Mit kaltem Kalkül - Prof. Dr. Michael Tsokos - E-Book
SONDERANGEBOT

Mit kaltem Kalkül E-Book

Prof. Dr. Michael Tsokos

0,0
12,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein Wettlauf gegen die Zeit und um das Leben eines vermissten Kindes:  Sabine Yao löst ihren zweiten Fall - Gänsehaut-True-Crime mit der sympathischen Rechtsmedizinerin Die Spezialeinheit "Extremdelikte" um Dr. Sabine Yao untersucht auch diesmal wieder ungewöhnliche Todesfälle: Zwei in schwarze Samtkleider gehüllte und bizarr entstellte Tote, die im Wald an einem Gestell hängen, geben ebenso Rätsel auf wie ein Tatort in einer Bauwagensiedlung, wo ein Toter zwischen Kinderspielzeug, fetischartigen Utensilien und Perücken liegt. Noch weiß keiner der Ermittler, dass der jordanische Ex-Geheimdienstler Khalaf unter Hochdruck nach dem verschwundenen achtjährigen Yasser sucht. Ihm vertrauen die Bewohner der Neuköllner High-Deck-Siedlung mehr als der Polizei. Khalaf findet heraus, dass Yasser nicht das erste verschwundene Kind aus der Siedlung ist - und dass hinter diesem Fall etwas Grauenvolles steckt. Als eine Kinderleiche gefunden wird, beginnt Sabine Yao zu erkennen, dass fernab der sichtbaren Berliner Strukturen eine urbane Schattengesellschaft existiert, die einen Blick hinter die Kulissen kaum verzeiht. Ermittlerin Monica Monti jedoch, Leiterin der vierten Mordkommission des Berliner LKA, schert es weder, was die Vernunft vorgibt, noch, was alle anderen denken. Sie folgt ihrem Instinkt … Die Fortsetzung des großen SPIEGEL-Bestsellers »Mit kalter Präzision«:  Auch im True-Crime-Thriller »Mit kaltem Kalkül« greift Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner Michael Tsokos auf zahlreiche authentische Fälle zurück. Er lässt Leserinnen und Leser mit tiefen Einblicken in die Forensikdie Arbeit am Seziertisch hautnah miterleben.  »Tsokos weiß, wovon er schreibt. Detailfreudig und kenntnisreich überträgt der Rechtsmediziner echte Kriminalfälle in morbiden Lesestoff.« Stern

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 394

Veröffentlichungsjahr: 2024

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Prof. Dr. Michael Tsokos

Mit kaltem Kalkül

Ein Rechtsmedizin-Thriller

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Ein Wettlauf gegen die Zeit und um das Leben eines vermissten Kindes

Die Spezialeinheit „Extremdelikte“ um Dr. Sabine Yao untersucht auch diesmal wieder ungewöhnliche Todesfälle: Zwei in schwarze Samtkleider gehüllte und bizarr entstellte Tote, die im Wald an einem Gestell hängen, geben ebenso Rätsel auf wie ein Tatort in einer Bauwagensiedlung, wo ein Toter zwischen Kinderspielzeug, fetischartigen Utensilien und Perücken liegt.

Noch weiß keiner der Ermittler, dass der jordanische Ex-Geheimdienstler Khalaf unter Hochdruck nach dem verschwundenen achtjährigen Yasser sucht. Ihm vertrauen die Bewohner der Neuköllner High-Deck-Siedlung mehr als der Polizei. Khalaf findet heraus, dass Yasser nicht das erste verschwundene Kind aus der Siedlung ist - und dass hinter diesem Fall etwas Grauenvolles steckt.

Als eine Kinderleiche gefunden wird, beginnt Sabine Yao zu erkennen, dass fernab der sichtbaren Berliner Strukturen eine urbane Schattengesellschaft existiert, die einen Blick hinter die Kulissen kaum verzeiht. Ermittlerin Monica Monti jedoch, Leiterin der vierten Mordkommission des Berliner LKA, schert es weder, was die Vernunft vorgibt, noch, was alle anderen denken. Sie folgt ihrem Instinkt …

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Motto

Zitat

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

70. Kapitel

71. Kapitel

72. Kapitel

73. Kapitel

74. Kapitel

75. Kapitel

76. Kapitel

77. Kapitel

78. Kapitel

79. Kapitel

80. Kapitel

81. Kapitel

82. Kapitel

83. Kapitel

84. Kapitel

85. Kapitel

86. Kapitel

87. Kapitel

88. Kapitel

89. Kapitel

90. Kapitel

91. Kapitel

92. Kapitel

93. Kapitel

94. Kapitel

95. Kapitel

96. Kapitel

Danksagung

Die Handlung in diesem Rechtsmedizin-Thriller ist eine fiktionalisierte Erzählung echter Kriminalfälle und ihrer rechtsmedizinischen Untersuchungen. Die hier erzählten Begebenheiten und Tötungsdelikte haben sich in der einen oder anderen Form so zugetragen. Trotz Anonymisierung ließen sich Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen nicht immer vermeiden.

 

Die Handlung dieses Buches spielt acht Monate nach den Ereignissen in »MIT KALTER PRÄZISION«, dem ersten Band der Sabine-Yao-Reihe.

»If you want blood, you’ve got it!«

 

Ronald Belford »Bon« Scott

(*9.7.1946 t19.2.1980)

Prolog

Eigentlich gab es da nichts zu überlegen. Es wäre wohl besser, wenn er einfach mit dem Mann mitgehen würde, auch wenn seine Mutter ihm das verboten hatte. Geh nie mit Fremden mit. Sprich nicht mit Fremden, das hatte Mama ihm gesagt. Oft gesagt. Aber er hatte mit dem Mann gesprochen. Was sich auch gar nicht hatte vermeiden lassen. Schließlich war er hier auf dem alten Fabrikgelände mit dem Mann allein. Und das war ideal. Das hatte der Mann gesagt. Er war ideal oder idelal hier. Was wohl so viel bedeutete, wie dass er nicht hier sein durfte.

»Was du hier machst, ist illegal«, wiederholte der Mann nun seine letzten Worte. Illegal, das war das Wort, fiel es dem Jungen wieder ein. »Und ich sage es dir zum letzten Mal, du kommst jetzt mit mir mit«, fügte der Mann in einem Tonfall hinzu, der eigentlich keine Zweifel daran aufkommen ließ, dass er es ernst meinte.

Der Junge sah sich verstohlen um, aber der Mann schien seine Gedanken lesen zu können. »Komm nicht auf dumme Gedanken, Kleiner. Ich bin sowieso schneller als du.«

Wahrscheinlich hat er recht, ging es dem Achtjährigen durch den Kopf. Er wollte es besser nicht darauf ankommen lassen. Der Mann sah stark aus.

Der Junge dachte nach. War der Mann denn überhaupt ein Fremder? Er überlegte angestrengt. Ja, er kannte ihn nicht. Also ein Fremder. Aber … Der Mann trug eine Uniform. Vielleicht war er Polizist, auch wenn die eigentlich immer andere Uniformen trugen, zumindest die wenigen, denen er bisher begegnet war, oder auch die, die er im Fernsehen gesehen hatte. Aber … Vielleicht war der Mann ein Soldat?

»Bist du ein Soldat?«

»Nein«, war die knappe Antwort. »Und ich sage es dir jetzt noch einmal …« Der Mann machte eine kurze Pause, sah ihm nun direkt in die Augen, und der Junge hatte für einen ganz kurzen Moment das Gefühl, dass die Augen des Mannes auf einmal schwarz und nicht mehr blassgrau waren. Dann wendete der Mann seinen Blick auch schon wieder von ihm ab und sah sich um. Entweder suchte er nach irgendetwas, oder er wollte sich vergewissern, dass außer ihm und dem Jungen niemand hier war. Seine Stimme gewann an Schärfe, als er weitersprach: »Das ist kein Spielplatz hier. Du hast hier nichts zu suchen. Ich bringe dich jetzt nach Hause. Du kommst mit mir.«

Der Mann trat einen großen Schritt auf den Jungen zu, war jetzt direkt vor ihm und wollte nach seiner Hand greifen. Aber das ließ der Junge nicht zu. Er versteckte beide Hände hinter seinem Rücken, machte dabei einen zögerlichen Schritt zurück, weg von dem Mann. Der Mann machte daraufhin einen Schritt auf ihn zu. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, und wieder sah es für einen Augenblick so aus, als ob seine Pupillen schwarz waren. Der Junge wollte erneut zurückweichen. Aber das ging nicht, wie er zu seinem Entsetzen feststellen musste, denn genau hinter ihm befand sich die Wand eines der maroden Gebäude auf dem höchstwahrscheinlich schon seit Ewigkeiten verlassenen Fabrikgelände. Den Jungen ergriff ein Gefühl, das er bisher noch nicht kannte.

»Willst du, dass dein Vater und deine Mutter Ärger bekommen, weil sie dich hier haben spielen lassen? Vielleicht sogar eine Anzeige?« Die Stimme des Mannes hatte sich verändert, klang jetzt irgendwie rauer.

»Mein Vater ist nicht mehr bei uns, meine Mama …«, begann der Junge sich kleinlaut zu erklären, wurde aber prompt von dem Mann unterbrochen.

»Deine Mutter bekommt großen Ärger, wenn du nicht sofort tust, was ich dir sage.«

Der Junge liebte seine Mutter, und er wusste auch, dass sie ihn liebte. Er wollte nicht, dass sie seinetwegen Ärger bekam. Es war für seine Mutter schon so nicht einfach, nachdem sein Vater von einem Tag auf den anderen plötzlich verschwunden war. Nur zwei Tage nach seinem siebten Geburtstag. Nein, das konnte er Mama nicht antun.

Langsam löste er seine Hände hinter seinem Rücken voneinander und ließ sie seitlich neben seinem Körper herunterhängen.

Er sah den Mann nicht an, sah nur vor sich auf den von Geröll bedeckten und mit vertrocknetem Unkraut überwucherten Boden des alten Fabrikgeländes, sah auf die schwarzen Lederstiefel des Mannes.

Dann hob der Junge ganz langsam, weil er nicht wusste, ob er das Richtige tat, seine linke Hand, die der Mann sofort ergriff. Seine kleine Hand verschwand vollständig in der Pranke des Mannes in der dunklen Uniformkleidung.

Er spürte die Schwielen an der Handfläche des Mannes. Und er spürte noch etwas anderes. Die Handfläche des Mannes war nass vor Schweiß. Und jetzt wusste der Junge, welches Gefühl ihn da gerade überkommen hatte. Es war Angst.

***

1

Montag, 2. Dezember, 10:03 Uhr

Berlin, Treptowers

BKA-Einheit »Extremdelikte«, Untersuchungszimmer

Und dann hat der eine von denen meinem Mann ins Gesicht getreten. Das müssen Sie sich mal vorstellen, Frau Doktor! Die brechen unsere Wohnungstür auf, schubsen meinen Bruno …« Die Stimme der Frau wurde schrill, dann brach sie ganz ab. Für einen kurzen Moment machte sich eine beklemmende Stille in dem etwa zehn Quadratmeter großen Untersuchungszimmer breit. Die Frau, die sich Yao als Katrin Grahl vorgestellt hatte, holte jetzt ein paarmal geräuschvoll tief Luft. Yao befürchtete schon, sie würde gleich in Tränen ausbrechen, aber da fuhr Frau Grahl auch schon fort: »In was für einer Welt leben wir eigentlich, wenn man schon nicht mal mehr in den eigenen vier Wänden sicher ist?« In jedem ihrer Worte schwang jetzt echte Empörung mit. Kaum dass Katrin Grahl den Satz beendet hatte, ertönte hinter ihr ein dumpfes Röcheln, gefolgt von einem klagenden Ton, der sich ebenfalls nach Empörung, aber auch nach einer Mischung aus Zustimmung und Schmerz anhörte.

»Bitte der Reihe nach, Frau Grahl. In der Reihenfolge, in der sich alles zugetragen hat«, sagte Doktor Sabine Yao, stellvertretende Leiterin der rechtsmedizinischen Spezialeinheit »Extremdelikte«. Sie saß auf einem Drehhocker in dem fensterlosen, in dezentem Grau gehaltenen Raum im Erdgeschoss der Treptowers, einem Gebäudekomplex im Berliner Ortsteil Alt-Treptow, dem Sitz des BKA in Berlin. Ihr schräg gegenüber saß, ebenfalls auf einem funktionalen, um nicht zu sagen unbequemen Drehhocker Katrin Grahl.

Als diensthabende Ärztin der Abteilung hatte Yao ihre Besucherin in Begleitung ihres Ehemannes, Bruno Grahl, vor etwa zehn Minuten im Eingangsbereich des BKA-Gebäudes in Empfang genommen. Dabei war der Rechtsmedizinerin nicht entgangen, dass Katrin Grahl, die zweifellos auf ein gepflegtes Äußeres und kultiviertes Auftreten achtete, momentan jedoch in höchstem Maße aufgebracht war und wahrscheinlich einen bedenklich hohen Puls hatte.

Katrin Grahl, die Yao auf etwa Anfang bis Mitte siebzig schätzte, hatte gerade begonnen, darüber zu berichten, was ihr und ihrem Ehemann am Vortag widerfahren war. Und obwohl der Vorfall schon über vierundzwanzig Stunden zurücklag, standen sowohl Katrin als auch Bruno Grahl, der hinter seiner Frau auf einer direkt an der hinteren Wand des Raumes befindlichen Untersuchungsliege lag, noch immer sichtlich unter dem Eindruck des Ereignisses. Es war wie ein Tsunami aus dem Nichts über die Eheleute Grahl hereingebrochen. Geschehnisse, die sich in der Wohnung des Ehepaares Grahl zugetragen hatten und die, wie Yao vermutete, nicht nur das Vertrauen des Ehepaares Grahl in den Rechtsstaat völlig erschüttert, sondern wahrscheinlich auch ihren Glauben an Gerechtigkeit für alle Zeit zunichtegemacht haben würden.

Die Grahls waren Yao gegenüber kurz vor ihrem Eintreffen von Renate Hübner, der Sekretärin und zentralen Instanz der rechtsmedizinischen Abteilung des BKA, mit strengem Gesichtsausdruck als »Spezialfall, der Herausforderungen mit sich bringt« angekündigt worden. Renate Hübner hatte dann mit der ihr eigenen, seltsam abgehackten Sprechweise, die Yao immer an eine Roboterstimme erinnerte, kurz den Sachverhalt skizziert. Schließlich hatte die Sekretärin ihr eine ausgedruckte Seite mit einer E-Mail des für die Ermittlungen zuständigen Sachbearbeiters des LKA341 und einen zweiseitigen ärztlichen Bericht des St. Hedwig Krankenhauses mit ärztlichen Befunden zu Bruno Grahl übergeben.

Yao hatte augenblicklich nach dem ersten Überfliegen der E-Mail und des ärztlichen Befundberichtes begriffen, welche Sprengkraft der Fall des Ehepaares Grahl für das Berliner LKA in sich barg und warum die rechtsmedizinische Untersuchung des Geschädigten, Bruno Grahl, an das BKA delegiert worden war. Zugleich war sie froh gewesen, dass die Ergebnisse der polizeilichen Ermittlungen anscheinend keinerlei Zweifel an dem festgestellten Sachverhalt zuließen und ihr als Rechtsmedizinerin lediglich die Dokumentation und Bewertung der Verletzungen von Bruno Grahl zukam, nicht aber eine komplexe Interpretation derselben. Denn der letzte »Spezialfall«, der ihr von der Hübner übergeben worden war, hatte es derart in sich gehabt, dass Yao schließlich vor dem Europäischen Gerichtshof in Straßburg ihr Gutachten hatte vortragen müssen, dessen Inhalt und Ergebnis allerdings nicht im Sinne der Anklagebehörde gewesen war. Ihren Chef, Professor Paul Herzfeld, hatte es damals viele Gespräche und Erklärungen gekostet, die Wogen, die Yao mit ihrem Gutachten vor dem Europäischen Gerichtshof ausgelöst hatte, wieder zu glätten. Denn Yao hatte seinerzeit, mit Unterstützung von Doktor Fuchs, dem Leiter des toxikologischen Labors von Herzfelds rechtsmedizinischer Spezialeinheit, dem Fall des russischen Dissidenten Aleksey Petrow, der es Ende der Neunzigerjahre und Anfang der Zweitausender in Turkmenistan als Vorstandsvorsitzender eines Gaskonzerns innerhalb weniger Jahre zum Milliardär gebracht hatte, eine ganz andere Wendung gegeben als allgemein erwartet. Petrow war kurz nach seinem kometenhaften Aufstieg wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung und Unterschlagung in Russland verhaftet und inhaftiert worden. Schließlich war er aufgrund westlichen Engagements mit durchaus als einseitig zu bezeichnender Presseberichterstattung und gut orchestrierten Protestkundgebungen von Menschenrechtsbewegungen freigelassen worden und hatte in Deutschland politisches Asyl beantragt. Der ehemalige Oligarch hatte öffentlichkeitswirksam behauptet, in dem russischen Straflager, in dem er mehrere Monate inhaftiert gewesen war und auf seinen Prozess in Moskau gewartet hatte, vom russischen Geheimdienst vergiftet worden zu sein. Ausweislich der von Doktor Fuchs im hauseigenen toxikologischen Labor des BKA durchgeführten Untersuchungen von Blut- und Urinproben Petrows litt dieser an einer leichten, nicht lebensbedrohlichen Quecksilbervergiftung, die seine Symptome und Beschwerden, nämlich verschorfte Ekzeme an beiden Händen, die dermatologisch keiner der bekannten Hautkrankheiten zugeordnet werden konnten, sowie Übelkeit und Schwindel, hinreichend erklärte. Yao war in ihrem Gutachten schließlich zu dem Ergebnis gekommen, dass Petrows Quecksilbervergiftung mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit selbst zugefügt war. Denn ausweislich des Ergebnisses von Petrows Haaranalyse, die eine chronologische Zuordnung der Aufnahme von Giften über einen länger zurückliegenden Zeitraum zuließ, konnte er sich die Quecksilbervergiftung keinesfalls während der Monate, in denen er in einem russischen Straflager inhaftiert gewesen war, zugezogen haben, sondern erst nach seiner Ankunft in Deutschland. Denn lediglich in dem ersten Zentimeter seiner Haarspitzen ließ sich Quecksilber nachweisen. In dieser Zeit von vier Wochen, die das Haar benötigt hatte, um einen Zentimeter zu wachsen, musste es also zur Aufnahme des Quecksilbers gekommen sein. Und in dieser Zeit hatte sich der russische Dissident schon einige Monate in Deutschland befunden …

Aber dieser »Spezialfall« hier ist anders gelagert. Ganz anders, wusste Yao.

»Ich habe das doch alles schon heute Nacht bei der Polizei erzählt. Muss ich das wirklich … ich meine … Wozu ist das gut? Und warum eigentlich Bundeskriminalamt?«, fuhr die zwischen jedem Satz geräuschvoll die Luft durch die Nase einatmende und schnaufend wieder ausatmende Katrin Grahl jetzt fort.

»Frau Grahl, ich kann mir vorstellen, dass es schwer für Sie ist, das jetzt alles noch mal durchleben zu müssen …«, wandte sich Yao mit ruhiger Stimme an die Frau in dem dunkelblauen Kostüm, »… und dass Sie und Ihr Mann …«, dabei machte Yao eine kaum wahrnehmbare Kopfbewegung in Richtung des auf der Untersuchungsliege leise stöhnenden Bruno Grahl, »das Ganze am liebsten vergessen möchten, aber Sie sind nicht hier, weil irgendjemand an Ihren Aussagen, die Sie gestern schon bei den Kollegen vom LKA gemacht haben, zweifelt, sondern weil ich die Verletzungen Ihres Mannes dokumentieren und in den Kontext des Geschehens bringen muss. Das ist meine Aufgabe, und deswegen sind Sie heute beide hier. Und um das Ganze möglichst weit weg vom Landeskriminalamt anzusiedeln, um Unabhängigkeit zu gewährleisten, ist dafür jetzt die Rechtsmedizin des Bundeskriminalamtes zuständig. Ich hoffe, das ist so weit für Sie nachvollziehbar?«

Katrin Grahl nickte fast unmerklich mit ihrem akkurat geschnittenen grauen Pagenkopf, und Yao wollte gerade mit ihrer Anamnese fortfahren, als Katrin Grahl erneut insistierte: »Wir waren gestern geschlagene neun Stunden in der Notaufnahme des St. Hedwig Krankenhauses, ehe man uns zum Columbiadamm gefahren hat und dort die halbe Nacht Löcher in den Bauch gefragt hat. Und das in Brunos Zustand … Es steht doch alles in dem Arztbericht des St. Hedwig …«

»Das ist richtig …«, unterbrach Yao die Frau mit ruhiger Stimme, »aber was ich hier tue, ist, wie ich eben schon sagte, eine objektive Feststellung der Verletzungen Ihres Mannes im Kontext dessen, was Sie beim LKA bereits heute Nacht geschildert haben und was Sie mir bitte jetzt nochmals berichten. Es geht um eine gerichtsverwertbare Dokumentation der Verletzungen Ihres Mannes. Für die spätere Gerichtsverhandlung, damit dort im Nachhinein, basierend auf meinen Feststellungen, für alle nachvollziehbar rekonstruiert werden kann, wie diese Verletzungen entstanden sind.«

»Sie sind Rechtsmedizinerin?«, ertönte jetzt die schwache und verwaschen klingende Stimme von Bruno Grahl aus dem Hintergrund.

Yao beugte sich auf ihrem Hocker leicht zur Seite, um an dem PC-Monitor und dem klobigen Tischtelefon auf dem kleinen Schreibtisch, der sich zwischen ihr und Frau Grahl befand, vorbeischauen und Blickkontakt mit Bruno Grahl aufnehmen zu können. »Das ist richtig, ich bin Fachärztin für Rechtsmedizin. Ich …«

»Ich bin doch nicht tot!«, protestierte Bruno Grahl mit matter, nuschelnder Stimme und machte Anstalten, sich von der Untersuchungsliege zu erheben, sackte aber augenblicklich mit schmerzverzerrtem Gesicht und einem lauten Stöhnen zurück.

»Ich bin Fachärztin für Rechtsmedizin, das ist richtig«, ergriff Yao erneut das Wort. »Aber entgegen der weitverbreiteten Meinung, wir seien nur für Tote zuständig, untersuchen wir auch Lebende.« Sie sah den fragenden Blick Bruno Grahls und führte weiter aus: »Diesen Teilbereich unserer Disziplin nennt man Klinische Rechtsmedizin. Wir untersuchen dabei Lebende, oder besser Überlebende. Opfer von häuslicher Gewalt …«

»›Häusliche Gewalt‹ ist ja wohl ein sehr euphemistischer Ausdruck für das, was meinem Mann widerfahren ist!«, schaltete sich jetzt wieder Katrin Grahl mit empörter Stimme ein.

»Entschuldigung, aber ich war noch nicht fertig …«, erwiderte Yao, »… und wenn ich mich missverständlich ausgedrückt habe, tut es mir leid. Das war nur ein Beispiel. Wir untersuchen in der klinischen Rechtsmedizin überlebende Opfer von Straftaten, wie zum Beispiel Opfer von häuslicher Gewalt, aber auch Opfer von Sexualdelikten, Kindesmisshandlung oder interpersoneller Gewalt, was der Fachterminus für das ist, was Ihnen gestern widerfahren ist. Also … Bitte vertrauen Sie mir und schildern Sie mir noch einmal das, was Sie beide gestern schon bei Ihrer Vernehmung im LKA erzählt haben.«

»Interpersonelle Gewalt ist ja wohl genauso ein Euphemismus«, sagte Katrin Grahl leise, aber eher zu sich selbst als zu Yao, die diese Bemerkung unkommentiert ließ.

Ausweislich der vor Yao auf der Schreibtischplatte liegenden beiden Seiten mit dem ärztlichen Befundbericht des St. Hedwig Krankenhauses hatte der neunundsiebzigjährige Bruno Grahl eine schwere Gesichtsschädelprellung erlitten. Das belegte eindrucksvoll die ungesund glänzende Haut, die sich über die massive, veilchenblau und fliederfarben verfärbte Schwellung seiner gesamten rechten Gesichtshälfte spannte. Die Kollegen des in Berlin-Mitte gelegenen St. Hedwig Krankenhauses hatten den alten Mann untersucht und eine radiologische Befunderhebung gemacht, einschließlich Hals-Nasen-Ohren-ärztlichem und zahnärztlichem Konsil. Man hatte zwar eine Mittelgesichtsfraktur ausgeschlossen, aber eine Nasenbeinfraktur mit Herauslösung des knöchernen Nasenseptums aus seiner Verankerung im Boden der Nasenhöhle festgestellt. Außerdem hatte Bruno Grahl seine beiden oberen Schneidezähne verloren, was der Grund für seine undeutliche, verwaschen klingende Aussprache war. Der Neunundsiebzigjährige sollte erneut im St. Hedwig Krankenhaus vorstellig werden, wenn seine geradezu grotesk geschwollene, durch ein massives dunkelviolettes Hämatom verfärbte Nase abgeschwollen war. Sie erinnerte Yao unweigerlich an die Knollennase einer Figur aus einem Kinderbuch, das sie vor einiger Zeit ihrer kleinen Nichte Sina vorgelesen hatte. Wenn auch Bruno Grahls Gesicht abgeschwollen war, würde seine Nase reponiert werden, so stand es ebenfalls in dem ärztlichen Befundbericht. Das Nasenseptum würde operativ wieder in seine ursprüngliche Position gebracht werden. Und danach würde der Zahnarzt von Familie Grahl einiges zu tun haben.

Yao machte sich eine Notiz auf dem vor ihr auf ihren Knien liegenden Notizblock, Renate Hübner zu bitten, die Röntgenbilder sowie die von den HNO-Ärzten und dem Zahnarzt ausgefüllten Konsilscheine des St. Hedwig Krankenhauses anzufordern. Dafür nahm sie ein Formular zur Schweigepflichtentbindung aus der obersten Schublade des kleinen Schreibtisches vor sich und legte es auf der Schreibtischplatte zurecht.

Katrin Grahl hatte sich offensichtlich mittlerweile ein wenig beruhigt und schien sich nunmehr in ihr Schicksal zu fügen, denn plötzlich begann es aus ihr herauszusprudeln: »Mein Bruno und ich waren in der Küche, haben das Abendessen zubereitet. Da hat unser Foffy, unser kleiner Terriermischling, angeschlagen. Ist zur Wohnungstür gerannt und hat wie ein Verrückter davor gebellt …«

»Das tut er sonst nie«, ertönte es undeutlich aus dem Hintergrund, woraufhin Katrin Grahl ihrem Mann einen strengen Blick zuwarf, der diesen augenblicklich wieder verstummen ließ.

»Na, jedenfalls bellt Foffy wie ein Verrückter, und mein Bruno, der gerade am Zwiebelschneiden ist, läuft zur Tür, um nachzusehen, was da los ist. Weil alles so plötzlich passiert und so schnell geht, hat er das Küchenmesser, mit dem er gerade Zwiebeln schneidet, noch in der Hand …«

»Das hab ich gar nicht gemerkt. Ich hatte nicht vor, irgendjemandem mit dem Messer etwas anzutun, das müssen Sie mir …« Erneut erntete Bruno Grahl für seine Worte einen bösen Blick von seiner Frau, diesmal untermalt von einem ungeduldigen Schnalzen mit der Zunge, woraufhin er noch weiter auf der Untersuchungsliege in sich zusammensackte und schwieg.

»Ich bin Bruno hinterher, und in dem Moment tut es einen Schlag, das können Sie sich gar nicht vorstellen. Unsere Wohnungstür zersplittert in tausend Teile, und diese schwarz gekleideten Männer stürmen herein. Das waren richtig viele. Alle waren sie maskiert. Und bis an die Zähne bewaffnet. Wie eine schwarze Wolke, die sich plötzlich in unseren kleinen Flur schob. Mein Foffy ist wie vom Schlag getroffen an mir vorbeigerast. Zum Glück. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was diese Kerle ihm angetan hätten, wenn …« Katrin Grahl verstummte abrupt, schien in Gedanken abzuschweifen und fragte unvermittelt: »Wer kommt eigentlich für den Schaden an unserer Wohnungstür auf? Reparieren ist da wohl zwecklos. Wir brauchen eine neue Tür …« Yao wollte gerade etwas erwidern, da schien sich die ältere Dame zu besinnen und nahm den Faden ihrer Erzählung wieder auf. »Jedenfalls … mein Bruno … der war nicht so schnell wie unser Foffy. Auch wenn dann alles andere doch sehr schnell ging …« Die Unterlippe von Katrin Grahl bebte bei diesen Worten, und sie begann, mit beiden Händen ihre Schläfen zu massieren, als sie fortfuhr. »Der eine brüllte: ›Er hat ein Messer‹, und dann lag Bruno auch schon am Boden. Zwei dieser Wahnsinnigen richteten ihre Gewehre oder Maschinenpistolen, oder wie immer man die Dinger nennt, auf meinen Bruno, und ich dachte schon, jetzt ist alles aus. Die erschießen uns. Erst ihn und dann mich. Aber dann prescht ein weiterer dieser Irren wie die wilde Wutz von hinten an den beiden anderen vorbei und tritt meinem Bruno ins Gesicht. Es hat sich so furchtbar angehört …« Katrin Grahl rang jetzt mit den Tränen und schluchzte: »Ich dachte, mein Bruno ist tot.«

Im Hintergrund kommentierte Bruno Grahl die Worte seiner Frau mit einem lauten Ächzen.

»Einer der Männer hat sich auf Brunos Rücken gekniet und gefragt, ob er sich jetzt wieder beruhigt hat. Das müssen Sie sich mal vorstellen! Ob Bruno sich wieder beruhigt hat! Wir haben doch gar nichts gemacht! Dieses Rollkommando …«

***

Eine knappe Stunde später hatte Yao ihre Anamnese und die Geschädigtenuntersuchung einschließlich einer ausführlichen Fotodokumentation von Bruno Grahls Gesichts- und Mundverletzungen beendet. Sie hatte die beiden älteren Herrschaften zum Empfang der Treptowers geleitet und von dort ein Taxi gerufen. Allerdings nicht ohne den beiden zuvor einen Flyer der Opferhilfe Berlin sowie eine Visitenkarte des Opferbeauftragten Berlins und den Rat mitzugeben, sich dort professionelle Hilfe und Unterstützung zu holen, was die Beiordnung eines Opferanwaltes anbelangte, und die Möglichkeit eines Adhäsionsverfahrens anzusprechen. »In einem Adhäsionsverfahren besteht für Geschädigte einer Straftat in einem Strafverfahren die Möglichkeit, seine zivilrechtlichen Ansprüche betreffend Schmerzensgeld und Schadenersatz geltend zu machen und gegebenenfalls auch erfolgreich durchzusetzen. Alles Gute für Sie beide!«, hatte sich Yao dann von dem Ehepaar Grahl verabschiedet.

Die Behandlungskosten für ihn und die kaputte Wohnungstür sind definitiv das geringste Übel für die beiden, auch wenn ihnen das jetzt noch gar nicht bewusst ist, ging es Yao durch den Kopf. So ein Erlebnis macht etwas mit einem, verändert einen Menschen. Jede Art von erlebter Gewalt bewirkt ein Trauma, das mit Schockzuständen, Gefühlen von persönlicher Verletzbarkeit und mit der Angst vor weiteren Übergriffen einhergeht. Der eine steckt es besser weg, zumindest so weit, dass er irgendwann wieder ein normales Alltagsleben ohne größere Beeinträchtigungen führen kann. Und der andere schlechter. Die Grahls täten gut daran, sich in psychotherapeutische Behandlung zu begeben, um ein unkontrollierbares Wiedererleben dieses massiven Eingriffs in ihr Leben in den Griff zu bekommen. Damit sie nicht ihr Vertrauen in die Gesellschaft und den Rechtsstaat verlieren, misstrauisch werden, sich enttäuscht von der Außenwelt zurückziehen und völlig abschotten – was leider viel zu oft die Folge solcher traumatisierender Gewalterlebnisse ist. Das wusste Yao nur zu gut. Nicht nur aus ihrer mittlerweile zehnjährigen Berufserfahrung als Rechtsmedizinerin, sondern auch aus schmerzhafter eigener Erfahrung mit ihrer jüngeren Schwester Mailin.

Es war eben ein echter »Spezialfall«, wie Renate Hübner es ja auch angekündigt hatte. Denn es musste zweifellos nicht nur ein martialischer und beängstigender, sondern zugleich auch tief traumatisierender Anblick gewesen sein, als die Beamten der Spezialeinsatzgruppe SEG2 des Berliner SEK die Tür zur Grahlschen Wohnung mit einer Tür-Ramme geöffnet hatten und, bis zu den Zähnen bewaffnet, in das bis dato behütete Wohnumfeld hineingestürmt waren.

Yao hatte dem Ausdruck der E-Mail des LKA341, die Renate Hübner ihr zusammen mit Bruno Grahls Krankenunterlagen ausgehändigt hatte, entnommen, dass am gestrigen Tag die zum LKA gehörende SEG2 des Sondereinsatzkommandos in das von den Grahls bewohnte Mehrfamilienhaus angefordert worden war. Ein wegen Bandendiebstahls und räuberischer Erpressung verurteilter Bewohner des Hauses war nicht zum geplanten Haftantritt erschienen, und da er dem Rockermilieu zugeordnet wurde, war das SEK hinzugezogen worden.

Yao war sehr wohl bewusst, dass die Beamten der Spezialeinsatzgruppe nicht an der Tür klingelten und artig »Guten Tag!« sagten, aber in diesem Fall hatte es die Falschen getroffen. Der Mann, dem der Einsatz der SEG2 eigentlich galt, wohnte im Stockwerk über den Grahls und war, nachdem die Beamten ihren Irrtum festgestellt hatten, kurze Zeit später, nach einem erfolglosen Fluchtversuch über den Balkon seiner Wohnung, festgenommen worden. Was für die psychisch schwer mitgenommenen Grahls allerdings ohne Relevanz war.

Das für Beamtendelikte und polizeiinterne Ermittlungen zuständige LKA341 hatte den Fall Grahl übernommen, und so war Yao ins Spiel gekommen, um die Verletzungen von Bruno Grahl rechtsmedizinisch – und damit gerichtsfest und vor allen Dingen unabhängig vom LKA – zu dokumentieren.

Yao wusste, dass die Kollegen des LKA341 innerhalb der Polizeibehörde nicht wohlgelitten waren, weshalb sie auch den Spitznamen EDEKA trugen. Weil sie nicht selten das Ende der Karriere für die Kollegen, gegen die sie ihre Ermittlungen führten, bedeuteten. Wer der Beamte gewesen war, der den auf dem Boden liegenden Bruno Grahl gegen den Kopf getreten hatte, war noch Gegenstand der Untersuchung. Yao wusste, dass es an ein Wunder grenzte, dass der Neunundsiebzigjährige durch den wuchtigen Tritt gegen seinen Kopf lediglich einen Nasenbeinbruch, eine Gesichtsschwellung und den Verlust zweier Schneidezähne erlitten hatte und nicht mit einem schweren Schädel-Hirn-Trauma auf irgendeiner neurochirurgischen Intensivstation im Koma lag. Nicht nur der gewalttätige Beamte würde sich wegen »Körperverletzung im Amt« verantworten müssen, auch der Einsatzleiter dieses völlig aus dem Ruder gelaufenen SEK-Einsatzes würde sich von seinen Kollegen des direkt der Berliner Polizeipräsidentin unterstellten Justiziariats einige unangenehme Fragen gefallen lassen müssen.

***

2

Montag, 2. Dezember, 18:12 Uhr

Berlin-Wilmersdorf

Wohnung Mailin Zhou

Ihre jüngere Schwester Mailin erwartete Yao schon in der geöffneten Wohnungstür im dritten Stock des Berliner Mehrfamilienhauses aus der Jugendstilzeit. Yao hatte sich bereits bei der ersten Wohnungsbesichtigung in die Dreizimmerwohnung im bürgerlichen Stadtteil Wilmersdorf mit dem historischen Eichenparkett, den knapp vier Meter hohen Zimmerdecken und den Bleiglasfenstern im Eingangsbereich verliebt. Sie hatte sich vor vier Monaten auf die Suche nach einer neuen Bleibe für ihre vom Schicksal schwer gebeutelte, sechs Jahre jüngere Schwester begeben und war nach kurzer Zeit hier fündig geworden. Schon beim ersten Durchgang durch die an diesem Tag vom Sonnenlicht durchflutete Wohnung hatte die Achtunddreißigjährige ihre Schwester Mailin und deren beide mittlerweile knapp dreieinhalb Jahre alten Zwillingstöchter in diesen Räumen gesehen.

Deshalb hatte sie die mit der Anmietung verbundenen Kosten und Anschaffungen im knapp fünfstelligen Bereich übernommen und die horrende Miete, die sie in den nächsten Monaten alleine würde stemmen müssen, bis Mailin nicht nur mental, sondern auch finanziell wieder auf eigenen Beinen stand. Als Yao den Mietvertrag für ihre Schwester unterschrieben und den Umzug aus deren alter Wohnung in Marzahn organisiert hatte, hatte sich ihre sechs Jahre jüngere Schwester noch in einer psychiatrischen Fachklinik in Berlin-Lichterfelde zur stationären Behandlung befunden. Der Klinikaufenthalt war nicht nur mit einem Suizidversuch Mailins einhergegangen. Sondern er hatte Yao, als einzige nahe Angehörige der sich damals in einem Ausnahmezustand befindlichen Zweiunddreißigjährigen, an ihre psychische und physische Belastungsgrenze gebracht.

Mittlerweile war Mailin entlassen worden und befand sich seitdem in ambulanter Betreuung in einer nur wenige Straßen entfernten therapeutischen Einrichtung.

Die von Yao organisierte ambulante Therapie hatte sich vor zwei Monaten nahtlos an Mailins Klinikaufenthalt angeschlossen, und inzwischen wurde Yaos Schwester nur noch drei Tage halbtags dort vorstellig. »Ausschleichen der Unterstützung«, so hatte es Mailins Therapeut, mit dem Yao in engem Kontakt stand, genannt. Soweit Yao es beurteilen konnte, war ihre Schwester auf einem guten Weg …

»Ich mach uns eine schnelle Nudel und vorweg Salat Caprese«, sagte Yao und hielt ihrer Schwester den Stoffbeutel mit ihren Einkäufen – Nudeln, Mozzarella, Schinken, Cherrytomaten und Basilikum – entgegen, aber Mailin schob ihren Arm sanft zur Seite, trat ganz nah an sie heran und umarmte sie derart fest, dass Yao fast die Luft wegblieb. Einen kurzen Moment blieben die Schwestern eng umschlungen stehen, dann löste sich Mailin von ihr und sagte: »Komm rein, Bine. Leg ab. Wir kochen zusammen, wie früher. Ich bin dir so unendlich …«

»Du würdest dasselbe für mich tun, Kleine«, unterbrach Yao sie und strich ihrer Schwester sanft über die Wange. Dann entledigte sie sich ihrer Schuhe und Jacke im Flur und ging mit den Einkäufen in Richtung Küche.

Noch bewohnte Mailin die im Exposé als »hochherrschaftlich« angepriesene Wohnung mit der imposanten Deckenhöhe allein. Der Makler hatte keineswegs übertrieben, wie Yao jedes Mal wieder feststellte, wenn sie die Räume betrat. In wenigen Wochen sollte Mailins Tochter Sina zu ihr ziehen. Sina war nach den Vorfällen, die Mailins Familie auseinandergerissen hatten, zunächst für ein halbes Jahr in der Wohngruppe einer Kriseneinrichtung untergebracht gewesen. Dort lebten Sozialarbeiter mit ihren Familien zusammen mit Kindern, die vom Jugendamt aus ihrem Elternhaus heraus und in Obhut genommen werden mussten. Mittlerweile befand sich Sina seit fast acht Monaten bei einer Pflegefamilie in Berlin-Hellersdorf, wo es ihr den Umständen entsprechend – immer noch getrennt von ihrer Mutter und Zwillingsschwester – gut ging. Davon hatte Yao sich während des stationären Aufenthalts von Mailin in der psychiatrischen Fachklinik bei regelmäßigen Besuchen immer wieder überzeugt.

Inzwischen verbrachte die knapp dreijährige Sina zwei Nachmittage die Woche bei Mailin und sollte in Kürze, wenn die letzten Formalitäten mit dem Jugendamt geregelt waren, ganz zu ihrer Mutter nach Wilmersdorf ziehen. Das Kinderzimmer war liebevoll von Mailin hergerichtet worden, und auch Yao sehnte den Tag herbei, an dem Mutter und Tochter wieder vereint sein würden.

»Heute waren ein Mann und eine Frau von der Wohlfahrt hier«, sagte Mailin, während sie, am Küchentisch sitzend, den Mozzarella in mundgerechte Scheiben riss und Yao die Cherrytomaten in der Küchenspüle abwusch.

»Und?«, fragte Yao, die wusste, dass dies ein sensibles Thema für ihre Schwester war, denn es ging dabei um ihre zweite Tochter, Siara, Sinas Zwillingsschwester.

»Ich benötige zunächst die Zustimmung des Wohnungseigentümers für bauliche Veränderungen, haben sie gesagt.«

Yao nickte stumm, während sie die Cherrytomaten mit einem Küchentuch abtrocknete.

»Ich hab sie, wie du gesagt hast, auch explizit nach Zuschüssen für die Umbaumaßnahmen der Wohnung hier gefragt«, fuhr Mailin fort. »Sie sagten, es gibt verschiedene Möglichkeiten, an finanzielle Unterstützung zu kommen. Pflegeversicherung, gesetzliche Unfallversicherung, Sozialamt, Jugendamt, Rehabilitationsträger …«, zählte sie die potenziellen Mittelgeber auf.

Einige bauliche Veränderungen waren dringend notwendig in Mailins neuer Wohnung, um Barrierefreiheit und behindertengerechtes Wohnen für ihre Tochter Siara zu ermöglichen, wenn diese nach ihrer Reha-Behandlung die kleine Familie wieder komplettieren sollte.

Mailins Tochter Siara war im Alter von anderthalb Jahren Opfer eines brutalen Gewaltdeliktes geworden, bei dem sie infolge schwerster Kopfverletzungen eine halbseitige Lähmung davongetragen hatte. Und als ob all das nicht schon genug Unheil für ihre Familie gewesen wäre, stand Mailin damals anfangs selbst unter polizeilichem Verdacht, ihre Tochter misshandelt zu haben. Deshalb war ihr nicht nur das Sorgerecht für Siara entzogen worden, sondern auch für Sina, die daraufhin vom Jugendamt in der Kriseneinrichtung untergebracht worden war.

Und auch als sich kurze Zeit später herausstellte, dass sie zu Unrecht in den Fokus der Ermittlungsbehörden geraten war, hatten diese Ereignisse eine unheilvolle Spirale aus Alkoholexzessen und Selbstverletzung bei Mailin ausgelöst, sodass die Zweiunddreißigjährige schließlich aufgrund akuter Selbstgefährdung per richterlichem Beschluss auf einer geschlossenen Station der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik aufgenommen worden war. Dort hatte sie sich über ein Jahr in stationärer Behandlung befunden.

»Im Wohnzimmer liegt ein Merkblatt, welche Förderungen für einen Umbau infrage kommen, und die Visitenkarte der beiden von der Wohlfahrt«, setzte Mailin ihren Bericht von dem heutigen Besuch der beiden Mitarbeiter fort.

Yao war schon länger klar, dass ein barrierefreier und behindertengerechter Umbau der Dreizimmerwohnung sie vor eine weitere gewaltige finanzielle Herausforderung stellen würde, wenn es den Schwestern nicht gelang, Fördermittel oder eine andere finanzielle Unterstützung zu bekommen.

Yao hatte bei der Auswahl der Wohnung explizit darauf geachtet, dass vom Vestibül des Wilmersdorfer Jugendstilhauses im Erdgeschoss ein Fahrstuhl, der ebenerdig lag und nicht über Treppen erreicht werden musste, bis direkt vor die Wohnung im dritten Stockwerk fuhr. Aber auch wenn der Umbau nur das zukünftige Schlafzimmer der kleinen Siara und das Bad betreffen würde, hatten Yaos erste Recherchen ergeben, dass für diese Maßnahmen eine Summe im mittleren fünfstelligen Bereich durchaus realistisch erschien.

Aber das Drama um Mailins Familie hatte schon einige Zeit vor der Misshandlung Siaras und der Trennung der beiden Zwillingsschwestern von ihrer Mutter seinen unheilvollen Lauf genommen. Mailins Mann Thanh war vor knapp zwei Jahren bei einem Arbeitsunfall während seiner Frühschicht im Cargo-Bereich des Flughafens BER unter einem tonnenschweren Container begraben und getötet worden. Mailin war von einem Tag auf den anderen mit ihren beiden damals gerade knapp eineinhalb Jahre alten Zwillingstöchtern Sina und Siara auf sich allein gestellt gewesen. Die Deutschchinesin und ihr vietnamesischer Mann hatten sich geliebt. Der hochgewachsene Thanh mit dem pechschwarzen Haar hatte Mailin, die in ihrer Pubertät autoaggressive Tendenzen gezeigt und sich geritzt hatte, gutgetan. Thanh war nicht nur ein fröhlicher, stets gut gelaunter und dazu auch noch hart arbeitender Mann gewesen, der seine Frau Mailin auf Händen getragen und ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen hatte. Er war auch ein liebevoller Vater für ihre beiden kleinen Zwillingstöchter gewesen.

Die Zwillingsschwestern wuchsen seit fast zwei Jahren ohne Vater und mittlerweile auch schon über ein Jahr ohne Mutter und voneinander getrennt auf, ging es Yao bei den Erinnerungen an die verhängnisvollen Ereignisse durch den Kopf. Doch schließlich schüttelte sie die dunklen Bilder ab und sagte zu ihrer Schwester, wobei sie versuchte, enthusiastisch und positiv zu klingen: »Eins nach dem anderen. Wir holen Siara zu dir. Ein Schritt nach dem anderen, wie ich es dir schon immer gesagt habe. Du stehst wieder so gut wie auf eigenen Füßen. Sina wird in Kürze hier bei dir wohnen. Weihnachten feiern wir drei zusammen. Ich freue mich schon so sehr darauf. Und das mit Siara findet sich auch. Glaub mir.« Yao hoffte, dass ihre Schwester ihr Glauben schenken würde. Und sie hoffte noch etwas. Dass Alkohol und die damit verbundenen impulsiven Ausfälle und Selbstverletzungen ihrer Schwester nun der Vergangenheit angehörten. Aber sie wusste als Medizinerin auch, dass ihre kleine Schwester zeit ihres Lebens eine suchtgefährdete, labile Person sein würde, die durch persönliche oder familiäre Niederlagen jederzeit wieder aus der Bahn geworfen werden konnte. Mailins größter Feind lauert in ihr selbst. Im Moment schlummert dieser Feind, verhält sich ruhig. Aber vielleicht wetzt er bald schon wieder die Messer, ging es Yao durch den Kopf, als sie den letzten Mozzarella auf den Teller vor sich legte.

***

3

Dienstag, 3. Dezember, 7:31 Uhr

Berlin, Treptowers

BKA-Einheit »Extremdelikte«, Besprechungsraum

Guten Morgen, Berlin, du kannst so hässlich sein«, begrüßte Professor Paul Herzfeld seine Mitarbeiter mit Augenzwinkern zu der Frühbesprechung an diesem Morgen.

Yao war schon länger aufgefallen, dass ihr Chef seit einiger Zeit ausgesprochen gut gelaunt war. Und das fast ausnahmslos, wie es schien. Die sonst tief in seiner Stirnhaut eingegrabenen Falten schienen neuerdings deutlich flacher als sonst zu sein, die üblicherweise relativ prominenten Augenringe unter seinen Unterlidern schienen weniger tief liegend, und irgendwie wirkte sein Teint ungewöhnlich frisch für die dunkle Jahreszeit. Anfangs hatte Yao gedacht, dass ihr Chef sich vielleicht Botox in die Stirn hatte spritzen lassen und sich womöglich einer Unterlidstraffung unterzogen hatte, aber kosmetische oder gar schönheitschirurgische Eingriffe passten so gar nicht zu Herzfeld, der durch und durch uneitel war. Und da die Falten auf seiner Stirn nicht völlig verschwunden und seine Mimik mit den um die Augenwinkel gelegenen Lachfalten völlig unverändert schien, waren weder Botox noch eine Schönheitsoperation, deren Spuren in Form von Hämatomen noch viele Wochen zu sehen gewesen wären, definitiv keine Option, um sein irgendwie verändertes Aussehen zu erklären.

Möglicherweise ist Herzfeld ja frisch verliebt, ging es Yao durch den Kopf, während sie ihren gut gelaunten, vor Elan und Esprit nur so sprühenden Chef an der Stirnseite des großen Konferenztisches im Besprechungsraum ihrer Abteilung betrachtete. Yao war seit einigen Wochen zudem aufgefallen, dass Herzfelds Audi, wenn sie selbst zwischen achtzehn und neunzehn Uhr das BKA-Gebäude verließ, nicht mehr, wie bisher üblich, auf seinem Parkplatz vor den Treptowers stand. Das war ungewöhnlich, denn üblicherweise war der Chef der »Extremdelikte« nicht nur morgens der Erste, sondern auch abends der Letzte, der die rechtsmedizinische Abteilung des BKA verließ. Von Herzfelds Privatleben wusste Yao lediglich, dass er seit mittlerweile fast zwanzig Jahren von seiner Frau geschieden war, nicht noch einmal geheiratet hatte und dass aus dieser Ehe eine erwachsene Tochter namens Hannah stammte, die an der Universität Pécs in Ungarn Medizin studierte. Ansonsten war bekannt, dass Herzfeld Wert darauf legte, seinen Mitarbeitern gegenüber den Mantel des Schweigens über sein Privatleben zu decken.

Es war für Yao schwer vorstellbar, dass der knapp zwanzig Jahre ältere Herzfeld sich vielleicht gerade wie ein verliebter Schuljunge fühlte, aber irgendwo musste seine Veränderung ja herrühren. Es war wie vor Gericht, wie Herzfeld selbst immer zu sagen pflegte: Ausschließen lässt sich per se erst mal gar nichts …

Yao riss sich aus ihren Gedanken und hörte, wie Herzfeld, der zwischenzeitlich einen taubengrauen und einen hellroten Schnellhefter von einem kleinen Aktenstapel vor sich gezogen hatte, sagte: »Kommen wir zum ersten Fall des heutigen Tages. Oder vielmehr den ersten beiden Fällen. Und ich kann Ihnen versichern, dass ich etwas Derartiges oder auch nur annähernd Vergleichbares bisher noch nicht gesehen habe. Bizarr reicht wohl kaum aus, um die Szenerie, die ich Ihnen gleich präsentieren werde, zu umschreiben.«

Herzfeld, der wusste, wie man Spannung erzeugte, machte eine rhetorische Pause, in der er wie unbeteiligt in den beiden Schnellheftern vor sich auf dem Tisch blätterte. Dann blickte er auf und sah seine Mitarbeiter – neben Sabine Yao waren an diesem Morgen die Assistenzärzte Doktor Wiebke Rath, Doktor Alfons Murau und Doktor Tomas Tomski sowie Oberarzt Doktor Martin Scherz zugegen – der Reihe nach an, so als ob er ihrer eben gerade erst gewahr geworden war.

Bis der Beamer, den Herzfeld mittels der Fernbedienung aktivierte, mit einem monotonen Brummen zum Leben erwachte, war es für einen kurzen Moment in dem großen Besprechungsraum so still gewesen, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Denn wenn Herzfeld feststellte, irgendetwas in seinen bisherigen dreißig Berufsjahren als Rechtsmediziner noch nicht gesehen zu haben, und das Ganze auch noch als bizarr bezeichnete, konnte man sicher sein, das es sich um einen once in a lifetime-Fall handelte, wie es der gerne in Anglizismen sprechende Youngster im Team, Tomas Tomski, bei ähnlichen Gelegenheiten ausdrückte.

Auf der Leinwand an der Stirnseite des Besprechungsraumes schräg hinter Herzfeld erschien jetzt das erste Bild. Herzfeld hatte nicht zu viel versprochen, dachte Yao, kaum dass sie einen Blick darauf geworfen hatte. Auch sie konnte sich nicht erinnern, irgendwann in ihrer bisherigen beruflichen Laufbahn etwas Vergleichbares gesehen zu haben. Weder an einem Leichenfundort noch in einem der unzähligen deutsch- und englischsprachigen Lehrbücher der Rechtsmedizin, die sie seit ihrem Medizinstudium regelrecht verschlungen hatte.

***

4

Dienstag, 3. Dezember, 7:36 Uhr

Berlin-Wedding

Hassan Khalaf wusste, dass er sich auf die Suche nach der buchstäblichen Nadel im Heuhaufen begeben würde. Das war sein erster Gedanke, das war ihm von Anfang an klar gewesen. Auch wenn er es nicht wollte, sich immer noch innerlich sträubte, wusste er, dass er es tun musste. Vielleicht war es sein Schicksal, dem er nicht entfliehen konnte. Und vielleicht steckte dahinter auch ein höherer Sinn. Aber das wusste nur Allah. Auch wenn Khalaf kein strenggläubiger Mann war, die Moschee nur zum Freitagsgebet aufsuchte, wenn er dort jemanden treffen wollte, von dem er sich Informationen erhoffte oder um eine Gefälligkeit einzufordern, wusste er doch, dass sich Dinge häufig fügten. Ob man wollte oder nicht. Manchmal fügten sich Dinge so zueinander, dass daraus ein Ganzes wird …

Der hagere Zweiundvierzigjährige mit der drahtigen Statur eines Leichtathleten schnipste die filterlose Zigarette auf die Straße, wo sie in einem kleinen Funkenregen landete und unter ein parkendes Auto rollte. Khalaf schlug den Kragen seiner schwarzen Lederjacke hoch und presste das Handy in seiner linken Hand fest ans Ohr, um keinesfalls ein Wort von dem, was der Mann am anderen Ende der Leitung ihm gerade berichtete, zu verpassen. Es war zwar ein relativ milder Dezembertag und der Winter hatte noch nicht Einzug in der deutschen Hauptstadt gehalten, aber die immer mal wieder auffrischenden Windböen in den Straßenschluchten des Wedding waren alles andere als angenehm, wenn man ihnen schutzlos ausgeliefert war. Der ganz in Schwarz gekleidete Mann steuerte den Hauseingang an, auf dessen Höhe er sich gerade befand, um dort, vor dem Wind geschützt, sein Telefonat fortzusetzen.

»Yasser ist acht Jahre alt. Fast neun. Er ist der Sohn von Ayasha. Du kennst …«, ertönte die Stimme eines Mannes am anderen Ende der Leitung. »Ich kenne Ayasha nicht«, unterbrach Khalaf den anderen. »Du sagst, es ist Familie?«

»Ja«, antwortete der Anrufer schnell. »Ayasha ist die Tochter von Hadith. Hadith Awad, der Großcousin deines Vaters. Hadith aus Madaba, deinem Heimatort.«

»Das ist lange her«, erwiderte Khalaf barsch. »Und mein Vater, Allah sei seiner Seele gnädig, hatte viele Großcousins. Ganz Madaba ist Familie, wenn man es so sieht.«

»Siehst du, Familie«, witterte der Mann am Handy seine Chance. »Bitte, ya Kbir, du bist der Einzige, der uns helfen kann. Tu es für deinen Vater, den Cousin von Hadith …«

»Lass meinen Vater aus dem Spiel«, unterbrach Khalaf den Anrufer erneut, diesmal mit einem zischenden Unterton in seiner Stimme, der keine Zweifel daran aufkommen ließ, wer bei diesem Gespräch das Sagen hatte. Sofort verstummte der Mann am anderen Ende der Leitung, und es herrschte Schweigen, bis Khalaf weitersprach: »Was ist mit der Polizei? Hat Ayasha das Verschwinden ihres Sohnes zur Anzeige gebracht?«

»Was … wie?«

»Eine Vermisstenanzeige. Bei der Polizei. Das ist das übliche Vorgehen, wenn ein achtjähriger Junge …«, setzte Khalaf an, aber diesmal war er es, der unterbrochen wurde. »Das geht nicht, Sayed. Ayasha und ihr Junge sind offiziell gar nicht in Deutschland. Kein Aufenthaltsrecht. Wie so viele unserer Brüder und Schwestern. Ayashas Mann, Melik Khatib, hatte versucht, für sich und seine Familie einen Aufenthaltstitel zu bekommen, und hatte auch schon die Papiere für die Ausländerbehörde …« Der Mann am anderen Ende der Leitung machte eine Pause, und es war ein kurzes Stöhnen zu vernehmen, dann sprach er weiter: »Aber daraus wurde nichts. Melik ist bereits seit fast einem Jahr verschwunden. Untergetaucht. Er hatte Stress. Nicht nur mit den deutschen Behörden … Er hat sich auch anderswo Feinde gemacht. Wenn Ayasha zur Polizei gehen würde …«, ertönte es bedrückt am anderen Ende der Leitung.

»Der Junge ging auch nicht zur Schule, gehe ich da recht in der Annahme«, wollte Khalaf wissen.

»Das stimmt, ya Kbir«, war die Antwort, gefolgt von einem laut vernehmlichen, verzweifelten Stöhnen.

Shu hal musiba, hayde misch hayne, fluchte Khalaf innerlich. So eine verdammte Scheiße, das macht das Ganze nicht einfacher.

***

5

Dienstag, 3. Dezember, 7:40 Uhr

Berlin, Treptowers

BKA-Einheit »Extremdelikte«, Besprechungsraum

Das zunächst noch teilweise von dem Chef der »Extremdelikte« verdeckte erste Foto auf der Leinwand zeigte augenscheinlich einen Leichenfundort im Freien, wie Yao an der Vegetation im Hintergrund, überwiegend Nadelbäume, erkennen konnte. An einer an ein Klettergerüst erinnernden Konstruktion hingen von einem quer verlaufenden Holzstamm, der von Ästen nur unzureichend befreit worden war, zwei Körper, die mehr an Puppen als an Menschen erinnerten. Herzfelds Gesicht war teilweise in den grellen Lichtschein des Beamers getaucht, und es war ein bizarrer Anblick, wie das Gesicht eines der beiden Toten, oder zumindest das, was mal ein Gesicht gewesen war, sich jetzt auf Herzfelds Gesicht projizierte. Für einen kurzen Moment gab ihm das das Aussehen einer unfertig geschnitzten Puppe, ehe er sich mit seinem Stuhl aus der Projektionsfläche zurückbewegte und die Leinwand vollständig freigab.

Auf den nun folgenden Fotos, die Herzfeld immer für wenige Sekunden stehen ließ, ehe er das nächste Bild erscheinen ließ, war zu sehen, dass die beiden wie Puppen aufgehängten Toten völlig identisch, ganz in Schwarz, gekleidet waren. Beide trugen lange, schwarze Samtkleider, darüber jeweils einen schwarzen Strickpullover und darüber eine nicht unterscheidbare schwarze Leder- oder Kunstlederjacke.

Die beiden Toten hingen nur wenige Zentimeter voneinander entfernt von der selbst gezimmerten Hängevorrichtung herab, die Yao mit einem leichten Schaudern an einen mittelalterlichen Galgen erinnerte. Die Schultern der beiden schienen sich fast zu berühren, was ein seltsames Bild von so etwas wie Nähe oder Verbundenheit der beiden, über den Tod hinaus, vermittelte. Und auch die nach vorne geneigte Position der beiden Körper, mit den gebeugten Knien, die fast den Boden berührten, hatte etwas Surreales und erinnerte Yao an die Gebetshaltung von Kirchengängern auf einer Kirchenbank.

Um den Hals der beiden lag jeweils die Schlinge eines grob geflochtenen dunklen Strickes, der am anderen Ende mit zahlreichen Umwicklungen an dem horizontal verlaufenden Holzstamm befestigt war, von dem die beiden herabhingen.

Der grob zurechtgezimmerte Stamm, den Yao auch schon auf dem ersten Bild gesehen hatte, war, wie sie jetzt erkannte, mit einem Metallrohr zusätzlich verstärkt worden. Auf der einen Seite lag dieser als die eigentliche Aufhängevorrichtung genutzte Querbalken in der Astgabel eines Baumes, auf der anderen Seite lag er auf einem ebenfalls grob zurechtgestutzten Kiefernstamm, der dort in den Boden gerammt war. Dieser war, wie Yao auf der nun folgenden Detailaufnahme erkennen konnte, in vertikaler Position im Boden in einer Metallvorrichtung verankert und zusätzlich von zwei Seiten mit zwei schrägen Holzbalken abgestützt worden.

Hier hat sich jemand verdammt viel Mühe gegeben. In den Bau dieses Galgens wurde offensichtlich viel Zeit und Kraft investiert, ging es Yao beim Anblick der offensichtlich akribisch geplanten und mit viel Aufwand errichteten Konstruktion durch den Kopf.

Das Eindrücklichste an dieser bizarren Szenerie waren aber die Gesichter der beiden aufgehängten Toten oder vielmehr das, was davon noch übrig war. Und auch hier bot sich bei beiden wieder ein identisches Bild.

Die Schädel der beiden waren kahl, nur vereinzelt waren dünne, flaumartige Härchen von wenigen Millimetern Länge auf der wie vertrocknetes, bräunliches Leder aussehenden Kopfhaut zu erkennen.

Und nichts von dem, was einmal die Gesichtsweichteile gewesen waren, war noch seinen originären Strukturen wie Stirn, Augenlider, Nase, Lippen oder Kinn zuzuordnen.

***

6

Dienstag, 3. Dezember, 7:43 Uhr

Berlin-Wedding

Wie sollte er in einer Stadt wie Berlin mit knapp vier Millionen Einwohnern einen achtjährigen Jungen, der weder polizeilich gemeldet noch in irgendwelchen sozialen Gefügen verankert zu sein schien, ausfindig machen? Ein aussichtsloses Unterfangen? Vielleicht für andere. Aber nicht für ihn. Hassan Khalaf wäre wohl nicht knapp drei Jahre lang als Regulator für Asad Saad, das Oberhaupt der seit den Achtzigerjahren in Berlin ansässigen Saad-Familie, tätig gewesen, wenn er nicht über ganz besondere Fähigkeiten verfügen würde.