Zu schützen und zu dienen - Dania Dicken - E-Book

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Dania Dicken

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Beschreibung

Für FBI-Profilerin Libby Whitman und ihren Ehemann Owen ist plötzlich alles anders: Vor wenigen Wochen sind sie Eltern einer Tochter geworden. Während Libby Schwierigkeiten hat, sich an den neuen Alltag zu gewöhnen, kehrt Owen bald zur Arbeit bei der Polizei zurück und begleitet eine Festnahme, die völlig aus dem Ruder läuft. Einer seiner Kollegen verliert die Beherrschung beim Versuch, einen Flüchtigen zu überwältigen – und erschießt den jungen Schwarzen.
Weil er bei der Wahrheit bleiben will, beschließt Owen, gegen den Kollegen auszusagen – im Gegensatz zu den anderen beiden Detectives, die den tödlichen Schuss bezeugt haben. Während Owen die Öffentlichkeit hinter sich hat, lassen die Kollegen ihn spüren, was es heißt, wenn man sich gegen den Polizeikodex stellt. Frustriert muss Libby feststellen, dass sie nicht viel tun kann, als seine Kollegen Owen das Leben zur Hölle machen. Und dabei schrecken sie vor nichts zurück ...

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Donnerstag, 7. Dezember
Samstag, 9. Dezember
Montag, 11. Dezember
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Donnerstag, 14. Dezember
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Montag, 18. Dezember
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Dienstag, 2. Januar
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Freitag, 5. Januar
Samstag, 6. Januar
Donnerstag, 11. Januar
Montag, 15. Januar
Donnerstag, 8. Februar
Samstag, 10. Februar
Sonntag, 11. Februar
Nachbemerkung

 

 

Dania Dicken

 

Zu schützen und zu dienen

Libby Whitman 17

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Integrität heißt, sich für Mut statt für Bequemlichkeit zu entscheiden.

Es ist die Wahl, seine Werte zu leben, anstatt sie nur zu verkünden.

 

Brené Brown

Donnerstag, 7. Dezember

 

 

Nervös starrte Byron zu Jasmines Eltern herüber, die sich mit ihrem Anwalt berieten. Seine Anspannung konnte Libby ihm nicht verdenken. Sie hatte mit seiner Anwältin im Vertrauen gesprochen, die ihr gesagt hatte, dass ein Erfolg leider nicht garantiert war. Ohne ihre und Owens Unterstützung war Byron so gut wie chancenlos, was den Erhalt des Sorgerechts für seinen Sohn anging – eine Tatsache, die Libby maßlos aufregte. Sie konnte nicht akzeptieren, dass er Micah vielleicht verlor, nur weil Jasmine nicht mehr am Leben war und seine Biografie nicht gerade für ihn sprach.

Für seine Verhältnisse hatte Byron sich ziemlich in Schale geworfen, trug eine gebügelte schwarze Jeans und ein weißes Hemd. Im Arm hielt er Micah und wiegte ihn sanft. Owen hatte die Babyschale mit Gracie neben sich abgestellt. Er hatte sich noch weitaus mehr herausgeputzt – er trug über seinem Hemd noch ein Jackett und an seinem Gürtel seine Dienstmarke. Das war Kalkül, Libby hatte es ihm mit ihrer FBI-Dienstmarke gleich getan, obwohl sie sich gerade überhaupt nicht wie eine FBI-Agentin fühlte.

„Setz dich doch hin“, raunte Owen ihr zu.

„Geht schon“, erwiderte Libby. Es reichte ihr, sich gleich im Gerichtssaal hinsetzen zu können. Sie war schließlich nicht krank, sie hatte nur ein Kind zur Welt gebracht. Das war zwar noch keine zwei Wochen her, insofern lag der Gerichtstermin eher ungünstig, aber das würde sie jetzt durchziehen. Sie würde keine Schwäche zeigen.

Die Tür des Gerichtssaals wurde geöffnet. „Cooper gegen Young“, sagte ein Gerichtsdiener und ließ sie in den Saal ein. Libby, Owen und Byron folgten der Anwältin auf die linke Seite, während Jasmines Eltern mit ihrem Anwalt rechts Platz nahmen. Jasmines Mutter spähte immer wieder zu ihrem Enkel herüber, doch Byron tat so, als sehe er es nicht.

Augenblicke später betrat Richterin Hawthorne den Saal, begrüßte alle Anwesenden und bat sie, Platz zu nehmen.

„Ich eröffne die Verhandlung im Sorgerechtsfall Cooper gegen Young“, sagte sie und stellte zunächst die Anwesenheit fest, bevor sie eine Zusammenfassung verlas.

„Es geht um Micah Cooper, geboren am 4. September dieses Jahres, dessen Mutter Jasmine Cooper in Folge seiner Geburt verstarb. Die Eltern der Verstorbenen, James und Betty Cooper, beantragen das Sorgerecht für ihren Enkel Micah und möchten ihn in der Folge auch gern adoptieren.“

Byron versteifte am ganzen Körper. Sie hatten zwar davon gewusst, seine Anwältin hatte es ihnen gesagt. Trotzdem fühlte es sich an wie ein Schlag ins Gesicht.

„Die gegnerische Partei ist Micahs Vater Byron Young, Vaterschaft nachgewiesen durch einen Vaterschaftstest in einem staatlich anerkannten Labor. Die Eltern des Jungen waren nicht verheiratet. Mr. Young beantragt ebenfalls das alleinige Sorgerecht für seinen Sohn. Ist das so weit korrekt?“

Die beiden Anwälte nickten, dann wandte Richterin Hawthorne sich an den Anwalt der Coopers. „Ich habe hier eine Zusammenfassung liegen, aber ich möchte Sie bitten, mir zu erklären, warum Sie den Vater des Jungen als nicht geeignet für die Erziehung und Fürsorge für das Kind betrachten.“

„Nun, Euer Ehren – der Vater des Kindes lernte die verstorbene Mutter, die Tochter meiner Mandanten, in einem Entzugsprogramm für Heroinabhängige kennen. Mr. Young ist sieben Jahre älter als Jasmine Cooper und blickt auf eine entsprechend längere Suchtkarriere zurück. Er hat Jasmine Cooper erzählt, dass er seit seiner Jugend abhängig war, also seit über fünfzehn Jahren. Inzwischen ist er clean, aber zu seiner Suchtkarriere kommt noch hinzu, dass er vorbestraft ist.“

Richterin Hawthorne nickte. „Ich sehe hier zwei Haftstrafen – eine wegen Drogenbesitz und Diebstahl und eine wegen Drogenbesitz und Drogenhandel. Vorzeitige Entlassung wegen guter Führung nach einer Gesamthaftdauer von vier Jahren und acht Monaten.“

„Mr. Young ist, bedingt durch den Tod von Jasmine Cooper, aktuell alleinerziehend. Er arbeitet als Lagerist in Alexandria, was kein gut bezahlter Job ist, und er hat keinen High School-Abschluss. Ihm fehlt also auch die Möglichkeit, sich einen besser bezahlten Job zu suchen. Die Voraussetzungen für seinen Sohn Micah sind, freundlich ausgedrückt, schwierig bei seinem Vater.“

Die Richterin warf dem Anwalt über ihre Brille hinweg einen Blick zu und nickte. „Ich verstehe. Wie ist die familiäre Situation Ihrer Mandanten?“

„James Cooper ist leitender Angestellter bei einem Hersteller für Elektronikkomponenten und Betty Cooper hat zuletzt halbtags als Sekretärin gearbeitet, diese Arbeit jedoch kürzlich aufgegeben. Finanziell stehen beide gut da, sie wohnen in einem abbezahlten Haus mit Garten in Alexandria. Sie möchten verhindern, dass ihr Enkel – alles, was ihnen von ihrer Tochter Jasmine bleibt – in einem prekären Umfeld bei einem Vater aufwächst, der einen kriminellen Hintergrund hat und dem es an finanziellem Spielraum mangelt.“

Byrons Atem ging stoßweise. Er hatte Micah ganz fest an seine Brust gedrückt und Libby streichelte mit einer Hand über seinen Rücken, um ihn zu beruhigen.

Die Faktenlage war in der Tat nicht gut. Betrachtete man den Fall oberflächlich, war die Sache eigentlich klar. Aber es ging nicht nur um die Oberfläche.

„In Ordnung“, sagte die Richterin. „Wenn ich mir die Akten des Jugendamtes so anschaue, scheint es dem Jungen in der Obhut seines Vaters, in der er sich seit seiner Geburt befindet, doch gut zu gehen. Das Jugendamt hat den Sohn doch beim Vater gelassen.“

„Micah ist jetzt erst drei Monate alt. Mr. Young erhält familiäre Unterstützung von seinem Bruder und seiner Schwägerin, beide sind hier heute anwesend“, sagte der Anwalt mit einem Seitenblick. „Die beiden sind kürzlich selbst Eltern geworden, aber eigentlich voll berufstätig. Was, wenn diese Unterstützung wegbricht?“

„Verstehe“, sagte die Richterin. „Ich würde nun gern die Anwältin der gegnerischen Seite hören.“

Während der Anwalt der Coopers sich setzte, stand Byrons Anwältin auf. „Vielen Dank, Euer Ehren. Es ist gut, dass Sie es schon angesprochen haben – bis jetzt obliegt die Fürsorge für Micah Cooper meinem Mandanten, das Jugendamt hat den Jungen nach wiederholter Prüfung bei ihm belassen, weil dort gut für den Jungen gesorgt wird. Es stimmt – mein Mandant blickt auf eine lange Suchtkarriere zurück, die jedoch beendet ist, seit er nach einer Überdosis auf Suboxone umgestellt wurde, das er überdies inzwischen auch nicht mehr nimmt. Er ist clean. Nach Micahs Geburt und dem tragischen Tod seiner Mutter hat er Unterstützung bei seinem Bruder Owen Young und dessen Ehefrau Libby Whitman gefunden, die sich selbst in der Phase der Familiengründung befinden. Die beiden haben ein gefestigtes Leben, sie besitzen ein Haus in Springfield und arbeiten als Detective bei der Metropolitan Police in Washington und als Profilerin beim FBI in Quantico. Mrs. Whitman ist also durchaus auch fachlich befähigt, sich mit den besonderen Bedürfnissen, die Mr. Young möglicherweise mitbringt, auseinanderzusetzen. Mein Mandant hat ein gutes Verhältnis zu seinem Bruder und seiner Schwägerin, bei denen er bis vor kurzem mit seinem Sohn gewohnt hat und zu denen er seinen Sohn zurzeit auch immer zur Betreuung bringt, wenn er zur Arbeit geht.“

Richterin Hawthorne nickte interessiert. „Dann verstehe ich, warum das Jugendamt den Jungen vorerst beim Vater belassen hat.“

„Es wird gut für Micah gesorgt, Euer Ehren. Das wurde auch von medizinischer Seite bestätigt. Micah ist ein gesunder Junge und altersgerecht entwickelt. Er wird von seinem Vater geliebt, für den er auch alles ist, was von seiner Mutter geblieben ist. Ich will nicht in Abrede stellen, dass mein Mandant auf ein bewegtes Leben zurückblickt. Er war lange Jahre immer wieder abhängig und ja, er ist vorbestraft. Es sind die typischen Vergehen, die man bei Abhängigen findet – Drogenbesitz und Beschaffungskriminalität. Den fehlenden Schulabschluss holt Mr. Young zurzeit nach, er hat schon damit begonnen, den High School-Abschluss im Fernstudium zu machen. Mit seinem Bruder und seiner Schwägerin hat er eine Vereinbarung getroffen, dass sich zusätzlich zu Mrs. Whitman und Mr. Young ein Au-pair um beide Kinder kümmern wird. Detective Young und Agent Whitman sind fest entschlossen, meinen Mandanten familiär zu unterstützen – etwas, das ihm von der gegnerischen Partei bislang vorenthalten wurde.“

Die Anwältin machte eine Pause, doch als niemand etwas sagte, fuhr sie fort. „Micahs Großeltern haben meinem Mandanten am Tag nach Micahs Geburt gesagt, dass sie das Sorgerecht beantragen wollen. Es kamen keinerlei Hilfsangebote, weder finanzieller noch sozialer Natur. Von Anfang an waren sie entschlossen, Micah zu sich zu holen, anstatt seinem Vater, der jede Hilfe brauchen kann, unter die Arme zu greifen. Auch während der Schwangerschaft haben sie sich kaum für das Befinden ihrer Tochter interessiert, der Kontakt zwischen Jasmine Cooper und ihren Eltern war schlecht. Mein Mandant würde sich über ein Entgegenkommen der gegnerischen Partei freuen, aber die Fronten sind verhärtet.“

„Ich verstehe“, sagte die Richterin. „Dennoch muss ich auch langfristig im Interesse des Kindes denken. Ich sehe hier einen alleinerziehenden Vater ohne Schulabschluss, dafür aber mit Vorstrafen und einer langen Suchtkarriere. Demgegenüber steht ein finanziell gutgestelltes Ehepaar, das die materiellen und sozialen Kapazitäten hat, sich um sein Enkelkind zu kümmern.“ Richterin Hawthorne seufzte. „Ich sehe durchaus immer in den Eltern den ersten Ansprechpartner und Verantwortlichen, wenn es um ein Kind geht – aber handle ich im Sinne des Kindes, wenn ich es beim Vater lasse?“

„Mr. Young ist nicht allein. Sein Bruder und seine Schwägerin sind Staatsdiener, die mit beiden Beinen im Leben stehen und ihn unterstützen können. Mr. Youngs Wunsch wäre durchaus, dass Micahs Großeltern den Kontakt zu ihrem Enkel haben sollen, und er würde sich wünschen, dass sie ihn bei der Erziehung unterstützen. Warum soll Betty Cooper nicht auch auf Micah aufpassen können, wenn der rechtlich Verantwortliche weiterhin Mr. Young ist? Dafür muss sie Micah doch nicht adoptieren.“

„Ich sehe hier das berechtigte Interesse, den Jungen vor möglichem Schaden zu bewahren“, sagte Richterin Hawthorne. „Sein Vater kann Micah nicht dasselbe sichere Umfeld bieten wie seine Großeltern – das ist Fakt.“

„Da muss ich widersprechen“, sagte die Anwältin. „Dieses Umfeld ist sicher. Es ist auch sicher, was die Liebe aller Beteiligten für den Jungen angeht. Ja, auf meinen Mandanten kommen jetzt einige besondere Herausforderungen zu – sein Wunsch ist es, eine Collegeausbildung anzuschließen, wenn er erst den Schulabschluss geschafft hat. Das wird er nicht ohne Unterstützung schaffen, das ist klar. Aber wollen die Coopers jetzt wirklich einen Graben ziehen, indem sie ihm seinen Sohn wegnehmen? Oder könnte man sich nicht vielmehr einigen, dass Micah bei seinem Vater bleibt und seine Großeltern bei der Erziehung unterstützend einwirken? Das wäre doch im Interesse aller.“

Richterin Hawthorne nickte. „Da haben Sie nicht Unrecht, Frau Anwältin. Auf diese Weise könnte auch sichergestellt sein, dass es Micah gutgeht. Haben die Coopers diese Möglichkeit erwogen?“

Der gegnerische Anwalt stand wieder auf. „Ja, das haben sie. Ihr Vorhaben ist die Ultima Ratio, die sie sehen. Sie waren nie mit der Verbindung zwischen Mr. Young und ihrer Tochter einverstanden und sie haben Angst, den Jungen bei seinem Vater zu lassen.“

„Angst? Das Jugendamt hat doch schon bestätigt, dass für den Jungen kein Risiko besteht.“

„Meine Mandanten wissen, wie heimtückisch Drogenabhängigkeit sein kann. Sie haben es bei ihrer Tochter erlebt. Die Adoption wäre ja nur der letzte Schritt, um dem Jungen die nötige Stabilität zu geben. Das Mindeste wäre das Sorgerecht.“

„Hm“, machte die Richterin unschlüssig.

„Euer Ehren, ich möchte gern Mrs. Whitman als Zeugin vernehmen“, sagte Byrons Anwältin, die darauf nur gewartet hatte.

„Die Schwägerin?“

„Die FBI-Agentin und Verhaltensexpertin“, präzisierte die Anwältin. Der gegnerische Anwalt wirkte, als hätte jemand einen Eimer kalten Wassers über ihm ausgeschüttet.

Richterin Hawthorne nickte. „Nur zu. Agent Whitman, Sie dürfen.“

Libby nickte und stand auf. „Danke, Euer Ehren. Ich kenne meinen Schwager nun seit vier Jahren und habe seine Höhen und Tiefen teilweise miterlebt. Ich bin FBI-Profilerin, dazu habe ich Psychologie und Verhaltensforschung studiert und ich verdiene meinen Lebensunterhalt damit, Serienmörder und andere Extremtäter dingfest zu machen. Profiler werden dann gerufen, wenn andere Ermittler nicht mehr weiterkommen. In meiner Arbeit begegnen mir immer wieder Menschen, die in ihrer Kindheit Schaden genommen haben – teilweise enormen.“

Als sie eine Pause machte, nickte die Richterin. „Geht mir hier ähnlich.“

„Mein Schwager ist ein guter Mensch, so viel weiß ich. Im Gegensatz zu seinem Bruder – meinem Mann – hat ihn damals die Scheidung der Eltern entwurzelt. Da sehe ich den Grundstein für seine Suchtkarriere. Mein Mann hat schon damals immer versucht, ihm zu helfen, doch im Gegensatz zu heute wollte Byron sich damals nicht helfen lassen. Er war noch nicht so weit. Er musste erst ins Gefängnis und die Konsequenzen seines Handelns spüren, um wachgerüttelt zu werden. Seit seiner Haftentlassung war er die meiste Zeit clean. Einen Rückfall habe ich miterlebt und mitbegleitet und ich erinnere mich gut daran, wie er damals zu mir sagte, dass er sich eigentlich immer nur geliebt und akzeptiert wissen wollte. Nach einer versehentlichen Überdosis mit gepanschtem Heroin hat er zugestimmt, die Entwöhnung mit Suboxone zu starten, die erfolgreich verlaufen ist. Dann hat er Jasmine Cooper kennengelernt – und einen neuen Sinn im Leben gefunden. Ihr Tod hat ihn schwer erschüttert, weshalb wir ihn und Micah vorübergehend zu uns geholt haben. Wir wollten ihn nicht allein mit dieser Verantwortung lassen, sondern ihn begleiten und unterstützen, damit er sich eigenverantwortlich um seinen Sohn kümmern kann. Und was soll ich sagen – er macht das großartig.“

Libby blickte zu Byron und lächelte, was er gerührt erwiderte.

„Micah gibt ihm den Sinn im Leben, den er immer vergeblich gesucht hat. Er will für seinen Sohn sorgen, aus eigener Kraft. Das wird nicht ohne Unterstützung gehen, deshalb bekommt er sie von meinem Mann und mir und er wird auch staatliche Hilfen beantragen wie Wohngeld und Ausbildungsförderung, die es für Studenten gibt. Aber für Menschen wie ihn sind diese Hilfen auch gedacht, um ihn darin zu unterstützen, auf eigenen Beinen zu stehen. Er ist endlich stabil, psychisch und emotional, seit er Vater geworden ist. Ich kann nicht erkennen, inwiefern es eine Verbesserung mit sich bringt, wenn die Coopers ihm nun seinen Sohn wegnehmen wollen, anstatt ihn ebenfalls auf seinem Weg unterstützend zu begleiten.“

„Wenn ich dazu etwas sagen darf ...“ begann der Anwalt von Jasmines Eltern. Libby nickte und auch die Richterin war einverstanden.

„Als Profilerin sollten Sie selbst die Statistiken kennen, die Auskunft darüber geben, wie viele Langzeitabhängige den endgültigen Absprung schaffen“, sagte er.

„Ja, etwa ein Viertel“, sagte Libby. „Das finde ich gar nicht so schlecht, wenn man bedenkt, wie schwer Heroin abhängig macht.“

„Das bedeutet im Umkehrschluss, dass ein Risiko von über siebzig Prozent besteht, dass Ihr Schwager irgendwann rückfällig wird.“

„Wenn er das wird, dann nur, weil er mit seinem Leben nicht zurechtkommt. Es wird hart als alleinerziehender Vater, das weiß er. Aber er hat uns als Rückhalt. Wir fangen ihn auf.“

„Und Sie wollen bemerken, ob er rückfällig wird?“

„Natürlich“, sagte Libby. „Aber dazu wird es nicht kommen, weil wir das verhindern werden. Gemeinsam.“

„Das klingt ja alles sehr schön, aber ist das auch realistisch?“

„Ich sage Ihnen was“, begann Libby und holte tief Luft. „Ihren Mandanten geht es nicht um Micahs Wohl. Wäre das so, hätten sie seit dem vierten September zahlreiche Gelegenheiten gehabt, sich um ihn zu kümmern und seinem Vater unter die Arme zu greifen. Das haben sie nicht einmal angeboten. Im Gegenteil – am fünften September haben sie, genauer gesagt James Cooper, meinem Schwager am Telefon gesagt, dass sie das Sorgerecht beantragen wollen. Da hatten sie Micah noch überhaupt nicht gesehen. Aus welchem Grund, wenn nicht aus dem Bedürfnis nach Macht und Kontrolle heraus, hätten sie das tun sollen?“

„Aus Sorge“, entgegnete der Anwalt.

„Mir ist bis jetzt viel zu wenig über Jasmine Cooper gesprochen worden, die abhängig wurde, weil sie an den falschen Mann geraten ist – was im Übrigen nicht mein Schwager war, sondern ein anderer Mann, den sie einige Jahre zuvor kennengelernt hat. Sie war auf der Suche nach Liebe, genau wie Byron, und gefunden hat sie stattdessen das Heroin. Abhängig werden vor allem emotional instabile Menschen, die beispielsweise aus zerbrochenen Familien kommen, die Gewalt erfahren haben, die nie wirklich geliebt wurden. Jasmine selbst hat das Verhältnis zu ihren Eltern als schwierig beschrieben, weil sie ihren Eltern nie gut genug war. Sie war emotional depriviert, ist in einem unterkühlten, auf Leistung ausgerichteten Elternhaus aufgewachsen und hat dem Druck irgendwann nicht mehr standgehalten. Und ihre Eltern machen jetzt genau so weiter. Anstatt meinem Schwager Hilfe anzubieten, wollen sie ihm den Sohn wegnehmen – den Ankerpunkt in seinem Leben, der ihm zum ersten Mal ein echtes Ziel vor Augen hält. Alles, was Byron gerade tut, tut er für Micah – und er meint es so. Er liebt ihn aus ganzem Herzen. Wenn Sie ihm Micah jetzt wegnehmen, ist die Katastrophe vorprogrammiert. Dann wird er über kurz oder lang wieder abstürzen und alles war umsonst. Das wäre verantwortungslos.“

„Das ist doch reine Spekulation!“, rief der Anwalt erbost.

„Ist es nicht“, sagte Byrons Anwältin. „Ich habe Ihnen doch gleich zu Anfang vorgeschlagen, dass Ihre Mandanten sich einbringen können, dass sie ihr Enkelkind sehen und betreuen dürfen, was eine große Hilfe für meinen Mandanten wäre. Sämtliche Vorschläge in diese Richtung haben Sie abgeschmettert, frei nach der Devise: Ganz oder gar nicht.“

„Dieser Mann hatte unsere Tochter nie verdient! Jetzt ist sie tot und es gibt nur noch unser Enkelkind ... wir können doch nicht riskieren, dass der Junge bei seinem Vater vor die Hunde geht!“, brauste Mr. Cooper auf. Richterin Hawthorne senkte den Kopf, zog die Augenbrauen hoch und sah ihn über den Rand ihrer Brille hinweg streng an.

„Ich muss zugeben, dass ich den Ausführungen der Zeugin einiges abgewinnen kann“, sagte sie. „Stimmt es, dass Sie Mr. Young seit Micahs Geburt keinerlei Unterstützung angeboten haben?“

James und Betty tauschten einen Blick, dann sagte James: „Er hat nicht gefragt.“

„Das stimmt nicht“, knurrte Byron, ohne überhaupt aufzusehen. Er schaute auf Micah. „Ich würde mich freuen und das wisst ihr. Ich würde gern mit euch zusammenarbeiten, aber ihr droht mir ja nur, dass ihr mir meinen Sohn wegnehmen wollt.“

Die Richterin musterte alle Anwesenden und sagte schließlich: „Ich weise den Antrag von James und Betty Cooper auf die Übertragung des Sorgerechts für ihren Enkel Micah Cooper ab. Das Sorgerecht verbleibt bei Micahs Vater Byron Young. Ihrem Antrag auf Änderung des Familiennamens für Ihren Sohn gebe ich statt, Mr. Young – aber es gibt Bedingungen.“

Während Libby erleichtert durchatmete, stand Byron auf. „Bedingungen?“

„Das Jugendamt wird sich regelmäßig vergewissern, dass es Micah gut geht – die zeitlichen Abstände sind vom zuständigen Sachbearbeiter festzusetzen. Und Sie werden sich regelmäßigen Drogentests unterziehen, Mr. Young. Zu Beginn monatlich, später können die Tests auch viertel- oder halbjährlich erfolgen.“

Libby sah, dass es in Byron arbeitete, aber er nickte. „Okay. Mache ich.“

„Ich würde den Parteien raten, im Interesse des Kindes die Differenzen zu überwinden. Mr. Young und vor allem Micah würden davon profitieren, wenn die Großeltern sich aktiv einbringen würden, wie Mr. Youngs Angehörige es bereits tun. Was im Übrigen ausschlaggebend für meine Entscheidung ist, weil ich denke, dass die beiden eine wertvolle Stütze für Vater und Sohn sind.“ Sie holte tief Luft und beschied: „Hiermit ist die Sitzung geschlossen.“

Sie stand auf und ging zum Hinterausgang. Libby sah, dass die Coopers mit ihrem Anwalt die Köpfe zusammensteckten, während die Anwältin Byron die Hand schüttelte und ihm zum Erfolg gratulierte.

„Das ist doch Ihr Verdienst“, erwiderte er nüchtern, doch die Anwältin schüttelte den Kopf und blickte zu Libby.

„Genaugenommen ist es Ihr Verdienst, würde ich sagen. Das war beeindruckend vorgetragen.“

„Ich bin ja regelmäßig vor Gericht, ich kenne das also“, erwiderte Libby verlegen.

„Das war trotzdem super. Ich denke, das hat das Ruder herumgerissen, denn zwischenzeitlich sah es alles andere als gut aus.“

Plötzlich straffte Byron die Schultern und ging an Libby vorbei in Richtung der Coopers. Er wartete ab, bis sie ihn ansahen, und fragte: „Wollt ihr uns unterstützen?“

„Darüber reden wir noch“, brummte James. „Komm, Betty, wir gehen.“

Micahs Großmutter wirkte weitaus versöhnlicher. Mit einem Lächeln betrachtete sie Micah, doch als James sie ermahnte, folgte sie ihm. Libby kniff die Augen zusammen und starrte James Cooper feindselig hinterher. Sein Verhalten machte so vieles kaputt. Der Anwalt folgte den beiden, während Byron mit hängenden Schultern dastand und Jasmines Eltern betrübt nachschaute.

„Warum sind die so?“, murmelte er.

„Weil James Cooper es gewöhnt ist, dass alles nach seinen Vorstellungen läuft“, sagte Libby. „Das ist der Kern des Problems. Versuch mal, mit Betty zu reden, vielleicht läuft das besser.“

Byron nickte stumm, bevor er plötzlich Owen seinen Sohn überreichte und dann Libby um den Hals fiel.

„Ich danke dir so sehr“, sagte er. „Ich weiß, dass ich das dir zu verdanken habe.“

„Das habe ich gern getan und ich halte es für richtig“, erwiderte Libby. „Du packst das. Für Micah.“

Byron nickte heftig. „Wenn ich ihn ansehe, weiß ich, wofür ich all das tue.“

Owen klopfte ihm auf die Schulter. „Du bist nicht allein. Vergiss das nicht.“

„Tue ich nicht“, erwiderte Byron mit einem scheuen Lächeln, während Owen sich an die Anwältin seines Bruders richtete.

„Die Rechnung können Sie dann an mich und meine Frau schicken“, sagte er.

„In Ordnung“, erwiderte die Anwältin knapp. Byron senkte beschämt den Blick und verabschiedete sich schließlich von der Anwältin, bevor er mit Owen und Libby zum Parkhaus ging.

„Ich zahle euch das alles zurück“, sagte er.

„Mach dich nicht verrückt. Das hat Zeit“, sagte Owen. „Im Moment sind andere Dinge wichtiger.“

Owen und Libby hatten Byron von sich aus angeboten, die Anwältin zu bezahlen. Im Moment hatte Byron dafür schlichtweg kein Geld. Er hatte seine Arbeitszeit drastisch reduziert und staatliche Unterstützung beantragt, die aber noch nicht in allen Fällen bewilligt war. Außerdem war er gerade wieder umgezogen. Er beklagte sich nicht, aber Libby wusste, dass er enorme Kosten hatte. Allein Babynahrung und Windeln kosteten ihn im Monat über hundert Dollar.

„Wir sehen uns“, sagte Byron, als sie bei den Autos angekommen waren.

„Meld dich, wenn was ist“, sagte Owen. Byron nickte und machte sich daran, die Babyschale im Auto zu verstauen. Owen tat es ihm in seinem Auto gleich, während Libby sich schon einmal auf den Beifahrersitz setzte. Als sie zwei Minuten später aus dem Parkhaus fuhren, schloss sie die Augen und versuchte, das Schwächegefühl in den Beinen und das Zittern in ihren Knien zu ignorieren.

„Alles okay?“, fragte Owen, als sie an der nächsten Ampel standen.

Libby nickte. „Trotzdem bin ich froh, wenn ich gleich wieder auf mein Sofa kann.“

„Das Timing war echt bescheiden, aber ich glaube, ohne deine Aussage hätte Byron keine Chance gehabt.“

Libby nickte zustimmend. Das hatte sie sich zwischendurch auch überlegt und deshalb von sich aus seiner Anwältin angeboten, vor Gericht für ihn auszusagen. Nicht nur, weil sie darin Erfahrung hatte, sondern auch, weil sie genau gewusst hatte, was sie sagen musste.

Allerdings war sie davon auch überzeugt. Micah gehörte zu seinem Vater und nicht zu seinen Großeltern. Byron musste die Chance haben, sich beweisen zu dürfen, und Libby fand, dass die Richterin einen guten Kompromiss gefunden hatte. Die Drogentests waren zwar nicht schön, aber Libby konnte nachvollziehen, dass man sich von offizieller Seite her vergewissern wollte.

Als sie wenig später zu Hause eintrafen, trug Owen die Babyschale ins Wohnzimmer. Libby holte sich in der Küche etwas zu trinken, bevor sie Gracie aus der Babyschale holte und das schläfrige Baby an sich drückte.

Ihre Tochter hatte einen hübschen blonden Flaum auf dem Kopf. Ihre anfänglich blauen Augen wurden inzwischen mit jedem Tag dunkler, wirkten aber auch wacher.

Owen setzte sich neben Libby aufs Sofa und strich seiner Tochter über das Köpfchen. Dabei sah er sie mit einem verträumten Lächeln an, das nur speziell für sie reserviert war. Als Grace mit ihren kleinen Händen in der Luft herumfuchtelte, hielt Owen ihr einen Finger hin, um den sie ihre winzigen Fingerchen schloss.

„Ich bin so froh, dass mein Bruder seinen Sohn behalten kann“, sagte er. „Wenn ich mir vorstelle, mir würde jemand meine Tochter wegnehmen ...“

„Sie ist wunderschön“, sagte Libby gedankenversunken.

„Ja, das ist sie. Ich will überhaupt nicht nächste Woche zur Arbeit zurück ... Sie wird mir wahnsinnig fehlen. Ganz davon abgesehen will ich nicht, dass du hier alles allein machen musst.“

„Das kriege ich schon hin“, sagte Libby zuversichtlich. Owen hatte ziemlich problemlos für zwei Wochen nach der Geburt Urlaub bekommen, aber angesichts seiner Auszeit von sechs Monaten, die er sich im kommenden Jahr nehmen wollte, hatte er sich mit seinem Vorgesetzten darauf geeinigt, nach der Geburt nicht zu lang auszusetzen. Mit diesem Kompromiss hatten alle einigermaßen leben können.

Gracie schien allmählich wacher zu werden und schmatzte ein wenig. Als ihre Augen sich suchend umschauten, hielt Libby ihr einen Finger hin, an dem das Baby gleich kräftig zu saugen begann.

„Dachte ich mir“, murmelte Libby mit einem Lächeln und zog ihre Kleidung so weit zur Seite, dass sie ihre Tochter stillen konnte.

Trotz aller Bedenken hatte sie es versuchen wollen und bis jetzt klappte es auch ganz gut. Joan war zufrieden mit Gracies Gewicht und Libby hatte sich allmählich an die Gefühle gewöhnt, die das Stillen in ihr auslöste. Der Vorgang selbst fühlte sich anders an, als sie erwartet hatte, und sie hatte unterschätzt, wie stolz es sie machte, ihr Kind ernähren zu können. Allerdings schlauchte es sie auch wahnsinnig, vor allem nachts allein dafür zuständig zu sein, egal wie müde sie war. Bis jetzt hatte es ihr noch keine Schwierigkeiten bereitet, aber die Gerichtsverhandlung war auch erst die zweite Gelegenheit gewesen, zu der sie mit Baby das Haus verlassen hatte.

Sie hatte so sehr befürchtet, dass das Stillen unangenehme Erinnerungen in ihr wecken würde, dass sie es beinahe überhaupt nicht probiert hätte, dabei schaffte sie es bis jetzt ganz wunderbar, da zu differenzieren. Inzwischen verursachte das Stillen auch keine schmerzhaften Nachwehen mehr, deshalb war sie da mittlerweile einigermaßen entspannt.

Allerdings war sie ganz allgemein noch recht schwach auf den Beinen. Die Heftigkeit dieses Gefühls hatte sie überrascht, aber auch, wenn die Geburt gut verlaufen war, hatte sie jetzt noch mit dem Blutverlust zu kämpfen und auch das Stillen war eine Herausforderung für den Kreislauf. Die meiste Zeit des Tages verbrachte sie im Moment im Bett oder auf dem Sofa, während Owen versuchte, sich um den Haushalt zu kümmern. Zur Untätigkeit verdammt mit dem Baby auf dem Sofa sitzen zu müssen, war eine besondere Herausforderung für sie, aber sie wusste, sie musste sich schonen. Gerade war ihre Gesundheit wichtig – und Gracie.

Jedes Mal, wenn sie ihre Tochter betrachtete, musste sie daran denken, dass das ein Wunder war. Ein neuer, kleiner Mensch, der zur Hälfte von ihr und zur Hälfte von Owen abstammte – und bei dem sie nicht nur in der Lage gewesen war, ihn neun Monate lang in ihrem Bauch heranwachsen zu lassen, sondern ihn auch völlig aus eigener Kraft zur Welt zu bringen. Das war ein unglaubliches Gefühl.

 

Samstag, 9. Dezember

 

„Und wir sind euch wirklich nicht lästig?“, fragte Julie, um sicherzugehen.

„Nein, überhaupt nicht“, erwiderte Libby mit einem Kopfschütteln.

„Wir haben heute keine Arbeit. Die hat der Pizzabäcker“, stimmte Owen zu. Kyle grinste und sie gingen alle zusammen ins Wohnzimmer, wo Gracie im Stubenwagen lag und schlief. Julie stand sofort wieder vor dem Stubenwagen und betrachtete sie verzückt.

„Sie ist immer noch so wahnsinnig niedlich! Diese kleinen Fingerchen ... ich kriege einen Zuckerschock!“

Libby lachte. „Du kannst sie ja gleich mal nehmen.“

„Oh, ja, bitte! Wenn ich das sehe, kriege ich echt Hormonwallungen!“

Irritiert und ein wenig nervös sah Kyle seine Frau von der Seite an. „Aber du willst doch jetzt nicht ...“

Julie schüttelte den Kopf. „Nein, noch nicht. Um Gottes Willen. Ich bin ja noch damit beschäftigt, Gracie anzubeten. Außerdem fühle ich mich dafür gar nicht erwachsen genug.“

„Tut man das je?“, fragte Owen mit hochgezogener Augenbraue.

„Hey, du bist immerhin schon Mitte dreißig. Ich werde jetzt erst dreißig.“

„Schon klar, aber auf dieses Gefühl, jetzt erwachsen zu sein, warte ich immer noch. Jetzt bin ich sogar schon Vater und fühle mich immer noch nicht anders.“

„Das macht ja Mut“, fand Kyle. Er setzte sich zu Owen und Libby aufs Sofa und sie wählten schon einmal ihre Pizza aus, während Julie immer noch Gracie anstarrte.

„So toll“, sagte sie. „Und mittlerweile sieht ihr Köpfchen auch anders aus.“

Libby nickte. Julie hatte Gracie zum ersten Mal gesehen, als Gracie zwei Tage alt gewesen war. Da war sie nach Feierabend kurz mit Nick vorbeigekommen, um ihre Glückwünsche zu überbringen, und da war Gracies Kopf noch ein wenig deformiert gewesen. Das hatte Libby am Anfang selbst ziemlich seltsam gefunden, auch wenn sie wusste, was der Grund dafür war. Das hatte sie ja sogar selbst gespürt. Eine Geburt war mitunter nichts weiter als rohe Gewalt.

Nachdem sie ihre Pizza ausgesucht hatten, bestellte Owen für sie alle und von den Stimmen wurde Gracie schließlich wach. Julie nahm sie auf den Arm und war sichtlich begeistert.

„Sie ist wirklich süß. Ganz hübsch. Und sie riecht so toll!“ Julie wusste gar nicht, wo sie ihre Begeisterung lassen sollte.

„Verdammt, wir hätten nicht kommen sollen. Ich weiß, worauf das hinausläuft“, sagte Kyle nicht ganz ernst gemeint.

„Nein, keine Angst. Noch nicht. Wobei ...“ Julie grinste ihn breit an, woraufhin er gespielt die Augen verdrehte.

„Ich bin froh, sie zu haben. Auch wenn es wirklich stressig ist“, sagte Owen. „Aber deshalb denken wir ja auch über ein Au-pair nach. Das haben wir am Donnerstag ja auch vor Gericht vorgebracht.“

„Erzählt doch mal davon! Libby hat mir nur berichtet, dass ihr erfolgreich wart. Aber wie geht es jetzt weiter?“, fragte Julie.

Libby und Owen erzählten von der Verhandlung und Julie versuchte nicht, ihre Begeisterung darüber zu verbergen, wie Libby es mit ihrer Aussage der Gegenseite gezeigt hatte.

„Das kann ich mir so richtig vorstellen. Das hat die Richterin sicher sehr beeindruckt“, sagte sie.

„Es sah so aus. Ich bin froh, dass es geklappt hat. Ich will mir wirklich nicht vorstellen, was es mit Byron gemacht hätte, wenn man ihm seinen Sohn weggenommen hätte. Das ist einfach falsch“, sagte Libby.

„Ja, das finde ich auch. Er hat doch euch. Es ist ja nicht so, als müsste da ein Ex-Junkie allein mit einem Baby klarkommen“, sagte Julie.

„Er macht das auch wirklich gut. Naturgemäß kenne ich meinen kleinen Bruder schon sehr lange – und sein Sohn hat ihn verändert. Zum Positiven. Ich bin wahnsinnig stolz auf ihn und hoffe, dass das jetzt so weitergeht. Ich meine – er holt jetzt sogar seinen Schulabschluss nach. Er macht endlich was aus seinem Leben.“

Es freute Libby, Owen so zu hören. Er war nie stolz auf seinen Bruder gewesen – bis jetzt. Byron verdiente den Stolz seines Bruders aber auch.

Kurz darauf kam die Pizza. Sie hatten fast aufgegessen, als Gracie mit Lauten und suchenden Bewegungen zu verstehen gab, dass sie auch Hunger hatte.

„Ich glaube, da möchte jemand stillen“, sagte sie und nahm ihre Tochter auf den Arm, bevor sie sich auf dem Sofa in eine ruhigere Ecke setzte. Weggehen wollte sie nicht, denn so konnte sie den anderen wenigstens zuhören, und die anderen störte es auch nicht.

Julie und Kyle erzählten von der Arbeit. Es freute Libby, mal etwas zu hören, das nichts mit Windeln und anderen Babythemen zu tun hatte. Das Leben bestand nicht nur daraus, Eltern zu sein.

Nach dem Stillen dauerte es nicht lang, bis Gracie eine frische Windel brauchte. Owen bot schon an, sich darum zu kümmern, aber Libby winkte ab.

„Ich helfe dir“, bot Julie gleich an und so gingen die beiden mit Gracie ins Kinderzimmer. Gespannt schaute Julie zu und bot Libby an, ihr irgendwie zur Hand zu gehen.

„Das ist bestimmt alles noch sehr ungewohnt“, sagte Julie. „Auch, wenn es so aussieht, als hättest du nie etwas anderes gemacht.“

„Ach, daran gewöhnt man sich ja schnell. Ich habe keine Ahnung, wie viele Windeln wir am Tag wechseln ... da kommt ganz schön was zusammen.“

„Ich freue mich vor allem so für dich, dass das mit der Geburt alles so gut geklappt hat. Ich bin ehrlich – ich hatte wirklich Sorgen, dass irgendwas schiefgeht und du damit haderst.“

Libby schüttelte den Kopf. „Nein, tatsächlich nicht. Im Gegenteil. Ja, es war schmerzhaft und wirklich eine Grenzerfahrung, aber mich stärkt jetzt das Gefühl, dass ich das gepackt habe. Aus eigener Kraft.“

Julie lächelte. „Das ist cool. Wie geht es dir denn jetzt?“

„Ganz gut eigentlich. Die meisten Verletzungen sind schon wieder verheilt.“

„Aber zwischen dir und Owen läuft vermutlich noch nichts, oder?“

Libby schüttelte den Kopf. „Nein, das nicht. Das liegt aber eher daran, dass wir eigentlich immer zu müde sind ...“ Jetzt lachte sie.

„Sollte trotzdem mal irgendwas sein, weshalb du reden möchtest – ich bin da“, sagte Julie.

Libby erwiderte ihren Blick und lächelte. „Ich weiß. Danke. Bist eine echte Freundin.“

„Wir hatten das Thema ziemlich eingehend im Seminar für Traumapsychologie. Ich hatte gehofft, dass du das packst – dein Therapeut leistet ja auch gute Arbeit.“

„Ich bin über Bailey hinweg, denke ich. Jetzt beginnt etwas Neues“, sagte Libby. „Gerade mache ich mir mehr Gedanken darüber, wie es wohl wird, wenn Owen am Montag wieder arbeiten geht.“

„Das kann ich verstehen. Und ich bin ja auch im Büro ... Das könnte ziemlich einsam werden.“

„Allein deshalb wäre ein Au-pair toll.“

„Ja, das ist auch eine gute Idee. Ach, ihr seid echt zu beneiden. Wenn ich das so sehe, würde ich mir das auch wünschen“, gab Julie zu.

„Was hält dich davon ab?“, fragte Libby.

„Ich weiß nicht ... ich hab das Gefühl, noch nicht so weit zu sein. Kyle will auch noch nicht. Wir konzentrieren uns gerade voll auf unseren Beruf. Wenn ich mir vorstelle, wir würden es machen wie ihr ...“ Sie schüttelte den Kopf. „Kyles Vorgesetzter ist, was das angeht, ziemlich von vorgestern. Ich glaube, er würde nicht verstehen, wenn Kyle sich da eine längere Auszeit nehmen würde. Dann hätte er später sicher berufliche Nachteile.“

„Dass das immer noch so ist“, sagte Libby kopfschüttelnd. „Nick ist ja zum Glück überhaupt nicht so.“

„Nein, Nick ist ein Held.“ Julie lachte. „Im Büro fehlst du mir wahnsinnig, weißt du das?“

„Mir fehlt das auch. Aber ich habe ja kein Kind in die Welt gesetzt, um dann weiterzumachen wie vorher. Das wäre Gracie gegenüber unfair.“

„Nein, das geht auch nicht. Dafür ist sie zu klein. Wir sind Psychoprofis, wir würden uns ja Lügen strafen, wenn wir die Entwicklungspsychologie von Kleinstkindern ignorieren würden.“

„Im Augenblick sehe ich das alles auch noch entspannt. Den Hormonen sei Dank!“ Libby grinste und zog Gracie wieder an, bevor sie ihr übers Köpfchen strich und seufzte.

„Ich wünschte, meine Mum hätte sie kennenlernen können.“

Julie nickte bloß. Sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte.

„Ich verstehe erst jetzt, wie sehr sie mich geliebt haben muss. Sie hat sich selbst immer zurückgenommen und darauf geachtet, dass es mir gut geht. Das tut man einfach für sein Kind.“

„Das ist ein Geschenk“, sagte Julie. „Hüte es gut. Das ist sehr wertvoll.“

Libby drückte Gracie an sich und nickte. Wie ein Geschenk fühlte es sich auch an.

 

 

Montag, 11. Dezember

 

Als Libby von ihrem Wecker aus dem Schlaf gerissen wurde, fühlte sie sich wie gerädert. Inzwischen war es neun Uhr morgens, um elf hatte sie einen Termin bei Michael – den ersten nach der Geburt. Für einen kurzen Moment überlegte sie, ihn abzusagen und einfach weiterzuschlafen, aber schließlich gab sie sich einen Ruck und stand auf. Es würde ihr guttun, mit Michael zu sprechen. Tat es immer.

Während sie sich aus dem Bett quälte, dachte sie an Owen, der viel früher aufgestanden war. Libby beneidete ihn nicht im Geringsten. Sie hätte gar nicht gewusst, wie sie das schaffen sollte. Nachts hatte sie dreimal gestillt und eine Windel gewechselt – die andere hatte Owen übernommen.

Als sie allein und todmüde am Frühstückstisch saß, wurde ihr erst die Stille im Haus bewusst. Oreo war zwar da, schlief aber auf dem Sofa. Gracie war wach und hatte Libby von einer kleinen Wippe aus dabei beobachtet, wie sie sich Frühstück machte. Mit kleinen Augen blickte Libby zu ihrer Tochter und lächelte. Das war ihre Tochter. Ihre eigene. Libby war stolz und glücklich zugleich.

Sie war gerade mit dem Frühstück fertig, als Gracie Hunger anmeldete. Damit hatte Libby schon gerechnet, deshalb setzte sie sich mit ihrer Tochter zum Stillen aufs Sofa. Als sie fertig war, war es auch schon an der Zeit, zu Michael zu fahren. Libby verstand nicht, wo die Zeit geblieben war. Mit Baby flossen die Tage so dahin, ohne dass man wirklich etwas getan hätte – aber hinterher war die Zeit weg und man wusste überhaupt nicht, wohin.

Sie war einigermaßen wach, als sie zu Michaels Praxis fuhr. Die Babyschale bis nach oben zu tragen war anstrengend für sie, aber sie schaffte es. In der Praxis angekommen, wurde sie gleich von Michael begrüßt, der die letzte Patientin gerade verabschiedet hatte.

Mit einem breiten Lächeln wandte er sich ihr zu und schüttelte ihr die Hand. „Herzlichen Glückwunsch, Libby. Ich freue mich sehr, deine Tochter kennenzulernen. Was für ein süßes Kind!“

„Danke“, erwiderte Libby gerührt.

„Komm rein. Brauchst du irgendwas?“

„Im Moment nicht.“ Sie lächelte und folgte Michael ins Behandlungszimmer, wo sie Gracie aus der Babyschale nahm und es sich mit ihr im Arm auf dem Sofa gemütlich machte. Gespannt beobachtete Michael sie dabei.

„Du siehst glücklich aus“, stellte er fest.

Libby nickte eifrig. „Schon, ja. Ich weiß, ich bin bis in die Haarspitzen voll mit Hormonen, die dafür verantwortlich sind, aber das macht nichts. Ich weiß jetzt, was Sadie meinte, als sie mir sagte, dass sie seitdem in sich selbst ruht.“

„Das klingt doch wunderbar.“

„Ja, oder? Im Moment bin ich total zufrieden. Alles ist ganz anders und neu, aber es ist etwas Besonderes.“

„So habe ich das auch immer empfunden. Worüber möchtest du reden? Am Telefon hast du mir ja erzählt, dass es mit der Geburt so geklappt hat, wie du es dir gewünscht hast.“

„Ja, zum Glück schon. Ich bin auch immer noch sehr froh, dass Sadie tatsächlich dabei war. Joan war super, aber Sadie kennt meine Geschichte und meine Triggerpunkte“, erzählte Libby. „Sie hat es gleich gemerkt, als ich einen schwachen Moment hatte.“

„Was ist passiert?“

„Zu einem bestimmten Zeitpunkt hat sich das Ganze plötzlich auf eine beängstigende Weise unausweichlich angefühlt. War es ja auch. Ich hatte mich vors Bett gekniet, weil sich das bei der Verarbeitung der Wehen gut angefühlt hat, aber ...“ Sie holte tief Luft. „Unter Schmerzen dazuhocken, hat mich an Vincent erinnert. Das war zu nah dran. In dem Moment kam alles wieder hoch.“

Michael nickte ernst. „Konnte Sadie damit umgehen?“

„Ja, sie hat mich in die Realität zurückgeholt und die Situation so verändert, dass ich mich wieder gefangen habe. Danach hat es gar nicht mehr lang bis zur Geburt gedauert.“

„Bist du jetzt froh um diese Erfahrung?“

„Ich weiß nicht, ob das die richtige Bezeichnung ist. Ich bin froh, dass ich es so gemacht habe. Die Geburt selbst war eigentlich okay. Die stärkeren Trigger kamen eigentlich danach.“

„Inwiefern?“, fragte Michael.

„Ich hatte nicht viele Verletzungen, aber dennoch haben die Schmerzen mich an das erinnert, was Vincent gemacht hat. Ich habe mich kaum zur Toilette getraut.“

„Wie hast du das gemeistert?“

Libby zuckte mit den Schultern. „Eigentlich wie damals. Augen zu und durch. Irgendwie ging das. Es war ähnlich, aber nicht gleich. Inzwischen ist es okay. Ich fühle mich immer noch etwas wacklig auf den Beinen, aber da kommt ja irgendwann auch einiges an Blutverlust zusammen.“

„Es ist auch einfach eine körperliche Meisterleistung, die du da vollbracht hast. Nicht umsonst gewähren andere Länder Müttern wochenlangen Mutterschutz. Warum man hierzulande so tut, als wäre das überflüssig, habe ich noch nie verstanden.“

„Ist es nicht“, sagte Libby kopfschüttelnd und lachte. „Ich bin jetzt nicht schlecht in Form, aber ich merke, was ich da vollbracht habe.“

„Und Owen ist wieder im Büro?“

„Ja, heute ist sein erster Tag. Deshalb bin ich ganz froh, dass ich herkommen konnte. Ich hatte irgendwie das Gefühl, dass mir die Decke auf den Kopf fällt, wenn ich bloß zu Hause sitze. Morgen kommt meine Hebamme und dann – mal sehen ...“

„Das konntest du ja noch nie gut. Das war ja schon so, als du seinerzeit zu mir gekommen bist. Es hat dich verrückt gemacht, zu Hause herumzusitzen.“

Libby lachte ertappt. Das konnte sie wirklich nicht. Im Moment war es okay, weil sie es liebte, ihre Tochter einfach stundenlang anzustarren, um zu begreifen, dass sie tatsächlich echt war.

Sie sprach mit Michael über alles, was ihr durch den Kopf ging, und merkte, dass es ihr guttat, ihre Gedanken in Worte zu fassen. Als die Sitzung vorüber war, machte sie sich wieder auf den Heimweg und bereitete sich ein Sandwich zu, bevor Gracie wieder Hunger hatte. Libby machte es sich mit ihr auf dem Sofa gemütlich und betrachtete sie liebevoll.

In diesem Moment bedauerte sie zutiefst, dass ihre eigene Mutter ihre Enkeltochter, die nach ihr benannt war, nicht kennenlernen würde. In den vergangenen vierzehn Jahren hatte Libby gelernt, ohne ihre Mutter zu leben und war auch irgendwie damit zurechtgekommen, aber gerade fehlte Grace ihr so schmerzhaft wie schon lange nicht mehr. Sie hätte Gracie kennenlernen sollen.

Jetzt begriff sie, warum Grace getan hatte, was sie getan hatte. Sie verstand, dass für Grace immer das Wohl ihrer Tochter im Vordergrund gestanden hatte und sie konnte das Sicherheitsbedürfnis nachvollziehen, das ihre Mutter gehabt haben musste. Gerade empfand sie selbst nicht anders. Sie liebte dieses kleine Mädchen in ihrem Arm über alles und wusste, dass sie alles dafür tun würde, damit es ihr gut ging. Immer. Jetzt wusste sie, wie es war, eine Tochter zu haben und sie bedingungslos zu lieben.

Sie hatte nicht sofort nach der Geburt so empfunden. In den ersten Tagen war das Baby ihr noch ein wenig fremd gewesen, aber das hatte sich schnell gelegt. Im Augenblick schreckte sie manchmal nachts scheinbar grundlos hoch und suchte nach Gracie, die friedlich im Beistellbett neben ihr schlief. Als sie Joan davon berichtet hatte, hatte die Hebamme wissend genickt und ihr erklärt, dass das völlig normal war und in den ersten paar Wochen der Geburt passierte, um die Bindung zwischen Mutter und Kind zu stärken. Im Gehirn wurden neue Nervenbahnen verknüpft und dann konnte es schon mal passieren, dass man dadurch aus dem Schlaf hochschrak. Libby fand das enorm faszinierend.

Das alles war neu für sie. Ein Kind zur Welt zu bringen, hatte ihr wie nichts zuvor bewusst gemacht, was es tatsächlich bedeutete, eine Frau zu sein. Sie genoss es nicht uneingeschränkt, aber sie sah die Stärken darin.

Während des Stillens wäre Libby beinahe mehrmals selbst eingeschlafen, weshalb sie schließlich mit Gracie nach oben ging und sich mit ihrer Tochter ins Bett legte. Joan hatte ihr dazu geraten, jede Gelegenheit zum Schlafen zu nutzen – und das wollte sie jetzt auch tun. Müde erklomm sie die Treppenstufen, wickelte Gracie oben in eine Babydecke und legte sich selbst im Bett daneben. Im Handumdrehen war sie eingeschlafen.

Sie wachte erst wieder auf, als sie eine Berührung an der Schulter spürte. Im ersten Moment erschrak sie, aber dann sah sie, dass es nur Owen war, und lächelte.

„Hey, da bist du ja“, sagte sie und gähnte.

„Ja, ich habe mich schon gewundert, wo alle sind. Ihr habt es ja sehr gemütlich hier. Ich beneide dich gerade um die Extraportion Schlaf.“

„Fühlt sich bloß nicht so an, als hätte sie auch was gebracht“, sagte Libby und gähnte. Owen gab ihr einen Kuss und betrachtete liebevoll seine Tochter.

„Ihr habt mir heute verdammt gefehlt“, sagte er.

„Wie war es denn?“

„Es ging gleich mit Vollgas los. Ein paar Tage nach Gracies Geburt wurde die Leiche eines jungen Mannes in einem Müllcontainer gefunden. Er war erst 22 und wurde erschossen. Benny hat mit den Kollegen in der Sache ermittelt und alle Hinweise deuten auf Rodrigo Pereira, einen Drogendealer. Sie haben ihn auch schon verhört, aber noch haben sie nicht genügend belastendes Material gegen ihn gesammelt.“

„Und was wollt ihr jetzt tun?“

„Wir haben einen Spitzel auf ihn angesetzt. Wir brauchen die Mordwaffe oder, was noch besser wäre, ein Geständnis.“

„Habt ihr noch keinen Durchsuchungsbeschluss erwirkt?“

„Doch, aber es konnte keine Waffe gefunden werden. Benny hatte vorhin noch die Idee, dass wir unseren Spitzel nutzen sollten, um Pereira ein Geständnis abzuringen. Das wäre so eine richtig klassische Aktion, bei der wir ihn verkabeln und hoffen, dass er das Gespräch irgendwann in die richtige Richtung lenkt.“

Während sie Owen zuhörte, stellte Libby fest, dass sie ihn beneidete. Zwar war sie wahnsinnig müde und eigentlich mit dem Kopf woanders – aber diese Arbeit hätte ihr jetzt auch Spaß gemacht.

„Können wir was essen? Ich habe solchen Hunger“, sagte sie.

„Klar. Ich koche uns was“, sagte Owen.

Libby war ihm dankbar für den Vorschlag. Er nahm Gracie mit nach unten, die davon aufwachte und zufriedene Geräusche machte, als sie ihren Vater sah. Sie waren kaum unten angekommen, als Gracie Hunger anmeldete, und so setzte Libby sich wieder mit ihrer Tochter aufs Sofa.

„Jetzt kann ich dir nicht mal helfen“, sagte sie.

„Musst du gar nicht. Was du da tust, ist total sinnvoll.“

„Ich weiß ... obwohl es mich ja wahnsinnig macht, immer bloß herumzusitzen. Ich bin zu ungeduldig für so etwas.“

„Kann ich verstehen. Aber du machst das toll.“

Es machte Libby stolz, das zu hören. Als sie fertig mit dem Stillen war, stand das Abendessen schon auf dem Tisch. Sie legte Gracie in den Stubenwagen und setzte sich zu Owen.

„Schmeckt super“, sagte sie und lächelte.

„Das tut als Ausgleich gerade ganz gut. Es kann auch leider gut sein, dass ich in den nächsten Tagen länger weg bin. Wir müssen jetzt spontan reagieren können – wenn die Gelegenheit günstig ist, um unseren Spitzel verkabelt zu Pereira zu schicken, müssen wir das spontan machen. Nur, dass du das schon mal gehört hast.“

„Ist okay“, sagte Libby schlicht.

„Und du kommst hier allein zurecht?“

„Bis jetzt ja. Und eigentlich bin ich ja gar nicht allein.“ Libby blickte zu ihrer Tochter und lächelte.

 

 

Dienstag, 12. Dezember

 

Manchmal war Libby gar nicht sicher, ob sie wach war oder immer noch schlief. Im Augenblick war sie dauermüde. Ihre Tage bestanden aus Stillen, Windelwechseln und vielleicht zwei, drei Dingen im Haushalt. Mehr schaffte sie gar nicht. Später würde Byron Micah vorbeibringen.

Aber was sollte sie bis dahin tun?

Schließlich fasste sie den Plan, einkaufen zu gehen. Sie musste raus, einfach etwas anderes sehen. So schnappte sie sich Gracie und fuhr zum Supermarkt. Sie brauchten sowieso neue Windeln und ein paar andere Dinge.

Die meiste Zeit über schlief Gracie, während Libby müde durch die Gänge des Supermarktes trottete. Sie packte auch ein Paket größerer Windeln und ein Päckchen Säuglingsnahrung ein. Das würde sie Byron später geben, wenn er vorbeikam.

Sie war schon auf dem Weg zu den Kassen, als Gracie wach wurde. Als sie alles aufs Kassenband gelegt hatte, begann Gracie, ungehaltene Geräusche zu machen. Libby hielt ihr einen Finger hin, an dem Gracie fest zu saugen begann.

Na toll, dachte Libby und beeilte sich, alle Einkäufe im Wagen zu verstauen, während Gracie allmählich vor Hunger zu weinen begann. Libby brachte alles ins Auto, schnallte die Babyschale fest und beeilte sich, mit Gracie nach Hause zu kommen, die wie am Spieß brüllte, als Libby in der Einfahrt parkte. Sie holte bloß das Baby aus dem Auto und lief mit Gracie ins Haus, zog sich noch im Flur halb aus, so dass sie sich nur noch aufs Sofa setzen musste und ihre Tochter gleich stillen konnte.

Das hatte sie nicht im Supermarkt tun wollen. So familienfreundlich Amerika auch war – Stillen in der Öffentlichkeit war teilweise immer noch schwierig. Sie wollte es auch überhaupt nicht, obwohl ihr allmählich bewusst wurde, dass sie sich damit zu Hause isolieren würde.

Während sie einfach dasaß und ihrer Tochter beim Trinken zuschaute, kam zum wiederholten Mal das Gefühl in ihr auf, Owen zu beneiden. Ihm konnte das ganz gleich sein – er hätte sich gefreut, ein Fläschchen geben zu können, und all diese Probleme hatte er nicht. Vor allem aber beneidete sie ihn darum, dass er jetzt arbeiten war, während sie allein mit Baby zu Hause saß.

Gracie brauchte über zwanzig Minuten, um fertig zu werden. Libby wusste, dass das eigentlich sogar recht schnell war, aber trotzdem waren die Tiefkühlsachen, die sie gekauft hatte, im Auto angetaut, als sie schließlich die Einkäufe ins Haus holte. Zum Glück war es Winter.

Sie war gerade dabei, alles wegzuräumen, als Gracie erneut zu weinen begann. Als Libby nach ihr sah, verriet ihr die Nase, dass Gracies Windel voll war – und als sie sie wechseln wollte, sah sie, dass nicht alles in der Windel geblieben war.

Libby stöhnte und zog Gracie um, nachdem sie sie sauber gemacht hatte. Danach räumte sie die restlichen Einkäufe weg und sackte schließlich entnervt aufs Sofa. Gracie schlief friedlich im Stubenwagen, die Waschmaschine lief, alles war geschafft – und Libby völlig gestresst.

Das alles war ihr einerseits bewusst gewesen, doch andererseits auch nicht. Wie es sich wirklich anfühlen würde, mit einem Baby zu Hause zu sitzen und sich den ganzen Tag nur um Kind und Haushalt zu kümmern, hatte sie natürlich nicht ahnen können.

Sie vermisste ihre Arbeit, ihre Kollegen. Vielleicht fuhr sie am nächsten Tag mal nach Quantico und zeigte den Kollegen das Baby. Bis jetzt kannten nur Julie und Nick ihre Tochter, aber die anderen waren sicher auch neugierig.

Und das alles sollte jetzt noch knapp sechs Monate so gehen?

Sie war ja froh, dass es dann enden würde. Dass sie dann ihre Arbeit zurückbekam und auch wieder etwas anderes sehen würde. Jetzt, wo sie mittendrin steckte, konnte sie sich gar nicht vorstellen, wie ihre Mutter das jahrelang ausgehalten hatte – wie überhaupt irgendeine Frau in der FLDS die Aussichten aushielt, nur für Kinder und Haushalt zuständig zu sein.

Dass sie über all diesen Gedanken eingeschlafen war, hatte sie gar nicht gemerkt, bis das Klingeln der Haustür sie aus dem Schlaf riss. Libby war zu Tode erschrocken und wusste erst gar nicht, wo sie war und was sie tun sollte. Dann sammelte sie sich und stand auf. Vor der Tür stand Byron mit Micah.

Natürlich, er hatte ihn ja vorbeibringen wollen. Als er Libby ansah, grinste er.

„Du siehst ziemlich fertig aus“, stellte er fest.

„Bin ich auch. Komm rein. Bin vorhin auf dem Sofa eingeschlafen.“

„Oh, das kenne ich. Eigentlich wollte ich schon früher kommen, aber Mr. Young junior hielt es für eine gute Idee, die gerade frisch angezogene Windel auch noch mal so richtig vollzumachen, so dass ich ihm gleich noch eine anziehen konnte.“

„Das kenne ich. Ich hatte vorhin das Phänomen, dass Windeln oben am Rücken nicht dicht sind, wenn du verstehst.“

Byron verzog das Gesicht. „Das ist immer so richtig angenehm. Hatten wir auch schon. Und dann zieh das Kind mal um, ohne ihm alles durch die Haare zu schmieren.“

Libby grinste. „Und jetzt stehe ich hier mit meinem Schwager, von dem ich das am wenigsten erwartet hätte, im Flur und unterhalte mich über die Windelinhalte von Babys.“

„Ich sorge immer wieder für Überraschungen, wusstest du das nicht?“, fragte er.

„Oh doch, gerade du. Hast du noch Zeit?“

Byron nickte. „Ja, bin extra etwas früher gekommen. Ich dachte mir schon, dass du etwas einsam bist. Geht mir ja nicht anders.“

Libby lächelte ihm zu. „Lieb von dir.“

„Ich bin nicht der geborene Vater, das sage ich ganz ehrlich. Wenn ich mir meinen Bruder ansehe, bin ich neidisch. Der macht das einfach. Ich musste das erst lernen. Und ich glaube, so bist du auch.“

Byron stellte die Babyschale neben dem Sofa ab und setzte sich mit Libby, die zustimmend nickte und sagte: „Das hast du gut erkannt.“

„Du bist da irgendwie ganz anders als Jasmine. Ich meine – keine Ahnung, wie Jassy als Mutter gewesen wäre. Aber schon als sie schwanger war, kannte sie kaum ein anderes Thema.

---ENDE DER LESEPROBE---