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Tödliche Rätsel: Ein Rechtsmediziner deckt auf, was andere verbergen wollen Rechtsmedizin im Dienst der Verbrechensaufklärung: Forensik-Spezialist Professor Michael Tsokos, Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner hilft, spektakuläre Kriminalfälle aufzuklären – am Tatort, auf dem Obduktions-Tisch, im Labor und vor Gericht. In seinem neuen Sachbuch geht es um Mord und Totschlag, um Verbrechen und rohe Gewalt. Ein bekannter Politiker bringt einen Freund um, transportiert dessen Leiche in seine Wohnung und tötet sich dann selbst. Ein Mann ertränkt seine Frau in der Badewanne und inszeniert den Mord als Unfall. Ein Arzt verstümmelt sich selbst und täuscht einen Überfall vor. Mit seinen rechtsmedizinischen Gutachten konnte Michael Tsokos den Ermittlungsbehörden bei diesen Kriminalfällen entscheidende Hinweise geben. Denn immer geht es um die Frage: War es Mord, Suizid ein Unfall – oder war es ein natürlicher Tod? True Crime der Extraklasse – packend, aufrüttelnd und nichts für schwache Nerven Hautnah und packend schildert Tsokos rätselhafte Verbrechen, an deren Aufklärung er selbst maßgeblich beteiligt war. Der Forensik-Spezialist folgt den Spuren des Verbrechens und fügt die Indizien zu einem schlüssigen Gesamtbild zusammen, das zur Rekonstruktion des Kriminalfalles führt. Das ist bester True Crime.
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Seitenzahl: 451
Michael Tsokos
Neue Fälle von Deutschlands bekanntestem Rechtsmediziner
Knaur eBooks
Rechtsmedizin im Dienst der Verbrechensaufklärung: Forensik-Spezialist Professor Michael Tsokos, Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner, hilft, spektakuläre Fälle aufzuklären – am Tatort, auf dem Obduktionstisch, im Labor und vor Gericht. In seinem neuen Sachbuch geht es um Mord und Totschlag, um Verbrechen und rohe Gewalt.
Ein bekannter Politiker bringt einen Freund um, transportiert dessen Leiche in seine Wohnung und tötet sich dann selbst. Ein Mann ertränkt seine Freundin in der Badewanne und inszeniert den Mord als Unfall. Ein Arzt verstümmelt sich selbst und täuscht einen Überfall vor.
Mit seiner rechtsmedizinischen Expertise konnte Michael Tsokos den Ermittlungsbehörden bei diesen Fällen entscheidende Hinweise geben. Denn immer geht es um die Frage: War es Mord, Suizid, ein Unfall – oder war es ein natürlicher Tod? Hautnah und packend schildert Tsokos rätselhafte Verbrechen, an deren Aufklärung er selbst maßgeblich beteiligt war. Der Forensik-Spezialist folgt den Spuren des Verbrechens und fügt die Indizien zu einem schlüssigen Gesamtbild zusammen, das zur Rekonstruktion des Geschehens führt. Das ist bester True Crime.
Motto
Vorwort
Auf Kaperfahrt
Donnerstag, 15. September 2016, 18:00 Uhr, Berlin-Steglitz
Donnerstag, 15. September 2016, ca. 18:20 Uhr, S-Bahn Linie 1
Donnerstag, 15. September 2016, abends, Wohnung Jan Mirko L., Berlin-Wedding
Rückblende: Der Stalker und sein Opfer – Ende 2011 bis Mitte 2016
Nacht von Donnerstag, den 15. September, auf Freitag, den 16. September 2016, Wohnung Jan Mirko L., Berlin-Wedding
Rückblende: Das »Nazi-Kind« – 70er/80er Jahre
Freitag/Samstag, 16./17. September 2016, Berlin-Steglitz, Wohnung Gerwald Claus-Brunner
Rückblende: Schiffbruch als politischer Pirat – 2011 bis 2016
Piratendämmerung: Sonntag, 18. September 2016, Berlin-Steglitz, Wohnung Gerwald Claus-Brunner
Montag, 19. September 2016, mittags, Berliner Abgeordnetenhaus, Büro der Piraten-Fraktion
Montag, 19. September 2016, 16:00 Uhr, Berlin-Steglitz, Wohnung Gerwald Claus-Brunner
Montag, 19. September 2016, 18:00 Uhr, Berlin-Steglitz, Wohnung Claus-Brunner
Dienstag, 20. September 2016, 8:00 Uhr, Berlin-Moabit, Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin Berlin
Mittwoch, 21. September 2016, Berlin-Tiergarten, LKA-Gebäude
Killer auf vier Pfoten
Hamburg-Wilhelmsburg, Schulgelände Buddestraße, 26. Juni 2000, 11:40 Uhr
Rückblende: Mitte bis Ende der 1990er Jahre
Hamburg-Wilhelmsburg, Schulgelände Buddestraße, 26. Juni 2000, 11:39 Uhr
Neuland auch für den Rechtsmediziner
Der Prozess
Warum manche Hunde Menschen attackieren
Die Kampfhund-Debatte nach Volkans Tod
Die Hundeverrücktheit hat ihren Preis
Ein schlimmer Finger
Montag, 26. März 2012, Fichtenwalde, Zahnarztpraxis Roland K.
Montag, 26. März 2012, spätnachmittags, Raum Potsdam
Montag, 26. März 2012, abends, Fichtenwalde, Zahnarztpraxis Roland K.
Montag, 26. März 2012, abends, Potsdam, Ernst-von-Bergmann-Krankenhaus
Dienstag, 27. März 2012, Potsdam, Ernst-von-Bergmann-Krankenhaus
Mittwoch, 28. März 2012, Potsdam, Ernst-von-Bergmann-Krankenhaus
Donnerstag, 29. März 2012, Potsdam, Brandenburgisches Landesinstitut für Rechtsmedizin
Sommer 2012, Staatsanwaltschaft Potsdam
Sommer 2013, Amtsgericht Potsdam
Dr. Siebenfinger & Co.: Wenn sich Ärzte ins eigene Fleisch schneiden
Just hanging around
Das Kreuz mit dem Suizid
Der Suizid aus rechtsmedizinischer Sicht
Falsch verstandene Bruderliebe
Die Obduktion bringt die Wahrheit ans Licht
Täuschen, um der Schande zu entgehen
Erhängen – Erdrosseln – Erwürgen
Suizid als letzter Fluchtweg?
Die Akte Demmler
Dienstag, 3. Februar 2009, 6:25 Uhr, Berlin-Moabit, Justizvollzugsanstalt, Station G1
Rückblende I: Ostdeutschland, vierziger bis siebziger Jahre
Dienstag, 3. Februar 2009, ca. 8:30 Uhr, Berlin-Moabit, Justizvollzugsanstalt, Station G1
Dienstag, 3. Februar 2009, ca. 9:10 Uhr, Berlin-Moabit, Justizvollzugsanstalt, Station G1
Rückblende II: Ostdeutschland, achtziger Jahre
Dienstag, 3. Februar 2009, ca. 9:15 Uhr, Berlin-Moabit, Justizvollzugsanstalt, Büro Sozialdienst
Rückblende III: neunziger und nuller Jahre bis 2008
Dienstag, 3. Februar 2009, ca. 9:40 Uhr, Berlin-Moabit, Justizvollzugsanstalt, Arztgeschäftsstelle (AG II)
Dienstag, 3. Februar 2009, 18:55 Uhr, Polizeidirektion 3, Verbrechensbekämpfung, Berlin-Moabit
Montag, 9. Februar 2009, Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin Berlin, Berlin-Moabit
Epilog: Top of the Pedos
Versalzen
Samstag, 13. August 2005, 18:00 Uhr, Rotenburg (Wümme), Betreuungszentrum Weidenhof
Samstag, 13. August 2005, 18:40 Uhr, Rotenburg (Wümme), Betreuungszentrum Weidenhof
Samstag, 13. August 2005, 20:00 Uhr, Rotenburg (Wümme), Betreuungszentrum Weidenhof
Samstag, 13. August 2005, 23:00 Uhr, Rotenburg (Wümme), Diakoniekrankenhaus, internistische Intensivstation
Sonntag, 14. August 2005, Rotenburg (Wümme), Diakoniekrankenhaus, internistische Intensivstation
Montag, 15. August 2005, Rotenburg (Wümme), Diakoniekrankenhaus, internistische Intensivstation
Dienstag, 16. August 2005, Rotenburg (Wümme), Diakoniekrankenhaus, internistische Intensivstation
Donnerstag, 18. August 2005, 13:00 Uhr, Institut für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf
Montag, 31. Oktober 2005, Institut für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf
Anfang 2006 bis Anfang 2008, Amtsgericht Rotenburg (Wümme)
Freitag, 15. Juli 2005, Landgericht Frankenthal
Baden gegangen
Samstag, 12. Mai 2007, Berlin-Lichtenberg
Sonntag, 13. Mai 2007 (Muttertag), tagsüber (ca. 11:00–20:00 Uhr), Berlin-Lichtenberg, Wohnung Ingo P.
Sonntag, 13. Mai 2007 (Muttertag), abends, Berlin-Lichtenberg, Wohnung Ingo P.
Sonntag, 13. Mai 2007 (Muttertag), 23:40 Uhr, Berlin-Lichtenberg, Wohnung Ingo P.
Montag, 14. Mai 2007, 0:30 Uhr, Berlin-Lichtenberg, Frankfurter Allee, Café Galaxy
Montag, 14. Mai 2007, 1:30 Uhr, Berlin-Pankow, Wohnung Sven R.
Montag, 14. Mai 2007, 2:15 Uhr, Berlin-Pankow, Alabama-Bar
Gefährlicher Badespaß
Mittwoch, 16. Mai 2007, Berlin-Moabit, Institut für Rechtsmedizin der Charité
Mittwoch, 16. Mai 2007, Berlin-Tiergarten, LKA-Gebäude Keithstraße
Donnerstag, 17. Mai 2007, Berlin-Tiergarten, LKA-Gebäude
Donnerstag, 17. Mai 2007, Berlin-Tiergarten, Amtsgericht
Freitag, 25. Mai 2007, Berlin-Tiergarten, Amtsgericht
Dienstag, 3. Juli 2007, Staatsanwaltschaft Berlin
Mittwoch, 31. Oktober 2007, Berlin, Moabiter Kriminalgericht, 29. Große Strafkammer
Montag, 5. November 2007, Berlin, Moabiter Kriminalgericht, 29. Große Strafkammer
Mittwoch, 14. November 2007, Berlin, Moabiter Kriminalgericht, 29. Große Strafkammer
Abgestürzt
Wenn Berühmtheiten aus dem Fenster fallen
Dienstag, 24. September 2013, 0:33 Uhr, Berlin-Prenzlauer Berg, Bötzowstraße / Ecke Käthe-Niederkirchner-Straße
Dienstag, 24. September 2013, 0:48 Uhr, Berlin-Prenzlauer Berg, Käthe-Niederkirchner-Straße / Ecke Bötzowstraße
Dienstag, 24. September 2013, 1:50 Uhr, Berlin-Prenzlauer Berg, Käthe-Niederkirchner-Straße 18, Hinterhaus
Mittwoch, 25. September 2013, Berlin-Tiergarten, LKA-Gebäude Keithstraße
Freitag, 27. September 2013, Berlin-Moabit, Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin
Mittwoch, 9. Oktober 2013, Berlin-Tiergarten, LKA-Gebäude Keithstraße
Donnerstag, 31. Oktober 2013, Staatsanwaltschaft Berlin
Ende Juli 2009, Berlin-Prenzlauer Berg: Unfall oder Suizid?
Überfordert
Samstag, 20. August 2011, 16:20 Uhr, Berlin-Weißensee, Große Seestraße
Samstag, 20. August 2011, 16:25 Uhr, Berlin-Weißensee, Große Seestraße, Wohnung Anna-Gerda A., Wohnzimmer
Samstag, 20. August 2011, 16:50 Uhr, Berlin-Weißensee, Große Seestraße, Wohnung Anna-Gerda A., Schlafzimmer
Samstag, 20. August 2011, 17:05 Uhr, Berlin-Weißensee, Große Seestraße, Wohnung Anna-Gerda A., Wohnzimmer
Samstag, 20. August 2011, 17:15 Uhr, Berlin-Weißensee, Große Seestraße, Wohnung Anna-Gerda A.
Samstag, 20. August 2011, 18:05 Uhr, Berlin-Weißensee, Große Seestraße 22
Samstag, 20. August 2011, 19:20 Uhr, Berlin-Weißensee, Große Seestraße, Wohnung Anna-Gerda A., Schlafzimmer
Samstag, 20. August 2011, 19:50 Uhr, Berlin-Niederschönhausen, Pflegeeinrichtung Elisabeth-Diakoniewerk
Freitag, 26. August 2011, 8:15 Uhr, Berlin-Moabit, Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin
Mittwoch, 21. März 2012, Berlin-Tiergarten, Amtsgericht
»Von drauß’ vom Walde komm ich her …«
Montag, 5. September 2011, Rotes Rathaus, Berlin-Mitte
Montag, 12. September 2011, Jugendamt, Berlin-Schöneberg
Montag, 12. Dezember 2011, Institut für gerichtliche und soziale Medizin, Berlin-Moabit
Dienstag, 13. Dezember 2011, Institut für Rechtsmedizin der Charité, Berlin-Moabit
Mittwoch, 21. Dezember 2011, Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin, Berlin-Moabit
Donnerstag, 22. Dezember 2011, Abteilung für Forensische Genetik des Instituts für Rechtsmedizin der Charité, Virchow-Klinikum, Berlin-Wedding
Freitag, 23. März 2012, Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin, Berlin-Moabit
Mittwoch, 4. April 2012, Landesinstitut für gerichtliche und soziale Medizin, Berlin-Moabit
Aus dem psychiatrischen Gutachten über »Herrn Ray Unbekannt«
Mitte Juni 2012: Der Waldjunge fliegt auf
Montag, 18. Juni 2012: Robin Under Ground
Robin allein im Wald
Ein pathologischer Lügner?
Die Rechtsmedizin: Mittendrin statt nur dabei
März 2013: Ex-Waldjunge als Buletten-Brutzler
25. September 2013, Berliner Amtsgericht
K.o. durch Tiefschlag
Rückblende: Von Stralsund bis an die Weltspitze
31. Mai 2008, Booze Bar, Schwerin
13. September 2008, 2:00 Uhr, Club Madison, Schwerin
13. September 2008, 20:00 Uhr, Wohnung Doreen A., Schwerin
13. September 2008, 22:00 Uhr, Helios Kliniken, Schwerin
15. September 2008, Praxis Dr. K., Schwerin
September 2009 bis Januar 2010, Strafprozess gegen Jürgen Brähmer vor dem Amtsgericht Schwerin
März 2011, Berufungsprozess vor dem Landgericht Schwerin
Mai 2011, Verlust des Weltmeistertitels
2013 bis 2016, Brähmers Comeback
Mord beim Sport
Samstag, 19. Juni 2004, 8:50 Uhr, Hamburg-Steilshoop, Stadtwald am Bramfelder See
Samstag, 19. Juni 2004, 10:15 Uhr, Unfallchirurgie der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf
Samstag, 19. Juni 2004, 11:30 Uhr, Hamburg-Steilshoop, Stadtwald am Bramfelder See
Samstag, 19. Juni 2004, 15:30 Uhr, Institut für Rechtsmedizin an der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf
Dienstag, 22. Juni 2004, Hamburg-Alsterdorf, LKA-Gebäude Bruno-Georges-Platz
Freitag, 9. Juli 2004, Hamburg-Alsterdorf, LKA-Gebäude Bruno-Georges-Platz
Dienstag, 20. Juli 2004, 11:00 Uhr, Hamburg-Alsterdorf, LKA-Gebäude Bruno-Georges-Platz
Freitag, 30. Juli 2004, 14:00 Uhr, Hamburg-Alsterdorf, LKA-Gebäude Bruno-Georges-Platz
Freitag, 13. August 2004, 14:00 Uhr, Hamburg-Alsterdorf, LKA-Gebäude Bruno-Georges-Platz
Donnerstag, 16. August 2007, Hamburg-Alsterdorf, LKA-Gebäude Bruno-Georges-Platz
Mittwoch, 20. Mai 2009, 17:30 Uhr, Hamburg-St. Georg
Freitag, 18. Dezember 2009, Hamburg-Alsterdorf, LKA-Gebäude Bruno-Georges-Platz
Persönliche Anmerkung: Berlin, Sommer 2017
Nachwort
Danksagung
Literaturverzeichnis
Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,
doch mit dem Tod der andern muss man leben!
Mascha Kaléko
Willkommen zurück in meiner Welt, der Welt der Rechtsmedizin. Nach drei Romanen (die True-Crime-Thriller Zerschunden, Zersetzt, Zerbrochen) ist es mal wieder an der Zeit, Sie, verehrte Leserin und verehrter Leser, mit einem Buch über Fälle aus meiner rechtsmedizinischen Praxis an Leichenfundorte, in den Sektionssaal, ins Labor und in den Gerichtssaal mitzunehmen.
Ich verspreche Ihnen: Bei jedem der hier geschilderten, teilweise unglaublichen, zumeist tragischen, allesamt so spannenden wie echten Fälle aus der Rechtsmedizin wird Ihr Kopfkino anspringen. Der entscheidende Unterschied zur Kriminalliteratur, die Sie sonst vielleicht verschlingen, ist, dass sich die Fälle, von denen ich hier berichte, tatsächlich so ereignet haben. Ich selbst war in der einen oder anderen Form an ihrer Untersuchung und Aufklärung beteiligt. Sie bekommen die Informationen zu diesen Fällen also aus erster Hand und nicht von einem um Authentizität bemühten Autor, der seine Geschichten realistisch verpacken und allem einen professionellen Anstrich verleihen will, dem aber leider das Grundverständnis der Rechtsmedizin völlig abgeht – ganz zu schweigen von dem Spezialwissen, das ich mir in mittlerweile 25 Berufsjahren angeeignet habe und in diesem Buch immer wieder einbringe.
Obwohl wir das Töten von Menschen in unserer zivilisierten Gesellschaft (zumindest behaupten die Politiker, sie wäre zivilisiert) verdammen, lieben die meisten Deutschen Krimis, True Crime und Thriller. Auch wenn es uns sadistisch und krank vorkommt, wenn Gewalttäter Lust am Töten und am Todeskampf ihrer Opfer empfinden, schauen wir ihnen als Leser, Fernsehzuschauer oder Kinobesucher gerne dabei zu. Die statistische Wahrscheinlichkeit, in Deutschland Opfer eines Tötungsdelikts zu werden, ist indessen sehr gering. Dass dies so bleibt, ist allerdings keine Selbstverständlichkeit, sondern es verlangt uns allen harte und unermüdliche Arbeit ab.
Wie Menschen in unserem Land sterben, sagt etwas darüber aus, wie wir leben – heute, hier und jetzt. Als Rechtsmediziner bekomme ich Einblicke in die Abgründe unserer Gesellschaft. In die jeweils aktuellen Abgründe. In früherer Zeit waren das Giftmorde von Frauen an ihren ungeliebten Ehemännern, Leuchtgasvergiftungen oder Methanolintoxikationen von Schnapsbrennern; später kamen dann die Junkies, Schnüffler, Bodypacker, Crash-Kids oder S-Bahn-Surfer. Heute sind es immer häufiger Todesfälle von Pflegepatienten, die an Rücken, Gesäß und Ellenbogen tiefe Krater, sogenannte »Durchliegegeschwüre«, aufweisen, oder Intensivpatienten, die von sogenannten »Todesengeln« in Kliniken von ihren Leiden »erlöst« wurden. Und leider werde ich als Rechtsmediziner immer öfter mit totgeschüttelten Säuglingen und ermordeten Frauen – fast ausschließlich Muslimas – konfrontiert, die gegen einen mehr als nur befremdlichen archaischen Kodex verstoßen hatten und dafür von einem engen Familienmitglied (meist der jüngste und zudem noch strafunmündige Bruder) regelrecht abgeschlachtet wurden und deren Tod zur Krönung dann auch noch von der Presse als »Ehrenmord« bezeichnet wird.
Armes Deutschland? Welcome to the jungle!
Michael Tsokos
Am 15. September ist es drückend heiß in Berlin. Wenige Tage später wird der erste Herbststurm durch die Straßen fegen, aber noch hat das Hoch über der Hauptstadt seine letzte Schlacht nicht verloren. Ebenso wenig wie der großwüchsige Mann, der an diesem Donnerstag gegen 18 Uhr zu Fuß unterwegs ist. Er steuert einen »Spätkauf«-Laden in Steglitz an, einem gutbürgerlichen Viertel im Südwesten der Stadt.
Der Mann heißt Gerwald Claus-Brunner, laut Personalausweis eigentlich nur Gerwald Claus. Den Namenszusatz hat er frei erfunden, und das ist keineswegs das einzige phantastische Detail in seinem Leben. Mit seiner Körperlänge von 2,03 Metern ragt der 44-Jährige aus jeder Menschenmenge heraus. Durch sein schrilles Outfit fällt er überdies auf wie ein bunt lackierter Elefant. Der übergewichtige Hüne trägt eine orangerote Latzhose wie die Männer von der städtischen Müllabfuhr, dazu ein Palästinenserkopftuch und um den Hals einen Davidstern. Seine unförmige Statur und das dickliche Gesicht, das in einem Ausdruck von Trotz und Argwohn eingefroren scheint, sind nicht nur in Berlin, sondern weit über die Stadtgrenzen hinaus bekannt.
Gerwald Claus-Brunner, von Freunden und Kollegen »Faxe« genannt (wie der extrem beleibte Wikinger bei »Wicki und die starken Männer«), ist Abgeordneter der Piraten-Partei im Berliner Parlament. Der Wahlkampf um die Sitze im städtischen Abgeordnetenhaus läuft auf vollen Touren. In drei Tagen werden die Berliner ihre Stimmen abgeben, und die Umfragen sagen für die Piraten ein Desaster voraus. Nach sensationellen 8,9 Prozent fünf Jahre zuvor werden sie diesmal kläglich an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern – falls nicht noch ein Wunder geschieht. Doch danach sieht es keineswegs aus, ihren Vorrat an Wundern haben die Piraten restlos aufgebraucht. Die aus dem Nichts aufgestiegene Exotenpartei, die 2011 mit Berlin ihr erstes Bundesland enterte und im Jahr darauf deutschlandweit auf zwölf Prozent taxiert wurde, hat sich binnen kürzester Frist selbst zerlegt. Die Berliner Piraten-Fraktion ist heillos zerstritten, Medien und Öffentlichkeit nehmen den schrillen Haufen nur noch als Chaostruppe wahr.
Claus-Brunners persönliche Aussichten sind entsprechend düster: Nach fünf fetten Jahren mit monatlich 7000 Euro Abgeordnetendiät steht dem gelernten Fernmeldeelektriker ein schmerzlicher sozialer Abstieg bevor. In früheren Jahren hat er auf Großbaustellen im Nahen Osten oder in der Schweiz malocht. Aber das packe er heute nicht mehr, soll er gegenüber Bekannten geklagt haben. Parallel zu seiner Arbeit als Stadtpolitiker hat er einige Semester Maschinenbau studiert, doch das Studium schon 2014 ohne Abschluss abgebrochen.
Seit Jahren verbreitet er das Gerücht, er sei »unheilbar krank« und habe nur noch wenig Lebenszeit vor sich. Das ist zwar, wie so vieles bei ihm, frei erfunden, aber der Mann ist offenkundig ausgebrannt. »Ich betreibe Raubbau an mir selber und an denen, die ich kenne«, erklärte er schon Ende 2011, wenige Wochen nach seiner Wahl ins Abgeordnetenhaus. »Eigentlich bin ich völlig am Ende. Aber ich halte durch, weil ich sicher bin, dass ein großer Teil der Basis hinter mir steht.« Doch die »Basis« ist nun auch zerbröselt, und so steht Faxe vor den Trümmern seines Lebens. Politisch, beruflich und privat.
Davon lässt er sich allerdings nichts anmerken, als er an jenem Spätnachmittag bei dem »Späti« in Steglitz eintrifft. Claus-Brunner führt einen Rollkoffer im XXL-Format mit sich, den er auf einer Sackkarre transportiert. Oben auf dem Koffer liegt zudem ein Rollbrett, wie es bei Umzügen eingesetzt wird.
Der Sohn des Kioskbetreibers kommt heraus, um mit dem prominenten Kunden zu plaudern. Der junge Mann, der als Verkäufer im Familienbetrieb arbeitet, begrüßt Claus-Brunner und fragt ihn, was in dem Koffer sei. Ob er umziehen wolle? Der Politiker winkt lachend ab. »Altkleider«, sagt er und wirkt ganz entspannt. Der Verkäufer denkt sich nichts weiter dabei. An exzentrische Auftritte des Piraten ist man hier im Kiez schließlich gewöhnt.
Claus-Brunner lässt Karre und Koffer auf dem Bürgersteig stehen und folgt dem Verkäufer in den kleinen Laden. Dort checkt er die Lottozahlen und wählt aus dem Zeitschriftensegment einen Westernroman aus. In aller Seelenruhe kramt er in seinen Taschen nach dem nötigen Kleingeld für das Groschenheft. Später wird der Verkäufer gegenüber der Polizei erklären, dass sich Gerwald Claus-Brunner ganz normal verhalten habe – jedenfalls für seine Verhältnisse.
Wieder draußen auf der Straße, schnappt sich der Pirat erneut die Sackkarre und schiebt sie vor sich her. Ein findiger Journalist hätte einen Schnappschuss von dem Politiker und seinem monströsen Gepäckstück wohl mit der Schlagzeile »Piraten packen die Koffer« garnieren können. Aber die Medien haben zu diesem Zeitpunkt ihr Interesse an der Piraten-Fraktion und deren auffälligstem Mitglied weitgehend verloren.
Ein paar Jahre zuvor sah das noch ganz anders aus. Als die Piraten im Oktober 2011 das Berliner Parlament enterten, waren Kamerateams aus aller Welt dabei. Al-Dschasira, BBC, ein japanischer Sender. Die Bilder von dem riesenhaften Piraten mit PLO-Kopftuch, der eine Totenkopfflagge im Abgeordnetenhaus aufpflanzte, gingen um den Globus. Claus-Brunner war »das Gesicht« der bizarren neuen Partei. Kaum jemandem schien aufzufallen, dass es das Gesicht eines Menschen mit einer ganz erheblich gestörten Persönlichkeit war.
Dabei gab es von Anfang an Warnhinweise. »Alle Latzhosenträger zusammen können nicht so viel Schaden anrichten wie ein Anzugträger«, sprach er an seinem ersten Tag als Abgeordneter in die Mikrophone. In Claus-Brunners Welt wimmelt es von Feinden, Widersachern, Verschwörern. Die »Anzugträger« sind nur ein Teil davon. Von Kindheit an ist dem Sohn rechtsextremer Eltern, die »völkisch-nationalistischen« Ideen und »germanisch-heidnischen« Mythen anhängen, eine Paranoia eingeimpft worden, deren sichtbarer Ausdruck ihm zwischen den Schulterblättern sitzt. Nie tritt er ohne seinen Rucksack auf, in dem er nach eigenem Bekunden einen »Stahlbolzen« mit sich herumträgt – als Verteidigungswaffe für alle Fälle.
Claus-Brunner ist ein Choleriker, der weder vor derben Beleidigungen noch vor körperlichen Drohungen zurückschreckt. Nach kurzer Zeit hatte er sich auch mit seinen Fraktionskollegen überworfen. Seine Mitarbeiter nannte er »Sackgesichter« und »Vollhonks«. Bis kaum jemand in Partei und Fraktion mehr mit ihm zusammenarbeiten wollte. Längst haben sich nicht nur die einstigen Anhänger von der Berliner Piraten-Partei abgewendet. Auch Gerwald Claus-Brunner, ihr Gesicht und Aushängeschild, ist weitgehend isoliert.
Später wird sein Ex-Fraktionskollege Stephan Urbach auf Twitter daran erinnern, dass Claus-Brunner einmal einen vermeintlichen Gegner »mit Backsteinen in der Hand bedroht« habe. Und Julia Schramm, zeitweise Beisitzerin im Bundesvorstand der Piraten-Partei, wird auf Facebook bittere Bilanz ziehen: Bei den Piraten sei pathologisches Verhalten akzeptiert oder sogar verherrlicht worden. »Wir können dankbar dafür sein, wenn wir lebend und gesund aus diesem Wahnsinn rausgekommen sind.«
Doch Claus-Brunner selbst wird aus dem Wahnsinn, dem die Piraten jahrelang eine Bühne geboten haben, keineswegs unbeschadet hervorgehen. Ebenso wenig wie der junge Mann, zu dem er an diesem drückend heißen Septembernachmittag unterwegs ist.
Kurz darauf steigt Gerwald Claus-Brunner am nahe gelegenen Bahnhof Feuerbachstraße in die S-Bahn der Linie 1. Eine Bekannte bemerkt ihn im Zugwaggon, wo der Riese mit dem übergroßen Koffer und der Sackkarre allen im Weg steht. Aber sie spricht ihn nicht an, da sie ihn bei einer früheren Gelegenheit als nachtragenden Querulanten kennengelernt hat.
Claus-Brunner ist ein Brettspiel-Enthusiast. Bevor er Politiker wurde, hat er oft Tage und Nächte mit einem Fantasy-Spiel verbracht, bei dem Trollarmeen epische Kriege gegeneinander führen. Auch als Pirat hat er Freunde und Bekannte häufig zu Spieleabenden eingeladen. Nachdem die Frau einmal eine solche Verabredung kurzfristig abgesagt hatte, war sie von Faxe tagelang mit »anmaßenden, pöbelnden, quengelnden Mails« und Anrufen traktiert worden. In der S-Bahn wundert sie sich daher nur im Stillen über den »gewaltigen Rollwagen«, den er hinter sich herzieht.
Nach 25 Minuten Fahrt steigt Claus-Brunner am Bahnhof Gesundbrunnen im Norden der Stadt aus. In unmittelbarer Nähe, in einem eher ärmlichen Viertel, wohnt Jan Mirko L., ein junger Mann, den der nach eigener Einschätzung »zu 95 Prozent schwule« Politiker seit mindestens eineinhalb Jahren mit aufdringlichen Liebesbekundungen verfolgt.
Claus-Brunner hatte sich wohl schon vor Monaten heimlich einen Schlüssel zur Wohnung des 29-Jährigen, der von allen in seinem Freundeskreis und näheren Umfeld immer nur Mirko genannt wird, verschafft. In seinem Rucksack hat er genügend Kabelbinder, um sein Opfer zu fesseln. Bei 1,74 Meter Körpergröße wiegt Mirko gerade mal 59 Kilo. Der Koffer hat genau die richtige Größe, um den jungen Mann darin zu verstauen, den Faxe immer nur »mein Wuschelkopf« nennt.
Als sich Jan Mirko L. am frühen Donnerstagabend auf den Rückweg zu seiner Wohnung macht, ist er in guter Stimmung. Wie meistens in den letzten Wochen. Am Nachmittag hat er einen Freund besucht und mit ihm Tischtennis gespielt. Mirko hatte eine schlimme Zeit hinter sich, doch nachdem er Anfang August die Studentin Anne W. kennengelernt hatte, ging es mit seinem Leben wieder bergauf.
Vorhin beim Tischtennis hat ihn der Freund auf Claus-Brunners Nachstellungen angesprochen. Doch Mirko antwortet leichthin: »Das ist nicht so wild.« Dabei hat der schmächtige junge Mann mit den langen schwarzen Haaren gute Gründe, sich vor seinem Stalker zu fürchten.
Mirko ist dreißig Zentimeter kleiner als der hünenhafte Pirat und bringt weniger als halb so viel Körpergewicht auf die Waage. Mehrfach hatte ihm Claus-Brunner bereits vor seiner Haustür aufgelauert. Er hatte Mirkos Freunden Geld geboten, damit sie den »Wuschelkopf« für ihn überwachten. Er hatte sogar eine versteckte Kamera in Mirkos Bad eingebaut und ein gefälschtes Facebook-Profil unter Mirkos Namen angelegt. Aber obwohl ihm die Zudringlichkeit Claus-Brunners zunehmend zu schaffen machte, hielt sich Jan Mirko L. nicht für gefährdet. Der liebeskranke Mann tat ihm vielmehr leid.
Hatte Faxe mitbekommen, dass sein »Wuschelkopf« nun eine feste Beziehung mit einer Frau hatte? Befürchtete Mirko nicht, dass der jähzornige Pirat vollends ausrasten würde, wenn er seine Hoffnungen auf eine Liebesbeziehung mit Mirko endgültig zerstört sähe? Allem Anschein nach dachte der junge Mann nicht darüber nach.
Später am Abend will Mirko mit Anne per WhatsApp besprechen, wo sie diesmal zusammen übernachten werden – bei ihr oder bei ihm. Gegen 21:30 Uhr schickt sie ihm eine Kurznachricht: »Schläfst du heute bei mir?« Zu diesem Zeitpunkt hält sich Gerwald Claus-Brunner höchstwahrscheinlich zusammen mit Jan Mirko L. in dessen Wohnung auf. Nachbarn des jungen Mannes werden später aussagen, dass sie gegen 21 Uhr »Lärm im Treppenhaus« gehört hätten. »Es klang nach Umzug.« Vermutlich kam das Getöse von der Sackkarre und dem Rollbrett, mit dem Claus-Brunner seinen XXL-Koffer transportierte.
Auf ihre WhatsApp-Message bekommt Anne W. jedenfalls keine Antwort mehr. Möglicherweise hat Gerwald Claus-Brunner ihre Nachricht an Mirko gelesen und daraufhin die letzte Grenze überschritten.
»Man kann sagen, dass wir auf dem Weg waren, eine Lebensgemeinschaft aufzubauen«, wird Anne W. später bei der Mordkommission zu Protokoll geben. Doch dazu sollte es nicht mehr kommen. Denn während es Mirko sonst immer geschafft hatte, sich seine Verehrer »vom Hals zu halten«, gelingt ihm das bei dem Piraten nicht.
Buchstäblich nicht.
Gerwald Claus-Brunner und Jan Mirko L. kannten sich schon mindestens seit dem Jahr 2011, als den Piraten der triumphale Einzug ins Abgeordnetenhaus geglückt war. Jan Mirko L. war Mitglied der Piraten-Partei und begeisterte sich für deren utopische Parolen. Bereits in den Monaten nach dem Wahlerfolg soll er mehrfach an Claus-Brunners Seite im Abgeordnetenhaus aufgetaucht sein. Doch welcher Art die Beziehung der ungleichen Männer damals war, ist unklar.
Im Jahr 2014, als Claus-Brunner ein Kiezbüro in seinem Wahlkreis Steglitz-Zehlendorf eröffnete, stellte er jedenfalls Jan Mirko L. als seinen persönlichen Mitarbeiter ein. Mirko war ein verträumter, idealistischer Typ. Er stammte aus einem gutbürgerlichen Elternhaus, seine Mutter war promovierte Lehrerin, der Vater Psychologe. Beide Eltern waren erleichtert, als ihr Sohn die Anstellung bei Claus-Brunner bekam. Bis dahin hatte Mirko in den Tag hineingelebt. Er hatte die Schule vorzeitig verlassen, eine Lehre abgebrochen und noch nie regelmäßig gearbeitet.
Für Mirko war der Ältere damals wohl so etwas wie ein großer Bruder. Er bewunderte Claus-Brunner für dessen Mut und scheinbare Geradlinigkeit. Und wohl auch für seine Prominenz. Vermutlich fühlte er sich von dem Interesse des Politikers an seiner Person geschmeichelt. Faxe half Mirko bei einem Umzug, fuhr mit ihm zusammen in Urlaub. Spätestens da zeigte sich allerdings, dass er mehr von Mirko wollte als Freundschaft und politische Gefolgschaft. Der Politiker hatte sich heftig in seinen jungen Mitarbeiter verliebt.
Mirkos Mutter wird später bei der Polizei aussagen, ihr Sohn habe öfter schwule Freunde und Verehrer gehabt, aber da sei nie etwas Sexuelles gewesen. »Ein Komponist wollte was von ihm«, gab sie zu Protokoll, doch Mirko habe sich die Männer »vom Hals gehalten«. Allerdings scheint er ihre Zuneigung genossen zu haben, obwohl ihm klar sein musste, dass er bei seinen Verehrern falsche Hoffnungen weckte. Dass derlei Spiel mit dem Feuer gefährlich werden kann, wird jeder erfahrene Kriminalbeamte bestätigen.
Auch Jan Mirko L. wusste im Grunde, dass Faxe keinerlei Grenzen akzeptierte. Das musste ihm spätestens Ende 2014 bewusst geworden sein, als Claus-Brunner im Krankenhaus lag. Mirko sollte ein paar Sachen aus der Wohnung des Piraten holen. Claus-Brunners PC war eingeschaltet, auf dem Bildschirm waren Fotos zu sehen, die Freunde von ihm auf seiner Toilette zeigten.
Der junge Mann war schockiert. Um den Politiker zu schützen und der »gemeinsamen Sache« nicht zu schaden, verschwieg er seine Entdeckung. Er sprach auch Claus-Brunner nicht auf die Fotos und die versteckte Kamera an. Dabei musste er sich eigentlich darüber im Klaren sein, dass jemand, der ihm nahestehende Menschen heimlich beim Toilettengang fotografiert, nicht nur Straftaten begeht, sondern auch psychisch schwer gestört ist.
Doch Mirko stellte Faxe nicht zur Rede, sondern kündigte nur seine Stelle als persönlicher Assistent. Zur Begründung sagte er, dass er Claus-Brunners Gefühle nicht erwidere und es ihm leichter machen wolle, darüber hinwegzukommen. Der Verschmähte reagierte verletzt und wütend. Er bat und drohte, aber Mirko nahm seine Kündigung nicht zurück. Faxe war ja nicht der erste männliche Verehrer, dem er auf seine sanfte Art einen Korb gab. Anfangs glaubte er wohl, dass auch der Pirat sich schließlich damit abfinden würde.
Nachdem er seine Stelle aufgegeben hatte, fiel Mirko zunächst in seine frühere ziellose Lebensweise zurück. Er lebte von Hartz IV, kümmerte sich um seine betagte Großmutter und besuchte hin und wieder das Meditationszentrum einer Inderin, von deren menschenfreundlichen Visionen er sich angezogen fühlte. Dort lernte er eine afghanische Flüchtlingsfamilie kennen und fand eine neue Aufgabe, die zwar kein Geld einbrachte, aber seinem Idealismus entsprach. Er passte auf die Kinder auf, wenn die afghanische Mutter zum Sprachunterricht ging. Mit dem Familienvater ging er einkaufen. Ansonsten spielte er zu Hause in seiner Wohnung Brettspiele und stellte Kritiken dazu ins Netz. Mirko war zwar kein fanatischer Spieler wie Faxe, aber dessen Leidenschaft für (Fantasy-)Brettspiele teilte er durchaus.
In den folgenden Monaten ging er Claus-Brunner nach Möglichkeit aus dem Weg.
Im Mai 2015 war er auf der Geburtstagsfeier des Politikers, der ihn per SMS, Mail und Twitter mit Liebesbekundungen traktierte. Die Mehrzahl dieser verbalen Ergüsse ignorierte Jan Mirko L., einige »likte« er, aus Mitleid oder vielleicht auch, weil ihn die hartnäckige Zuneigung des stadtbekannten Exzentrikers schmeichelte. Doch die Nachstellungen des Piraten wurden immer aufdringlicher. Claus-Brunner lauerte ihm vor seiner Haustür auf, verfolgte ihn auf Bahnhöfe, versuchte seine Freunde auszuhorchen.
Jan Mirko L. fühlte sich weiterhin nicht gefährdet, sondern nur zunehmend belästigt. Erst als er im Frühjahr 2016 eine versteckte Kamera im Duschkopf seines eigenen Badezimmers entdeckte, schien auch für ihn eine rote Linie überschritten. Diesmal schwieg er nicht mehr, um den Politiker zu schützen, sondern erzählte im Bekanntenkreis, er sei sich sicher, dass Claus-Brunner heimlich in seine Wohnung eingedrungen sei und die Kamera installiert habe.
So erfuhr auch der Pirat, dass ihm Mirko auf die Schliche gekommen war und sich zu wehren begann. Daraufhin erstattete er am 1. Juni 2016 Strafanzeige gegen Jan Mirko L. – wegen angeblicher »Verleumdung«. »Die Anzeige dient meinem Selbstschutz, um den falschen Verdächtigungen etwas entgegenzusetzen, weil damit meine Reputation und mein Leumund nachhaltig beschädigt wird«, erklärte er seinen Schritt bei einer der wenigen Fraktionssitzungen, an denen er zuletzt noch teilnahm. Jan Mirko L. erzähle überall herum, er sei mehrfach in dessen Wohnung eingebrochen und habe dort »Spionage-Videokameras« eingebaut. »Herr Mirko L. sollte ob dieser paranoiden Wahnvorstellung einen Facharzt aufsuchen, da hier offensichtlich eine schwere Persönlichkeitsstörung vorliegt.« Eine Diagnose, die sich wohl eher auf Claus-Brunner selbst beziehen ließ.
Diese Strafanzeige wurde von der Polizei so wenig verfolgt wie die Anzeige, die Jan Mirko L. seinerseits vier Wochen später gegen Gerwald Claus-Brunner erstattete. Am 28. Juni 2016 suchte er eine Polizeiwache in Berlin-Kreuzberg auf und zeigte den Politiker wegen Stalkings an. Dessen Nachstellungen würden »langsam ungeheuerlich«, gab er zu Protokoll. Er fühle sich »erheblich in seiner Lebensqualität eingeschränkt und fürchte, dass die Situation eskalieren könnte, da er dem Tatverdächtigen körperlich unterlegen« sei. Mehrfach habe er Claus-Brunner gebeten, ihn in Ruhe zu lassen, doch der habe ihm daraufhin angedroht, »richtigen Terror« zu machen.
Aber damit war Mirkos Wut anscheinend auch schon wieder verraucht. Die Kamera in seinem Bad und die Toiletten-Fotos auf Claus-Brunners PC erwähnte er bei seiner Anzeige mit keinem Wort. Einen Fragebogen, den er Wochen später von der Kriminalpolizei zugeschickt bekam, füllte er nicht aus. Damit die Staatsanwaltschaft tätig werden konnte, hätte er außerdem einen Strafantrag stellen müssen, da es sich bei Stalking um ein sogenanntes Antragsdelikt handelt. Doch Mirko stellte keinen Strafantrag. Und so legte die Amtsanwaltschaft die Angelegenheit wenig später zu den Akten.
Dabei hätte die Polizei auch ohne Strafantrag aktiv werden können: Die sogenannte »Gefährderansprache«, durch die der mutmaßliche Stalker nachdrücklich auf die Strafbarkeit entsprechender Übergriffe hingewiesen wird, erfüllt oftmals bereits den gewünschten Zweck. Ob sich Claus-Brunner auf diese Weise hätte zur Ordnung rufen lassen, ist allerdings zweifelhaft. Aufgrund der Anzeige von Jan Mirko L. erkannte die Polizei ohnehin keine konkrete Gefährdung. Hätte das Opfer das Eindringen des Stalkers in seine Wohnung angeführt, hätten die Beamten Claus-Brunner vielleicht doch auf sein Verhalten angesprochen – auch wenn ihr Drang, dem rabiaten Stadtpolitiker die Stirn zu bieten, sich vermutlich in Grenzen hielt.
Das englische Wort Stalking stammt ursprünglich aus der Jägersprache. Der Stalker pirscht sich an Wildtiere an und verfolgt sie. Laut deutschem Strafgesetzbuch ist der Stalker eine Person, die einem anderen Menschen gegen dessen Willen nachstellt und ihm Gewalt androht. Allein im Jahr 2015 waren ausweislich der Polizeilichen Kriminalstatistik mehr als 21 000 Menschen hierzulande von Stalking betroffen. Die offiziellen Fallzahlen gehen zwar seit Jahren zurück, aber die Dunkelziffer ist hoch. Aus Furcht, Scham oder falscher Rücksichtnahme schrecken viele Opfer davor zurück, ihren Stalker anzuzeigen. 80 Prozent der Stalker sind Männer, 80 Prozent der Opfer Frauen.
Oftmals werden Prominente aus Showbusiness, Sport und Politik von Stalkern verfolgt und angegriffen. Berühmt wie berüchtigt ist der Fall der Hollywood-Schauspielerin Jodie Foster, der bereits im Teenageralter ein Stalker nachstellte. Der geistig gestörte John Hinckley jr. hatte sie in dem Film Taxi Driver gesehen und identifizierte sich daraufhin mit dem von Robert De Niro gespielten Amokläufer, der im Film ein Attentat auf einen Politiker verübt. Am 30. März 1981 feuerte Hinckley sechs Schuss auf US-Präsident Ronald Reagan ab, verletzte ihn allerdings nur durch einen Querschläger.
Dagegen endete die Begegnung des 25-jährigen Stalkers Mark David Chapman mit John Lennon für diesen tödlich: Chapman erschoss den »Beatles«-Mitbegründer am 8. Dezember 1980 vor dessen Wohnung am New Yorker Central Park. Auch Sport-Promis werden immer wieder Opfer von Stalking. Die Tennisspielerin Steffi Graf wurde ganze 14 Jahre lang von einem durchgeknallten Fan verfolgt, der sie als »Liebe meines Lebens« anhimmelte. Im Jahr 1993, auf dem traurigen Tiefpunkt seiner Nachstellungen, rammte er Grafs Rivalin Monica Seles ein Messer in den Rücken. Zur Begründung gab er nach seiner Festnahme an, er habe »die Weltrangliste korrigieren« wollen.
Im Juli 2016 beschloss die Bundesregierung, das seit 2007 gültige Stalking-Gesetz zu reformieren. Seitdem müssen Opfer nicht mehr nachweisen, dass sie durch die Nachstellungen »schwerwiegend beeinträchtigt« werden, also beispielsweise Arbeitsstelle oder Wohnort wechseln müssen, um ihren Verfolger abzuschütteln. Denn diese hochschwellige Definition des Delikts hat vor allem die Täter geschützt. Nur ein bis zwei Prozent aller Strafanzeigen wegen Stalkings führten bislang zu einer Verurteilung des Täters. »Stalking soll künftig auch dann strafbar sein, wenn das Opfer dem Druck nicht nachgibt und sein Leben nicht ändert«, erläuterte Bundesjustizminister Heiko Maas den Sinn der Gesetzesreform. Das Strafmaß blieb unverändert: Wer einer anderen Person hartnäckig gegen deren Willen nachstellt, riskiert bis zu drei Jahre Haft.
Viele Stalker sind allerdings psychisch gestört und deshalb durch Strafandrohung kaum abzuschrecken. Oftmals sind es sozial, beruflich und privat Gescheiterte, die nichts mehr zu verlieren haben. Trotz seiner kurzzeitigen Prominenz muss wohl auch Gerwald Claus-Brunner dieser Personengruppe zugerechnet werden. Schon als ich ihn Ende 2011 auf einer Party der Illustrierten Stern in Berlin persönlich kennenlernte, erschien er mir als höchst fragwürdige Figur. Seine Kostümierung mit Latzhose und Palästinensertuch kam mir geradezu lächerlich vor, so aufgesetzt wie sein ungehobeltes Auftreten, das wohl nicht zuletzt seine Unsicherheit verbergen sollte. Sympathisch war er mir jedenfalls nicht. Im Gegenteil. Aber auch wenn ich damals schon gewusst hätte, dass er fünf Jahre später, bei unserem nächsten Wiedersehen, vor mir auf dem Sektionstisch liegen würde, hätte das meine Meinung nicht geändert.
Im August 2016 lernte Jan Mirko L. die Studentin Anne W. auf dem Elblichtfestival bei Magdeburg kennen. Sie verliebten sich ineinander, verbrachten seitdem so viel Zeit wie möglich zusammen und hielten sogar schon nach einer gemeinsamen Wohnung Ausschau. Für Mirko war Anne eine Seelenverwandte. Seit er sie getroffen hatte, begann Faxes düsterer Schatten zu verblassen. Mirko dachte kaum noch an seinen durchgeknallten Verehrer und fühlte sich weniger denn je bedroht.
Was sich im Lauf der Nacht auf Freitag in Mirkos Wohnung abgespielt hat, lässt sich nur bruchstückhaft rekonstruieren. Anzunehmen ist, dass sich Claus-Brunner mit dem Schlüssel, der später an seinem Schlüsselbund gefunden wird, Zutritt zu Mirkos Apartment verschafft und ihm dort aufgelauert hat. Wozu hat er Koffer, Sackkarre, Kabelbinder dabei? Wollte er Jan Mirko überwältigen, fesseln und lebend verschleppen? Oder war er von vornherein entschlossen, sein Opfer zu töten?
Das Gesamtbild und die Indizien sprechen eher für einen kaltblütig und minutiös geplanten Mord als dafür, dass Claus-Brunner sein Opfer am Leben lassen wollte und lediglich seine Entführung geplant hatte. Bei der toxikologischen Untersuchung werden sich später keine Rückstände von Betäubungsmitteln im Blut des Opfers finden. Und auch wenn Claus-Brunner unter rapide zunehmendem Realitätsverlust litt, muss ihm bewusst gewesen sein, dass er erhebliches Aufsehen erregen würde, wenn er Mirko ohne Betäubung im Koffer durch halb Berlin transportieren würde. Jedenfalls solange sein Opfer noch am Leben war.
Doch andererseits werden die Ermittler in Claus-Brunners Wohnung einen Streifen Klebeband mit anhaftenden Barthaaren entdecken, die höchstwahrscheinlich von Jan Mirko L. stammen. Einen Toten zu knebeln ergibt jedoch wenig Sinn. Daraus lässt sich ableiten, dass der Politiker sein Opfer zunächst überwältigt, geknebelt und gefesselt haben könnte, ohne Mirko sofort zu töten. Als Mirkos Leiche drei Tage darauf entdeckt wird, weist sie Fesselungsspuren an Hand- und Fußgelenken auf. Doch zu diesem Zeitpunkt ist der Leichnam bereits so stark fäulnisverändert, dass sich nicht mehr mit Sicherheit feststellen lässt, ob der junge Mann schon zu Lebzeiten gefesselt worden war oder erst postmortal.
In der Nacht auf Freitag, den 16. September, wird eine Mitarbeiterin der Piraten-Fraktion jedenfalls um kurz vor Mitternacht auf einen Tweet von Claus-Brunner aufmerksam. Es ist keineswegs die Art von Nachricht, die man in der Endspurtphase des Wahlkampfs von einem Abgeordneten erwartet. Nicht einmal von einem exzentrischen Abgeordneten wie Gerwald Claus-Brunner. »Mein Herzmensch wurde heute in Berlin totgeschlagen«, twittert der Pirat und löscht die Mitteilung kurz darauf wieder.
In seinem Geständnis, das erst in der folgenden Woche auftauchen wird, behauptet Claus-Brunner, er habe Jan Mirko L. gegen 22 Uhr »im Affekt« getötet. An dieser Aussage ist der behauptete Affekt stark in Zweifel zu ziehen. Der Nachschlüssel zu Mirkos Wohnung und der eigens mitgeführte XXL-Koffer nebst Transportmitteln sprechen für eine sorgfältige Planung der Tat.
Fest steht jedenfalls, dass Jan Mirko L. am Abend des 15. beziehungsweise in der Nacht auf den 16. September durch eine massive Kompression seiner Halsweichteile getötet worden ist; das jedenfalls wird meine Obduktion später zweifelsfrei ergeben. Ob der Täter ihn mit bloßen Händen erwürgt oder/und mit einem Kabel oder einem ähnlichen Hilfsmittel erdrosselt hat, muss infolge der bereits fortgeschrittenen Fäulnisveränderungen des Leichnams allerdings genauso offen bleiben wie der exakte Todeszeitpunkt. Sicher rekonstruiert werden kann jedoch, dass der Täter während der Tat auf dem Oberkörper seines Opfers gekniet haben muss. Bei der Obduktion werde ich feststellen, dass Mirkos Brustkorb einen Querbruch des Brustbeins und eine beidseitige Rippenserienfraktur aufweist. Da der junge Mann definitiv nicht reanimiert wurde, lässt dieses Verletzungsmuster keinen anderen Rückschluss auf die Entstehung der Frakturen zu.
Claus-Brunner hat sein Opfer buchstäblich zerquetscht. Zweifellos wird ihm bewusst gewesen sein, dass er Jan Mirkos zierlichen Körper durch sein schieres Eigengewicht zerstört. Wie ein Elefant, der ein Kaninchen unter seinem Fuß zerdrückt. Er muss das Splittern der Rippen unter seinen Knien gespürt haben. Doch die Schmerzen und die Todesangst seines Opfers hat er wohl nicht nur in Kauf genommen, sondern absichtlich herbeigeführt. Denn zu diesem Zeitpunkt ist die krankhafte Liebe des Piraten in Hass und Zerstörungswut umgeschlagen. Für Claus-Brunner ist Jan Mirko L. längst nicht mehr nur das Objekt seiner krankhaften Zuneigung, sondern zugleich ein Verräter, ein gefährlicher Feind, den es unschädlich zu machen gilt.
Höchstwahrscheinlich hat er seinen vermeintlichen »Herzmenschen« (O-Ton Gerwald Claus-Brunner über Jan Mirko L. auf Twitter) in der Nacht auf den 16. September noch vor Mitternacht getötet. Aufgewühlt durch die Tat, die er wohl seit längerem in seiner Phantasie durchgespielt hatte, loggt er sich jedenfalls kurz nach Mitternacht bei einer von ihm regelmäßig genutzten Dating-Plattform ein. Dort sucht er auch diesmal nach männlichen Sexpartnern, die seinem Beuteschema entsprechen: »zw. 26 und 46 J., mit blauen Augen und langen schwarzen Haaren«, so wie Jan Mirko L. In seinem Profil auf der Plattform beschreibt sich Claus-Brunner als »häuslich«, »schüchtern« und »bedächtig«. Seine Selbstcharakterisierung könnte von seinem tatsächlichen Auftreten kaum stärker abweichen. Seine Körpergröße und sein Gewicht gibt er allerdings korrekt an. Mit seinen Chatpartnern tauscht er sich über drastische Sexphantasien aus, die hauptsächlich um Gewalt, Missbrauch und Unterwerfung kreisen.
Erst nach und nach scheint ihm während der folgenden Stunden bewusst geworden zu sein, dass er mit dem Mord an Jan Mirko L. auch sein eigenes Leben endgültig ruiniert hat. Im Lauf der Nacht setzt er noch zwei Tweets ab. »Echter Kacktag heute«, vermeldet er zunächst, »übertrifft sämtliche schlechten Tage, die ich je erlebt hatte bisher. Hoffe, das Wochenende machts besser.«
Während sein Adrenalinspiegel weiter absinkt, wird er von Sentimentalität überwältigt. »Meine Liebe, mein Leben, für dich lieber Wuschelkopf, immer und ewig!«, lautet Faxes letzter Tweet. Dazu postet er ein Foto von Jan Mirko.
Gewalt hat in Gerwald Claus-Brunners Leben von Kindheit an eine prägende, unheilvolle Rolle gespielt. Vielleicht denkt der Pirat darüber nach, während er neben der Leiche des jungen Mannes liegt, der sich so hartnäckig geweigert hat, ihn zu lieben. Vielleicht erinnert er sich an die Prügel, die er und seine fünf Geschwister als Kinder von den Eltern bekamen. An den Landarbeiter, der ihn als kleinen Jungen missbraucht hat. Oder an einen seiner Brüder, der sich erschossen hat.
Es war eine gespenstische Welt, in der Gerwald aufwachsen musste. Der Vater war Tierheilpraktiker, die Familie lebte auf einem Bauernhof am Teutoburger Wald. Die Eltern waren Ludendorffianer, Anhänger der rechtsradikalen Ideologie von General Erich Ludendorff und dessen Frau Mathilde. Deren abstruse Ideen verbreitet noch heute der im bayerischen Tutzing sitzende »Bund für Gotterkenntnis (Ludendorff)« (BFG), der deutschlandweit etwa 240 Mitglieder hat.
Das Christentum ist für Mathilde Ludendorff mit dem »deutschen Wesen unvereinbar«. Jesus war schließlich Jude – und Mathilde Ludendorff ist die »Urgroßmutter des Antisemitismus«, wie der Spiegel zutreffend schrieb. Stattdessen propagierte die Generalsgattin »Deutsche Gotterkenntnis«, eine pantheistische Pseudoreligion, die angeblich auf »heidnisch-germanische« Überlieferung zurückgeht. Zur Wintersonnenwende feiern die Ludendorffianer das »von göttlichen Wesen durchseelte Weltall«. Gerwalds Eltern brachten sogar eine Schallplatte mit heidnischen Gesängen heraus, die neben veterinärmedizinischen Schriften in ihrem eigenen kleinen Verlag erschien. In diesem sektiererischen Geist erhielten Claus-Brunner und seine Geschwister »germanische« Namen. Dem bösen Omen seines Vornamens folgend – der sich vom germanischen »Ger« (Speer) und von »waltan« (herrschen, bewirken) ableitet –, wird Gerwald in seinem Leben mehr als einmal die Gewalt von Fäusten und Waffen walten lassen.
Die Erziehung der Kinder bestand aus dem Einimpfen von Wahnvorstellungen, aus maßloser Prügel und bösen Worten. Die Mutter trug Trachtenkleider, der Vater Kniebundhosen. Ihre Umgebung nahmen sie als in jeder Hinsicht feindselig wahr. Der Holocaust war für sie eine Propagandalüge der Amerikaner. Judenwitze gehörten zum Alltag der Familie Claus, die bei den Nachbarn schlicht »die Nazis« hieß. Immer wieder bleuten die Eltern ihren Kindern ein, dass »Jesuiten, Freimaurer und Juden« eifrig an Deutschlands Untergang arbeiteten. Jeans waren als antideutsche Kleidungsstücke verpönt. Homosexualität war in den Augen der Eltern eines der ärgsten Übel, »Rassentrennung« dagegen von den germanischen Göttern gewollt.
Als Gerwald seinen Eltern mit Anfang zwanzig gestand, dass er Männer liebe, war »zu Hause die Hölle los«. Sein erster Freund starb bei einem Autounfall. »Gut, dass er tot ist«, sagten die Eltern. Daraufhin brach der spätere Piraten-Politiker den Kontakt zu ihnen ab. 1996 wanderte seine Familie nach Kanada aus, wo die Eltern laut Gerwalds jüngerem Bruder Dietwald noch heute der Ludendorffianer-Ideologie anhängen.
»Wir sind zu Rechtsradikalen erzogen worden«, sagt der Bruder der Illustrierten Stern. Dietwald Claus war Mitglied der rechtslastigen Partei Die Republikaner und im rechtsextremen Thule-Netzwerk aktiv. Erst spät gelang ihm der Ausstieg aus dem braunen Milieu.
Sein älterer Bruder Gerwald dagegen brach schon mit Anfang 20 aus der verrückten Welt der »völkischen« Sektierer aus. Soweit bekannt, hatte er selbst niemals antisemitische Parolen geäußert, und er glaubte auch nicht an die Überlegenheit »deutscher Herrenmenschen« oder an eine »jüdische Weltverschwörung«. Aber er trat herrisch auf und propagierte gleichfalls extreme Ansichten. Wie seine Eltern witterte auch er ständig Verschwörungen und neigte zu – mindestens – verbaler Gewalt. Auch wenn er die Inhalte auswechselte, die strukturelle Prägung seiner Persönlichkeit war nicht zu übersehen.
Seine Gewalterfahrungen in Kindheit und Jugendjahren hatte Claus-Brunner offenbar nie verarbeitet. Eigentlich war es ein Wunder, dass er, der als Kind Tiere gequält und noch als junger Erwachsener Gleichaltrige verprügelt hatte, seine destruktiven Impulse danach jahrzehntelang unter Kontrolle hielt. Weit weniger verwunderlich ist, dass er diese Kontrolle zunehmend wieder verlor.
Gerwald Claus-Brunner, der als Teenager aus Ammoniumnitratdünger Bomben bastelte und im Wald detonieren ließ, war selbst eine wandelnde Zeitbombe. In der Nacht zum 16. September 2016 ist sie dann schließlich explodiert.
Bis wann genau sich Gerwald Claus-Brunner mit der Leiche von Jan Mirko L. in dessen Wohnung aufgehalten hat, wird sich nie genau klären lassen. Irgendwann im Lauf des Freitags fesselt er den Toten jedenfalls so mit Kabelbindern, dass er in den XXL-Rollkoffer passt. Dann verstaut er den Leichnam im Koffer, hievt diesen auf die Sackkarre und macht sich auf den Weg. Zurück in seine eigene Wohnung.
Wie lange Gerwald Claus-Brunner für die mehr als zehn Kilometer von Wedding bis Steglitz braucht, ob und wo er zwischendurch möglicherweise Station macht, Sackkarre und Koffer wiederum auf dem Bürgersteig abgestellt – all das ist ungeklärt. Vielleicht befestigt er die Karre an einem Fahrrad, das er sich unterwegs verschafft. Vielleicht legt er den ganzen Weg auch zu Fuß zurück, von der eigentümlichen Zufriedenheit eines Jägers erfüllt, der seine Beute nach aufwendiger Pirsch erlegt hat. Oder von der Euphorie eines Piraten nach geglückter Kaperfahrt.
In der Schönhauser Straße in Berlin-Steglitz bewohnt er eine Zwei-Zimmer-Mietwohnung. Gegen zwei Uhr in der Nacht zum Samstag wird dort eine Anwohnerin durch Geräusche geweckt. Sie schaut aus dem Fenster und bemerkt eine Sackkarre vor dem Nachbarhaus.
Claus-Brunner verfrachtet sein Opfer mitsamt Koffer in seine Wohnung im zweiten Stock. Dort entkleidet er den Leichnam und legt ihn auf die mit einem Spannbettlaken bezogene Matratze in seinem Wohnzimmer. Auch die Kabelbinder um Fuß- und Handgelenke entfernt er, ebenso wie den auf Mirkos Mund geklebten Knebel. Die Fesseln entsorgt er in einem Müllsack in seinem Flur.
Mutmaßlich zieht er dann auch sich selbst nackt aus und legt sich neben das Objekt seiner Obsession, das sich gegen seine Liebesbezeugungen endlich nicht mehr wehrt. Das lässt sich jedenfalls aus den sonderbaren Kurznachrichten ableiten, die Claus-Brunner bereits zwischen März und Juni 2015 auf Twitter verbreitet hatte. »Ich liebe den Wuschelkopf ganz doll und freu mich, dass ich auch morgen wieder neben ihm aufwachen kann«, schrieb er dort beispielsweise. Und ließ den vermeintlichen Jan Mirko L. nachts um 1:40 Uhr mit einem weiteren Tweet antworten: »Menno stell den PC aus und komm ins Bett!« In seiner Phantasie hatte Faxe wohl schon unzählige Nächte mit Mirko verbracht. Und als zeitgemäßer Pirat verstand er sich nicht nur auf Überfall und Mord in der analogen Welt, sondern auch auf digitalen Identitätsraub.
Was geht Claus-Brunner wohl durch den Kopf, während er am Berliner Wahl-Wochenende in seiner verwahrlosten Wohnung neben der nackten Leiche seines Opfers liegt? Ich bin der festen Überzeugung, dass manche Menschen durch und durch böse sind. In meinem Berufsleben hatte ich schon häufig mit solchen Individuen zu tun. Aber auf die überwiegende Mehrheit der Straftäter – einschließlich der meisten Mörder und Totschläger – trifft das keineswegs zu.
Auch Gerwald Claus-Brunners Persönlichkeit hatte durchaus eine helle, positive Seite. Weggefährten, Wähler und Reporter, die ihn während seiner kurzen Politikerkarriere begleiteten, stimmen darin überein, dass der Pirat trotz seines meist brachialen Auftretens ein gewinnender, hilfsbereiter Mann sein konnte. Als Abgeordneter hörte er zu, wenn Menschen aus seinem Wahlkreis sich mit ihren Sorgen und Nöten an ihn wandten. Gebraucht zu werden, anderen helfen zu können kitzelte geradezu die positiven Facetten seiner Persönlichkeit hervor. Und half ihm, seine dunkle Seite, seine Phantasien von Gewalt und Zerstörung unter Kontrolle zu halten – zumindest für gewisse Zeit.
Vermutlich zieht er Bilanz, während er neben seinem »Wuschelkopf« liegt, dessen Körper in der spätsommerlichen Schwüle Berlins zu faulen beginnt. Als Politiker hatte er die Chance, sich neu zu erfinden, seine destruktiven Impulse besser zu kontrollieren. Wenn er nun ehrlich mit sich selbst ist, muss er sich eingestehen, dass er auch diese wohl letzte Chance seines Lebens vermasselt hat.
Er sei Pirat geworden, »weil ich aufhören wollte, zu motzen, und selbst was tun«, erklärte Claus-Brunner im März 2012 einer Journalistin von der taz. Die Reporterin fand, Claus-Brunner sei »vielleicht sogar einer der nettesten Politiker, den die Stadt in diesem Moment hat«.
Anfangs stürzte er sich so enthusiastisch wie unbedarft in die politische Arbeit. Er saß in nicht weniger als sechs Ausschüssen, hielt Bürgersprechstunden ab, arbeitete bis spätabends in seinem Büro. Doch nicht nur der bundesweite Piraten-Hype flaute rasch wieder ab, auch Claus-Brunners Politikerlaufbahn ging zu Ende, bevor sie richtig angefangen hatte. Der Pirat witterte überall Feinde und Verrat. Wenn er Widerstand spürte, schlug er um sich – zumindest mit Worten.
Bereits der Mini-Skandal um sein PLO-Kopftuch ließ erahnen, wie fragil die Persönlichkeit dieses körperlichen Kolosses war. Anfang November 2011, kurz nach dem Wahlerfolg der Piraten, machte Charlotte Knobloch, die ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, ihm einen eigentlich erwartbaren Vorwurf: Mit seinem Palästinensertuch bekunde der Berliner Ober-Pirat »eine nationale, antijüdische Gesinnung und Sympathie für Gewalttätigkeit im Kampf gegen die westliche Modernität«, hielt sie ihm vor.
Als Claus-Brunner mit diesem Vorwurf konfrontiert wurde, war er außer sich vor Wut. Dass er nicht mit kritischen Interpretationen seines symbolträchtigen Outfits gerechnet hatte, mochte schlicht der Naivität des unerfahrenen Neu-Politikers geschuldet sein. Aber dass er sich persönlich angegriffen fühlte und geradezu hysterisch zurückschlug, ließ Beobachter frühzeitig in den persönlichen Abgrund des Gerwald Claus-Brunner blicken.
Noch am Abend des 2. November 2011, dem Tag, an dem Charlotte Knobloch ihren rituellen Vorwurf veröffentlicht hatte, gab Claus-Brunner vor Kameras und Mikrophonen ein Statement ab. Er sei kein Antisemit. Er habe eine jüdische Großmutter. »Und ich werde das Tuch tragen, solange mir das Grundgesetz das Recht der freien Meinungsäußerung einräumt.« Damit hätte er es gut sein lassen können. Auf seine Stellungnahme verweisen und jeden weiteren Kommentar zu dem Pseudo-Skandälchen ablehnen. Aber Claus-Brunner kriegte sich vor Zorn kaum mehr ein.
Er witterte eine Verschwörung der Medien gegen die Piraten und vor allem gegen ihn selbst. Am Tag darauf beobachteten Reporter, wie er in seiner Stammbäckerei in Steglitz Kaffee trank und sein Handy unablässig klingelte. Journalisten unzähliger Medien aus dem In- und Ausland wollten von ihm wissen, wie er zu den Vorwürfen stehe. Anstatt sein Telefon schlicht auszuschalten, knöpfte er sich einen Anrufer nach dem anderen vor. »Sie wollen doch nur, dass ich jetzt einen Fehler mache!« Damit hatte er sicher nicht ganz unrecht, aber der ihm von Kindheit an eingeimpfte Verfolgungswahn ließ ihm offenbar keine Wahl. Faxe schimpfte sich mehr und mehr in Rage, verrannte sich komplett und ließ sich von den Journalisten wie ein Bär am Nasenring durch die Manege ziehen.
Dabei ist die Geschichte, wie er zu dem PLO-Tuch gekommen ist, eigentlich ganz einfach. Jedenfalls seiner Meinung nach. Als Elektriker hatte er vor Jahren auf einer Großbaustelle in Haifa, Israel, geschuftet. Dort hatte ihm ein Kollege das Tuch geschenkt. »Auf dem Bau hat jeder dort so ein Tuch auf dem Kopf. Gegen die Sonne.«
Gerwald Claus-Brunner war im Grunde ein sentimentaler Mensch. Er umgab sich gerne mit Souvenirs aus früheren Phasen seines Lebens. Ein Foto seines ersten Liebhabers verwendete er noch 25 Jahre später als Desktophintergrund auf seinem PC. Typisch für Personen mit narzisstischer Störung, projizierte er Emotionen und Erinnerungen in Menschen und Objekte seiner Umgebung hinein. Dass diese Menschen autonome Individuen sind und dass Gegenstände wie das Palästinensertuch mit – historischen, politischen, sozialen – Bedeutungen aufgeladen sind, nahm er offenbar kaum wahr. Nur so lässt sich erklären, dass er als Reaktion auf den Vorwurf »antijüdischer Gesinnung« fortan auch noch einen Davidstern trug, gut sichtbar an einer Kette um den Hals.
In der deutschen Realität des Jahres 2016 ergab es keinerlei Sinn, wenn sich ein demokratisch gewählter Abgeordneter demonstrativ mit den Opfern antisemitischen Unrechts im untergegangenen Hitler-Reich identifizierte. Der Erfolg der Piraten war ja gerade ein Beweis für eine funktionierende Demokratie, die selbst bizarren Minderheiten politische Mitwirkung ermöglicht.
Doch im persönlichen Mikrokosmos des Gerwald Claus-Brunner ergab dieses grelle Statement durchaus einen Sinn. Seine Eltern sind fanatische Antisemiten. Juden sind für sie »Verbrecher«, so minderwertig wie Schwule. Als sich Gerwald Claus-Brunner mit Anfang 20 outete, bekam er Hass und Verachtung seiner Eltern zu spüren. Mit der Logik narzisstisch gestörter Persönlichkeiten glaubte er seitdem zu wissen, wie man sich als Jude unter der Nazi-Knute gefühlt hat.
Seine verbalen Attacken wirkten selbst im traditionell ruppigen Berliner Umfeld meist überzogen. Über die »Frauenquote« kann man geteilter Meinung sein, aber sie als »Tittenbonus« zu verunglimpfen ist selbstentlarvend. Als Claus-Brunner auf einem Parteitag mit einem Hammer als »Meinungsverstärker« auftrat, setzte er offenkundig mehr auf Einschüchterung als auf Überzeugungskraft. Und den traditionell anarchischen Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg als »Friedrichsfail-Scheißeberg« zu titulieren war nicht nur geschmacklos, sondern ein weiterer Schritt in Richtung politischen Selbstmords. Schließlich handelte es sich bei den unflätig beschimpften Stadtteilen um Hochburgen der Piraten-Partei.
Die Legislaturperiode war erst zur Hälfte vorbei, da hatte sich Claus-Brunner bereits gründlich ins Abseits manövriert. In seiner Fraktion war er isoliert, an deren Sitzungen nahm er ab Mitte 2014 kaum mehr teil. Aus den meisten Ausschüssen wurde er von seiner Fraktion wieder abberufen. So herrisch Claus-Brunner vermeintlich unfähige Mitarbeiter abkanzelte, so wenig kam er selbst mit der politischen Arbeit zurecht. Anträge stümperte er fehlerhaft zusammen, Hilfsangebote wies er barsch zurück. Keine drei Jahre nachdem er als »Gesicht« der Piraten international bekannt geworden war, wollte ein Teil der Fraktion eigentlich nur noch eines: ihn möglichst schnell wieder loswerden.
Im Januar 2016 beantragte die Mehrheit der fünfzehnköpfigen Piraten-Fraktion, Gerwald Claus-Brunner aus ihrem Kreis auszuschließen. Der Antrag wurde mit seinen unerträglichen verbalen Ausfällen begründet und scheiterte nur knapp. Spätestens damals musste für Claus-Brunner klar sein: Selbst wenn die Piraten doch noch den Wiedereinzug ins Abgeordnetenhaus schaffen sollten, würde er definitiv nicht mehr dabei sein.
Am 23. Juni 2016, bei einer Rede im Berliner Abgeordnetenhaus, gab Claus-Brunner eine düstere Ankündigung von sich, die einige Abgeordnete hellhörig werden ließ. Nach der bevorstehenden Wahl, erklärte der Hüne mit dem PLO-Kopftuch, würden es die Abgeordneten der anderen Fraktionen nicht nur bereuen, dass es die Piraten-Fraktion dann nicht mehr geben werde. »Ihr werdet dann auch in der laufenden Legislatur für mich am Anfang irgendeiner Plenarsitzung mal aufstehen dürfen und eine Minute stillschweigen.«
Mehrere Senatoren und Abgeordnete anderer Fraktionen, so wird berichtet, hätten danach Mitglieder der Piraten-Fraktion angesprochen: Hatte ihr Kollege Claus-Brunner gerade seinen eigenen Suizid angekündigt? Aber die anderen Piraten zuckten bloß mit den Schultern. Die meisten von ihnen wollten Faxe nur noch los sein.
»Auskopplung aus der Gesamtgruppe«, diese rückblickende Selbstdiagnose von Gerwald Claus-Brunner lässt sich nicht nur auf seine Kinder- und Jugendjahre beziehen, sondern auf sein gesamtes Leben. Sein Leben lang war Gerwald Claus-Brunner ein Außenseiter, der sich letztlich nur auf eine Art Respekt verschaffen konnte: durch Drohung, Einschüchterung, Gewalt. Kurzzeitig hatte er wohl geglaubt, als fürsorglicher Stadtpolitiker könnte er sich selbst neu erfinden. Doch bald schon war sein Drang zu verbaler und körperlicher Aggressivität wieder übermächtig.
Letztlich kehrte in ihm immer wieder das von Kindheit an gelernte zerstörerische Handlungsmuster hervor. Wie beispielsweise bei dem Vorfall, der zwei Jahrzehnte zuvor zu seiner unehrenhaften Entlassung aus der Bundeswehr geführt hatte. Der Unteroffizier, dem Claus-Brunner seine Zuneigung gestand, verhöhnte ihn als »Schwuchtel«. Der verschmähte Liebhaber rastete aus – und schlug zu.
An diesem Sonntag fliegen die Piraten krachend aus dem Berliner Abgeordnetenhaus. Mit 1,7 Prozent der Wählerstimmen sind sie nur noch eine von vielen bedeutungslosen Splitterparteien.
Vielleicht hat Gerwald Claus-Brunner den Wahlausgang noch in den Medien verfolgt. Wahrscheinlicher ist aber, dass er auch mit dieser Episode in seinem Leben bereits abgeschlossen hatte. Das Wetter hat mittlerweile umgeschlagen, doch in seiner Wohnung herrscht immer noch drückende Schwüle. Der Fäulnisgestank muss immer unerträglicher geworden sein.
Irgendwann im Lauf des Sonntags zieht sich Claus-Brunner in sein Schlafzimmer zurück. Als Brettspiel-Routinier weiß er, wann ein Spiel endgültig verloren ist. Und als gelernter Elektriker braucht er nicht lange darüber nachzudenken, wie sein letzter Spielzug aussehen sollte.
Am Montag herrscht bei den Berliner Piraten Katerstimmung. Ihre Tage im Abgeordnetenhaus sind definitiv gezählt. Da trifft ein Brief von Claus-Brunner ein. Die Fraktionskollegen lesen die Botschaft des einstigen Vorzeige-Piraten – und die allgemeine Apathie weicht hellem Entsetzen. »Wenn Ihr das hier lest, bin ich tot«, teilt ihnen Faxe mit. »Bitte informiert die Polizei und gebt ihr den Wohnungsschlüssel, den ich beigelegt habe.«