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Prof. Dr. Michael Tsokos

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Beschreibung

Der dritte True-Crime-Thriller von Deutschlands bekanntestem Rechtsmediziner und SPIEGEL-Bestseller-Autor Michael Tsokos - basierend auf echten Fällen, authentischen Ermittlungen und Insider-Wissen. Ein besonderer Tag für Rechtsmediziner Dr. Fred Abel: Viele Monate, nachdem er bei einem brutalen Überfall fast zu Tode kam, tritt er erstmals wieder seinen Dienst an. Sofort wird er vom täglichen Wahnsinn der BKA-Einheit »Extremdelikte« in Beschlag genommen: Der sogenannte »Darkroom-Killer« hält Polizei und Bevölkerung in Atem, überdies wird für Berlin eine Terrorwarnung herausgegeben. All dies verblasst jedoch, als Abels gerade neu gefundenes Familienglück auf dem Spiel steht: Seine 17-jährigen Zwillinge, Kinder aus einer längst vergangenen Affäre, besuchen ihn in Berlin – und werden Opfer einer Entführung. Wer hat mit Abel noch eine Rechnung offen? Die spannenden True-Crime-Thriller um Dr. Fred Abel sind in folgender Reihenfolge erschienen: - Zerschunden (Michael Tsokos & Andreas Gößling) - Zersetzt (Michael Tsokos & Andreas Gößling) - Zerbrochen (Michael Tsokos & Andreas Gößling) - Zerrissen (Michael Tsokos) - Zerteilt (Michael Tsokos)

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Michaels Tsokos

mit Andreas Gößling

ZERBROCHEN

True-Crime-Thriller

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Ein besonderer Tag für Rechtsmediziner Dr. Fred Abel: Viele Monate, nachdem er bei einem brutalen Überfall fast zu Tode kam, tritt er erstmals wieder seinen Dienst an. Sofort wird er vom täglichen Wahnsinn der BKA-Einheit »Extremdelikte« in Beschlag genommen: Der sogenannte »Darkroom-Killer« hält Polizei und Bevölkerung in Atem. All dies verblasst jedoch, als Abels gerade neu gefundenes Familienglück auf dem Spiel steht: Seine 16-jährigen Zwillinge, Kinder aus einer längst vergangenen Affäre, besuchen ihn in Berlin – und werden Opfer einer Entführung. Wer hat mit Abel noch eine Rechnung offen?

Inhaltsübersicht

Vorbemerkung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

67. Kapitel

68. Kapitel

69. Kapitel

Epilog

Nachwort von Andreas Gößling

Danksagung von Michael Tsokos

Leseprobe »Zerrissen«

Die Handlung in »Zerbrochen« spielt zwölf Monate nach den Ereignissen in »Zerschunden«

1

Berlin, Bezirk Treptow-Köpenick, in Dr. Fred Abels Auto, Freitag, 9. Juli, 07:17 Uhr

 

 

Das Sonnenhoch »Boris« hatte Berlin seit Wochen im Griff. Die S-Bahnen fuhren im permanenten Saunamodus, an etlichen Abschnitten der Stadtautobahn wölbte sich der Asphaltbelag wie Käsesoufflé, die Medien überboten sich gegenseitig mit Warnungen vor Hitzschlag, Ozonschock und Dehydrierung. Scharenweise kollabierten Senioren in ihren Hochhauswohnungen, auch die Zahl der Kneipenschlägereien und häuslichen Handgreiflichkeiten strebte ihrem Jahreshoch entgegen. Berliner, die es irgendwie einrichten konnten, flohen an den Ostseestrand oder in ihre Datschas an einem der Badeseen im Umland. Nur die Touristen in mutiger Outdoor-Bekleidung, mit Rucksäcken, Sonnenhüten und Selfiestangen bewaffnet, schienen die vor Hitze flimmernden Straßenschluchten zu genießen. Sie verwandelten öffentliche Parks in Müllhalden und das Regierungsviertel in ein riesiges Festivalgelände. Dollar, Yen und Euro quollen aus ihren Taschen, und so hatten Gastronomen genauso wie Taschendiebe alle Hände voll zu tun.

Das ganz normale Berliner Sommerchaos, dachte Dr. Fred Abel. Es fühlte sich gut an, wieder mittendrin zu sein.

Er stoppte seinen schwarzen A5 vor der Ampel am Treptower Park und warf einen Blick in den Rückspiegel. Der zerschrammte Van klebte ihm noch immer an der Stoßstange. Am Steuer saß ein junger Familienvater, der mit seinen Kindern herumalberte. Er trug eine trendige Nerd-Brille, einen akkurat gestutzten Vollbart und hatte ganz bestimmt keine finsteren Absichten. Geschweige denn einen blutbefleckten Baseballschläger an Bord.

Abel atmete gleichmäßig aus und ein. Seit er vor einem Jahr bei einem Mordanschlag lebensgefährlich verletzt worden war, war seine innere Alarmanlage mehr oder weniger im Dauerbetrieb. Dabei hatte er eigentlich keinen Grund mehr, besonders auf der Hut zu sein. Von den beiden Schlägern, die ihn damals überfallen hatten, und ihrem Hintermann konnte keine Gefahr mehr ausgehen.

Der Tag hatte gerade erst begonnen, doch die Außentemperatur lag schon wieder bei fünfundzwanzig Grad. Die Klimaanlage des Audi röchelte. Der Wagen kam allmählich in die Jahre, auch wenn er die zurückliegenden zwölf Monate mehr oder weniger ungenutzt im Carport gestanden hatte.

Geduldig wartete Abel, bis der Pulk jugendlicher Partygänger die Kreuzung überquert hatte. Die Fußgängerampel hatte längst wieder auf Rot geschaltet, doch immer noch trotteten gutgelaunte Nachzügler über die Straße. Offenbar hatten sie die Nacht zum Tag gemacht und würden in ihrem Hotel gleich die Rollläden herunterlassen, um ihren Rausch auszuschlafen.

Die sind höchstens drei, vier Jahre älter als Noah und Manon, dachte Abel. Seine Zwillinge hatten vor kurzem ihren sechzehnten Geburtstag gefeiert, doch bis vor einem Jahr hatte er nicht einmal geahnt, dass er zwei Kinder in die Welt gesetzt hatte. Geschweige denn, wie glücklich es ihn machen würde, Vater zu sein.

Das hinter ihm liegende Jahr hatte ihn noch sehr vieles mehr gelehrt. Als Rechtsmediziner bei der BKA-Einheit »Extremdelikte« war Abel von Berufs wegen mit der Zerbrechlichkeit menschlichen Lebens konfrontiert, doch im vergangenen Sommer hatte er am eigenen Leib erfahren müssen, wie dünn die Trennwand zwischen Leben und Tod war.

Abel war vor seinem Elternhaus in der Nähe von Hannover überfallen und schwer verletzt worden. Nach mehreren Operationen in einer neurochirurgischen Klinik und neun quälend langen Monaten in der Reha, in denen er Rückschlägen getrotzt und sich zäh ins Leben zurückgekämpft hatte, war heute sein erster Arbeitstag. Gestern Abend hatte er mit Professor Paul Herzfeld telefoniert, dem Leiter der rechtsmedizinischen Abteilung der »Extremdelikte«. Dieser hatte ihm versichert, wie sehr er sich freue, dass sein Stellvertreter Abel wieder gesund sei und den Dienst wiederaufnehmen könne. Abel hatte keinen Grund, an seinen Worten zu zweifeln. Seit vielen Jahren arbeiteten sie vertrauensvoll zusammen und schätzten und respektierten einander fachlich wie auch menschlich.

»Bitte keine warmen Worte zu meiner Rückkehr«, hatte Abel zum Abschluss ihres Telefonats gesagt, und Herzfeld hatte es ihm versprochen. »Nur schade um die Rede, die ich seit Tagen einstudiere«, hatte sein Chef allerdings hinzugefügt und sein fanfarenartiges Lachen ertönen lassen. Daher war sich Abel nicht ganz sicher, was ihn gleich bei der routinemäßigen Frühbesprechung erwarten würde. Abgesehen von den Opfern des Terroranschlags, der vor zwei Tagen auf dem Sultan-Ahmed-Platz in der Nähe der Blauen Moschee in Istanbul verübt worden war. Ein Selbstmordattentäter hatte sich inmitten einer deutschen Reisegruppe in die Luft gejagt.

Herzfeld hatte ihn am Telefon schon in groben Zügen informiert: zwölf Tote, die türkische Fremdenführerin und der aus Syrien stammende Attentäter sowie zehn deutsche Staatsangehörige, Senioren auf Fünf-Sterne-Rundreise durch die Türkei. Eine Bundeswehrmaschine hatte die Überreste der zehn Deutschen nach Berlin-Tegel gebracht. Seit gestern früh war die gesamte rechtsmedizinische Abteilung der »Extremdelikte« damit beschäftigt, die Opfer zu obduzieren, um ihre Identität zu klären und den Ermittlern Erkenntnisse zum Ablauf des Anschlags zu liefern.

Abel fuhr auf den Parkplatz der Treptowers, ein Ensemble imposanter Bürobauten im Berliner Osten, und stellte seinen Audi neben Herzfelds nagelneuem Range Rover ab. Der glasummantelte Wolkenkratzer, dem das Areal seinen Namen verdankte, war hundertfünfundzwanzig Meter hoch, der Ausblick von der Dachterrasse atemberaubend. Ihre Abteilung befand sich jedoch im zweiten Untergeschoss, was für den An- und Abtransport von Leichen praktisch war, die Aussicht allerdings stark limitierte.

Abel betrat das Foyer und nickte dem Pförtner zu, während er zu den Aufzügen ging. Alles wie immer, dachte er. Emotionaler Überschwang war ihm seit jeher zuwider, auch und gerade, wenn es um ihn selbst ging. Bei der Vorstellung, dass Herzfeld während der Frühbesprechung womöglich doch eine gefühlige Rede auf ihn halten und die Kollegen ihn mit feuchten Augen zu seiner Rückkehr beglückwünschen würden, verlangsamte er unwillkürlich seinen Schritt.

Er war dem Tod von der Schippe gesprungen, buchstäblich im letzten Moment und nur deshalb, weil er die Disziplin und die Geistesgegenwart besessen hatte, seiner Schwester Marlene die lebensrettenden Instruktionen zu geben, bevor er bewusstlos geworden war. Und natürlich auch, weil Marlene den Überblick bewahrt und dem Notarzt die entscheidenden Stichworte gegeben hatte: Schädelbasisbruch, Hirnödemprophylaxe, Rettungshubschrauber, neurochirurgische Spezialklinik. Marlene hatte ihm das Leben gerettet, und Abel war ihr unendlich dankbar dafür. Doch er hatte nicht die geringste Lust, diese privaten Details mit seinen Kollegen zu teilen.

Er respektierte sie alle und kam im beruflichen Alltag meistens gut mit ihnen zurecht, aber er war mit keinem von ihnen befreundet. Weder mit Dr. Martin Scherz, dem fachlich erstklassigen, menschlich allerdings schwierigen Oberarzt, noch mit Dr. Alfons Murau, dem feinsinnigen Assistenzarzt mit dem Hang zu messerscharfem Wiener Schmäh. Auch nicht mit der Deutschchinesin Dr. Sabine Yao, die ihre Gedanken und Gefühle hinter einer höflichen Maske versteckte, und nicht einmal mit Professor Herzfeld, auch wenn Abel immer geglaubt hatte, dass Herzfeld und er aus dem gleichen Holz geschnitzt waren. Überzeugt davon, aus jeder Klemme einen Ausweg zu finden.

Auch das hat sich geändert, dachte Abel, während er im Lift nach unten fuhr. Nachdem ihn die beiden Schläger fast ins Grab geprügelt hatten, würde er nie wieder der alte Fred Abel sein, der einen Serienkiller durch halb Europa verfolgt hatte und im Jahr davor von Menschenjägern durch einen sumpfigen Grenzwald in Osteuropa gehetzt worden war. Er war gesundheitlich wieder auf dem Damm, aber er hatte ein für alle Mal begriffen, wie rasch man von diesem Damm abrutschen und von der Flut davongerissen werden konnte. Auch durch den Umstand, dass er nun Vater zweier Kinder war, die er erst vor kurzem kennengelernt hatte, war sein inneres Koordinatensystem neu justiert worden. Abel war nach wie vor Rechtsmediziner mit Leib und Seele, doch er wusste, dass er nie wieder vollständig in seinem Beruf aufgehen würde.

Die Lifttür glitt auf, und er trat in den hell erleuchteten Gang hinaus. Alles hier war vertraut, der abgetretene, graue Linoleumbelag, das leise Quietschen seiner Sohlen, während er auf die Tür zum Besprechungsraum zuging. Es erfüllte ihn mit tiefer Befriedigung, dass er dem fast schon sicheren Tod entronnen war und sich hierher zurückgekämpft hatte, an den Ort, an dem er seine beruflichen Fähigkeiten und Neigungen bestmöglich beweisen und einbringen konnte.

Morgen Vormittag würde er die Zwillinge am Flughafen Tegel abholen. Sie würden drei Wochen lang bei ihm und seiner Lebensgefährtin Lisa wohnen. Eigentlich hatten sie schon vor zehn Tagen kommen sollen, aber aufgrund einer Panne bei der Ticketbuchung hatte sich ihre Abreise verzögert. Abel konnte es kaum erwarten, seine Kinder in die Arme zu schließen und sich von ihrer unbändigen Energie anstecken zu lassen.

☠ ☠ ☠

2

Berlin, Treptowers, BKA-Einheit »Extremdelikte«, Besprechungsraum, Freitag, 9. Juli, 07:30 Uhr

 

 

Der Raum, in dem sich die Rechtsmediziner und die Wissenschaftler der Kriminaltechnik jeden Morgen um halb acht versammelten, besaß den Charme eines Aktenkellers. Die zu einem Rechteck zusammengeschobenen Tische waren genauso grau und abgestoßen wie die Regale und Blechschränke an den Wänden. Statt aus dem Fenster sah man auf leere Flipcharts und eine halb heruntergezogene Beamer-Leinwand. Im bleichen Licht der Neonlampen war die Außenwelt, in der die Sonne vom blauen Himmel schien, schon nach wenigen Augenblicken nur noch eine blasse Erinnerung. Und doch hatte Abel während der langen Monate in der Reha gerade das Ritual der Frühbesprechung in diesem nüchtern möblierten Raum mehr als ein Mal vermisst.

Er hatte es so eingerichtet, dass er um Punkt sieben Uhr dreißig im Besprechungsraum eintraf. Nicht verspätet, aber als Letzter der Runde, um den Begrüßungsfloskeln seiner Kollegen vor Beginn der Sitzung zu entgehen.

Den weißen Kittel offen über seinem stahlblauen Maßanzug, saß Paul Herzfeld bereits am Kopfende des Konferenztischs und begrüßte die Anwesenden mit routinierter Freundlichkeit. Abel wollte sich neben ihm auf seinen Platz fallen lassen, aber Herzfeld kam ihm zuvor. Er erhob sich und schüttelte seinem Vize ausdauernd die Hand. Obwohl Abel mit knapp einem Meter neunzig Scheitelhöhe nicht gerade klein gewachsen war, überragte ihn Herzfeld noch um mehrere Zentimeter.

Abel befürchtete schon das Schlimmste, als Herzfeld ihn bedeutungsschwer ansah. »Schön, dass du wieder an Bord bist, Fred«, sagte sein Chef aber nur und ließ Abels Hand wieder los.

»Zurück auf dem Totenfloß«, kommentierte Murau und rieb sich mit spöttischem Lächeln über den Spitzbauch.

Der Oberarzt Dr. Scherz schnaubte verachtungsvoll in Richtung des wesentlich jüngeren Assistenzarztes. Scherz sah noch unförmiger aus als in Abels Erinnerung. Der gewaltige Bauch sprengte ihm fast den Hosenbund und das kleinkarierte Hemd. Der graue Fusselbart konnte weniger denn je sein Doppelkinn verbergen. Als Rechtsmediziner war Scherz ein Ass, in jeder anderen Hinsicht aber nur schwer erträglich.

»Vielen Dank. Die Freude ist ganz meinerseits«, versicherte Abel und nickte seinen Kollegen nacheinander zu.

Herzfeld hatte sich wieder hingesetzt, und Abel folgte seinem Beispiel.

Zu seiner Erleichterung kam sein Chef gleich zur Sache. »Die Opfer aus Istanbul, die wir gestern noch nicht untersucht haben, fordern ihr Recht«, sagte er und nahm den obersten Schnellhefter von dem vor ihm liegenden Stapel. »Wir haben jetzt auch eine offizielle Einschätzung von türkischer Seite, wonach der sogenannte Islamische Staat für den Anschlag verantwortlich sein soll. Allerdings gibt es ein neues Videodokument, das nur wenige Sekunden vor der Detonation auf dem Sultan-Ahmed-Platz aufgenommen wurde und zeigt, wie ein Objekt in die Gruppe fliegt. Die vom Staatsschutz meinen, es könnte sich dabei um eine Boden-Luft-Rakete handeln. Wie auch immer, Herrschaften. Augen auf bei den Obduktionen!«

Mit leisem Neid registrierte Abel, dass Herzfeld um keinen Tag gealtert schien. Mit den markanten Gesichtszügen, die an einen berühmten Hollywoodschauspieler erinnerten, und dem dichten, schwarzen Haar, in dem nicht eine silbrige Strähne schimmerte, war er eine imposante Erscheinung. Dagegen waren Abels Haare im zurückliegenden Jahr grau geworden. Und obwohl er körperlich wiederhergestellt war, fühlte er sich deutlich weniger robust als vor dem Überfall.

Vier der zehn deutschen Terroropfer, zwei Männer und zwei Frauen, warteten noch auf ihre Identifizierung. Herzfeld teilte jedem der anwesenden Rechtsmediziner einen Fall zu. Abel sollte die Überreste einer Seniorin obduzieren, der durch die Wucht der Explosion beide Unterschenkel zerfetzt worden waren. Eine Aufgabe, die einen erfahrenen Rechtsmediziner vor keine besonderen Herausforderungen stellte, selbst wenn er ein wenig aus der Übung gekommen sein sollte.

Vor acht Tagen, bei ihrem vorletzten Telefonat, hatte Herzfeld vorgeschlagen, dass Abel im Schongang wiedereinsteigen sollte. »Fang nächsten Freitag an und übernimm erst einmal eine Routine-Obduktion«, hatte er gesagt. »Dann kommst du langsam rein und hast anschließend schon wieder Wochenende. Danach wird dir alles wie früher von der Hand gehen.«

Abel wusste Herzfelds Fürsorglichkeit zu schätzen, auch wenn er sie etwas übertrieben fand. Er brannte darauf, endlich wieder loszulegen. Am liebsten wäre er gleich wieder mit einem komplizierteren Fall eingestiegen, der seine rechtsmedizinische Erfahrung und sein kriminalistisches Gespür gleichermaßen herausforderte. Doch durch den Terroranschlag hatte sich diese Diskussion ohnehin erledigt.

Bei den vier Toten des Tages handelte es sich durchweg um wohlhabende Senioren, die über eine private Krankenversicherung oder Zusatzpolice verfügten. Folglich konnten sie sich auch die aufwendigen Zahn- und Gelenkimplantate leisten, die das Leben im fortgeschrittenen Alter angenehmer machten. Und die anhand ihrer Seriennummern mit ein paar Mausklicks in entsprechenden Datenbanken den Besitzern zugeordnet werden konnten.

»Vergessen Sie bitte nicht«, sagte Herzfeld, »die Öffentlichkeit nimmt lebhaften Anteil an den Folgen dieses brutalen Terrorakts. Und die Hinterbliebenen müssen zusätzliche Qualen durchstehen, solange sie nicht sicher wissen, ob ihr Angehöriger zu den Opfern gehört. Deshalb muss auch heute wieder alles andere warten.«

Er schüttelte den Kopf und sah mit einem Mal ungewohnt bekümmert aus. »Hier haben wir es – in Anführungszeichen – nur mit zehn Terroropfern zu tun. Aber das reicht schon, um alle unsere Kräfte für zwei Tage zu binden. Jetzt stellen Sie sich einmal vor, was hier los wäre, wenn in Berlin ein Anschlag in einer Größenordnung wie zuletzt in Paris oder Brüssel passieren würde. So ziemlich alle westeuropäischen Hauptstädte waren in den letzten Jahren schon von Terrorakten in der einen oder anderen Form betroffen. Die Wahrscheinlichkeit wird also immer größer, dass irgendwelche durchgeknallten Dschihadisten oder andere Irre uns ins Visier nehmen und zum Beispiel im Hauptbahnhof oder auf einem der Berliner Flughäfen ein Massaker anrichten – mit Hunderten Toten, wenn nicht noch mehr. Alle rechtsmedizinischen Einrichtungen in Berlin zusammen hätten nicht annähernd die nötige Kapazität, um mit einem solchen Szenario zurechtzukommen.«

Herzfeld fuhr sich mit der flachen Hand über das Gesicht. Als leitender BKA-Beamter ging er im Innenministerium und im Auswärtigen Amt ein und aus und verfügte stets über aktuelle Insider-Informationen. Für seine Andeutungen musste es also handfeste Gründe geben. Zumal Herzfeld nicht zu den Menschen gehörte, die ihr Herz auf der Zunge trugen.

Er lächelte in die Runde. »Auf mich müssen Sie heute im Sektionssaal leider verzichten. Man erwartet mich im Auswärtigen Amt. Aber glücklicherweise ist mein Stellvertreter ja wieder im Dienst. Jetzt muss ich es doch noch sagen«, fuhr er fort und drehte sich zu Abel. »Auch wenn du mir verboten hast, gefühlvolle Reden zu schwingen, Fred: Ich bin wirklich froh, dass du wieder bei uns bist.«

Er klopfte Abel auf die Schulter. Alle starrten Abel an, doch niemand bekam feuchte Augen. Nur er selbst hatte kurzzeitig einen Kloß in der Kehle, den er jedoch mit einem energischen Räuspern hinunterschluckte.

»An die Arbeit«, sagte er. »Ich kann es kaum erwarten, endlich wieder am Sektionstisch zu stehen.«

☠ ☠ ☠

3

Berlin, Treptowers, BKA-Einheit »Extremdelikte«, Sektionssaal, Freitag, 9. Juli, 08:13 Uhr

 

 

Abel setzte das Skalpell an der Kinnspitze an und zog es mit einem einzigen schnellen Schnitt bis zum Schambereich der Toten. Die beiden großen Hautlappen klappten auseinander, so dass der Blick auf Brustkorb und Bauchorgane frei lag.

Zuvor hatte die Sektionsassistentin Britta Gerlach den schwersttraumatisierten Leichnam der älteren Dame in den Computertomographen geschoben, um festzustellen, ob sich in ihrem Körper metallische Objekte befanden, Implantate oder auch Metallsplitter von dem Sprengsatz. Dabei hatte sich herausgestellt, dass die Seniorin rechtsseitig eine künstliche Hüfte und im linken Bein ein Knieimplantat besaß, außerdem einen Herzschrittmacher.

Bei der äußeren Leichenschau hatten sich Zeichen eines massiven Explosionstraumas in Kombination mit Hitzeeinwirkung gezeigt: massenhaft kraterförmige Hautdefekte im Gesicht und an der gesamten Körpervorderseite sowie Ansengungen des Kopfhaars, das teilweise bis auf die schwärzlich verkohlte Kopfhaut heruntergebrannt war.

Der gänzlich zahnlose Kieferbereich ließ darauf schließen, dass die betagte Dame eine Zahnvollprothese getragen hatte, die durch die Explosion wohl zerstört und in alle Himmelsrichtungen verstreut worden war. Die altbewährte Methode, einen Toten anhand seines Zahnstatus zu identifizieren, fiel damit schon einmal aus.

Teile des Unterkörpers und die Unterschenkel der Toten waren durch die Wucht der Explosion zerfetzt worden. Der Oberkörper war dagegen in deutlich besserem Zustand. Auch der Herzschrittmacher sah auf dem CT-Bild unversehrt aus. Aller Erfahrung nach würde dieses Implantat ausreichen, um die Identität der Toten zu klären.

Die Assistentin Britta Gerlach schien sich über Abels Rückkehr aufrichtig zu freuen, auch wenn die stämmige Frau mit der dunkelblonden Kurzhaarfrisur wie gewohnt keine großen Worte machte. Abel hatte immer schon gern mit ihr zusammengearbeitet. Sie war stets bei der Sache und verlor auch in Ausnahmesituationen weder die Nerven noch den Überblick. Anfang April hatte sie ihren einundvierzigsten Geburtstag gefeiert, worauf Abel von seinem Blackberry mit dezentem Vibrieren hingewiesen worden war. Zu dieser Zeit hatte er sich noch auf Guadeloupe aufgehalten, der französischen Karibikinsel, auf der seine Zwillinge mit ihrer Mutter Claire Borel lebten. Einer spontanen Eingebung folgend, hatte er Britta Gerlach mit einer SMS kurz und knapp gratuliert, und sie hatte sich ebenso bündig bei ihm bedankt.

»Die Rippenschere bitte, Frau Gerlach.«

Befriedigt registrierte Abel, dass er nichts verlernt hatte. Seine Hände arbeiteten wie von selbst, als er den Herzschrittmacher in der Muskeltasche der vorderen Brustwand freipräparierte. Wie er es aufgrund der CT-Bilder erwartet hatte, hatte der Herzschrittmacher die Explosion ohne sichtbare Schäden überstanden.

Mit traumwandlerischer Sicherheit setzte Abel die Rippenschere an und öffnete mit ein paar raschen Klicks den Brustkorb der Toten. Nachdem er die großen Gefäße, die das Herz im Brustbeutel fixierten, freigelegt hatte, durchtrennte er die Elektroden des Schrittmachers. Er legte das Implantat in ein Plastikschälchen, das die Assistentin bereitgestellt und mit der aktuellen Sektionsnummer beschriftet hatte. Als Nächstes entnahm er mit geübten Griffen erst das Herz und dann beide Lungenflügel, ehe er die Halsweichteile schichtweise freilegte, um Kehlkopf und Schilddrüsen aus der Tiefe des Halses zu schälen.

Britta Gerlach nahm den Herzschrittmacher aus der Schale und säuberte ihn unter dem Wasserstrahl. Währenddessen schnitt Abel die Bronchien der Länge nach auf und registrierte eine massive Blutaspiration, die belegte, dass die Seniorin die Explosion noch kurze Zeit überlebt haben musste. Zeit, genug für ein paar wenige Atemzüge, die ihre Lungen mit Blut gefüllt hatten.

Dann wollen wir doch mal sehen, wie es um die Hüft- und Knieprothesen der alten Dame bestellt ist, dachte Abel.

Schritt für Schritt arbeitete er das Skelettsystem der Toten ab. Dabei verglich er seine Befunde mit den Resultaten der CT-Untersuchung auf dem Monitor neben dem Obduktionstisch. »Rippenserienfrakturen rechts«, sprach er in sein Diktiergerät, »erste bis siebte Rippe in der Medioclavicularlinie. Linksseitig Rippenserienfrakturen erste bis sechste Rippe in der vorderen Axillarlinie. Trümmerfraktur des oberen Drittels des rechten Oberarms sowie Sprengung des Oberarmkopfs und Fraktur des Rabenschnabelfortsatzes mit frisch eingebluteten Zerreißungen der umgebenden Muskulatur des Schultergürtels.«

Nachdem er Hüft- und Knieprothese freipräpariert hatte, war klar, dass die Identität der alten Dame schon bald enträtselt sein würde. Modellart und Seriennummer waren gut lesbar.

Am Sektionstisch neben Abel obduzierte Sabine Yao die zweite Seniorin. Auch die klein gewachsene Deutschchinesin hatte bereits eine künstliche Hüfte mit lesbarer Seriennummer asserviert.

Abel entnahm ein jeweils etwa pflaumengroßes Stück Leber und Oberschenkelmuskel und legte sie in die dafür vorgesehenen Plastikbehälter. Nach der Obduktion würde Britta Gerlach die Proben in das hauseigene kriminaltechnische Labor von Dr. Fuchs bringen, der dort eine routinemäßige toxikologische Screening-Untersuchung durchführen würde.

Während Abel seine Sektionsschürze auszog und im Mülleimer entsorgte, ging ihm durch den Kopf, dass sich die alte Dame ähnlich wie er selbst aus einem tiefen Abgrund herausgearbeitet hatte.

Sie musste erhebliche Schmerzen und Strapazen auf sich genommen haben, um ihrem körperlichen Verfall zu trotzen und auch im fortgeschrittenen Alter noch am Leben teilzuhaben. Ohne all die Wunderwerke des medizinischen Fortschritts, Herzschrittmacher, Knie- und Hüftprothese, hätte sie sich nie mehr auf diese Reise begeben können. Zweifellos hatte auch sie Wochen in einer Reha-Einrichtung verbracht, um zu lernen, sich mit den implantierten Gehhilfen fortzubewegen.

Nachdem sich Abel Hände und Unterarme eingeseift und unter warmem Wasser gründlich gereinigt hatte, griff er sich sein Diktiergerät, nickte der Assistentin zu und ging in den Vorraum des Sektionssaals, um sein Protokoll zu Ende zu diktieren.

Was war wohl der letzte Gedanke der alten Frau, bevor die Bombe explodiert ist?, sinnierte Abel. Dass all die Qualen und Mühen bei OP und Reha umsonst gewesen waren? Dass es sich trotzdem gelohnt hat? Oder hat sie bedauert, dass sie ihre wiedergewonnene Gesundheit durch die Reise aufs Spiel gesetzt hat?

Noch vor einem Jahr hätte er keine Minute auf solche Spekulationen verschwendet. Schon aus schierem Selbstschutz mussten sich Rechtsmediziner, genauso wie Unfallchirurgen oder Psychotherapeuten, davor hüten, allzu viel Anteil an den Schicksalen zu nehmen, mit denen sie es Tag für Tag zu tun bekamen. Doch auch in dieser Hinsicht hatte sich Abel verändert.

Während er den Sektionstrakt verließ, kehrten seine Gedanken zu dem Abend zurück, als er mit seinem ganz persönlichen blinden Fleck konfrontiert worden war. Und fast daran zerbrochen wäre.

☠ ☠ ☠

4

Ein Jahr zuvor: Lenthe bei Hannover, vor Dr. Abels Elternhaus, Montag, 13. Juli, 22:43 Uhr

 

 

Nie mehr würde Abel den Augenblick vergessen, als ihm klargeworden war, dass ihn die beiden Schläger nicht nur verletzen und einschüchtern wollten. Sie wollen dich töten, hörte er seine eigene Stimme aus dem Off, während er ein weiteres Mal die alptraumhaften Szenen vor seinem inneren Auge abrollen sah.

Er ist zurück in Lenthe, dem Dorf bei Hannover, in dem er aufgewachsen ist. Gerade eben hat er seinen Audi auf dem Gehweg gegenüber von seinem Elternhaus abgestellt, einen Strauß Rosen in der Hand und eine Flasche Brunello unter dem Arm. Er ist mit seiner Schwester Marlene verabredet, und wieder einmal hat er sich aus beruflichen Gründen verspätet.

Hoffentlich ist sie nicht sauer, weil sie warten musste, denkt er. Schließlich will er sich heute mit ihr versöhnen. Ihren Streit begraben und Marlene von Herzen dafür danken, dass sie ihre bettlägerige Mutter so viele Jahre aufopfernd gepflegt hat. Ich habe einen Sohn und eine Tochter, und du hast plötzlich einen Neffen und eine Nichte, will er zu ihr sagen. Der Tod hat unsere Mutter geholt, aber das Leben hat uns diese Kinder geschenkt. Ist das nicht wundervoll, Tante Marlene?

Es ist spätabends und so dunkel, wie es in der Stadt nicht einmal in tiefster Nacht werden kann. Als neben ihm ein Kleinbus stoppt, nimmt Abel nur schattenhafte Umrisse wahr. Zwei bullige Silhouetten mit Baseballschlägern. Abel wirft sich herum, doch sie drängen ihn gegen den Kleinbus, und dann trifft ihn ein heftiger Schlag am Kopf. Er schreit auf und fällt zu Boden, das Gesicht im Staub des unbefestigten Weges. Sie wollen dich töten.

Der nächste Schlag trifft ihn mit voller Wucht von oben auf den Hinterkopf. Es kracht in seinem Schädel, sein Herzschlag setzt kurz aus und dann stolpernd wieder ein.

Die Haustür auf der anderen Straßenseite fliegt auf, Licht flutet drüben in den Vorgarten. Mein Herz schlägt viel zu schnell, denkt Abel benommen. Dann Marlenes Stimme, sich überschlagend vor Panik: »Um Himmels willen, Fred?« Schritte auf der Straße, gleichzeitig hört er, wie die beiden Schläger miteinander reden. In einer osteuropäischen Sprache, ruhig und selbstbewusst. Während sie in ihren Kleinbus steigen und wegfahren, wird Abel klar, wer die beiden geschickt haben muss.

Er kommt mühsam auf die Knie, doch mehr geht nicht. Seine Beine gehorchen ihm nicht. Er setzt sich hin und betastet seinen Kopf. Im Lichtschein aus dem Haus gegenüber sieht er, dass seine Handflächen blutverschmiert sind. Er wendet den Kopf hin und her und sieht die Blutstropfen, die sich im Schulterbereich dick und dunkel von seinem hellgrauen Sakko abheben.

Er weiß genau, was das bedeutet. Blut läuft mir aus den Gehörgängen. Meine Schädelbasis ist gebrochen. Ab jetzt zählt jede Sekunde. Er braucht sofort einen Notarzt, der mit den entsprechenden Medikamenten gegen die rapide Gehirnschwellung vorgeht. Und danach unverzüglich eine neurochirurgische Notoperation, um das Blut in seinem Schädelinneren zu entfernen. Anderenfalls wird sein Hirnstamm in seinem Schädel gewaltsam in Richtung Rückenmarkskanal verschoben und dort eingeklemmt werden, was zum Tod durch Atemlähmung führt. Zentrale Kreislaufdysregulation, geht es Abel durch den Kopf. Bisher waren das nur zwei Wörter in seinen Sektionsprotokollen, jetzt ist es der Name seines schlimmsten Feindes.

»Marlene«, stößt er hervor. Er nimmt einen Schatten wahr, der sich über ihn beugt. »Hör mir genau zu.« Er kämpft gegen die Bewusstlosigkeit an. Und gegen seine Todesangst. Mit letzter Kraft schärft er ihr ein, dass sie einen Notarzt rufen und am Telefon sagen soll, dass seine Schädelbasis gebrochen ist. »Er muss hier vor Ort eine Hirnödemprophylaxe machen. Und ein Helikopter muss mich in eine neurochirurgische Spezialklinik bringen. Hast du alles verstanden?«

Marlene weint. »Ja, Fred, ja«, hört er, während ihm die Sinne schwinden. Mehrfach wiederholt er noch Hirnödemprophylaxe und neurochirurgische Spezialklinik, aber er ist sich nicht sicher, ob er diese Worte nur noch denkt oder hörbar hervorbringt. Und dann stürzt er in einen Abgrund voll Finsternis.

☠ ☠ ☠

5

Ein Jahr zuvor: Berlin-Mitte, neurochirurgische Spezialklinik der Charité, Intensivstation, Dienstag, 21. Juli, 11:13 Uhr

 

 

Als Abel zu sich kommt, liegt er auf der Intensivstation. Sein Schädel ist bandagiert. Aufgetürmte Apparate blinken und piepen. Infusionsschläuche sind über kleine Plastikkanülen mit seinen Armbeugen und seinem Hals verbunden.

Bruchstückhaft kehrt seine Erinnerung zurück. Die beiden Totschläger. Wie er vor ihnen im Dreck lag und sie mit Baseballschlägern auf ihn einknüppelten.

Sie wollten dich töten. Aber du lebst …

Er ist zu benommen und viel zu geschwächt, um Erleichterung zu empfinden. Um irgendetwas anderes zu fühlen als die Nachwirkung des Schocks. Vorsichtig bewegt er die Fußzehen, danach Füße und Beine, um zu testen, ob er bleibende Schäden davongetragen hat.

Was haben sie mit meinem Kopf gemacht? Erneut glaubt er das Krachen in seinem Schädel zu spüren. Sieht wieder die dicken, dunkelroten Blutstropfen auf seinen Schultern. Wie Pfotenabdrücke von ganz kleinen Katzen.

Schädelbasisbruch … Jetzt erst wird ihm die ganze Dramatik des Geschehenen wieder klar.

Liebe, gute Lene, denkt er. Offenbar hat seine Schwester alles so weitergegeben, wie er es ihr aufgetragen hat. Sonst wäre ich jetzt nicht hier. Sondern bei einem Kollegen auf dem Tisch.

Erneut dämmert er weg. Als er das nächste Mal zu sich kommt, sitzt Lisa an seinem Bett. Seine Lebensgefährtin Lisa Suttner, im eleganten grünen Kleid, die kupferroten Haare hängen ihr offen auf die Schultern. Ihre Schönheit, ihr liebevolles Lächeln überwältigen ihn. Neben ihr sitzt Marlene. Hager, verhärmt, ihr Gesicht eine Maske gefrorenen Schreckens.

»Danke, Lene«, bringt Abel hervor. »Tausend Dank.« Seine Stimme klingt kraftlos, fast tonlos.

»Du hast es geschafft, Freddy«, flüstert Lisa und lächelt ihm zu. Ihre grünen Augen glitzern. Sie beugt sich über ihn. Verwundert spürt er die warmen Tropfen auf seinem Gesicht.

Wann hat er Lisa jemals weinen sehen? Die smarte Lisa Suttner, erfolgreiche Spitzenbeamtin bei der Bundesanwaltschaft? Und weshalb weint sie? Aus Freude, weil er wirklich über den Berg ist? Oder aus Kummer, weil er doch irgendeinen schwerwiegenden Schaden zurückbehalten hat? Panisch versucht er, seine Hände zu bewegen, um auch hier seine Nervenverbindungen zu prüfen, und über diesem Versuch schläft er neuerlich ein.

Beim nächsten Erwachen fühlt er sich etwas kräftiger. Wieder sind Lisa und Marlene bei ihm. Seine Schwester erzählt stockend, wie sie am Telefon darum kämpfte, dass der Notarzt mit einem Helikopter kommt. Und dann noch einmal in den Clinch ging, damit er sofort die Hirnödemprophylaxe einleitete. »Er wollte sich erst nichts von mir sagen lassen«, berichtet sie und wird bei der Erinnerung noch bleicher. »Aber irgendwie habe ich es dann doch geschafft, ihn zu überzeugen.«

Sonst wäre ich jetzt tot. Abel greift nach Marlenes Hand. Er spürt, wie ihre Finger sich zwischen seinen bewegen. Was für ein Glück.

»Zum Glück bist du ein Kämpfer, Freddy«, sagt Lisa. Als hätte sie seine Gedanken gelesen.

Diesmal sind es Marlenes Augen, die sich mit Tränen füllen. Und Abel wird klar, dass er noch längst nicht über den Berg ist.

Nach und nach erfährt er weitere Einzelheiten. Nach der Erstversorgung ist er direkt hierhergebracht worden, in die neurochirurgische Klinik der Charité in Berlin-Mitte. Noch in der Nacht des Überfalls war er, zu diesem Zeitpunkt mehr tot als lebendig, einer notfallmäßigen Kraniotomie unterzogen worden, einer operativen Eröffnung des knöchernen Schädeldachs. In einer zweistündigen Operation waren mehrere Hämatome in seinem Hirngewebe entfernt worden. Trotz der sofortigen Hirnödemprophylaxe war die Gehirnschwellung bereits bedrohlich fortgeschritten. Die Ärzte kämpften um sein Leben. Und sie gewannen den Kampf.

Als schließlich feststand, dass er durchkommen würde, begann für Lisa und Marlene das nächste Hoffen und Bangen. Vorsichtshalber wurde Abel in ein künstliches Koma versetzt. Schonend bereiteten die Ärzte sie darauf vor, dass er höchstwahrscheinlich irreparable Schäden davontragen würde. Lähmungen, motorische Ausfallerscheinungen, epileptische Krampfanfälle, Sehstörungen, chronische Kopfschmerzen, Verlust seines Kurzzeitgedächtnisses, Einschränkungen seiner Denk- und Sprechfähigkeit. Die Wahrscheinlichkeit betrug achtzig Prozent.

Acht Tage sind seit dem Überfall, seit der OP vergangen. Erst in den letzten Stunden, während er langsam aus dem Koma geholt wurde, haben die Ärzte Entwarnung gegeben.

»Du musst noch acht bis zehn Tage hier in der Klinik bleiben«, erklärt ihm Lisa. »Sie wollen weitere Untersuchungen durchführen, noch zwei oder drei CTs …«

Abel protestiert. »Blödsinn«, murmelt er. »Ich bin okay.« Im Nachhinein kommt es ihm absurd vor, aber er macht tatsächlich einen Versuch, von seinem Bett aufzustehen. Mit Müh und Not schafft er es, seinen Oberkörper aufzurichten. Dann überkommt ihn ein heftiger Schwächeanfall, der Schweiß bricht ihm aus allen Poren, und er sinkt auf die Matratze zurück.

»Wir haben noch einen langen Weg vor uns«, hört er Lisa nahe an seinem Ohr. »Aber wir schaffen das, so viel ist sicher, Freddy.«

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Auf den dringenden Rat seiner Ärzte hin hat Lisa vorerst darauf verzichtet, Abel von dem Telefonanruf aus der Karibik zu erzählen. Aufregungen aller Art sind Gift für sein Gehirn und Nervensystem. Auch positive Überraschungen können bei Rekonvaleszenten gefährliche Rückschläge auslösen. In seinem fragilen Zustand könnte Abel buchstäblich der Schlag treffen, wenn er erfahren würde, dass eine gewisse Madame Borel aus Guadeloupe bei ihnen zu Hause angerufen hat.

Claire Borel, mit der Abel vor siebzehn Jahren eine so kurze wie heftige Affäre hatte. In seiner Erinnerung ist sie immer die hübsche junge Schwarze geblieben, in die er sich damals, als angehender Rechtsmediziner, leidenschaftlich verliebt hatte. Ihre Liaison dauerte nur drei Tage, ein verlängertes Wochenende in einem Hotel in Paris, wo er seinen Kongress weitgehend versäumte, weil er praktisch ununterbrochen mit Claire im Bett war.

Für Abel war es weit mehr als eine Amour fou, als ein Anfall von erotischer Besessenheit, jedenfalls war er damals fest davon überzeugt. Und Claire ging es wohl genauso, zumindest flüsterte sie ihm immer wieder ins Ohr, dass er die Liebe ihres Lebens sei, l’amour de ma vie, und dass er sie niemals verlassen dürfe, jamais, écoute, chéri, jamais. Dabei wusste sie so gut wie nichts von ihm und er noch weniger von ihr. Nur, dass sie verrückt aufeinander waren und sich blind verstanden. Jung, wie sie beide waren, setzten sie voraus, dass sich dieses gegenseitige Verständnis beliebig erweitern ließ. Von ihrem Hotelzimmer in Paris zu einer Wohnung, einem Haus voller Kinder, einem gemeinsamen Leben.

Tatsächlich schmiedeten sie schon bei ihrem dritten Frühstück Zukunftspläne. Claire wollte mit ihm am nächsten Tag nach Hannover kommen. Sie hatte nur einen Koffer voller Kleider in Paris, eine Staffelei und ein paar Aquarelle; sie war Künstlerin, und Lebenskünstlerin sowieso. Und dann war sie fort.

Ohne Abschied, ohne Vorwarnung, ohne eine Spur zu hinterlassen. Als Abel von seinem Kongress zurückkam, wo er zumindest noch an der Schlussveranstaltung teilgenommen hatte, war Claire Borel verschwunden. Aus dem Hotel, aus der Stadt, aus seinem Leben.

Es fühlte sich an, als hätte sich die Erde unter ihm aufgetan. So etwas hatte er noch nie erlebt, aber das galt für alles, was mit Claire zu tun hatte. Sie war einzigartig, jedenfalls in der wohlgeordneten Welt des jungen Rechtsmediziners, der seine Berufung gefunden und eine genaue Vorstellung hatte, wie sich sein Leben in den nächsten Jahren und Jahrzehnten entwickeln sollte.

Nach ihrem Verschwinden geriet er kurzzeitig aus dem Tritt. Er war wild entschlossen, Claire aufzuspüren und umzustimmen. Sie musste mit ihm kommen, er konnte sich nicht vorstellen, ohne sie zu leben. Verzweifelt wehrte er sich gegen die Einsicht, dass er keine Chance hatte, sie zu finden, wenn sie nicht gefunden werden wollte. Er kannte ihren Namen, Claire Borel, den Duft ihrer schwarzen Haut und ihres krausen Haars. Er kannte ihr Lachen und jedes ihrer Muttermale, aber er wusste weder, wo sie in Paris wohnte, noch von welcher Insel in der Karibik sie eigentlich kam. Martinique, Réunion oder wie sie alle heißen mochten. Ob absichtlich oder nicht, Claire hatte immer nur von ihrer Insel in der Karibik gesprochen, mon île dans les Caraïbes, und Abel hatte nie nachgefragt. Eigentlich hatten sie überhaupt nur wenig miteinander geredet. Ihre Körper hatten gesprochen, ihre Triebe, ihre Hormone, und ihnen beiden den Kopf verdreht.

Abel verlängerte seinen Parisaufenthalt um weitere zwei Tage, aber Claire blieb unauffindbar. Ruhelos zog er durch die Straßen, hastete dann wieder zurück ins Hotel, aus Angst, dass sie vor verschlossener Tür stehen könnte.

Schließlich musste er einsehen, dass sie nicht zu ihm zurückkehren wollte und dass es für ihn keine Möglichkeit gab, ihren Entschluss zu ändern. Er grübelte stundenlang darüber nach, warum sie ihn verlassen hatte. Was hatte er falsch gemacht? Oder hatte sie ihn die ganze Zeit über ihre wahren Absichten getäuscht? Doch das ergab keinen Sinn.

Zuletzt siegte sein nüchternes Naturell über den Wirbelsturm, den Claire in seinem Innern entfacht hatte. Abel fuhr nach Hannover zurück und lebte sein Leben im Großen und Ganzen so weiter, wie er das geplant hatte. Nur Claire Borel, die er kurzzeitig als Bestandteil dieses Lebens angesehen hatte, blieb verschwunden. Er vergaß sie nie gänzlich – auch wenn er immer seltener an sie dachte, seit er Lisa kennengelernt hatte, mit der er seit vielen Jahren in einer harmonischen Beziehung zusammenlebte.

Auf die Idee, dass Claire als Folge ihres Liebeswochenendes schwanger sein könnte, kam Abel in all der Zeit nie. Bis er drei Tage vor dem Mordanschlag eine E-Mail von seinen beiden Kindern, den fünfzehnjährigen Zwillingen Noah und Manon, erhielt, denen ihre Mutter Claire endlich verraten hatte, wer ihr leiblicher Vater war.

Als Abel diese Nachricht bekam, war er – Ironie des Schicksals – zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder in Paris gewesen und dem Serienkiller, den er durch halb Europa verfolgt hatte, dicht auf den Fersen. So kam er erst kurz vor der Fahrt zu seiner Schwester dazu, die unverhoffte Botschaft halbwegs zu verarbeiten und seinen Kindern eine lange Antwortmail zu schreiben. Sie wollten ihn so gerne kennenlernen – und er selbst, schrieb er zurück, wünschte sich gleichfalls nicht sehnlicher. Doch unmittelbar danach wurde er von den beiden Totschlägern überfallen, und die Zwillinge, die ihm sofort zurückgeschrieben hatten, bekamen keine Antwort mehr von ihm. Tief verunsichert beknieten sie ihre Mutter, in Berlin anzurufen und ihren Ex zur Rede zu stellen: Weshalb um alles in der Welt hatte er ihnen zuerst liebevoll und enthusiastisch geantwortet und sich anschließend tot gestellt?

Nachdem sie fast zwei Wochen lang vergeblich auf seine Antwort gewartet hatten, ließ sich Claire erweichen und wählte Abels private Telefonnummer, die er Manon und Noah mitsamt seiner Adresse geschrieben hatte. Lisa nahm den Anruf entgegen. Abel hatte ihr die Mail der Zwillinge gezeigt und von seiner so lange zurückliegenden Liebschaft erzählt, trotzdem war es für beide Frauen kein einfaches Gespräch.

Und die Zwillinge bekamen den Schreck ihres Lebens, als sie erfuhren, dass ihr gerade erst gefundener Vater sich nicht vor ihnen tot gestellt hatte, sondern tatsächlich mehr tot als lebendig war.

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In den folgenden Wochen hält Lisa die Zwillinge und ihre Mutter Claire auf dem Laufenden. Allmählich stabilisiert sich Abels Zustand, und schließlich fragt er von sich aus nach Noah und Manon. Da erzählt ihm Lisa, dass sie seit mehr als einer Woche regelmäßig mit seinen Kindern chattet und skypt.

»Und mit deiner Ex«, fügt sie lächelnd hinzu. »Herzlichen Glückwunsch zu deiner karibischen Zweitfamilie, Freddy. Claire und ich haben übrigens schon alles im Groben besprochen: Sobald du wiederhergestellt bist, fliegst du nach Guadeloupe, um deine Kinder kennenzulernen.«

Abel ist überwältigt. Sein psychischer Zustand ist noch immer fragil, er hat seine Gefühle nicht annähernd so unter Kontrolle wie sonst. Wie vor dem Überfall. Er will etwas antworten, doch seine Stimme versagt. Stumm drückt er Lisas Hand.

»Ich komme natürlich mit«, sagt sie und lächelt noch immer. »Oder glaubst du, ich überlasse dich wochenlang den Voodookünsten dieser heißblütigen Inselschönheit? Sie sagt, sie hätte dich damals nur deshalb holterdiepolter verlassen, weil  das aus ihrer Sicht viel zu ordentliche Deutschland ihr Angst eingejagt hat. Sie konnte sich einfach nicht vorstellen, als deine Ehefrau in einem Ort mit dem furchterregend deutschen Namen Hannover zu leben. Aber wenn du allein sie in Guadeloupe besuchen würdest, in ihrem ›karibischen Chaos‹, wie sie das genannt hat – wer weiß, wie mutig sie dann plötzlich würde? Darauf lassen wir es besser nicht ankommen, mein Lieber.«

Abel setzt zu Treueschwüren an, doch Lisa verschließt ihm den Mund mit einem zärtlichen Kuss. »Sie ist wirklich umwerfend. Der reinste Hurrikan. Und deine Kinder habe ich jetzt schon ins Herz geschlossen.«

Sie streicht sich eine Strähne aus der Stirn. Mit einem Mal wirkt sie eine Spur verlegen. Was einer mit allen Wassern gewaschenen Bundesanwältin auch nicht alle Tage passiert. »Weißt du, Freddy, ich hatte mehr als ein Mal ein schlechtes Gewissen«, setzt sie neu an. »Du hast immer respektiert, dass ich um meiner Karriere willen keine Kinder haben möchte. Und auch deshalb liebe ich dich: weil du so großherzig und selbstlos sein kannst. Und jetzt mit einem Mal, wie durch ein Wunder, bekommen wir das alles unter einen Hut!«

Lisa strahlt ihn an. Er nimmt sie in die Arme und fühlt sich kräftiger, lebendiger als seit Wochen.

»Keine Ahnung, ob ich zur Zweit- oder Ersatzmutter tauge«, fährt sie fort. »Aber ich verspreche dir, ich werde mein Bestes geben, damit sich die Zwillinge bei uns wohl fühlen. Sie wollen möglichst bald nach Berlin kommen, nachdem wir bei ihnen in Guadeloupe waren. Und von mir aus können sie gerne kommen und so lange bei uns bleiben, wie sie wollen.«

Die behandelnden Ärzte registrieren verwundert, dass es mit Abels Gesundung von diesem Tag an steil bergauf geht. Ihre Therapiemethoden sind die gleichen wie vorher, aber nachdem es lange Zeit eher zäh voranging, scheint Abel plötzlich den Regenerationsturbo gezündet zu haben.

Genau neunundzwanzig Tage nachdem er vor seinem Elternhaus zusammengebrochen ist, verlässt Abel die neurochirurgische Klinik. Auf eigenen Füßen, auch wenn er insgeheim froh ist, dass Lisa ihn untergehakt hat. Und dass es nur wenige Schritte sind vom Lift bis zu dem Krankentransportwagen, der ihn in die Reha im brandenburgischen Rheinsberg bringen soll.

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6

Auf dem Weg zum Flughafen Tegel, in Dr. Abels Auto, Samstag, 10. Juli, 10:08 Uhr

 

 

Auf der Fahrt zum Flughafen schaute Abel immer wieder in den Rückspiegel. Wenn sie an einer roten Ampel stoppen mussten, musterte er argwöhnisch die Passanten, die über die Straße gingen.

»Entspann dich, Freddy.« Lisa rutschte auf dem Beifahrersitz näher zu Abel heran und streichelte ihn im Nacken. »Wir sind überpünktlich«, versicherte sie. »Deine Kinder können nicht da draußen herumirren, ihr Flieger ist nämlich noch in der Luft.«

Er gab ein unbestimmtes Brummen von sich, während er erneut das Fahrzeug hinter ihnen fixierte. Es war ein schwarzer Porsche Cayenne. Auch wenn der Kühlergrill des Geländewagens einem Raubtiermaul mit gefletschten Zähnen nachempfunden schien, wirkte die businesslike gekleidete Dame am Steuer nicht gerade gefährlich.

»Ich weiß«, sagte er. »Das macht mir auch keine Sorgen.«

Während er betont ruhig wieder anfuhr, spürte er Lisas Blick auf seiner Schläfe. Auch wenn er es nicht aussprach, wusste er, was sie in diesem Moment dachte. So wie er selbst ein offenes Buch für sie war. Schließlich lebten sie seit vielen Jahren in einer vertrauensvollen Beziehung.

»Was sonst?«, fragte sie. »Wieder die alte Sache? Du hast doch gestern Abend noch gesagt, dass jetzt deine letzten Zweifel beseitigt wären. Nachdem Herzfeld dir die Obduktionsprotokolle zu den beiden Toten aus dem Tegeler Forst gezeigt hat.«

Abel nickte und zuckte gleichzeitig mit den Schultern. »Das sind die Kerle, die mich zusammengeschlagen haben. Definitiv. Jedenfalls ihre Überreste.«

Er hatte sich die Fotos genau angeschaut. Damals im Dunkeln hatte er die Gesichter der beiden Schläger zwar nicht sehen können, aber ihre hünenhaften Umrisse hatten sich ihm desto genauer eingeprägt. Bei den Toten handelte es sich zudem um russische Staatsbürger, und Abel erinnerte sich genau, dass sich die Angreifer in einer osteuropäischen Sprache verständigt hatten. Höchstwahrscheinlich auf Russisch. Unter den Fingernägeln des einen Schlägers waren überdies Faserspuren sichergestellt worden, die eindeutig von dem Sakko stammten, das Abel damals getragen hatte.

»Von denen geht garantiert keine Gefahr mehr aus«, bekräftigte er und warf erneut einen Blick in den Rückspiegel.

Als die beiden Leichen im April von einem verirrten Jogger entdeckt worden waren, hatten sie schon rund ein Dreivierteljahr im Wald gelegen, mit Erde, Laub und Ästen oberflächlich zugedeckt. Offenbar waren die Männer kurz nach dem Überfall auf Abel liquidiert worden, jeweils mit zwei Schüssen zwischen die Augen. Das war eindeutig die Handschrift von Profis. Und es erklärte, weshalb die sofort eingeleitete Fahndung damals im Sande verlaufen war.

»Aber?«, hakte Lisa nach, während Abel auf den Autobahnzubringer einbog und beschleunigte.

»Kein Aber. Auch wenn keine Verbindung zu ihm nachgewiesen werden konnte, bin ich genauso wie Herzfeld davon überzeugt, dass Burkjanov mir die beiden auf den Hals gehetzt hat. Und dass er sie anschließend hat beseitigen lassen, bevor sie verraten konnten, wer ihnen den Auftrag gegeben hat.«

Lisa sah ihn noch immer prüfend von der Seite an.

Juri Burkjanov war der ehemalige Geheimdienstchef von Transnistrien, einem winzigen osteuropäischen Pseudostaat von Russlands Gnaden. Nachdem Burkjanov versucht hatte, den Präsidenten seines Heimatlandes aus dem Amt zu putschen, war er seinerseits entmachtet worden, hatte sich nach Deutschland abgesetzt und in Berlin politisches Asyl beantragt. Gleichzeitig war er in Transnistrien angeklagt und zu langjähriger Haft verurteilt worden, weil er zwei Neffen des mächtigen Oligarchen Jefim Stepanov hatte kidnappen lassen, um ihr Firmenimperium an sich zu bringen.

Als nahe der transnistrischen Hauptstadt Tiraspol zwei Leichen in einem Container voll ungelöschtem Kalk entdeckt wurden, war sofort der Verdacht aufgekommen, dass es sich um die verschollenen Oligarchen-Neffen handelte. Daraufhin hatte der Staatschef Transnistriens beschlossen, einen renommierten und unvoreingenommenen Rechtsmediziner aus dem westlichen Ausland hinzuzuziehen, um die Identität der weitgehend zersetzten Leichen vor Ort klären zu lassen.

Die Wahl war letztlich auf Abel gefallen, doch der vermeintlich harmlose Auftrag hatte sich rasch zu einem Alptraum entwickelt. Durch seine verbliebenen Gefolgsleute hatte Burkjanov massiven Druck auf Abel ausgeübt. Offenbar wollte er Abel mit allen Mitteln daran hindern, in einem Gutachten darzulegen, was seine Untersuchung zweifelsfrei ergeben hatte: Bei den Toten handelte es sich um die zwei Jahre zuvor verschleppten Oligarchen-Neffen, und der gesamte Tatverlauf – von der Folterung der Opfer über die Verabreichung spezieller Medikamente bis zur Entsorgung der Leichen in ungelöschtem Kalk – trug die Handschrift von Burkjanov und seinem Geheimdienst.

Abel hatte dem Druck standgehalten, seine Untersuchungen unter haarsträubenden Umständen abgeschlossen und schließlich die Flucht ergriffen, als die Situation zu brenzlig wurde. Von Burkjanovs Häschern gejagt, war er durch den sumpfigen Grenzwald und über den Dnjestr ins Nachbarland Moldawien geflohen und von dort nach Berlin zurückgekehrt, zu Tode erschöpft, aber körperlich unversehrt. Doch Burkjanov hatte nicht lockergelassen. Seine Auslieferung nach Transnistrien vor Augen, wo ihm aufgrund von Abels Gutachten lebenslange Lagerhaft drohte, hatte er Abel durch immer weitere Angriffe zu zermürben versucht. Während Abel einen Serienkiller durch halb Europa verfolgt hatte, waren ihm die Schergen des Transnistriers ihrerseits nach London, Bari und Paris hinterhergehetzt.

Auch wenn Burkjanovs Motiv nachvollziehbar war, hatten diese hartnäckigen Einschüchterungsversuche in Abels Augen eine zutiefst irrationale, wenn nicht sogar psychopathische Färbung. Den traurigen Höhe- oder Tiefpunkt hatte der Überfall durch die beiden Schläger vor einem Jahr dargestellt. Nach Ansicht der Mordermittler, die den Fall untersucht hatten, waren die Angreifer von Burkjanov beauftragt worden, Abel endlich den Widerruf seines Gutachtens abzuringen. Mutmaßlich waren sie dabei »übers Ziel hinausgeschossen«, indem sie ihn fast umgebracht hatten. Auch Herzfeld nahm an, dass dies die Erklärung für den maßlosen Zerstörungswillen war, mit dem die beiden Totschläger auf Abel eingeprügelt hatten.

Ein ermordeter oder komatöser Abel war für Burkjanov nicht im Geringsten hilfreich. In dieser Einschätzung stimmte Abel mit seinem Chef überein, trotzdem war er sich keineswegs sicher, dass er nur versehentlich fast totgeschlagen worden war. Irgendetwas stimmte bei dieser ganzen Sache nicht. Irgendetwas hatten sie alle bis heute nicht verstanden oder übersehen, davon war er überzeugt. Doch er hatte bisher mit niemandem über seine Zweifel gesprochen, weder mit Herzfeld noch mit Lisa, da er sich selbst nicht erklären konnte, warum er sich immer noch auf ungreifbare Weise bedroht fühlte.

Die beiden Männer, die ihn angegriffen hatten, waren nicht mehr am Leben. Und Burkjanov hatte keinen Grund mehr, Abel einzuschüchtern oder zu bedrohen. Seine Zeit war schlichtweg abgelaufen. Der glatzköpfige Muskelprotz saß zwar immer noch in der JVA Tegel in Auslieferungshaft, aber mittlerweile hatte er alle Rechtsmittel ausgeschöpft und würde Ende des Monats nach Transnistrien abgeschoben werden. Dort hatte er vom zuständigen Gericht in Abwesenheit bereits »lebenslänglich« erhalten, und das Urteil war rechtskräftig und unanfechtbar.

Kein neues Gutachten und kein Widerruf des vorhandenen könnten ihm jetzt noch helfen, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, dachte Abel. Und trotzdem …

»Gut so, Freddy«, sagte Lisa. »Ich weiß, dass es für dich schwer ist. Aber bitte ruf dir immer wieder mal ins Gedächtnis, was Dr. Kalden gesagt hat: Da draußen ist niemand mehr, der dich verfolgen würde. Diese Verfolger gibt es nur noch in deinem Kopf. Und es sind Produkte des Posttraumatischen Belastungssyndroms, mit dem du noch eine Weile leben musst. Wie jeder, der eine ähnlich erschütternde Erfahrung gemacht hat.«

Dr. Jonas Kalden war der Psychotherapeut, der sich während der Reha um Abels angeschlagene Psyche gekümmert hatte. Ein liebenswürdiger Mann mit weichen Gesichtszügen und einem schlaffen Händedruck, für den die ganze Welt ein Gespinst aus »Symbolen« und »Projektionen« zu sein schien.

»Du hast völlig recht«, sagte Abel. Er lächelte Lisa zu und bog auf den Parkplatz am Terminal E ein.

Während sie auf den Eingang der Ankunftshalle zugingen, sah er sich unauffällig nach allen Seiten um. Er kam nicht an gegen sein Bauchgefühl, das ihm seit heute früh unablässig signalisierte: akute Gefahr.

Entweder meine Phantasie und meine Nerven spielen verrückt, weil ich mental doch noch angeschlagen bin, sagte sich Abel. Oder meine innere Alarmanlage warnt mich vor einer Bedrohung, die ich allerdings partout nicht dingfest machen kann.

Dabei hatte er die ganze Zeit das Gefühl, dass ihm gleich die Augen aufgehen müssten. So, wie wenn einem ein Name nicht einfallen will, obwohl er einem auf der Zunge liegt.

Ein Name, grübelte Abel. Ist das die richtige Fährte?

Aber je verbissener er nachdachte, desto weniger konnte er greifen, was ihn so sehr beunruhigte und sich wie ein Netz immer enger um ihn zu legen schien.

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7

Flughafen Berlin-Tegel, Terminal E, Samstag, 10. Juli, 11:17 Uhr

 

 

Die Automatiktür glitt auf, und die Zwillinge kamen in Abels Sichtfeld, eingezwängt in einen Pulk von Urlaubsrückkehrern, die sich durch den schleusenartigen Gang in Richtung Ankunftshalle schoben.

»Die haben doch schon wieder einen Schuss in die Höhe gemacht«, sagte Abel. »Vor allem Noah.«

»In dem Alter soll das vorkommen.« Lisa lächelte.

Noah war schlaksig und hochgewachsen, seine Schwester einige Zentimeter kleiner, aber an ihrer Mutter waren beide größenmäßig schon vorbeigezogen. Deine Gene, Fred, hatte Claire in Pointe-à-Pitre zu Abel gesagt.

»Aber wir haben sie vor gerade mal sechs Wochen zuletzt gesehen!«

»Mit sechzehn kann das eine Ewigkeit sein«, gab Lisa zurück.

Sie fragte sich, woher sie diese Weisheiten nahm. Es war lange her, dass sie selbst im Teenageralter gewesen war. Doch Abel hatte in einem Punkt recht, fand Lisa, Manon und Noah hatten sich wirklich sehr verändert. Ihr Zugewinn an Körpergröße war allerdings der am wenigsten erstaunliche Teil dieses Prozesses. Die Veränderung war nicht zu übersehen, obwohl die beiden sich noch in Richtung der Barriere vorankämpften, an der Dutzende Reiseleiter und Hotelangestellte ihre Schilder hochhielten.

Auf Guadeloupe hatten sie die Zwillinge als unauffällige Teenager kennengelernt, mit karibischem Temperament zwar, doch eindeutig französisch erzogen. Sie hatten gute Manieren und waren meist höflich und zurückhaltend. Ihre Ansichten und Gewohnheiten kamen Abel und Lisa bürgerlicher vor als diejenigen ihrer Mutter, deren kreativ-chaotischer Stil den Zwillingen fast peinlich zu sein schien. Die zierliche junge Malerin, in die sich Abel in Paris verliebt hatte, war zu einer reifen Frau mit graumeliertem Kraushaar und ausladender Figur geworden, aber Claire Borel war noch immer eine atemberaubende Erscheinung. Ihr Leben bestand hauptsächlich aus konvulsivischen Schaffensphasen, in denen sie großformatige Leinwände mit schreiend bunten Mustern bedeckte, und ausgelassenem Feiern. Sie trug selbstgebatikte Kleider, die man nur als farbenfroh bezeichnen konnte, dazu enorme Kreolen und Unmengen goldener Hals- und Armreifen, die bei jeder Bewegung klirrten. Dagegen hatten sich Manon und Noah im Grunde nicht anders als gleichaltrige Mittelschichts-Teenager in Paris oder Berlin gekleidet und gestylt. Doch das war im Frühjahr gewesen, als Abel und Lisa vier Wochen auf der Karibikinsel verbracht hatten. Seitdem musste sich im Leben der Zwillinge etwas grundlegend verändert haben.

Noah trug kunstvoll durchlöcherte Jeans und ein neongelbes Kapuzenshirt mit dem Porträt eines schwarzen Rappers. Seine Haare waren unter einer bunten Strickmütze versteckt, so als fürchtete er, im deutschen Sommer zu frieren. Vermutlich handelte es sich eher um ein Statement, nahm Lisa an, mit welcher Botschaft auch immer. So wie bei dem afrikanisch anmutenden, papageienbunten Tuch, das sich Manon um den Kopf geschlungen hatte.

Bei unserem Besuch, dachte Lisa, wollten sie von afrikanischen Wurzeln nichts wissen. Was hat sie wohl dazu gebracht, ihre Meinung zu ändern?

Auf der Insel hatten sich Abel und Lisa alle Monumente und Museen angesehen, die der Sklaverei gewidmet waren, von der Guadeloupe bis weit ins neunzehnte Jahrhundert hinein geprägt worden war. Die Zwillinge hatten sie zur »Sklaventreppe« in dem kleinen Hafenort Petit-Canal begleitet, auf deren Stufen die gerade deportierten Afrikaner, nach Ethnien geordnet, Aufstellung nehmen mussten, damit die weißen Käufer ihre Wahl treffen konnten.

Aber diese finstere Vergangenheit schien die Zwillinge damals nicht weiter zu interessieren. »Wir sind Franzosen«, hatte Noah in entschiedenem Tonfall erklärt. »Keine Afrikaner, keine Sklaven, tu comprends, papa?«

Abel und Lisa hatten diesen Standpunkt respektiert, auch wenn er ihnen unlogisch schien, und waren nicht mehr auf das Thema zurückgekommen. Heutzutage war Guadeloupe in der Tat ein voll integriertes französisches Departement, mit malerischen Dörfern und kleinen Städten, die auf den ersten Blick genauso in Südfrankreich liegen konnten. Doch die schwarze Bevölkerungsmehrheit bestand aus direkten Nachfahren der Sklaven, die ab dem siebzehnten Jahrhundert zu Tausenden nach Guadeloupe deportiert worden waren, um dort unter mörderischen Bedingungen auf Plantagen und in Bergwerken zu schuften.

»Was hat der Typ da zu suchen?« Abels nervöser Tonfall riss Lisa aus ihren Gedanken.

Die Zwillinge waren noch immer in den Pulk übernächtigter Touristen eingezwängt, der sich im Schneckentempo auf den Ausgang zuschob. Obwohl die deutschen Urlaubsrückkehrer braungebrannt waren, sahen sie neben Noah und Manon mit ihrem kakaofarbenen Hautton irgendwie ungesund aus. »Siehst du den Kerl, der sich von hinten an Manon heranmacht?«, fragte Abel.

Lisas Blick folgte seinem ausgestreckten Arm. Ein fuchsartiger Mann Mitte dreißig, mit blondierten Stirnfransen und ausgemergelten Wangen, klebte fast an Manons Schulter.

»Der macht sich nicht ran«, stellte Lisa fest, »der will einfach nur vorbei.« Ihr amüsiertes Lächeln erstarb, als sie bemerkte, dass sich Noah hektisch umsah. »Sag mal, Freddy, liegt Verfolgungswahn bei euch eigentlich in der Familie?«

Der Junge schien nicht etwa nach Abel und Lisa Ausschau zu halten. Er warf argwöhnische Blicke über seine Schultern, dann fasste er seine Schwester am Arm und zog sie energisch mit sich. Eine übergewichtige Frau in rosafarbenem Kleid bekam seinen Ellbogen zu spüren und starrte ihn wütend an.

Aus gut zwanzig Meter Entfernung las Abel von Noahs Lippen ab, wie er sich bei der Angerempelten entschuldigte. »Pardon, madame.«

»Der Junge passt nur auf seine Schwester auf«, stellte Abel klar. »Vielleicht hat er ja meinen Beschützerinstinkt geerbt.«

Darauf erwiderte Lisa nichts. Schweigend beobachteten sie, wie sich die Zwillinge der Automatiktür näherten, die mit nervtötendem Zischen auf- und wieder zuglitt. Sie kamen Abel bedrückt vor, jedenfalls längst nicht so fröhlich, wie er sie in Erinnerung hatte. Noah hatte ihn mittlerweile entdeckt, aber er nickte seinem Vater nur kurz zu und wandte sich dann wieder seiner Schwester zu. Obwohl Manon sieben Minuten älter war als er, legte er wie ein großer Bruder fürsorglich den Arm um sie, während er mit der anderen Hand einen Rollkoffer hinter sich herzog.

Sie sind müde nach der langen Reise, das ist alles, beruhigte sich Abel. Er umarmte erst Manon, dann Noah und küsste sie nach französischer Art links und rechts auf die Wangen.

»Wie war die Reise?«, fragte er auf Französisch. »Wie geht es euch? Alles okay?«

Die Zwillinge wechselten einen Blick. »Okay«, sagte Noah, und Manon nickte.

Gaben sich die beiden einfach nur supercool, oder war etwas nicht in Ordnung? Bei ihrem Besuch auf Guadeloupe war das Eis zwischen Abel und seinen spät entdeckten Kindern schnell gebrochen.

»Wie geht es eurer Mutter?«, fragte Lisa und lächelte den beiden zu. Noah warf Manon erneut einen Blick zu.

Irgendwas stimmt doch nicht, dachte Abel.

»Habt ihr Claire schon eine Nachricht geschickt, dass ihr gut gelandet seid?«, fragte Lisa weiter. Glücklicherweise sprach sie genauso wie Abel ein passables Schulfranzösisch.

»Ich hab ihr auf die Mailbox gesprochen«, sagte Noah, »während wir auf die Koffer gewartet haben.«

»Machst du dir Sorgen, weil sie nicht drangegangen ist?«, fragte Abel.

Noah schüttelte den Kopf.

»Brauchst du auch nicht«, sagte Abel. »In Pointe-à-Pitre ist es ja erst« – er warf einen Blick auf seine Military-Swiss-Armbanduhr – »halb sieben Uhr morgens. Bestimmt schläft sie noch.«

»Bestimmt«, sagte Manon und sandte Noah mit ihren großen Augen stumme Botschaften.

»Ja klar«, sagte Noah.

Seine Stimme klang gepresst. Er strahlte eine Nervosität aus, als wäre er elektrisch geladen. Auf seinem Hoodie-Shirt, unter dem Abbild des schwarzen Rappers, stand in flammend roten Lettern Root Rebel!

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8

Berlin-Mitte, City Ost, Samstag, 10. Juli, 12:04 Uhr

 

 

Die Zwillinge wollten nicht zu ihnen nach Hause und sich ausruhen, wie Lisa vorgeschlagen hatte, und sie wollten auch nicht essen gehen, da sie sich im Flugzeug mit allem Möglichen vollgestopft hätten. Sie wollten Berlin sehen, sich in den Trubel der Großstadt stürzen, und zwar sofort. Also verstaute Abel ihr Gepäck im Kofferraum und fuhr direkt nach Mitte hinein. Noah saß neben ihm auf dem Beifahrersitz, auf der Rückbank hatte es sich Lisa mit Manon gemütlich gemacht.

Wobei gemütlich ganz und gar nicht das richtige Wort war. Die Stimmung im Wagen war seltsam beklommen. Wieder einmal spähte Abel in den Rückspiegel, doch diesmal suchte er Lisas Blick.

Sie schloss kurz die Augen und deutete ein Kopfschütteln an. Bohr nicht weiter nach, bedeutete das. Lass sie erst mal ankommen.

Abel nickte fast unmerklich. Es ist ihre erste große Reise, dachte er. Sie wollen nicht zeigen, wie unsicher sie sind, weiter steckt nichts dahinter. Vielleicht haben sie auch einfach Heimweh.

Er hätte es liebend gern geglaubt.

Noah hat weder Heimweh noch Reisefieber, dachte er, während er den Jungen unauffällig von der Seite musterte. Er fühlt sich verfolgt!

Es war in der Tat ein wenig surreal. Noah sah sich andauernd um, schielte in den Seitenspiegel und verdrehte sich den Hals, um nach hinten zu spähen, doch seine Blicke suchten weder Manon noch Lisa. Er verhielt sich nicht anders als Abel selbst auf der Fahrt zum Flughafen, ja fast so, als wollte er den – wie Lisa gespöttelt hatte – »Verfolgungswahn« seines Vaters parodieren. Und obwohl es im Auto ziemlich warm war, zog er seine schrille Streetgang-Mütze nicht ab.

Hinter ihnen hatte Lisa begonnen, in gespielt munterem Tonfall Sehenswürdigkeiten aufzuzählen. »Was möchtet ihr als Erstes sehen: das Brandenburger Tor und den Reichstag? Checkpoint Charlie und danach vielleicht eine Schiffsrundfahrt oder … Was interessiert euch besonders, Manon?«, unterbrach sie sich, als keiner der beiden reagierte.

Manon hatte ihr Skizzenheft aus dem Rucksack geholt und strichelte versunken an einer Zeichnung herum. Sie hatte das künstlerische Talent ihrer Mutter geerbt und zudem die analytische Beobachtungsgabe ihres Vaters. Das Ergebnis waren messerscharfe Zeichnungen, mit denen sie Charaktere, Stimmungen und Situationen ungeheuer präzise zum Ausdruck bringen konnte.

»Zeig mal«, sagte Lisa. »Großartig.«

Manon hielt ihr das Skizzenheft hin, und Abel machte sich lang, um die Zeichnung im Rückspiegel zu sehen.

Mit bewundernswerter Kunstfertigkeit hatte Manon die Begegnung dreier Männer festgehalten. Eingezwängt zwischen zwei breitschultrige Weiße vom Typus Bodyguard oder Fremdenlegionär blickte ein deutlich kleinerer und schmaler gebauter Schwarzer zu ihnen auf. An den Wänden im Hintergrund waren großflächige Fenster angedeutet. Die Skizze war noch unfertig, die Umgebung war so wenig ausgeführt wie die Gesichtszüge des Schwarzen.

Desto detaillierter hatte Manon die beiden hünenhaften Männer ausgearbeitet. Sie waren Ende dreißig, Anfang vierzig und trugen weiße Hemden, die von ihren Brustkörben und Muskelpaketen fast gesprengt wurden. Ihre Gesichter waren kantig, die Haare hell und stoppelkurz, die Augen wie dunkles Glas, während ihre Münder zu Schlitzen zusammengepresst waren.

Die Atmosphäre auf der Zeichnung war so bedrohlich, dass Abel unwillkürlich die Luft anhielt. Erst als er schon geraume Zeit wieder nach vorne auf die Straße sah, atmete er weiter.

Einer der breitschultrigen Männer, die wie Profis aussahen – Profis für was auch immer, jedenfalls nicht für Ponyreiten oder Origami, starrte den Schwarzen, dessen Gesicht noch eine weitgehend leere Scheibe war, einschüchternd an. Der andere jedoch, mit Augen wie ein hungriger Haifisch, fixierte über den Kopf des Schwarzen hinweg den Betrachter der Skizze.

Abel lief es kalt den Rücken herunter. Wenn ich die Gesichter der beiden Schläger damals im Dunkeln hätte erkennen können, dachte er, hätten sie vermutlich so wie diese beiden Typen ausgesehen. Gefühllose Verbrecher.

»Du hast wirklich ein Riesentalent, Mädchen«, sagte Lisa. Abel merkte an ihrem eine Spur zu neutralen Tonfall, dass die Zeichnung sie genauso irritierte wie ihn. »Hast du nicht gesagt, du würdest nur zeichnen, was du mit eigenen Augen gesehen hast? Die Szene hier kommt mir eher vor wie aus einem Gangsterfilm.«

Noah hatte sich auf dem Vordersitz zu Lisa und Manon herumgedreht. Wieder wechselte er einen schnellen Blick mit seiner Schwester.

»Ja, stimmt schon«, sagte Manon.

»Was genau stimmt jetzt?«, hakte Lisa nach. »Ist die Szene echt oder aus einem Film?«

Das Mädchen runzelte die Stirn und sah Noah hilfesuchend an.

»Keins von beiden, Mann«, sagte Noah mit seiner neuen Rapper-Coolness. »Manon und ich machen einen Krimi-Comic. Sie zeichnet, ich texte. Wir haben den ganzen Flug über rumprobiert. Aber bevor wir richtig durchstarten können, müssen wir erst den Plot noch klarkriegen.«

»Superidee«, sagte Abel. »Wenn ihr wollt, kann ich euch den einen oder anderen fachlichen Tipp geben.«