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In die Gaststätte "Zum weisen Lamm" – das Schild hätte schon längst eine orthografische Korrektur erfahren müssen, aber die Bergbewohner und besonders der Lammwirt sind in dieser Hinsicht träge – tritt ein fremder Mann, der nach einer schönen jungen Frau sucht, deren weiterer Weg eigentlich nur über die verschneiten Berge hätte führen können; zu dieser Jahreszeit ein riskantes Unterfangen. Martin Siebenpfeiffer, Sektionsführer im örtlichen Alpenverein, staunt nicht schlecht, als sich der Fremde als der berühmte Bergsteiger Ulrich Schneevogt herausstellt, der unter anderem schon den Aconcagua, höchster Berg Südamerikas, auf einer gefährlichen neuen Route bezwungen hat. Zwischen den beiden Männern entwickelt sich eine heftige Rivalität, nicht nur was die Besteigung der umliegenden Berggipfel angeht ... Der humoristische Tiroler Bergroman eröffnet eine interessante Perspektive auf die Frühzeit des Bergsteigersports und ist allein schon deshalb höchst lesenswert.Rudolph Heinrich Stratz (1864–1936) war ein deutscher Schriftsteller, der zahlreiche Theaterstücke, Erzählungen und vor allem Duzende Romane verfasst hat. Stratz verbrachte seine Kindheit und Jugend in Heidelberg, wo er auch das Gymnasium besuchte. An den Universitäten Leipzig, Berlin, Heidelberg und Göttingen studierte er Geschichte. 1883 trat er in das Militär ein und wurde Leutnant beim Leibgarde-Regiment in Darmstadt. 1886 quittierte er den Militärdienst, um sein Studium in Heidelberg abschließen zu können. Zwischendurch unternahm er größere Reisen, z. B. 1887 nach Äquatorialafrika. Mit dem 1888 und 1889 erschienenen zweibändigen Werk "Die Revolutionen der Jahre 1848 und 1849 in Europa" versuchte der Vierundzwanzigjährige erfolglos, ohne formales Studium und mündliches Examen zu promovieren. 1890 ließ er sich in Kleinmachnow bei Berlin nieder und begann, Schauspiele, Novellen und Romane zu schreiben. Von 1891 bis 1893 war er Theaterkritiker bei der "Neuen Preußischen Zeitung". Von 1890 bis 1900 verbrachte er wieder viel Zeit im Heidelberger Raum, vor allem im heutigen Stadtteil Ziegelhausen. Ab 1904 übersiedelte er auf sein Gut Lambelhof in Bernau am Chiemsee, wo er bis zu seinem Tod lebte. 1906 heiratete er die promovierte Historikerin Annie Mittelstaedt. Während des Ersten Weltkrieges war er Mitarbeiter im Kriegspresseamt der Obersten Heeresleitung. Bereits 1891 hatte er sich mit dem Theaterstück "Der Blaue Brief" als Schriftsteller durchgesetzt. Doch vor allem mit seinen zahlreichen Romanen und Novellen hatte Stratz großen Erfolg: Die Auflagenzahl von "Friede auf Erden" lag 1921 bei 230 000, die von "Lieb Vaterland" bei 362 000. Ebenso der 1913 erschienene Spionageroman "Seine englische Frau" und viele weitere Werke waren sehr erfolgreich. 1917 schrieb er unter Verwendung seines 1910 erschienenen zweibändigen Werkes "Die Faust des Riesen" die Vorlage für den zweiteiligen gleichnamigen Film von Rudolf Biebrach. Friedrich Wilhelm Murnau drehte 1921 nach Stratz' gleichnamigem mystischen Kriminalroman den Spielfilm "Schloß Vogelöd". Den 1928 als "Paradies im Schnee" erschienenen Roman schrieb Stratz 1922 nach Aufforderung von Ernst Lubitsch und Paul Davidson als Vorlage für den 1923 unter der Regie von Georg Jacoby realisierten gleichnamigen Film. 1925 und 1926 erschienen seine Lebenserinnerungen in zwei Bänden. Zwischenzeitlich weitgehend in Vergessenheit geraten, wird das Werk von Rudolph Stratz nun wiederentdeckt.-
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Seitenzahl: 225
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Rudolf Stratz
Saga
Zum weißen Lamm. Roman aus Südtirol
© 1901 Rudolf Stratz
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711507018
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
„Zum letztenmal, lieber Lammwirt ... ich bitte Sie ... nein ... ich verlange es jetzt ... ich fordere es mit allem Nachdruck, dass das richtige ‚ss‘ endlich auf Ihr Schild gemalt wird! Ich kann das nicht mehr sehen. Vorigen Herbst haben Sie mir feierlich versprochen, im Laufe des Winters für das ‚z‘ zu sorgen! Und wie ich diesen Sommer wiederum mit meinem Kofferchen um die Ecke rolle, was muss ich mit Schrecken und Widerwillen von neuem lesen? Gasthaus ‚Zum weisen Lamm‘! ...“
Der Lammwirt schwieg. Er war ein Freund des Alten. Seit seines Grossvaters Zeiten waren die Fremden erst einzeln, dann in Trupps, schliesslich in ganzen Scharen im Tal von St. Lukas in der Öd erschienen, um den spitzen Firngipfel des trotzigen „Wilden Dirndls“ zu bewundern. Die Fremden hatten über das zähe Rindfleisch und die Bedienung im „Weisen Lamm“ gejammert und waren dann im nächsten Sommer wiedergekommen. Als Gäste mussten sie etwas zu bekritteln haben. Entzog man ihnen das, so blieben sie am Ende aus! Drum liess man nach der Meinung des Lammwirts besser alles wie es war.
Aber Dr. Martin Siebenpfeiffer war diesmal nicht so leicht zu versöhnen. „Sie wissen ja gar nicht“, fuhr er fort, „was Sie einem Schulmann wie mir mit dieser Verhöhnung aller Vernunft, Orthographie und Logik durch dieses täglich auf mich niedergrinsende ‚Weise Lamm‘ antun! Es gibt mir jedesmal einen Stich ins Herz, wenn ich morgens dies niederträchtige Wappentier da oben schaue! Es kribbelt mir in den Fingern ... und kurz und gut: So geht’s nicht weiter!“
Der Lammwirt schwieg noch immer, und die Bergführergilde von St. Lukas, die um ihn in der Sommermittagsglut vor dem Gasthof stand, zwinkerte sich verstohlen zu. Laut zu lachen wagten sie nicht – denn Martin Siebenpfeiffer war immerhin eine Respektsperson, der Vorstand jener Sektion des Alpenvereins, die dort oben am Fuss des „Wilden Dirndls“ die neue Törlihütte gebaut hatte und morgen einweihen wollte, aber im geheimen lächelten der Schneiderwastel und der Poschtummer; der Huferer-Hansjörgl sog emsig mit eingeklemmten Lippen an seiner Pfeife, der Kuprian hustete in seinen schwarzen Vollbart, der Matz-Anderl und der äussere Lakner starrten in die Ferne, als wollten sie an dem schneeweiss vor dem tiefblauen Himmel stehenden gigantischen Zuckerhut des „Wilden Dirndls“ die Gemsen zählen; ja selbst über die braunen, adlerkühnen Züge Antonio Tavernaros, des berühmten, von auswärts gekommenen Dolomitenführers, lief ein düsteres Lächeln bei dem ihm unverständlichen Wortschwall des kleinen, dicken und bebrillten Herrn.
Der hatte inzwischen seinen Herbergsvater am Hirschhornknopf seiner Lodenjoppe gepackt. „Glauben Sie mir!“ sprach er eindringlich. „Ein Lamm ist nicht weise, bester Lammwirt! Es wird erwachsen zum Schaf und führt seinen Namen mit Recht. Weiss, mit ‚z‘, Liebster, weiss ist das Lamm oder sollte es wenigstens sein! Also geben Sie der Vernunft Gehör und machen Sie dem Greuel ein Ende. Was liegt schliesslich an einem ‚z‘ mehr?“
Der Lammwirt sah, dass er sprechen müsse, und sann nach einem neuen Vorwand. Denn die alten Beschwichtigungsmittel von der zerbrochenen Leiter, dem erkrankten Anstreicher, dem grilligen Herrn auf Nummer sieben, der keinen Handwerker vor seinem Fenster leide, waren schon längst verbraucht. Es musste schon eine faustdicke Lüge werden, die er am nächsten Sonntag dem hochwürdigen Herrn Kuraten im Beichtstuhl bekennen würde. Aber als er eben den Mund öffnen wollte, legte es sich ihm erlösend wie eine Bärentatze auf die Schulter, und eine tiefe Stimme fragte: „Sagen Sie mal, Verehrtester, haben Sie etwa eine junge Dame gesehen?“
Die beiden drehten sich um. Da stand, einem Bergwägelchen entstiegen, ein hünenhafter, breitschulteriger Bergsteiger, auf eine überlebensgrosse blinkende Eisaxt gestützt. Er wiederholte, diesmal auf Martin Siebenpfeiffer blickend, seine Frage: „Haben Sie etwa eine junge Dame gesehen?“
„Oh, schon mehrere!“ sagte Siebenpfeiffer betroffen. „Eine ganze Anzahl schon. Es fragt sich nur, wann?“
„Heute? Hier! Jetzt eben!“
„Da müssten wir doch systematisch vorgehen, verehrter Herr“ – Martin Siebenpfeiffer runzelte nachdenklich die Stirne –, „und zunächst Art und Erscheinung der fraglichen jungen Dame feststellen – ob gross oder klein – ganz jung oder noch so weit jugendlich, hübsch oder weniger durch Äusserlichkeiten bestechend ...“
Der Bergsteiger zuckte verächtlich die beiden Schultern. Der Gedanke, dass man in solcher Hast einer kleinen, alten Dame nachjagen könne, schien ihm lächerlich zu sein.
„Sehr gross!“ sagte er nachdrücklich. „Sehr schlank! Sehr hübsch! Ist sie hier oder nicht?“
Martin Siebenpfeiffer schüttelte wehmütig den Kopf. „Sehr gross sind die beiden Damen Pinkerton schon, die schottischen Bergsteigerinnen, die wir hier haben. Und Fräulein Mohr, die neben mir wohnt, ist schon mehr wie schlank! Aber hübsch ... sehr hübsch sogar, wenn ich Sie recht verstanden habe ...“
„Ach was ... schön!“
„Schön! Nein, Verehrtester ... nein ... nein ... Ist nicht! Sie finden alle mögliche Weiblichkeit hier – dick und dünn, jung und alt, herb und milde – alle Jahrgänge – aber eine Schönheit – das führen wir im ‚Weisen Lamm‘ nicht auf Lager! ... Leider!“
„Ja, wo kann sie denn dann hin sein?“ murmelte der Mann vom Berge. „Hier hat doch der Talboden ein Ende. Hier hört doch die Weltgeschichte auf! In den Schnee kann sie doch nicht hinaufgeklettert sein! Im Strassenkleid, allein ... und mit Lackstiefel!“
Martin Siebenpfeiffer schien das ein kaum denkbares Beginnen, und der Lammwirt pflichtete bei. Aber der alte Kutscher auf dem Bock brummelte etwas von „söllem Fräulein“ vor sich hin, als ob ihm bei der auch eine Gletscherwanderung in Lackstiefeln nicht völlig ausgeschlossen erschiene.
Und auch sein Fahrgast war in Zweifeln. „Wenn sie in den Schnee hinauf ist“, rechnete er finster vor sich hin, „dann hat sie vier ... fünf ... sechseinhalb Stunden Vorsprung und ist schon drüben überm Törlijoch. Und jetzt ist der Schnee zu weich von der Sonne. Man kann ihr nicht nach!“
Die Bergführer nahmen stumm die Pfeifen aus dem Mund und zuckten die Achseln über die verrückte Idee des fremden Herrn, dass eine einzelne Dame sich droben im Schnee herumtreiben könne. Und der Matz-Anderl, ein hübscher junger Bursche, der, wie so viele seiner Tiroler Genossen, im steten Verkehr mit unerfahrenen Sommerfrischlern, Damen und Kindern, dummdreist geworden war, ergriff das Wort. „Da san S’ der Rechte!“ lachte er spöttisch. „... wann S’ dös glauben!“
Der fremde Bergsteiger sah ihn an. „Mir scheint, junger Mensch“, sagte er, „Sie gehören noch zu jener Sorte ungeschliffener Edelsteine, denen man die Worte: ‚frech, faul und gefrässig‘ ins Führerbuch schreiben müsste. Verdient hätten Sie’s! Und darunter meinen Namen! Ulrich Schneevogt!“
„Ulrich Schneev ...“ Siebenpfeiffer erstarb das Wort auf den Lippen, rings in der Runde lüfteten sich plötzlich all die Wetterhüte mit Edelweiss und Spielhahnfeder und Gemsbart. Der alte Rastbauer lachte freundlich wie ein Kind, und des Matz-Anderls braungebrannte Wangen färbten sich dunkelrot vor Verlegenheit.
„Schneevogt?“ wiederholte Martin Siebenpfeiffer in andächtigem Ton. „Sie sind es ... Ich meine ... Sie sind unser Schneevogt – der berühmte Schneevogt ...“
„Lieber Gott ... berühmt?“ sagte der Bergsteiger gleichgültig.
„... der den neuen Aufstieg zum Aconcagua gefunden hat – an jener Stelle, wo selbst ein Güssfeldt, ein Fitz-Gerald und ein Sir Conway haltmachen mussten – und der den Eliasberg in Alaska bezwungen – von hier gar nicht zu reden ... Ihre Besteigung des Gross-Schreckhorns im Januar – Ihre Lösung der letzten Probleme am Winklerturm, Ihr Aufstieg auf dem Minnigerodeweg zur Königsspitze –“
„Um Gottes willen – hören Sie auf!“ unterbrach ihn Schneevogt. „Sie kennen ja meine Leistungen beinahe besser als ich selber.“
„Auswendig kenne ich sie!“ sagte der Martin Siebenpfeiffer. Es schimmerte feucht vor Bewunderung in seinen blauen Augen. „Sie ahnen ja nicht, mit welchem Interesse, mit welchem Stolz ich in der Abgeschiedenheit meines norddeutschen Städtchens Ihre Fahrten verfolge ...“ Er fingerte unruhig und unschlüssig mit der Rechten in der Luft herum, bis jener seine Absicht erriet und ihm die Hand reichte. „Sie sind ja einer der Ersten, der Grössten unter uns Alpinisten! Ich habe schon einmal einen Vortrag über Sie in meiner Sektion gehalten. – Ich bin nämlich Sektionsvorstand im Alpenverein“, setzte er mit einem bescheidenen Selbstbewusstsein hinzu, ohne freilich eine besondere Wirkung auf den Riesen vor ihm erkennen zu können. „Und ich muss es Ihnen sagen: Es war mir eine wahre Freude, Ihre Hand zu drücken, Herr Dr. Schneevogt!“
„Bitte ... meinerseits, ganz meinerseits!“ Schneevogt hatte in seiner Ungeduld die letzten Worte nur noch halb gehört. In seinem Kopf, der doch nach Dr. Siebenpfeiffers Meinung nur von unerhörten neuen Rätseln der Eis-, Schnee- und Steinwelt träumen konnte, schien ganz wie bei einem gewöhnlichen Sterblichen der Gedanke an irgendein weibliches Wesen alle Bergspitzen des Erdballs vom Aconcagua bis zu dem „Wilden Dirndl“ da drüben völlig in den Hintergrund zu drängen.
„Sie muss also auch das Tal hinunter sein!“ rief er seinem Kutscher zu. „Also los, Seppel, Loidl, Hansel oder wie Sie heissen. Wir fahren wieder bergab!“
Aber dagegen erhob der Alte auf dem Kutschbock Einspruch. Das könne sein Pferd nicht schaffen. Das habe angestrengte Arbeit mit dem Herrn und seinen zwei Zentnern Körpergewicht gehabt und müsse jetzt ruhen und futtern. Eine Stunde mindestens! Und zu was denn die Eile? Wenn „sölles Fräulein“ sich nicht kriegen lassen wolle, kriegte sie ja doch keiner!
„Da haben Sie recht!“ sagte Schneevogt und stiess mit einem energischen Ruck die Türe zum „Weisen Lamm“ auf. „Futtern wir also! Sie, Ihr Berberross und ich; und melden Sie es mir, wenn Ihr Pferd die Güte hat, sich weiter zu bemühen. Ich bin ein geduldiger Mensch und warte! ... Heda – Resi, Mirzl, Pepi oder wie Sie heissen, bringen Sie mir sofort was zu essen. Aber sofort!“
Die Kellnerin hörte ihn gar nicht. Ratlos, atemlos, mit hochroten Backen schoss sie, von allen Seiten umstürmt und bedrängt, in dem Gewühl der Hungernden und Dürstenden umher, die umsonst nach Labung schrien.
Der Besitzer des „Weisen Lamms“ war noch ein Wirt der alten Tiroler Schule. Nach seiner Meinung durfte man dem Schicksal nicht vorgreifen und nicht eher für Gäste sorgen, als bis sie auch wirklich da waren. Dass die Postkutsche jeden Mittag den Talboden heraufkeuchte, dass ihr jetzt zur Sommerszeit täglich ein Schwarm von Menschen entstieg, war zwar so sicher wie das Sonnenlicht. Aber wer konnte es wissen: vielleicht geschah gerade heute ein Unglück, und man hatte umsonst gesotten und gebraten.
Die Reisenden fügten sich denn auch mit dem geduldigen Sonntagnachmittaghumor von Menschen, die um keinen Preis sich ihre Ferienfreude verkümmern lassen wollen, in die etwas demütigende Lage, trotz alles Flehens und Rufens, trotz aller Vorstellungen beim Wirt und Bittgänge in die Küche kaum in kümmerlichen Happen ihr tägliches Brot zu ergattern. Nur Schneevogt verlor, seinem Temperament gemäss, sofort beim Betreten des niederen, von Menschen wimmelnden Raumes die Geduld.
„Das ist eine vorsündflutliche Schweinerei!“ sagte er stirnrunzelnd zu dem ihm folgenden Siebenpfeiffer. „Die reine Fütterung der Raubtiere oder, was noch schlimmer ist, die reine Nichtfütterung, in der der Mensch erst recht zur Bestie wird!“
„Ja – ein neues Hotel ist’s freilich nicht!“ meinte Siebenpfeiffer versöhnlich. „Vor einer Stunde ist hier keine Hoffnung, etwas zu bekommen, sogar für einen Mann wie Sie, Herr Schneevogt!“
Da schoss eben die Kellnerin wieder vorbei, einen dampfenden Teller mit einem knödelartigen Gebilde darauf in der Hand. „Wer hat das Beuschel bestellt?“ schrie sie mit durchdringender Stimme.
„Ich!“ sagte der Bezwinger des Aconcagua, nahm ihr den Teller ab, setzte sich damit an den Tisch und begann eifrig zuzulangen. – „Sehen Sie ... so macht man’s!“ sagte er, dabei mit beiden Backen kauend, zu seinem ganz verdutzten Gefährten. „Man muss in den trägen Lauf der Dinge eingreifen. Die gebratenen Tauben fliegen einem nicht von selber in den Mund.“
Martin Siebenpfeiffer antwortete nicht. Er sah mit Schrecken, wie aus der Ecke sich die düstere Gestalt seines Amtsbruders und Reisekameraden entwickelte, der dort die ganze Zeit voll bitteren Hungers in dem Gedanken an sein Beuschel geschwelgt hatte. „Verzeihen Sie ...“, sprach herantretend der Freund. „Aber Sie haben sich da ein Beuschel genommen ...“
Schneevogt nickte nur und ass eifrig weiter.
„Darf ich fragen“, fuhr jener fort, „woran Sie erkannt haben, dass das gerade Ihr Beuschel war?“
„An meinem Hunger!“ sagte Schneevogt einfach.
„Ja – glauben Sie denn nicht, dass andere auch Hunger haben?“
„Gewiss. Darum sättige ich mich ja zuerst – vor allen anderen! – Denn ich habe Eile und die anderen nicht!“
„Und wem dies Beuschel eigentlich gehört, das scheint Ihnen ...“
„Lieber Herr!“ Schneevogt schob den leeren Teller von sich und lehnte sich behaglich zurück. „Dies Beuschel gehört der Vergangenheit an. Es hat sein Erdenwallen beendet. Wozu über gewesene Dinge streiten? Auch Ihnen wird die Laune des Schicksals noch ein Beuschel bescheren, wenn ich schon längst wieder in der Sonnenglut auf meinem Wägelchen sitze ... Inzwischen bin ich gesättigt! Und das ist doch schliesslich die Hauptsache! Mir wenigstens!“
Der Amtsbruder sah sein mächtiges Gegenüber unschlüssig an. Dann zuckte er die Achseln, murmelte halblaut: „Der Mensch scheint verrückt zu sein!“ und wanderte auf seinen Lauerposten in der Ecke zurück. Sein Gegner liess diese Anspielung völlig unbeachtet. „Klein war das Beuschel!“ sagte er zu dem andächtig neben ihm sitzenden Siebenpfeiffer. „Viel zu klein. Wie alles in Tirol. Ich mit meinen sieben Fuss Länge lebe hier in einem fortwährenden Kampfe mit allen Objekten. Die Betten sind kurz und schmal, nach dem Mass von Kindersärgen, dass ich mich darin wie ein Taschenmesser zusammenklappen muss. Statt Waschgeschirr setzt man mir eine Art Spinatschüsseln vor. Mein Fuhrwerk draussen ist ein Puppenwägelchen mit einem gichtbrüchigen und lebensüberdrüssigen Pferdezwerg davor, den ein melancholischer kleiner Mann auf dem Bock zuweilen durch allerhand glucksende Töne in einen Zuckeltrab hineinlockt – kurzum – es ist traurig!“
„Warum reisen Sie denn eigentlich dann in Tirol?“
Schneevogt sah Martin Siebenpfeiffer forschend an. „Darf ich mir die Frage gestatten“, sagte er, „ob Sie verheiratet sind?“
„Nein!“
„Verlobt auch nicht?“
„Nein!“
„Dann haben Sie allerdings recht, wenn Sie in aller Unschuld noch fragen: ‚Warum tut ein Mann dies und warum jenes?‘ – Wären Sie verlobt – Sie fragten nicht mehr!“
Er blinzelte nachdenklich zu den in lachend-weissem Sonnenglanz von ferne durch die Fenster blinkenden Firnfeldern des „Wilden Dirndl“ empor. Das Problem der Lackstiefel im Schnee schien wieder in ihm übermächtig alle anderen Interessen zu erdrücken.
Martin Siebenpfeiffer schwieg diskret ein Weilchen. Dann brachte er das Gespräch auf ein anderes Gebiet.
„Ja – das ‚Wilde Dirndl‘“, sagte er und musterte ebenfalls zärtlich den kecken, nadelscharf zur Himmelswölbung aufschiessenden Eisgipfel. „Das ‚Wilde Dirndl‘ ist ein schönes Ding! Aber schwer zu bezwingen. Furchtbar schwer!“
Schneevogt nickte. „Ich könnte eigentlich dieser Tage mal hinaufgehen! Der Weg ist ja gar nicht zu verfehlen! Wieviel Stufen hab’ ich etwa zu schlagen? Sie müssen’s ja wissen, wie die Eisverhältnisse auf der Spitze sind?“
Siebenpfeiffer, der kleine, wohlbeleibte Alpenfreund, rückte unruhig auf seinem Stuhl. „Ehrlich gestanden – nein!“ sagte er dann gepresst und heftete das Auge schuldbewusst auf die Rotweinflecken der Tischplatte vor ihm. „Ich war noch nie auf der Spitze!“
„Wieso? – Ihre Sektion baut doch die neue Törlihütte am Törlisee, die den Aufgang zum ‚Wilden Dirndl‘ erleichtern soll?“
„Gewiss, Herr Schneevogt!“
„... und morgen wird, wie ich höre, diese Schutzhütte Ihrer Sektion feierlich eingeweiht?“
„Jawohl!“
„Und Sie sind der Vorstand dieser Sektion?“
„Ich habe sie sogar begründet!“
„Ja – und trotzdem ...“
„Ich kann nicht hinauf!“ Tiefe Bekümmernis malte sich in Dr. Siebenpfeiffers blauen Augen. „Ich leide zu sehr am Schwindel!“
Der Vorstand eines Alpenvereins, der am Schwindel leidet – das schien dem Bergsteiger nicht recht einzuleuchten. Er lächelte verstohlen und schnitt sich grosse Schnitte Schwarzbrot ab, die er in Rotwein tauchte, um seinen sich wieder regenden Hunger zu stillen.
Martin Siebenpfeiffer fühlte denn auch das Bedürfnis, sich zu verteidigen. „Es ist eben ein Verhängnis!“ murmelte er. „Es gibt keinen begeisterteren Alpinisten wie mich. In der Theorie habe ich längst Matterhorn und Montblanc und Monte Rosa erstiegen – nur, wenn es zur Ausführung kommt, da fehlen die Kräfte! Drum muss ich mich auf andere Weise nützlich machen! Die Törlihütte, wie sie hoch dort oben am ‚Wilden Dirndl‘ steht – die ist mein Werk!“
„Das heisst – Sie haben das Geld dafür gegeben?“ fragte Schneevogt ziemlich gleichgültig und kaute sein Brot.
„Das nicht. Leider. Meine Finanzen sind allzu beschränkt. Nur das Rauchen habe ich mir ein Jahr lang abgewöhnt, und was ich damit ersparte, das war mein Scherflein. Aber geworben hab’ ich, gesammelt, agitiert ... unermüdlich. Unsere Sektion ist ja noch ein Kind. Sie ist erst fünf Jahre alt und zählt nur dreizehn Mitglieder.“
„Na – wie haben Sie denn da schliesslich die Moneten bekommen?“ Ulrich Schneevogt suchte immer noch unruhig mit den Augen die weissen Wände des „Wilden Dirndls“ ab und hörte nur halb auf die Worte Siebenpfeiffers.
„Es ist eine Dame in unserem Verein!“ sagte der zögernd, als wolle er diese, den grossen Sektionen missliebige Tatsache entschuldigen. „Zufällig gerade das dreizehnte Mitglied. Ein Fräulein Lori Vogel. Sie ist Waise, unvermählt, mündig und im Besitze eines recht auskömmlichen Vermögens ...“
„Und dieses Fräulein Vogel hat aus reiner Begeisterung ...“
„Das wohl nicht! Sie liebt eigentlich die See mehr als die Alpen, und am liebsten geht sie in die Sächsische Schweiz. Aber ich bin befreundet mit ihr. Wir spielen vierhändig zusammen – ich lese ihr zuweilen aus einem Buch vor, das mir gut und schön erscheint – kurzum, sie teilt viele meiner Interessen und namentlich also auch den eigentlichen Inhalt meines Lebens, die reine, herzliche Freude an Gottes schöner Alpenwelt.“
„Und darum –“, setzte er nach einer Weile mit feuchten Augen hinzu, „hat sie sich entschlossen, unsere arme kleine Sektion mit der ‚Törlihütte‘ zu bedenken.“
„Ist die Dame denn hier?“
„Sie kommt heute abend, um an der Einweihung der Hütte morgen teilzunehmen. Ausser mir das einzige Mitglied unserer Sektion. Den elf anderen ist die Reise zu weit. Sie haben keine Zeit, kein Geld, keinen Urlaub, wie es so auf der Welt geht. Es ist wirklich schade! Denn die Törlihütte ist ein Prachtstück geworden! Ich darf das sagen, wenn ich auch gewissermassen ihr geistiger Vater bin. Klein, aber mit aller Bequemlichkeit, gut bewirtschaftet, vorzügliche Betten, eiserne Öfen, ein besonderes Zimmer für Damen – das hat sich Fräulein Vogel ausdrücklich ausbedungen – kurzum ...“
Schneevogt stand auf und reckte gähnend die Glieder. „Kurzum: eine Kleinkraxlerbewahranstalt!“ sprach er gefühllos. „Wir sollten die rauhe Gesundheit des Bergsports nicht durch solche Alpensanatorien entweihen, mit geheizten Damenzimmern, weichen Betten, womöglich elektrischer Beleuchtung, Zeitungen samt neuestem Kurszettel, Telephon und Quellwasserleitung, wie es im Zillertal schon Mode ist. Denn die nehmen uns das Beste, das Stählende, das Erziehende, den einfachen, naturgemässen, homerischen Zweikampf zwischen dem Menschen und dem Berg. Ich habe einmal einen verrückten Engländer gekannt, der wollte überhaupt alle Hütten verbrennen, alle Wege und Leitern und Stifte zerstören und wieder zu dem Urzustand der Dinge zurückkehren, wo man die Nacht in Felsspalten kauerte und sich an einem dürftigen Biwakfeuerchen wärmte! Durchgemacht hab’ ich das alles mehr wie einmal, drüben in den Anden, in Alaska und anderswo. Ich kann Ihnen sagen: das allein ist das Wahre! Solch eine Nacht unter freiem Himmel, unter Sternengeglitzer in tiefer Einsamkeit und Stille, wo man über so manches nachdenkt – und nicht in der Hitze, dem Tabakqualm, dem Biergeruch, den Berliner Kalauern und dem Massengeschnarche in einer mit Menschen vollgestopften Bretterbude. Ob die im Tal steht oder wie Ihre Törlihütte zweitausendfünfhundert Meter hoch – das bleibt sich gleich. Nun, nichts für ungut! Lassen Sie sich durch einen sonderbaren Menschen wie mich nicht die Freude an Ihrer Törlihütte verderben. Leben Sie wohl!“
Kaum war Ullrich Schneevogt verschwunden, da trat der unruhige Amtsbruder aus der Ecke auf seinen Freund Siebenpfeiffer zu.
„Reizend“, schnaubte er. „Wirklich ganz reizend! Mich lässt du ruhig da in einem Winkel sitzen und verbrüderst dich mit diesem Bergfexen da, diesem rüden Gewaltmenschen, der mir mein Beuschel gestohlen hat! Ich habe jetzt noch keines und werde keines kriegen, sondern mich langsam in den Abend hinüberhungern. Er aber fährt gesättigt davon und stochert sich die Zähne! Der Mensch ist verrückt!“
„Im Gegenteil!“ sagte Martin Siebenpfeiffer wehmütig. „Die satten Menschen haben auf der Welt recht, nicht die Hungrigen. Darum hat er recht. Ich bewundere ihn. Er ist ein Mensch – eine Kraftnatur –“
„– die anderen die Beuschel wegfrisst!“
„Ja. Das auch! Das ist ein kleiner Zug aus der Gesamtheit seines Wesens. Die eiserne Energie. Die rücksichtslose Tat. Dieser Mann wollte essen, und er ass! Andere nicht! Bei ihm ist das selbstverständlich. Bei gewöhnlichen Menschen gar nicht!“
„Ich zum Beispiel!“ fuhr er fort, ehe der reizbare Freund eine Erwiderung fand. „Siehst du: dieser Mensch, der da hinausging, dieser König der Berge – der ist das, was ich sein möchte und nicht bin. Ein Gefäss der Kraft, die von keines Gedankens Blässe angekränkelt ist. Naiv wie die Natur – du hast ja gesehen, mit welcher Unbefangenheit er über dein Beuschel herfiel – stark wie die Natur – ich sage dir, wenn der seinen Muskel spannt, da könnte einem Bären angst und bange werden – ohne Nerven, ohne Schwindelanfälle, ohne Vorgesetzte – kurzum, frei wie die Natur! Und was tut dieser naive, starke, freie Mann der Natur? Er läuft hinter einem Mädchen her, die ihrerseits wieder irgendwo im Schnee herumstrolcht. Das machen die Weiber aus einem! ... Oh Weiber! Weiber! Ihr verderbt die Besten!“
Martin Siebenpfeiffer wurde traurig. „So geht es nun schon solch einem Vollmenschen!“ hub er wieder an. „Was kann ich da vom Leben hoffen? Ich – der Halbe! Der Unbestimmte! Du weisst es ja, lieber Oskar – ich bin eine zerrissene Natur!“
„Ja“, bestätigte der finstere Freund. „Das bist du, Siebenpfeiffer!“
„Ein Mensch, durch den das wehmütige Missverhältnis zwischen Wollen und Können geht. In meinem Innern da gärt und glüht es. Ich möchte das Matterhorn besteigen. Ich bin in meinen Gedanken schon beinahe oben und jauchze aus breiter Brust! Da fällt mir ein, dass ich ja schon schwindlig werde, wenn ich nur von meinem Balkon im zweiten Stock auf die Strasse sehe. Ich möchte reisen! In tollen Abenteuern und Gefahren die Welt durchmessen. Aber bei meiner ersten Seefahrt nach Helgoland wurde ich so fürchterlich seekrank, dass ich mit dem gleichen Schiffe wieder zurückfuhr und mich seitdem nicht mehr aufs Wasser wage. Und als ich dann drei Jahre später nach Italien ging, stahl man mir mein Rundreiseheft und meinen Koffer, und ich musste traurig wie ein kahler Spatz zurück. Und als ich mich wieder nach drei Jahren so recht in den Strudel von Paris stürzen wollte – fiebernd, von dem besten Schneider unseres Städtchens neu angezogen und in Gedanken schon der hartgesottenste, wildeste Abenteurer! – da wurde meine Tante in Schrimm krank, und ich musste hin und sie pflegen. Sonst hätte sie mich enterbt!“
„Ja – ja!“ sagte der Freund finster. „Du bist eine zerrissene Natur!“
„Ich bin’s! Sieh – das ‚Wilde Dirndl‘ da drüben – das ist das Symbol meines Lebens. Theoretisch ist es mein! Denn es gehört unserer Sektion, und die Sektion bin ich! Praktisch aber kann ich es nicht bezwingen, sondern muss unten im Tal stehen und zuschauen, wie andere, die keinen Schwindel und keine Begeisterung kennen, fühllos das vollbringen, was ich mit all meinem heissen Herzen nicht vermag! Ist das nicht furchtbar? Und das ist mein Leben!“
„Ich weiss nur ein Mittel dagegen!“ murmelte der Freund und sah düster vor sich nieder.
„Und das wäre?“
„Heiraten!“
„Heiraten!“ wiederholte Martin Siebenpfeiffer melancholisch. „Du meinst: das zieht den Menschen aus den Wolken hernieder und stellt ihn auf seine zwei Beine, zwischen seine vier Wände, dass er weiss, wozu er da ist, und sich vom Leben keine Rätsel mehr aufgeben lässt? Oh ja – bester Freund – harmonisch im Sinn des Wortes würde meine Ehe mit Lori Vogel – ach, rede doch nicht! Natürlich denkst du an Lori Vogel! Ihr alle denkt ja nur an sie und mich! – Also harmonisch würde die Ehe schon sein. Ich würde noch dicker werden, als ich schon bin, ich würde keine Verse mehr machen, mich nicht mehr an Schneevogts furchtbaren Reiseberichten berauschen, den Vorsitz in meiner Sektion niederlegen und den eines Kegelklubs übernehmen, und nicht mehr an das ‚Wilde Dirndl‘ und seine Bezwingung denken – und, siehst du das – da – das ‚Wilde Dirndl‘ – das gerade ist’s! Das Weib! In mir brennt die Sehnsucht nach dem Weibe – der wilden nachtlockigen Göttin, wie sie die Dichter schildern, die nur dem auserwählten Helden sich ergibt. Solch ein Held nur einmal zu sein – nur vierundzwanzig Stunden lang in vollsten Zügen leben und geniessen – Sieger zu sein über das Weib ...!“
„Lori Vogel nimmt dich gleich!“
„Ach – Lori Vogel! Sie ist ein munteres, liebes Wesen für den Wochentag, für die gute Stube. Das Glück bei Milchkaffee und Semmeln und der langen Pfeife. Ich aber denke an das Weib – ich sehe so etwas Lächelndes, Geheimnisvolles vor mir, etwas Nixenhaftes, Dämonisches!“ – wieder starrte er traumverloren zu dem „Wilden Dirndl“ hinüber – „eine kalte Schlange mit Feueraugen, halb Engel, halb Teufel, ein wildes Rätsel mit schwarzflatterndem Haar ...“
„Das ist Unsinn!“ sagte der Amtsbruder.
Martin Siebenpfeiffer seufzte. „Gewiss ist’s Unsinn. Das weiss ich selbst. Wir sind ja so klug. Es gibt ja solche Fabelwesen nicht! Aber warum haben wir denn dann die Sehnsucht danach? Eine Art Erinnerung beinahe, als seien wir ihnen schon im Leben begegnet – Gott weiss wo – oder in einem andern Leben oder auf einem andern Planeten ...?“
„Das ist alles Unsinn!“ wiederholte der Freund.
„Doch! Ich hab’ schon mehrmals gelebt, in verschiedenen Gestalten – bis jetzt endlich diese zerrissene Natur aus mir geworden ist – anders wäre der Zwiespalt ja gar nicht zu erklären. Diese Feuerseele in der Hülle eines kurzatmigen, fetten, kleinen Oberlehrers, der keinen Berggipfel zu erklimmen, kein Weib zu berücken, nichts Grosses zu tun und zu leiden vermag. Und ich werde immer dicker bei allem Kummer und Zorn! Die innerliche Glut setzt bei mir aussen Speck an, statt ihn zu verzehren, und je korpulenter ich werde, desto mehr entferne ich mich von meinen Idealen, meinem Stanley, Cäsar Borgia oder Napoleon oder was gerade meine Brüder im Geiste sind. Denn grosse Männer sind zumeist klein und mager. Ihre unruhige Seele braucht kein so weich ausgepolstertes Nest. Aber ich ...? Dickbäuchige Menschen heiraten, kriegen Kinder und zum siebzigsten Geburtstag ein Ständchen vom Kegelklub und enden als Ehrenmitglied vieler Vereine. Und ich habe von Taifunen und Erdbeben, von rasenden Liebesstürmen und blutigen Duellen und von der tollen Jagd nach dem Glücke geträumt ...“
Der kleine Mann stand bekümmert auf und holte aus der Ecke den grünen Rucksack, das Lodenhütchen und den Bergstock hervor.
„Wo willst du denn um Gottes willen hin?“ fragte der Freund.
„Auf die Törlihütte!“ Siebenpfeiffer räusperte sich etwas befangen. „Sieh mal: dein Feind da mit dem Beuschel, der hatte vorhin ganz recht, als er sagte, dass aus solch einer überfüllten, mit Tabaksqualm und Bierdunst durchzogenen, lärmenden Schutzhütte alle Romantik flieht. Die Bergwelt ist wie ein schönes Weib. Man muss mit ihr allein sein, unter vier Augen. Dann hat man was davon. In Gesellschaft nicht. Drum will ich die Nacht heute allein in der ‚Törlihütte‘ zubringen!“
„Verrückt!“ sagte der Freund in schlichtem Ton.