreppen von der oberen Etage des Hauptbahnhofes ins Erdgeschoss hinunterfuhr.

Alle Brüder, die hierhergekommen waren, würden sich früher oder später von ihrem Glauben, dem einzig wahren Glauben, dem Glauben an Allah, abwenden. Sie würden den Propheten und die Gebote des Korans verraten. Die Gesellschaft hier war wie eine Schlange. Aber er würde helfen, der Schlange den Kopf abzuschlagen …