Die Klaviatur des Todes - Prof. Dr. Michael Tsokos - E-Book
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Die Klaviatur des Todes E-Book

Prof. Dr. Michael Tsokos

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Beschreibung

Spektakuläre Fälle aus der Rechtsmedizin – True Crime, der unter die Haut geht Ein Toter auf einer Berliner Straße – Opfer eines heimtückischen Mordes oder ein tragischer Unfall? Eine grausam verstümmelte Frauenleiche – war es ein brutales Sexualverbrechen? Ein Ehepaar mit schweren Vergiftungssymptomen – standen die beiden auf der Todesliste des russischen Geheimdiensts? Der Rechtsmediziner Michael Tsokos wird immer dann von den Ermittlungsbehörden um Hilfe gebeten, wenn sie mit ihrer Aufklärungsarbeit nicht weiterkommen. Er soll herausfinden, was die Toten nicht mehr erzählen können: War es Mord? War es Suizid? Oder war es ein Unfall? Echte Fälle von Deutschlands bekanntestem Rechtsmediziner Prof. Dr. Michael Tsokos Realistisch und hautnah schildert Tsokos rätselhafte Fälle, an deren Lösung er selbst maßgeblich beteiligt war. Im Obduktionssaal und im Labor fügt der Forensik-Spezialist die Indizien wie Puzzleteile zu einem Gesamtbild zusammen, das zur Rekonstruktion des Falles führt. »Die Klaviatur des Todes« enthüllt faszinierende Einblicke in die Arbeit eines Rechtsmediziners: Hochinformativ und spannend bis zur letzten Seite!

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Seitenzahl: 424

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Michael Tsokos

Die Klaviatur des Todes

Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner klärt auf

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

MottoPrologDie Klaviatur des TodesDer Puzzle-MörderEin mörderisches PhantomGefälschte FährtenMit List und Spucke»Miktion nicht möglich«Von Löwen, Müttern und LügenSelbstverletzungStigma in SpiegelschriftDas Kreuz mit dem HakenAktivistin auf AbwegenAbgestempeltSo weit die Füße tragenCSI: KreuzbergKalte KriegerLebensgefährliche MutterliebeDer lautlose Tod»Vergast«Inneres ErstickenEin tragischer IrrtumFamilientodTödliche VögelAuf die Tube gedrücktFinales BarbecueAutogrillKomm, süßer TodDer Internet-LoverSexuelle TötungsdelikteErfolgszahlen und DunkelziffernEin Blick ins StrafgesetzbuchRisikogruppen und »Opferkarrieren«Der Sexualstraftäter ist oft ein guter BekannterSexualmorde sind selten geplantOpferprovokation und »Overkill«Der Teufel in der FlascheDer letzte TanzCall of DutyWas übrig bleibtDanksagung
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Denn die einen sind im Dunkeln

und die andern sind im Licht

und man siehet die im Lichte

die im Dunkeln sieht man nicht.

 

Bertolt Brecht, Dreigroschenoper

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Prolog

Schauen Sie gerne Fernsehserien wie CSI: Miami, Bones – Die Knochenjägerin, Crossing Jordan oder Post Mortem? Lieben Sie diesen wohligen Kitzel, wenn attraktive Ermittlerinnen in schickem Gucci-Schuhwerk durch die schlammige Kanalisation einer amerikanischen Metropole waten und Leichenteile aus dem Morast zerren, während Sie in Ihrem warmen Wohnzimmer vor dem Fernseher sitzen, die Fernbedienung in der Hand, mit der Sie jederzeit wegzappen können, wenn es zu heftig wird? Warten Sie beim Tatort auch immer auf diesen schrägen Rechtsmediziner, der dem Kommissar oder der Kommissarin durch bloßes Handauflegen auf eine Leiche den exakten Todeszeitpunkt und die genaue Todesursache sagen kann? Sind Sie auch ein Fan des meist leicht genervt wirkenden Kriminaltechnikers, der jedes Verbrechen bis ins Detail erklärt und auch sonst fast alle entscheidenden Hinweise für die Aufklärung des Falles liefert?

Dann sind Sie hier genau richtig. Denn in diesem Buch geht es um Mord und Totschlag. Und um Verbrechensaufklärung – am Tatort, am Obduktionstisch, im Labor und vor Gericht. Mit Hightech wie modernsten chemisch-toxikologischen Untersuchungsmethoden, die Vergiftungen im Nanogrammbereich nachweisen, oder mittels postmortaler Mehrschichten-Computertomographie, die uns nach wenigen Mausklicks sagt, wo sich das Projektil in dem Toten befindet oder welche Knochen bei dem Opfer eines Gewaltverbrechens gebrochen sind.

Aber: Sie werden hier nichts über fiktionale Mordfälle lesen, die sich ein allzu fantasiereicher Schriftsteller oder Drehbuchautor ausgedacht hat. In diesem Buch geht es ausschließlich um reale Todesfälle, die sich genauso ereignet haben, wie ich sie hier schildern werde.

Willkommen in meiner Welt. Einer Welt voll abscheulicher Verbrechen und roher Gewalt. Aber auch einer Welt voll erstaunlicher Wendungen bei unseren Untersuchungen. Sie werden sehen: Es gibt tatsächlich nichts, was es nicht gibt.

 

Willkommen im Leben.

Michael Tsokos

Berlin, im Januar 2013

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Die Klaviatur des Todes

Anders als unsere Pendants im Fernsehen sind wir Rechtsmediziner im wahren Leben ganz normale Menschen – ohne übernatürliche Fähigkeiten und ohne die legendären Macken unserer berühmten TV-Kollegen. Wir haben keine körperlichen Auffälligkeiten, und wir sprechen mit unserem Gegenüber ohne beißenden Sarkasmus, da unsere berufliche Tätigkeit uns so wenig frustriert wie unser sonstiges Leben.

Wir gehen einem – für uns jedenfalls – ganz normalen Beruf nach. Zugegebenermaßen verfügen wir über sehr spezielles Fachwissen, betreffend die verschiedensten Todesursachen. Ein Wissen, das nur sehr wenige Menschen auf der Welt besitzen – und das ist aus verschiedenen Gründen auch gut so.

Wir Rechtsmediziner beherrschen die Klaviatur des Todes. Und glauben Sie mir, der Tod ist mit einer ganz besonderen Klaviatur ausgestattet. Ich könnte Ihnen jetzt eine viele hundert Seiten umfassende, sehr akademisch und fast steril klingende Liste aller möglichen Todesursachen präsentieren. Aber so eine Auflistung dessen, was wir in der Rechtsmedizin täglich sehen, würde den verschiedenen Gesichtern des Todes, dem Facettenreichtum und der Komplexität aller denkbaren Todesumstände nicht annähernd gerecht werden. Außerdem ist jedes Individuum einzigartig – und so gesehen auch jeder einzelne Todesfall.

So viel steht aber fest: Es gibt einige tausend Todesursachen, die Menschen schneller oder langsamer vom Diesseits ins Jenseits befördern können. Doch es gibt nur drei mögliche Todesarten: natürlich, nicht natürlich und ungewiss. Und bei den beiden Letzteren kommen wir Rechtsmediziner ins Spiel.

 

Wenn jemand an einem inneren Leiden verstirbt, zum Beispiel an einem Herzinfarkt, einem fortgeschrittenen Krebsleiden oder einem Lungenemphysem, sprechen wir von einem natürlichen Tod. Der Tod ereignet sich dabei aus innerer Ursache. Er kann sich als plötzliches, für die Angehörigen völlig unerwartetes Ereignis manifestieren oder sich bereits lange Zeit vorher mit einem langen und schmerzhaften Leiden ankündigen.

Tritt der Tod als Folge einer äußeren Gewalteinwirkung ein, dann handelt es sich um einen nicht natürlichen Tod. Hierbei ist es zunächst einmal unerheblich, ob es ein Gewaltverbrechen war, das durch Messerstiche oder Pistolenkugeln zum Tod führte, oder ein Unfall, zum Beispiel eine Fußgängerüberrollung durch einen Pkw oder der unfallbedingte Stromtod eines Elektrikers. Auch kann es sich bei einem nicht natürlichen Tod um einen Suizid handeln. In jedem Fall kommt der Tod nicht »von innen«, also als Folge einer Erkrankung, sondern stellt ein »von außen« verursachtes Ereignis dar. Und das ist unbedingt abklärungswürdig – zunächst durch die Polizei und dann durch die Rechtsmedizin.

Wenn zum Zeitpunkt der ärztlichen Leichenschau beziehungsweise bei Beginn polizeilicher Ermittlungen in einem Todesfall nicht klar ist, ob es sich um einen natürlichen oder einen nicht natürlichen Tod handelt, dann sprechen wir von einer ungewissen oder ungeklärten Todesart (beide Begriffe werden synonym verwendet). Zum Beispiel kann es sein, dass zu diesem Zeitpunkt noch keine Erkenntnisse zu den Todesumständen vorliegen, etwa ob der Betroffene zuvor ernsthaft krank war oder ob der Leichenfundort auch tatsächlich der Ort des Todeseintritts ist. Hier muss also ein Rechtsmediziner durch eine Obduktion klären, ob es sich um ein von außen kommendes Ereignis (nicht natürlicher Tod) oder eine Erkrankung aus innerer Ursache (natürlicher Tod) handelt.

Natürliche Todesfälle sind für Polizei und Staatsanwaltschaft nicht weiter von Interesse, da keine Straftat vorliegt. Das Todesermittlungsverfahren wird in diesen Fällen eingestellt, noch bevor es offiziell eröffnet wurde. Stellt sich dagegen heraus, dass ein Gewaltverbrechen oder ein Unfall todesursächlich war, wird weiter ermittelt. Liegt zweifelsfrei ein Suizid vor, wird das Ermittlungsverfahren ebenfalls eingestellt, es sei denn, es stehen Tötung auf Verlangen oder andere Aspekte der Sterbehilfe im Raum.

Die Rechtsmedizin ist also eine wichtige Stellschraube zu Beginn sämtlicher Todesermittlungsverfahren. Auch deshalb ist eine gut funktionierende und von staatlichen, institutionellen oder persönlichen Interessen unabhängige und objektive Rechtsmedizin für unseren Rechtsstaat ein unverzichtbares Instrument.

 

US-Hochglanzserien vom Typ CSI suggerieren den Zuschauern, dass unsere amerikanischen Kollegen, was rechtsmedizinische Kenntnisse und Fertigkeiten anbelangt, die Nase vorn hätten. Doch das trifft keineswegs zu: Nicht nur die historische, auch die moderne Rechtsmedizin hat ihre Wurzeln in Deutschland.

Bereits im frühen 16. Jahrhundert wurde unter Kaiser Karl V. ein Gesetz erlassen, das die Hinzuziehung ärztlicher Sachverständiger bei einer Vielzahl strafrechtlich relevanter Fragestellungen wie Mord, Totschlag, Körperverletzung mit Todesfolge, Kindstötung oder bei ärztlichen Behandlungsfehlern vorschrieb; alles Themen, mit denen sich auch die heutige Rechtsmedizin noch täglich beschäftigt. Damals entstand nicht nur das erste deutsche Strafgesetzbuch, sondern auch die Rechtsmedizin, die damit eine der ältesten medizinischen Disziplinen überhaupt darstellt.

Die moderne Rechtsmedizin hat ihre Wurzeln außer in Deutschland auch in Österreich. In beiden Ländern wurden Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts die ersten Lehrstühle für Rechtsmedizin (damals noch gebräuchlich: »Gerichtsmedizin«) an medizinischen Fakultäten zahlreicher Universitäten gegründet; ein System unabhängiger universitärer Institute, wie sie auch heute noch existieren, angegliedert an die medizinische Fakultät jeder Universität in Deutschland.

Ärzte, die in der universitären Medizin in Deutschland eine tadellose berufliche Reputation und gegebenenfalls auch höhere professorale Weihen erlangen wollen, müssen meist wenigstens ein oder zwei Jahre in den USA an einer renommierten Klinik gearbeitet haben. Das gilt für jede andere medizinische Fachdisziplin, nicht aber für die Rechtsmedizin: Die deutsche Rechtsmedizin setzt nach wie vor international die Standards.

Nirgends wird in rechtsmedizinischen Instituten so viel und so praxisorientiert geforscht wie hierzulande. Internationale rechtsmedizinische Fachzeitschriften werden nicht nur von Fachartikeln deutscher Autoren dominiert – auch die Herausgeber der meisten hochrangigen wissenschaftlichen Forensik-Zeitschriften sind Deutsche. Unsere Institute werden von Gastwissenschaftlern aus aller Welt – einschließlich Amerikanern – besucht, die sich von einem mehrmonatigen Gastaufenthalt bei uns nicht nur allerneuestes Know-how, sondern auch Reputation und Anerkennung in ihrem Heimatland versprechen.

 

Die Rechtsmedizin ist eines der nicht gerade zahlreichen Gebiete, auf denen Deutschland weltweit führend ist. Wie sieht das in der Praxis aus? Ein modernes rechtsmedizinisches Institut verfügt über unterschiedliche Kernbereiche. Eines der Herzstücke jeder Rechtsmedizin ist die Forensische Pathologie mit dem Sektionssaal. Hier wird in der Regel an mehreren Tischen gleichzeitig obduziert. In größeren, modern ausgestatteten Instituten ist eine Abteilung für Forensische Bildgebung dem Sektionssaal direkt angegliedert; hier werden die Verstorbenen vor der Obduktion mittels postmortaler Mehrschichten-Computertomographie untersucht. In der Vergangenheit nutzte die Rechtsmedizin hauptsächlich das geschriebene und gesprochene Wort, um Sachverhalte und Befunde zu vermitteln – zum Beispiel das Sektionsprotokoll, das zwanzig bis dreißig Seiten umfassen kann, oder die mündlichen Ausführungen des Sachverständigen vor Gericht. Dagegen bieten moderne radiologische Diagnostikverfahren wie die Computertomographie ganz neue Möglichkeiten, was Objektivität und Überprüfbarkeit und damit den Beweiswert der von uns erhobenen Befunde anbelangt.

Die bei der Obduktion gewonnenen Körperflüssigkeiten und Gewebeproben werden in der Abteilung für Forensische Toxikologie untersucht – zum Beispiel, wenn durch die Obduktion die Todesursache (und damit die Todesart) nicht sicher geklärt werden konnte oder ein Vergiftungsverdacht im Raum steht. Hier finden auch Blut- und Urinuntersuchungen sowie Haaranalysen bei Lebenden statt, wenn es etwa um einen vom Gericht oder von der Führerscheinbehörde geforderten Nachweis der Drogenabstinenz einer straffällig gewordenen Person geht.

In unserer Abteilung für Forensische Genetik erstellen wir DNA-Profile. Dabei kann es um die Identifizierung von Toten, von deren skelettierten Überresten oder um Spurenträger gehen – zum Beispiel um eine an einem Tatort aufgefundene Zigarettenkippe, einen Vaginalabstrich nach einem Sexualdelikt oder einen Airbag, der bei einem Verkehrsunfall ausgelöst wurde und die Polizei durch den Nachweis von DNA möglicherweise zum flüchtigen Unfallfahrer führt.

Nur wenigen Zeitgenossen dürfte bekannt sein, dass Rechtsmediziner auch lebende Personen untersuchen. Das ist der Bereich Klinische Rechtsmedizin. Die Kriterien, die wir bei Opfern tödlicher Gewaltverbrechen zugrunde legen, lassen sich auch bei Überlebenden von Straftaten anwenden. Daher sind wir als Spezialisten immer dann gefragt, wenn die Ermittlungsbehörden gerichtsverwertbare Aussagen zu typischen Fragen wie den folgenden wünschen:

Hat sich ein Gewaltverbrechen tatsächlich so zugetragen, wie es von dem vermeintlichen Opfer geschildert wurde? Rühren Verletzungen bei einem Opfer, das selbst keine Angaben zum Geschehen machen kann (zum Beispiel, weil es im Koma liegt oder unter Erinnerungslücken leidet), von einem Sturz oder Schlag her, sind also möglicherweise unfallbedingt entstanden? Können die Angaben eines Vaters, seine dreiwöchige Tochter sei von der Wickelkommode gefallen, zutreffen – oder sind die Verletzungen mit dem geschilderten Geschehensablauf nicht vereinbar, sondern weisen eindeutig auf ein Schütteltrauma hin? Finden sich bei einer Frau, die angibt, vergewaltigt worden zu sein, Verletzungen, die für heftige Gegenwehr der Frau und rohe Gewaltanwendung durch den Täter sprechen?

 

In einem größeren rechtsmedizinischen Institut arbeiten zwischen vierzig und sechzig Personen: Wissenschaftler unterschiedlichster Disziplinen wie Ärzte, Chemiker, Biochemiker, Apotheker, Biologen, Sektions- und Präparationsassistenten, medizinisch-technische und chemisch-technische Assistentinnen, Sekretärinnen und Schreibkräfte, Kraftfahrer und Studenten mit Minijobs.

Zutritt in ein Institut für Rechtsmedizin haben nur die dort arbeitenden Personen oder Berechtigte von Polizei und Justiz. Sicherheitstüren mit Schlüsseln und Zugangscodes verhindern, dass Unbefugte etwa in die Räume gelangen, in denen Beweismittel asserviert werden. So geordnet ging es in rechtsmedizinischen Instituten jedoch nicht immer zu.

Anfang des 19. Jahrhunderts wurden in vielen deutschen Großstädten Leichenschauhäuser gegründet. Die Zunahme von tödlichen Unglücksfällen, Suiziden und Verbrechen in der Industriegesellschaft machte dies erforderlich. Der Hauptzweck dieser Einrichtungen war es, Angehörigen die Gelegenheit zum Identifizieren vermisster Familienmitglieder zu geben. Schließlich gab es damals noch keine modernen Medien, und kaum ein Toter, der an einer Straßenecke aufgefunden oder aus einem Fluss gezogen wurde, führte persönliche Papiere bei sich.

In der Regel waren die Leichenschauhäuser an die Obduktionsabteilung (die heutige Abteilung für Forensische Pathologie) eines rechtsmedizinischen Instituts angegliedert. Die Ausstellungsräume waren für damalige Verhältnisse gut beleuchtet, mit Kühleinrichtungen ausgestattet und durch Glaswände von dem Hauptgang abgetrennt, in dem die Angehörigen an den ausgestellten Leichen vorbeizogen.

Egon Erwin Kisch schreibt 1925 in seiner Reportage »Dies ist das Haus der Opfer« über das Berliner Leichenschauhaus: Hinter den Schaufenstern der Publikumshalle liegen auf schrägen Brettern mit ihren Kleidern bedeckt die Namenlosen. Wasserleichen, violett und furchtbar aufgeschwemmt, mit Zetteln »Am Schleusenufer geborgen«, »Am Kottbusser Ufer geborgen«, »Im Nordhafen aus dem Wasser gezogen«, »Aufgefischt am Bahnhof Jungfernheide, Charlottenburg« und die Erhängten aus dem Tiergarten. Sind Tote hier in den Schaukästen, dann fehlt es ihnen auch an lebenden Besuchern nicht. Die Tafel »Leichenschauhaus geöffnet« ist eine Einladung. Kutscher steigen ab, ihr Gefährt auf der Straße stehen lassend, Schulkinder versuchen einzudringen, aus den Geschäften und Häusern holt der Nachbar den Nachbarn zur unentgeltlichen Schaustellung. (Egon Erwin Kisch: Razzia auf der Spree. Berliner Reportagen. Berlin 1986.)

 

Zu unserer Arbeit gehört auch, dass wir als Sachverständige vor Gericht auftreten. Dort erläutern wir unsere Obduktionsbefunde, chemisch-toxikologischen Untersuchungsergebnisse oder Gutachten, zum Beispiel zur Eingrenzung der Todeszeit oder zur Frage der Lebensgefährlichkeit von Verletzungen bei überlebenden Opfern von Gewaltdelikten. Unsere Ergebnisse und deren Interpretation sind aber lediglich eine weitere Grundlage für die Urteilsfindung durch das Gericht. Und ich selbst bin immer wieder froh, dass mir exakt nur diese Rolle zukommt. Als Sachverständiger vor Gericht bin ich naturwissenschaftlicher Berater – und kein juristischer Entscheider.

In der Untersuchung von Verstorbenen durch Rechtsmediziner liegt auch so etwas wie Trost. Selbst wenn sich für den einen oder anderen Toten sonst niemand mehr interessiert, gibt es eine letzte Instanz, die prüft, ob diesem Verstorbenen Leid angetan wurde. Und oft genug zeigt erst die Obduktion, dass es sich nicht um einen natürlichen Tod, sondern um ein Tötungsdelikt handelt.

Kein anderes Fach der Medizin ist ähnlich facetten- und nuancenreich und bietet so tiefen Einblick in menschliche Abgründe und Tragödien.

 

Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre!

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Der Puzzle-Mörder

Am 7. Juli 2011 ist es in Berlin schwülwarm. Die Rentner Heinz Grabowski und Kurt Mansfeld haben es sich an der Spree gemütlich gemacht. Im Schatten einer Weide sitzen sie auf Klappstühlen am Ufer und angeln.

Doch an diesem Donnerstag fangen die beiden älteren Herren weder Plötzen noch Zander. Stattdessen entdecken sie einen Rollkoffer, der sich im Ufergestrüpp verfangen hat.

»Komisch«, sagt Heinz Grabowski, »der Koffer sieht nagelneu aus! Wer schmeißt denn so was in den Fluss?«

Mit einiger Mühe ziehen sie den Koffer an Land. Im Innern des Gepäckstücks rumpelt ein Gegenstand hörbar hin und her.

Sie beschließen, den Koffer zu öffnen. Die Schlösser hebeln sie kurzerhand mit einem Messer auf und öffnen den Deckel.

Spreewasser schwappt ihnen entgegen. Ansonsten enthält der Koffer lediglich einen blauen Plastiksack, der mit einem roten Bändchen verschlossen ist.

Kurt Mansfeld öffnet den Sack, späht hinein – und prallt richtiggehend zurück. »Das gibt’s doch nicht!«

In dem Plastiksack befindet sich ein menschlicher Torso – der obere Teil eines männlichen Rumpfs, über und über mit bunten Tätowierungen bedeckt.

Heinz Grabowski eilt zu seinem Rucksack und kramt zwischen Angelschnüren und Köderdosen sein Handy hervor, um die Polizei zu alarmieren.

 

Kriminalhauptkommissar Dominic Wittig und Kriminaloberkommissarin Beate Lückertz von der Mordkommission beginnen umgehend mit den Ermittlungen. Der Fundort in Berlin-Oberschöneweide wird weiträumig abgesperrt, ein kriminaltechnisches Team sichert die Spuren am Spreeufer. In einem Umkreis von mehreren hundert Metern flussauf- und -abwärts suchen Einsatzkräfte stundenlang nach weiteren Leichenteilen. Doch die Suche bleibt erfolglos. Weder der Kopf noch die Extremitäten des Unbekannten können gefunden werden.

Während sich Hauptkommissar Wittig von den beiden Zeugen nochmals die Auffindesituation schildern lässt, ruft seine Kollegin Beate Lückertz bei uns im Institut für Rechtsmedizin an und bittet um eine erste rechtsmedizinische Untersuchung des Torsos noch am Fundort.

Mit zwei Mitarbeitern für den Leichentransport macht sich mein Kollege Dr. Lilienthal auf den Weg in den Osten der Stadt. Als sie in Oberschöneweide eintreffen, befindet sich der blaue Sack mitsamt seinem makabren Inhalt noch im aufgeklappten Koffer.

Dr. Lilienthal zieht sich Handschuhe an, ehe er vorsichtig den Plastiksack öffnet und hineinsieht. Der Torso liegt auf dem Rücken. Seine Vorderseite ist mit umfangreichen und offenbar recht kunstvoll ausgeführten Tätowierungen bedeckt.

»Wir packen ihn am besten erst im Institut aus, um dort die Spuren zu sichern«, schlägt Dr. Lilienthal vor.

Hauptkommissar Wittig ist einverstanden. »Bitte bereiten Sie alles für eine Sofortobduktion vor«, sagt er. »Ich spreche gleich mit dem Staatsanwalt, damit er Ihnen den entsprechenden Auftrag erteilt. Wir müssen so schnell wie möglich herausfinden, wer das Opfer ist.«

»Ich hätte da eine Idee«, steuert Oberkommissarin Lückertz bei. Sie zeigt auf ein heruntergekommenes Gebäude gut hundert Meter spreeaufwärts. »Da drüben ist doch diese Rocker-Disco Hellhound. Es würde mich nicht wundern, wenn der Mann im Koffer von seinen Rocker-Kumpels in Stücke gehackt worden wäre.«

Der Hauptkommissar sieht seine jüngere Kollegin nachdenklich an. »Die Tätowierungen und die brutalen Verstümmelungen – das könnte zu einem Mord im Rocker-Milieu passen«, stimmt er ihr zu. »Aber vielleicht will uns der Täter ja auch auf eine falsche Fährte locken.«

Er verabschiedet sich von Dr. Lilienthal und den Institutsmitarbeitern, die sich mitsamt dem Koffer auf den Rückweg machen.

»Warten wir die Obduktion ab«, fügt Dominic Wittig hinzu. »Vielleicht wissen wir danach schon mehr.«

Aber einen Toten ohne Kopf, Arme und Beine zu identifizieren ist äußerst schwierig, das ist auch dem Hauptkommissar bewusst. Vielleicht waren hier wirklich Profis am Werk, sagt er sich, die gezielt alle Körperteile beseitigt haben, anhand deren Tote normalerweise identifiziert werden können: Gesicht, Gebiss und Hände. Allerdings hat es der erfahrene Kriminalbeamte in seiner Laufbahn auch schon mehrfach erlebt, dass Täter nach einem ungeplanten Tötungsdelikt die Leiche des Opfers zerstückelt haben, um die Einzelteile leichter abtransportieren zu können. In dieser frühen Phase der Ermittlungen kann und will Wittig keine Möglichkeit ausschließen. Ein Gewaltverbrechen in der Rocker-Szene kommt ebenso in Frage wie die Affekttat eines Gelegenheitstäters.

 

Noch am Abend desselben Tages obduzieren Dr. Lilienthal und ich den Torso. Vorher wird die Plastiktüte mitsamt Inhalt gewogen. Das Gewicht beträgt zwanzig Kilogramm. Anschließend ziehen zwei Kriminalisten vom KTU-Team den Torso aus dem Müllsack und legen ihn auf den Seziertisch. Den Plastiksack nehmen sie mit, um ihn anschließend kriminaltechnisch zu untersuchen.

Der Torso des unbekannten Toten ist an der Brust und im Schulterbereich dunkel behaart und gehört zu einem erwachsenen, offenkundig männlichen Individuum, dessen Alter wir auf zwanzig bis dreißig Jahre schätzen.

Der Kopf des Mannes wurde am Übergangsbereich von Hals und Rumpf abgetrennt, die Arme auf Höhe der Schultergelenke. Die untere Abtrennlinie verläuft etwa in Nabelhöhe oberhalb des Beckens; die Beckenknochen fehlen vollständig. Die Haut weist am Rücken spärliche Totenflecken auf, die sich nicht mehr wegdrücken lassen, und sieht ansonsten unauffällig aus. An Fäulniszeichen können wir nur eine beginnende, diskrete grünlich-gräuliche Verfärbung der Muskulatur an den Abtrennungsstellen feststellen. Anhand dieser Befunde schätzen Dr. Lilienthal und ich übereinstimmend, dass der Tod vor 36 bis 48 Stunden eingetreten ist; das ist allerdings kaum mehr als eine vage Vermutung.

Von den inneren Organen sind nur noch Lunge und Herz sowie kleine Teile der linken Niere und der Leber vorhanden. Interessanterweise zeigen sich an den Amputationsstellen verschiedenartige Schnitt- und Hiebspuren, die auf den ersten Blick so aussehen, als ob zur Abtrennung der Extremitäten unterschiedliche Werkzeuge verwendet wurden. Einblutungen in die Haut oder in das angeschnittene Unterhautfettgewebe lassen sich allerdings an den Amputationsstümpfen nicht nachweisen. Offenbar wurde das Opfer also nicht bei lebendigem Leib zerstückelt, sonst hätte es aus den dort verlaufenden Gefäßen viel kräftiger in das umgebende Weichgewebe hineingeblutet.

Der Tote weist großflächige bunte Tätowierungen auf Vorder- und Rückseite des Oberkörpers auf, die der anwesende Polizeifotograf mit der Kamera dokumentiert. Bei der nun stattfindenden äußeren Leichenschau beschreiben wir auch die Tattoos ausführlich. Auf dem Rücken befindet sich unter anderem ein Motiv aus geflochtenen Seilen mit Ankern und dem Schriftzug SAILORS darüber. Auf der Vorderseite ist um die rechte Brustwarze herum ein dunkelblaues Kreuz eintätowiert, während der Bereich der linken Brustwarze durch eine Windrose verziert ist. An der linken und der rechten Rumpfseite können wir jeweils drei Totenkopf-Motive abgrenzen. Auf dem Bauch sind zwei stilisierte vierfingrige Hände eintätowiert. Im Schulterbereich schließlich findet sich ein kunstvolles Dolch-Tattoo: Es erweckt den Anschein, als wäre die Klinge an der linken Halsseite eingedrungen und würde an der rechten Halsseite mit der Spitze hervorschauen.

Bei der Obduktion stellen wir eine flächenhafte Einblutung der Halsmuskulatur fest. »Mögliche Ursachen sind ein Schlag mit der Faust oder mit einem stumpfen Gegenstand«, gebe ich zu Protokoll, »auch eine massive Halskompression kommt als ursächlich in Betracht.« Außerdem finden wir Blut in den Bronchien, in beiden Lungenflügeln sowie reichlich Blut in der Speiseröhre.

»Das Opfer muss kurz vor Eintritt des Todes sein eigenes Blut eingeatmet beziehungsweise verschluckt haben«, kommentiert Dr. Lilienthal diese beiden Befunde.

Ich stimme ihm zu. Aufgrund der Blutmenge in beiden Lungenflügeln kommt eine Blutaspiration als Todesursache durchaus in Betracht, also ein qualvolles Ersticken aufgrund von Blut, das die Luftwege ausfüllt, analog einem Ertrinkungstod im Wasser. Zu Beginn der Obduktion eines Tötungsdeliktopfers lässt sich kaum jemals absehen, welche rechtsmedizinischen Befunde später in einem Strafverfahren möglicherweise das »Zünglein an der Waage« darstellen werden. Doch dass dieser Obduktionsbefund für die juristische Würdigung des Tathergangs und damit unter Umständen für das Strafmaß entscheidend sein könnte, ist uns von Anfang an klar: Aus rechtsmedizinischer Sicht lässt sich nicht ausschließen, dass der Täter seinem Opfer als Erstes die Verletzung im Mund- oder im Nasen-Rachen-Raum – zum Beispiel mit einem Schuss, Stich oder Schlag – beigebracht hat, die zu sofortigem Bewusstseinsverlust und alsbaldigem Eintritt des Todes führte. Das Mordmerkmal »Grausamkeit« ist dem Täter daher mit rechtsmedizinischen Mitteln nicht nachzuweisen, egal wie schwer und zahlreich die weiteren Verletzungen sind, die wir bei dem Opfer noch feststellen werden.

Erwartungsgemäß können wir den Toten durch die Obduktion nicht identifizieren, doch wir finden etliche Hinweise auf seine mögliche Identität. Aufgrund seiner zahlreichen Tätowierungen mit einschlägigen Motiven könnte der Mann in der Tat dem Rocker-Milieu angehört haben. Auch ein Hintergrund als Seemann oder Marinesoldat ist nicht auszuschließen, da einige Tätowierungen Seefahrermotive aufweisen. Obwohl keines der Tattoos ausgesprochene Nazi-Symbole enthält, könnte der Tote auch mit der rechtsradikalen Szene in Verbindung stehen. Dort sind Tätowierungen gleichfalls sehr beliebt – und brutale Gewalttaten, wie beispielsweise Fememorde an »Verrätern«, keineswegs unüblich. Alles in allem liefert die Obduktion reichlich Ansatzpunkte, denen die zuständigen Beamten der Mordkommission nachgehen können, um den unbekannten Toten zu identifizieren.

 

Fieberhaft ermittelt die Kripo am folgenden Tag in alle erdenklichen Richtungen. Der Abgleich mit der Vermisstendatei ergibt keinen Treffer. Der Rollkoffer stellt sich als Allerweltsmodell heraus, das in Billigkaufhäusern in der ganzen Stadt verkauft wird. Der Wirt und die Barkeeper der Rocker-Disco Hellhound werden befragt und beteuern, dass in ihrem Etablissement keinerlei Gewalttätigkeiten geduldet würden. Ihre Empörung wirkt zwar äußerst schlecht gespielt, doch Anhaltspunkte für eine vor kurzem verübte Bluttat finden die Ermittler weder in der Diskothek noch in den schuppenartigen Nebengebäuden am Spreeufer.

Genauso ergeht es den Kriminalbeamten bei ihren Recherchen in der Skinhead-Szene. Sie stoßen zwar auf jede Menge gewaltbereiter Zeitgenossen, deren von Bierkonsum und Bodybuilding aufgepumpte Körper mit Tätowierungen übersät sind. Aber Hinweise auf die Identität des Toten, den Verbleib der restlichen Körperteile oder gar auf den oder die Täter entdecken sie nicht.

 

Am frühen Samstagmorgen, zwei Tage nach Auffindung des Rollkoffers, sitzt Hauptkommissar Wittig zu Hause beim Frühstück. Vor ihm liegt eine Tageszeitung mit dem aufgeschlagenen Lokalteil. Natürlich berichtet das Blatt auch heute wieder in großer Aufmachung von der »zerstückelten Leiche aus der Spree«, doch der Artikel enthält lediglich Spekulationen.

Wittig blättert weiter, aber seine Gedanken schweifen immer wieder zu dem mysteriösen Fall ab. Fast 48 Stunden nach dem Fund des Torsos haben sie noch keine brauchbare Spur, keinen Tatverdächtigen, ja nicht einmal einen Tatort. Und wie jeder erfahrene Kriminalist weiß auch Wittig, dass die Wahrscheinlichkeit, ein Gewaltverbrechen aufzuklären, nach dieser magischen 48-Stunden-Grenze drastisch sinkt.

Da bleibt der Blick des Hauptkommissars an einer unscheinbaren Meldung hängen. Im Freizeitclub Huxleys Neue Welt in der Hasenheide vor den Toren der Stadt beginnt just an diesem Tag ein großes Tattoo-Festival. Tausende Tätowierer und Freunde der so schmerzhaften wie facettenreichen Körperkunst werden in dem weitläufigen Clubgelände zusammenkommen, um ihre Künste vorzuführen oder sich über neue Trends und Motive zu informieren.

Wittig greift zum Telefon. »Mir ist da eben eine Idee gekommen«, sagt er, nachdem sich Kriminaloberkommissarin Lückertz gemeldet hat. »Im Huxleys läuft gerade eine Tattoo Convention ab. Schick doch mal ein paar unserer Leute in die Hasenheide raus. Die sollen Fotos von den Tattoos unseres Torsos herumzeigen – vielleicht fällt ja irgendwem etwas dazu ein.«

»Meinst du wirklich, dass das was bringt?« Beate Lückertz wirkt nicht sonderlich überzeugt. »Tattoos hat heutzutage doch fast jeder.«

»Das weiß ich auch«, entgegnet der Hauptkommissar. »Aber die meisten Leute begnügen sich mit ein paar mehr oder weniger dezenten Tätowierungen an nicht allzu schmerzempfindlichen Stellen. Unser Mann im Koffer aber hat seinen Oberkörper praktisch flächendeckend bebildern lassen. Und Kunden, die sich im Bereich der Brustwarzen tätowieren lassen, sind vermutlich immer noch eher die Ausnahme. Vielleicht haben wir ja Glück und irgendjemand erinnert sich an unseren Mann, wenn er die Fotos zu sehen bekommt.«

Allzu überzeugt ist auch Dominic Wittig nicht von seinem Plan. Aber die Zeit läuft ihnen davon, und außer den Tattoos haben sie nichts, um der Identität des Toten auf die Spur zu kommen. Und damit hoffentlich auch dem Täter.

Also beschließen sie, sämtliche verfügbaren Ermittler mit vergrößerten Ablichtungen der Torso-Tattoos hinaus in die Hasenheide zu schicken. Es ist zwar nicht die sprichwörtliche Suche nach der Nadel im Heuhaufen – aber die Suche nach einem Nadelkünstler unter Tausenden Tattoo-Fans erscheint auch nicht sehr viel aussichtsreicher.

 

Auf dem Gelände von Huxleys Neue Welt herrscht an diesem Samstag um die Mittagszeit lebhaftes Treiben. Heavy-Metal-Bands beschallen die sonst so beschauliche Heide mit markerschütternden Drum-Beats. In Zelten und unter freiem Himmel werden tätowierte Körper präsentiert und die allerneuesten Tattoo-Kreationen in Rücken, Arme oder weit sensiblere Hautpartien gestochen. Nadelkünstler aus aller Welt feiern lautstark ihr Wiedersehen. Bier fließt in Strömen, Wodka und Whiskey kaum weniger reichlich.

Den halben Tag lang laufen die Ermittler auf dem Festivalgelände herum. Hunderte Male zeigen sie die Fotos vor und stellen die immer gleichen Fragen: Kennt irgendjemand den Künstler, der diese Tattoos angefertigt hat? Oder erkennt sogar jemand den Träger dieser Tätowierungen anhand der vergrößerten Bildausschnitte wieder? Dass es sich um Fotos von einem Toten, wenn auch – im wahrsten Sinne des Wortes – um »Ausschnitte«, handelt, verschweigen die Ermittler wohlweislich.

Hunderte Male ernten sie Kopfschütteln oder Schulterzucken, doch schließlich landet einer der Ermittler, Polizeikommissar Sascha Mogurski, einen Treffer. Bis dahin musste der sprachbegabte Beamte seine Fragen häufiger auf Englisch oder Russisch als auf Deutsch stellen – die Tattoo-Szene ist international, und viele Nadelkünstler reisen ständig um die Welt, von einer Convention und einem angesagten Tattoo-Studio zum nächsten. Der junge Mann jedoch, dem Mogurski am frühen Nachmittag seine Fragen stellt, antwortet mit breitem österreichischem Akzent.

»Ja, freilich kenne ich den«, sagt er und deutet auf das Foto, das die drei geflügelten Totenköpfe von der linken Seite des Torsos zeigt. »Der Heustetter Hubert – ganz unverkennbar!«

Er selbst heißt Toni Gassner und ist nach eigenen Angaben ein »hoffnungsvoller Nachwuchs-Tätowierer aus der Steiermark«.

»Sie kennen also den Mann«, hakt Mogurski nach, »der diese Tätowierung auf dem Körper trägt?«

Der junge Österreicher schüttelt lachend den Kopf. »Na geh«, sagt er, »der Heustetter Hubert hat sicher schon ein paar tausend Leuten seine Kunstwerke in die Haut gestochen. Aber schauen Sie, da – das ist seine Signatur.« Er tippt auf ein winziges Geschnörkel unter einem der Totenköpfe. »Das ineinander verschlungene Doppel-H – das steht für Heustetter Hubert. Die Unterschrift des Künstlers.«

Er krempelt sein rechtes Hosenbein hoch und entblößt seine Wade. »Auf mir hat er sich auch verewigt«, erklärt Toni Gassner. »Die Meerjungfrau ist von ihm, schauen Sie sich’s nur an. Am Ende von ihrem Fischschwanz finden Sie wieder das ineinander verschlungene Doppel-H.«

Sascha Mogurski bleibt nichts anderes übrig, als sich hinter dem jungen Mann auf den staubigen Boden zu knien. Er begutachtet die Meerjungfrau aus nächster Nähe und entdeckt tatsächlich dieselbe Signatur wie bei den geflügelten Totenköpfen auf dem Torso.

»Warum interessiert sich die Polizei eigentlich für seine Tattoos?«, fragt Toni Gassner schließlich. »Ihr seid doch nicht etwa hinter dem Heustetter her?«

»Wir wollen nur mit ihm reden«, antwortet der Polizeikommissar. »Haben Sie ihn hier im Huxleys gesehen?«

Der »hoffnungsvolle Nachwuchs-Tätowierer« wird plötzlich sehr wortkarg. Er zuckt mit den Schultern und murmelt etwas Unverständliches. Aber Mogurski hat auch so schon verstanden: Hubert Heustetter ist allem Anschein nach hier auf dem Festival-Gelände.

Der Polizeikommissar greift zu seinem Handy und informiert den Einsatzleiter. Fünf Minuten später haben alle am Einsatz beteiligten Ermittler ein Foto von Hubert Heustetter auf dem Display ihres Smartphones. Weitere zehn Minuten darauf haben sie den Nadelkünstler in einem Showzelt aufgespürt. Auf der Bühne wird gerade ein neuer Tattoo-Style aus Miami vorgeführt, und der Wiener Nadelkünstler schaut der Darbietung aufmerksam zu.

Als ihm zwei Ermittler diskret ihre Ausweise zeigen und ihn bitten, sie nach draußen zu begleiten, wirkt Hubert Heustetter keineswegs erschrocken. Allenfalls scheint er enttäuscht, weil er nicht weiter verfolgen kann, wie der Rücken der jungen Frau mit leuchtend bunten Flammenschweif-Motiven bedeckt wird.

Aber schließlich hat Hubert Heustetter auch keinen Grund zum Erschrecken. Er soll lediglich als Zeuge vernommen werden, um nach Möglichkeit die Identität des Toten zu klären. Allerdings ist schon manch ein Zeuge während der Vernehmung zum Tatverdächtigen geworden, weil er sich bei seiner Aussage in Widersprüche verwickelt hat.

 

»Haben Sie diese Totenkopf-Tattoos gestochen?«, fragt Dominic Wittig gut eine Stunde später. »Und können Sie uns sagen, wer der Mann ist?«

Hubert Heustetter sitzt dem Kriminalhauptkommissar in dessen Dienstzimmer gegenüber. Hingebungsvoll betrachtet er die Fotos mit den vergrößerten Totenkopf-Tattoos. Heustetter ist Mitte zwanzig, mittelgroß und hat mittelbraune Haare. Eigentlich ist er eine ganz unauffällige Erscheinung, sagt sich Wittig – abgesehen von den Tattoos, die beinahe jeden Quadratzentimeter seiner sichtbaren Haut bedecken. Schlangen, Zombies, Geisterschiffe, Totenköpfe.

»Ganz klar, die Tattoos sind von mir«, antwortet er. »Und logisch kenne ich den Mann – er heißt Leon Feldgärtner. Ich habe ihm links und rechts jeweils drei solcher Totenköpfe gestochen, an der Seite über dem Gürtel.« Er deutet bei sich selbst auf die entsprechenden Stellen. »Leon und ich sind Kollegen«, fährt er fort. »Bis vor drei Jahren waren wir in Wien im selben Studio.«

Hauptkommissar Wittig wechselt einen Blick mit Beate Lückertz. Die Oberkommissarin sitzt an der Stirnseite des Tischs und gibt den Namen Leon Feldgärtner in ihren Laptop ein. Kurz darauf zuckt sie mit den Schultern: Fehlanzeige – eine Person dieses Namens ist bei der Polizei weder vermisst gemeldet noch zur Fahndung ausgeschrieben.

»Wollen Sie mir nicht endlich mal erklären, worum es hier eigentlich geht?«, fragt Heustetter. Er wirkt noch immer nicht beunruhigt, allerdings zunehmend genervt. »Was glauben Sie, was ich da draußen im Huxleys alles verpasse, nur weil Sie mir hier komische Fragen stellen!«

»Noch eine komische Frage, dann können Sie meinetwegen gehen«, gibt Wittig zurück. »Wann und wo haben Sie Herrn Feldgärtner zuletzt gesehen?«

Heufelder runzelt die Stirn. »Keine Ahnung«, sagt er schließlich. »Vor zwei Jahren vielleicht, in London. Aber wofür wollen Sie das alles wissen? Wenn Sie mit ihm reden wollen, brauchen Sie nur heute Abend um acht ins Huxleys zu kommen – da bin ich mit ihm verabredet!«

Die beiden Kriminalbeamten machen große Augen.

»Dann haben wir eine schlechte Nachricht für Sie«, sagt Beate Lückertz. »Sie können sich nicht mehr mit ihm treffen. Es tut mir leid, er ist tot. Und im Moment sieht alles danach aus, dass Ihr Kollege Leon Feldgärtner ermordet worden ist.«

 

Noch am selben Tag wendet sich die Kriminalpolizei mit einem Aufruf an die Öffentlichkeit. Der Tote hat nun immerhin ein Gesicht und einen Namen. Doch weiterhin sind die Umstände seiner Ermordung rätselhaft. Und noch immer sind die Leichenteile bis auf den Torso verschwunden.

»Wer hat diesen Mann in letzter Zeit gesehen?«, werden die Berliner auf Plakaten, in Zeitungen und lokalen Fernsehsendern gefragt. Dazu ist das Porträt des Verstorbenen abgebildet, das die Kriminalbeamten von den österreichischen Behörden erhalten haben. Feldgärtner ist Mitte zwanzig, hat dunkle Haare und trägt einen Vollbart.

Die Öffentlichkeitsfahndung erweist sich als Erfolg: Mehrere Kollegen, Kunden und Bekannte von Feldgärtner melden sich aufgrund des Aufrufs bei der Mordkommission.

Hauptkommissar Wittig und sein Team befragen sie und erfahren, dass der Österreicher als »Gasttätowierer« in zwei angesagten Tattoo-Studios in Berlin-Mitte gearbeitet hat: dem Bodensatz und dem Nadel-Paradies. Die Zeugen beschreiben Feldgärtner als ruhigen und freundlichen Zeitgenossen. »Ein bisschen abgedreht war er schon«, fügt einer von ihnen hinzu. Leon Feldgärtner sei praktisch bei jedem Wetter mit kurzen Hosen und weißen Kniestrümpfen herumgelaufen. Aber er sei vollkommen friedfertig gewesen, darin sind sich alle Zeugen einig. Weder mit der Rocker-Szene noch gar mit dem Neonazi-Milieu hatte er jemals engeren Kontakt.

Niemand kann sich erklären, wie er Opfer einer derart brutalen Gewalttat werden konnte.

 

Am nächsten Tag, einem Sonntag, durchkämmen Einsatzkräfte der Polizei erneut das Spreeufer in der Umgebung des Torso-Fundortes. Mit Mantrailern suchen sie jeden Quadratzentimeter ab. Diese speziell ausgebildeten Spürhunde können selbst geringste Geruchsspuren aufnehmen – und tatsächlich schlägt einer von ihnen nach mehrstündiger Suche an. Im Ufergestrüpp gut einen Kilometer flussabwärts haben sich zwei Plastiksäcke verfangen. Kriminalisten vom KTU-Team öffnen sie an Ort und Stelle. Der erste Plastiksack enthält die über den Knien abgesägten Unterschenkel eines Mannes; der zweite die oberhalb der Schultergelenke abgetrennten Arme.

Kriminalhauptkommissar Wittig und seine Kollegin Lückertz werden telefonisch informiert und fahren eilends zum Fundort.

»Tätowierungen im gleichen Stil wie bei dem Torso«, sagt die Oberkommissarin. »Hundertprozentige Gewissheit wird uns erst die Obduktion verschaffen. Aber wir können wohl davon ausgehen, dass es sich um Körperteile von Leon Feldgärtner handelt.«

Hauptkommissar Wittig stimmt ihr zu. »Jetzt müssen die Einsatztaucher ran«, entscheidet er. »Die sollen den Fluss im Bereich zwischen unseren beiden Fundorten absuchen.«

Noch fehlen der untere Teil des Rumpfs, die Oberschenkel und vor allem der Kopf des Toten. Doch bereits nach zwei Stunden machen die Polizeitaucher eine weitere verheißungsvolle Entdeckung: Sie finden einen Koffer, der halb in den Grundschlamm eingesunken ist. Er wird ans Ufer gehievt, und Hauptkommissar Wittig nickt seiner Kollegin zu. Der Koffer ist vom gleichen Typ wie das Gepäckstück, in dem vor mittlerweile drei Tagen der Torso gefunden worden ist.

Inzwischen ist auch mein Kollege Dr. Lilienthal, von den Ermittlern alarmiert, am Fundort eingetroffen. In seiner Gegenwart wird der Rollkoffer geöffnet. Er enthält den unteren Teil des Rumpfs von Leon Feldgärtner einschließlich der Oberschenkel, die wiederum stark tätowiert sind. Der Unterkörper ist mit einer dunkelblauen Unterhose bekleidet.

Hauptkommissar Wittig reibt sich mit der Hand über sein Gesicht. Er ist vollkommen übermüdet. Seit drei Tagen ermitteln sie praktisch Tag und Nacht im Fall des »Axt-Mörders«, wie ein Boulevardblatt den Täter mittlerweile getauft hat.

Während Dr. Lilienthal die geborgenen Leichenteile mit unserem Fahrdienst zum Institut bringt, bespricht sich Dominic Wittig mit dem Leiter der polizeilichen Einsatztaucher. Mittlerweile haben die Spezialkräfte den gesamten Fluss im Abschnitt zwischen den beiden Fundorten abgesucht.

»Wo immer der Kopf sein mag«, fasst der Einsatzleiter zusammen, »in diesem Spreeabschnitt ist er definitiv nicht.«

»Möglicherweise ist er in einem dritten Koffer weiter flussabwärts getrieben«, überlegt der Hauptkommissar. »Aber wir können auch nicht ausschließen, dass der oder die Täter ihn an einer ganz anderen Stelle irgendwo in der Stadt entsorgt haben.«

Die Ermittlungen treten auf der Stelle. Vom Täter gibt es nach wie vor keine Spur.

 

Auch die Sofortobduktion der neu aufgefundenen Körperteile, die Dr. Lilienthal und ein weiterer Kollege unseres Instituts noch am selben Abend durchführen, erbringt keine bahnbrechenden neuen Erkenntnisse. Leon Feldgärtner hat sogar seinen Penis mit Tätowierungen versehen. Und die eintätowierten Muster der beiden Rumpfteile passen exakt aufeinander – der Gedanke an ein makabres Puzzlespiel drängt sich geradezu auf. Kein Wunder, dass die Boulevardmedien den Täter kurze Zeit später auf den Namen »Puzzle-Mörder« taufen werden.

Interessanterweise weist keiner der bisher gefundenen Körperteile Zeichen einer zu Lebzeiten erfolgten Gewalteinwirkung auf. Wie die nicht eingebluteten Wundränder der Abtrennungsstellen meinen Kollegen zeigen, wurden die Extremitäten eindeutig postmortal vom Rumpf abgetrennt. Folglich muss Feldgärtner durch Gewalt gegen seinen Kopf getötet worden sein. Und erst wenn die Kripo den Kopf des Opfers gefunden hat, können wir den Mordermittlern darüber Auskunft geben, wie der österreichische Tattoo-Künstler umgebracht worden ist.

 

Am Nachmittag des 12. Juli, fünf Tage nach Auffindung des Torsos, bekommen zwei Spaziergängerinnen im Berliner Stadtteil Wedding den Schreck ihres Lebens.

Am Ufer des beschaulichen Schäfersees liegt ein geöffneter blauer Plastiksack. Als die beiden Frauen einen Blick ins Innere werfen, bietet sich ihnen ein Anblick wie aus einem Hardcore-Psychoschocker: Der Plastiksack enthält den abgetrennten Kopf eines vollbärtigen Mannes. Das Gesicht ist grün verfault und teilweise mit Algen bewachsen. In der linken Gesichtshälfte klafft ein Loch – dort fehlen Teile vom linken Ober- und Unterkiefer sowie Teile der Nase.

Natürlich haben auch die beiden Frauen die Sensationsmeldungen über die angebliche Identität und die vermeintlichen Motive des »Puzzle-Mörders« (»Wer ist sein nächstes Opfer?«) verfolgt. Nachdem sie ihre Fassung einigermaßen zurückgewonnen haben, rufen sie die Polizei.

 

Auf Anordnung der Staatsanwaltschaft wird der Kopf noch am Abend desselben Tages bei uns im rechtsmedizinischen Institut obduziert. Diesmal führe ich die Sektion zusammen mit meiner Kollegin Dr. Lena Probst durch.

Als ich mich um kurz vor 21 Uhr zu Hause von meiner Frau verabschiede, sage ich ihr, sie könne ruhig auf mich warten, wir hätten ja nur einen Kopf zu sezieren. Doch meine Einschätzung, dass diese Obduktion nicht lange dauern werde, erweist sich als Irrtum. Die Obduktion des Kopfes dauert sieben Stunden.

Wir fangen um 21:30 Uhr an. Als wir endlich fertig sind, dämmert draußen schon der Morgen. Der Mörder hat den Kopf seines Opfers mit brutaler Gewalt und furchtbarer Intensität verstümmelt. Aber nicht nur die Massivität und die Vielzahl der Verletzungen erschweren unsere Untersuchung. Wir müssen auch deshalb so langsam und schrittweise vorgehen, weil bei dieser bestialischen Gewalttat offensichtlich mehrere unterschiedliche Tatwerkzeuge verwendet wurden.

Bevor wir mit der eigentlichen Obduktion beginnen, wird der Kopf im Computertomographen durchleuchtet. Auch Hauptkommissar Wittig ist anwesend und wartet gespannt auf erste Ergebnisse. Da wir bei der Obduktion von Torso und Extremitäten keine tödlichen Verletzungen vorgefunden haben, muss Leon Feldgärtner durch Gewalteinwirkung auf seinen Kopf getötet worden sein. Art und Aussehen von Verletzungen, die ein Täter seinem Opfer zugefügt hat, lassen im Allgemeinen Rückschlüsse auf Waffen oder Werkzeuge zu, die dabei zum Einsatz kamen – und damit auf die »Handschrift« des Täters, die häufig auch seine Identität verrät.

»Das hier ist fast eine Premiere«, sage ich zu Wittig, während sich die ersten Bilder von Feldgärtners Kopf auf dem Monitor aufbauen.

Tatsächlich haben wir den Computertomographen erst kurz zuvor für die Berliner Rechtsmedizin angeschafft. Leon Feldgärtner ist einer der ersten Toten, die wir mit Hilfe dieser innovativen Technologie untersuchen.

 

Die postmortale Mehrschichten-Computertomographie (pmMSCT) bietet eine Reihe von Vorteilen gegenüber der traditionellen Obduktionstechnik. Die dabei eingesetzte Röntgenstrahlung ist erheblich stärker als bei der CT-Untersuchung lebender Menschen – die Strahlung kann den Toten schließlich nicht mehr schaden. Das machen wir uns in der Rechtsmedizin zunutze, denn so sind sehr feine Bildauflösungen von lediglich einem halben Millimeter Schichtdicke möglich. Die pmMSCT liefert submillimetergenaue Befunde, die unabhängig vom jeweiligen Untersucher erhoben und dreidimensional, exakt und dauerhaft dokumentiert werden können. Wenn längere Zeit nach einer Tat – zum Beispiel durch ein Geständnis – neue Tatsachen oder mögliche Tatabläufe bekannt werden, kann man diese mit den Befunden vergleichen, die unter Umständen Jahrzehnte vorher mittels pmMSCT am Leichnam erhoben und als elektronischer Datensatz abgespeichert worden sind.

Gerade bei prominenten Toten kommen oftmals noch viele Jahre nach ihrem Ableben Spekulationen auf, ob sie wirklich durch Suizid oder nicht vielleicht doch durch Mord umgekommen sind. Im Fall Uwe Barschel beispielsweise, dem ehemaligen Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein, wurden die Umstände, unter denen er 1987 in einem Genfer Hotel ums Leben kam, niemals wirklich geklärt. Bis heute wird in den Medien auch immer wieder gerätselt, was genau sich 1994 in Kurt Cobains Haus in Seattle abgespielt hat. Dort wurde der Nirvana-Frontmann mit einer Überdosis Heroin und einer Kopfschussverletzung tot aufgefunden. In beiden Fällen könnten neu auftauchende Verdachtsmomente oder Mordtheorien sofort überprüft werden, wenn elektronische pmMSCT-Datensätze der Leichname existierten. Doch zum Todeszeitpunkt von Barschel, Cobain und vielen anderen Prominenten, die unter mysteriösen Umständen ihr Leben verloren haben, verfügte die Rechtsmedizin noch nicht über diese technischen Möglichkeiten.

Israelische Rechtsmediziner haben die pmMSCT bereits Ende der 1960er Jahre angewendet. Da sie die Kampfpiloten, die während des Sechstagekriegs abgeschossen wurden, aus religiösen Gründen nicht obduzieren wollten, kamen sie auf die Idee, die toten Soldaten stattdessen in einem Computertomographen zu untersuchen, um so Aufschluss über ihre Verletzungen und die letztliche Todesursache zu erhalten. Doch erst in den 1990er Jahren entdeckte die europäische Rechtsmedizin die immensen Vorteile der pmMSCT.

Eine interdisziplinäre Forschergruppe in Bern, bestehend aus Rechtsmedizinern und Radiologen, entwickelte schließlich die Grundlagen für eine praktische Anwendung computertomographischer Verfahren in der Rechtsmedizin. Noch steht die pmMSCT am Anfang ihrer Möglichkeiten in der Rechtsmedizin – bisher verfügen erst fünf der etwa dreißig rechtsmedizinischen Institute in Deutschland über einen eigenen Computertomographen. Aber schon jetzt kann man die Einführung dieser Technik als echte Revolution im Sektionssaal bezeichnen, vergleichbar mit der Einführung des genetischen Fingerabdrucks, der in den 1980er Jahren Kriminalistik und Rechtsmedizin revolutionierte.

 

Für unser Institut haben wir ein solches Gerät nicht zuletzt deshalb angeschafft, weil es sowohl die Aufklärung von Tötungsdelikten als auch die Identifizierung stark traumatisierter oder hochgradig fäulnisveränderter Verstorbener erheblich erleichtert. »Seit kurzem«, erkläre ich Hauptkommissar Wittig, »scannen wir alle kindlichen Todesfälle, alle Schusstodesfälle, alle Stürze aus großer Höhe, sämtliche tödlichen Verkehrsunfälle und überhaupt jeden gewaltsamen Todesfall vor der Obduktion mit unserem Computertomographen. Bevor wir den ersten Schnitt mit dem Messer setzen, wissen wir schon, welche Knochenbrüche uns wo genau erwarten. Wir können mit diesem Gerät auch Projektile millimetergenau lokalisieren, ohne lange nach ihnen zu suchen, wie es bisher meist der Fall war. Auch abgebrochene Messerspitzen im Körper bedeuten keine Verletzungsgefahr mehr für den Obduzenten, da wir schon vorher wissen, wo sie im Körper stecken.«

Hauptkommissar Wittig zeigt sich beeindruckt, so wie alle seine Kollegen, die diese neue Technik das erste Mal im Obduktionssaal in Aktion erleben können. Er ist fasziniert von der Qualität der Darstellung und von der Möglichkeit, sich in allen Ebenen des Körpers zu bewegen, indem man einfach mit der Computermaus herumscrollt. So kann man Gewebeschichten nach Belieben virtuell entfernen und dann durch den – virtuell freigelegten – Knochen hindurchfahren, um in den Tiefen des Körpers nach pathologischen Befunden, Verletzungen, Fremdkörpern oder anderen Auffälligkeiten zu suchen.

Wie nützlich dieses Gerät für die kriminalpolizeiliche Arbeit ist, wird gleich bei diesem ersten Einsatz in einem großen Mordfall deutlich. Auf dem Bildschirm ist klar zu sehen, dass Feldgärtners Ober- und Unterkiefer durch ein scharfkantiges Werkzeug zertrümmert worden sind. Eine fast zwölf Zentimeter lange Frakturlinie verläuft quer durch das Mittelgesicht. Auf Höhe der Hutkrempenlinie sehen wir zwei annähernd parallel zueinander verlaufende, scharfkantige Frakturlinien. Angesichts des Verletzungsmusters tippe ich spontan auf eine Axt oder ein Beil als Tatwaffe.

»Der Täter hat sein Opfer außerdem mit einem sehr langen einschneidigen Messer oder möglicherweise mit einem Stichwerkzeug ähnlich einem Samurai-Schwert attackiert«, fahre ich fort und deute auf die entsprechenden Stich- und Schnittverletzungen. »Wenn Sie uns mutmaßliche Tatwaffen bringen, scannen wir sie ebenfalls mit unserem CT und gleichen sie mit den Kopfverletzungen ab. Dann können wir exakt feststellen, ob sie zu den Verletzungen passen.«

Hauptkommissar Wittig betrachtet aufmerksam die skulpturenartige dreidimensionale Grafik des Schädels, der langsam um seine eigene Achse rotiert. »Irgendwelche Hinweise auf Schussverletzungen?«, fragt er.

Meine Kollegin Dr. Probst klickt sich durch das umfangreiche Bildmaterial, das Leon Feldgärtners Kopf von allen Seiten und bis in seine tiefsten Schichten mit beeindruckender Präzision dokumentiert.

»Keine metallischen Objekte«, erklärt sie. »Der Mann hat nicht einmal Zahnfüllungen aus Metall. Und schon gar keine Kugel im Gehirn.«

Offensichtlich wurde Feldgärtner durch massive Gewalteinwirkung gegen sein Gesicht und seinen Schädel getötet.

»Welche der zahlreichen Verletzungen todesursächlich war, können wir aber erst nach der eigentlichen Obduktion sagen«, füge ich hinzu. »Ganz ohne das Aufschneiden von Toten wird es auch künftig in der Rechtsmedizin nicht zugehen.«

 

Die konventionelle Obduktion kann schon deshalb nicht durch die neue pmMSCT-Technologie abgelöst werden, weil der Gesetzgeber in der Strafprozessordnung die Leichenöffnung zwingend vorschreibt. Unabhängig davon lassen sich Einblutungen im Gewebe und Blut in Organen, die uns die entscheidenden Hinweise auf die Todesursache liefern, durch Computertomographie nicht so gut darstellen wie bei einer herkömmlichen Obduktion. Die Stärken der pmMSCT liegen vor allem in der Darstellung knöcherner Strukturen und Brüche und bei der Lokalisation von Fremdkörpern, insbesondere wenn diese aus Metall sind.

In Fällen tödlicher Vergiftungen – sei es bei einem Drogentodesfall, beim klassischen Giftmord oder bei versehentlicher Überdosierung eines Narkosemedikaments – hilft die pmMSCT dagegen überhaupt nicht weiter. In der Rechtsmedizin wird diese großartige Innovation der Bildgebung deshalb immer nur ein zusätzliches Untersuchungswerkzeug sein. Für die Diagnose einer Vergiftung ist eine chemisch-toxikologische Untersuchung unerlässlich. Hierfür benötigt man nun mal Blut, Körperflüssigkeiten und Organproben, und die kann man nur asservieren, wenn man den Verstorbenen aufschneidet.

Nicht zu unterschätzen ist auch eine weitere Stärke der pmMSCT. Selbst gewaltintensive Tötungsdelikte wirken durch die blutfreie und abstrakte Darstellung viel erträglicher als auf Farbfotos. Für Kriminalisten und Rechtsmediziner spielt das keine große Rolle, denn wir sind den Anblick gewöhnt. Aber für einige Verteidiger und Richter macht das sicher einen gewaltigen Unterschied – und ganz bestimmt für die Schöffen bei Mordprozessen, die ja keine Berufsrichter sind. Wenn sie die Obduktionsfotos vorgelegt bekommen, sind sie von dem knallroten Blut auf den Bildern oftmals so fasziniert, dass sie den Ausführungen des Sachverständigen nicht mehr mit der nötigen Aufmerksamkeit lauschen.

 

Nachdem wir uns anhand der CT-Bilder einen ersten Eindruck verschafft haben, beginnen Dr. Probst und ich, unterstützt von unserer Sektionsassistentin Katharina Gersten, mit der Obduktion des Kopfes. Als Erstes sehen wir uns die Tätowierungen genauer an, mit denen Leon Feldgärtners Kopf geschmückt ist. Hinter dem linken und dem rechten Ohr ist jeweils ein Segelschiff von gut fünf Zentimeter Länge eintätowiert. Erst nachdem Katharina Gersten das Haupthaar an der linken Kopfseite des Toten abrasiert hat, kommt ein bogenförmiger Schriftzug zum Vorschein, der um das Ohr herumläuft: Live to shave.

»Dann steht über dem rechten Ohr garantiert Shave to live«, sage ich voraus – und treffe damit ins Schwarze. Nachdem die Sektionsassistentin auch die rechte Kopfhälfte rasiert hat, ist die von mir prophezeite Inschrift klar und deutlich zu lesen. Jeder der beiden bogenförmigen Schriftzüge ist rund 19 Zentimeter lang.

Hauptkommissar Wittigs fragender Blick ist mir nicht entgangen. »Das mit Shave to live war geraten«, sage ich zu ihm. »Ich habe diesen Kopf noch nie gesehen, geschweige denn vorher schon einmal bei seiner Rasur zugeschaut.«

Wir zählen insgesamt 52 Gesichts- und Kopfverletzungen, die auf stumpfe, halbscharfe und scharfe Gewalteinwirkung zurückzuführen und in bestimmten Kopf- und Gesichtsregionen gruppiert sind – vor allem im Kieferbereich, in der Stirnregion und im Schädeldach. Ober- und Unterkiefer sind linksseitig zertrümmert.

In der Rechtsmedizin werden unter dem Oberbegriff Verletzungen durch scharfe Gewalteinwirkung Stich- und Schnittverletzungen subsumiert; also typischerweise durch Messer, Schwerter, Scheren oder andere Werkzeuge mit scharfen Klingen verursachte Wunden. Folgen halbscharfer Gewalteinwirkung sind Verletzungen durch Beile oder Äxte oder andere Werkzeuge beziehungsweise Instrumente mit scharfen Kanten wie Schraubenzieher oder Meißel. Stumpfe Gewalteinwirkung schließlich ist der Oberbegriff für ganz unterschiedliche, flächenhaft auf den Körper einwirkende Gewaltformen wie Schläge mit der Faust oder Knüppeln, Fußtritte, aber auch der Aufschlag des Körpers auf harten Untergrund oder auf Gegenstände bei einem Sturz.

Wie brutal der Täter in unserem Fall mit einem scharfkantigen Werkzeug – sehr wahrscheinlich einer Axt oder einem Beil – zugeschlagen hat, zeigt ein klaffender Defekt des tiefen Rachens von Leon Feldgärtner. Die Einblutungen in dem umgebenden Weichgewebe und der Muskulatur beweisen, dass der junge Mann zu diesem Zeitpunkt noch am Leben war. Diese schwerste Verletzung seines Gesichtsschädels führte in Verbindung mit der massiven Blutaspiration in Bronchien und beiden Lungenflügeln, die wir bei der Obduktion seines Torsos festgestellt hatten, letztlich zum Tode.

Das Stirnbein ist durch zwei scharfkantige Brüche gespalten. Darüber hinaus stellen wir allein in der rechtsseitigen Scheitelregion sieben scharfkantige Verletzungen fest, die unterblutet sind, also dem Opfer ebenfalls mit Sicherheit zu Lebzeiten zugefügt wurden. Das knöcherne Schädeldach ist gleichfalls durch Axt- oder Beilhiebe zerstört, die Hirnmasse liegt frei. Auch diese Verletzung wurde dem Opfer beigebracht, als es noch am Leben war.

»Der Täter, den Sie suchen, Herr Wittig«, fasse ich um 4:30 Uhr morgens unser Obduktionsergebnis zusammen, »ist mit unbedingtem Tötungswillen und außergewöhnlicher Brutalität vorgegangen. Er hat mit einer Axt oder einem Beil über einen längeren Zeitraum systematisch auf Gesicht und Kopf eingeschlagen, während sein Opfer noch am Leben war. Letztlich ist Leon Feldgärtner an einem Schädel-Hirn-Trauma verstorben. Aber falls er auch nur einige dieser Axthiebe bewusst miterlebt hat, muss er höllische Schmerzen erlitten haben. Auch mindestens ein Messer kam zum Einsatz, wobei aufgrund der Fäulnisveränderungen von Gesichts- und Kopfhaut und darunterliegendem Weichgewebe nicht sicher abzugrenzen ist, welche Stiche und Schnitte ihm noch zu Lebzeiten zugefügt wurden. Und dann wurde ihm noch mit einem stumpfen Gegenstand auf den Kopf geschlagen. Worum es sich bei diesem Gegenstand handelte, lässt sich allerdings zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht sagen.«

 

Genau eine Woche nach Auffindung des Torsos durch die beiden Angelfreunde meldet sich bei der Kriminalpolizei telefonisch ein Zeuge. Seit die Ermittler die Bevölkerung über die Medien um Mithilfe gebeten haben, stehen bei der Mordkommission die Telefone nicht mehr still. Wie in solchen Fällen leider üblich, nutzen zahlreiche Zeitgenossen die Gelegenheit, sich wichtigzutun, einen unliebsamen Nachbarn anzuschwärzen oder die Polizei schlichtweg zum Narren zu halten.

Der Zeuge aber, der am Abend des 14. Juli bei der Kripo anruft, hat etwas Wichtiges mitzuteilen. Sein Name ist Olaf Haase. Er ist Mitte dreißig und betreibt die Gaststätte Zum Skorpion in Berlin-Schöneberg. Der diensthabende Beamte hört sich nur kurz an, was Haase zu sagen hat. Dann stellt er ihn direkt zu Dominic Wittig durch.

»Meine Kneipe liegt mitten im Kiez«, erklärt Haase dem Hauptkommissar, nachdem er sich vorgestellt hat. »Unter meinen Stammgästen sind einige schräge Vögel, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Das verstehe er durchaus, wirft Wittig ein, da der Skorpion-Wirt spürbar zögert, weiterzusprechen. »Was wollen Sie uns mitteilen, Herr Haase?«

Der Anrufer atmet tief durch. »Also, einer meiner Stammgäste heißt Hank«, fährt er fort. »Der Kerl ist aus New York und säuft an durchschnittlichen Abenden doppelt so viel wie alle anderen zusammen. Er arbeitet als Tätowierer im Nadelstudio Holy House – das ist hier gleich um die Ecke.«

Das Holy House, überlegt Wittig fieberhaft. Auf diesen Tattoo-Laden sind sie doch vor kurzem gestoßen! Aber in welchem Zusammenhang?

»Hat dieser Hank auch einen Nachnamen?«, hakt er nach, da der Wirt am anderen Ende der Leitung erneut zu verstummen droht.

»Ich kenne nur den Vornamen«, gibt Haase zurück. »Hank jedenfalls hat mir gestern Abend erzählt, dass er mit diesem Österreicher zusammen Wodka getrunken hat. Mit dem, der kurz danach von dem Puzzle-Mörder kaltgemacht worden ist.«

Hauptkommissar Wittig ist jetzt hellwach. »Wann und wo soll das gewesen sein?«, fragt er. »Hat Hank darüber auch etwas gesagt?«

»Zu mir jedenfalls nicht«, antwortet Olaf Haase. »Als er mir das erzählt hat, war er sowieso schon ziemlich hinüber.«

Dominic Wittig bedankt sich beim Wirt des Skorpion und kündigt an, dass gleich morgen zwei Kriminalbeamte bei ihm vorbeischauen werden, um seine Aussage aufzunehmen.

»Geht klar«, entgegnet Haase. »Aber Hank braucht nicht zu wissen, von wem Sie den Tipp haben.«

Der Hauptkommissar wird bei diesen Worten noch hellhöriger. »Haben Sie Angst, dass er Ihnen etwas antun könnte?«, fragt er. »Neigt dieser Hank vielleicht zu Gewalttätigkeiten?«

Doch zu diesem Punkt will sich Olaf Haase lieber nicht äußern. Er druckst noch ein wenig herum und beendet dann so rasch wie möglich das Gespräch.