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Dieser Band enthält folgende Romantic Thrillervon Carol East:Das verwunschene HausGeliebte HexeAnnikas SchattenDas Geheimnis der blinden SeherinDie Braut des GeisterpiratenRomane um Liebe, die dem Unheimlichen widersteht...Es herrschte Windstille auf dem offenen Meer, und dennoch fegten Nebelfetzen vorbei, wie von unsichtbaren Verfolgern gejagt.Sara Perres beobachtete sie verwirrt. Sie schüttelte ihr üppiges Blondhaar zurück, weil eine Strähne drohte, ihr ein wenig die Sicht zu nehmen, und blies die Wangen auf. Das sah ja gerade so aus, als würde es nicht mit rechten Dingen zugehen: Was trieb die Nebelfetzen eigentlich an? Und es wurden immer mehr. Dabei wuchsen sie heran, quirlten in sich, als hätten sie ein gespenstisches Eigenleben, veränderten ständig ihre Form.Sara schaute nach rechts, von wo sie kamen, diese Nebelfetzen, die beinahe zu so etwas wie Nebelkreaturen geworden waren. Aber sie konnte zunächst nichts Bedeutsames erkennen. Irgendwo in der Ferne schien ihr Ursprung zu sein. So jedenfalls ihr erster Eindruck. Aber als sie länger in diese Richtung schaute, erkannte sie einen regelrechten Nebelberg, der allmählich aus dem Meer heranwuchs.Auf einmal stockte ihr der Atem. Sie begann endlich zu begreifen: Nein, nicht die Nebelgebilde bewegten sich, sondern in Wahrheit... das Schiff, auf dem sie stand.
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Seitenzahl: 549
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5 Romantic Carol East Thriller November 2022
Copyright
Das verwunschene Haus
Geliebte Hexe
Annikas Schatten
Das Geheimnis der blinden Seherin
Die Braut des Geisterpiraten
Dieser Band enthält folgende Romantic Thriller
von Carol East:
Das verwunschene Haus
Geliebte Hexe
Annikas Schatten
Das Geheimnis der blinden Seherin
Die Braut des Geisterpiraten
Romane um Liebe, die dem Unheimlichen widersteht...
Es herrschte Windstille auf dem offenen Meer, und dennoch fegten Nebelfetzen vorbei, wie von unsichtbaren Verfolgern gejagt.
Sara Perres beobachtete sie verwirrt. Sie schüttelte ihr üppiges Blondhaar zurück, weil eine Strähne drohte, ihr ein wenig die Sicht zu nehmen, und blies die Wangen auf. Das sah ja gerade so aus, als würde es nicht mit rechten Dingen zugehen: Was trieb die Nebelfetzen eigentlich an? Und es wurden immer mehr. Dabei wuchsen sie heran, quirlten in sich, als hätten sie ein gespenstisches Eigenleben, veränderten ständig ihre Form.
Sara schaute nach rechts, von wo sie kamen, diese Nebelfetzen, die beinahe zu so etwas wie Nebelkreaturen geworden waren. Aber sie konnte zunächst nichts Bedeutsames erkennen. Irgendwo in der Ferne schien ihr Ursprung zu sein. So jedenfalls ihr erster Eindruck. Aber als sie länger in diese Richtung schaute, erkannte sie einen regelrechten Nebelberg, der allmählich aus dem Meer heranwuchs.
Auf einmal stockte ihr der Atem. Sie begann endlich zu begreifen: Nein, nicht die Nebelgebilde bewegten sich, sondern in Wahrheit... das Schiff, auf dem sie stand.
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
Alfred Bekker
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Originaltitel: Das verwunschene Haus
***
"Warum sind Sie hier - aus eigenem Willen oder weil es Ihr Mann so wollte?"
Lydia Silver blinzelte irritiert. Sie schaute den Psychiater fragend an. "Was soll das denn? Und spielt es überhaupt eine Rolle für Sie?"
"Nein, nicht für mich, sondern für Sie, Mrs. Silver. Sehen Sie, Ihr Mann hat Sie angemeldet, wie ich dem Formular entnehme."
"Noch einmal: Welche Rolle spielt das für Sie - und lenken Sie bitte nicht ab!" Es klang ärgerlich.
Der Psychiater blieb freundlich. Er zauberte sogar ein gewinnendes Lächeln auf seine Lippen.
"Ich bin Psychiater, kein Wunderheiler. Das heißt, wenn Sie es nicht selber wollen, kann ich Ihnen auch nicht helfen."
"Na, Dr. Hackensmith, dann hat sich die Sache ja schon erledigt: Wenn Sie mir nicht helfen können, kann ich ja gleich gehen. Damit sparen wir eine Menge Zeit. Oder wieso wollen Sie mich jetzt eine Stunde lang interviewen, wenn das Ergebnis sowieso schon feststeht?" Die große, schlanke Frau machte Anstalten, aufzustehen. Ihr junges, hübsches Gesicht zeigte einen deutlichen Zug von Bitterkeit um die Mundwinkel. Sie schüttelte mit einer energischen Bewegung ihr wallendes Blondhaar in den Nacken.
Sein Lächeln blieb. Auch seine nette Freundlichkeit.
"Sie haben recht, Mrs. Silver: Unter diesen Umständen hat es wirklich keinen Zweck. Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen. Selbstverständlich berechne ich Ihnen nichts. Ich war Ihnen ja auch in keiner Weise eine Hilfe. Wenn Sie mir dann bitte zum Ausgang folgen würden?"
Lydia Silver stutzte. Sie betrachtete den Psychiater, als würde sie ihn jetzt zum ersten Mal in ihrem Leben sehen. Er saß vor ihr und machte seinerseits keinerlei Anstalten, etwa aufzustehen, um seinen Worten Taten folgen zu lassen.
Sein Lächeln verstärkte sich.
"Irritiert, Mrs. Silver? Nun, das wundert mich in der Tat. Sie kamen hierher, ohne auch nur die geringste Absicht zu hegen, mir zu erzählen, was Sie bedrückt. Weil Sie sich sowohl von Ihrem Mann, als auch von der gesamten übrigen Menschheit unverstanden fühlen. Wieso also sollte ausgerechnet ich Verständnis für Sie haben oder Ihnen gar auch nur ein Fünkchen Glauben schenken?"
Sie sank in ihren Ledersessel zurück und wirkte dabei, als hätte sie auf einmal alle Kraft verlassen.
"Bravo, die erste Runde geht eindeutig an Sie!"
"Hören Sie, Mrs. Silver, bei allem Respekt, aber dies hier ist kein Ringkampf. Ich bin niedergelassener Arzt. An der Wand hängen Diplome. Die kriegt man nicht im Supermarkt zu kaufen. Und Sie sind hier, weil Sie meine Hilfe brauchen. Allerdings kann Sie niemand dazu zwingen, diese Hilfe in Anspruch zu nehmen. Auch Ihr Mann nicht. Die Entscheidung liegt einzig und allein bei Ihnen."
"Aha, daher die Frage eingangs!"
"Genau, Mrs. Silver. Sie unterstellen Ihrem Mann, daß er sie für verrückt hält und deshalb zu mir schickt. Und Sie haben seinem Wunsch nur deshalb entsprochen, um Ihre Ruhe vor seinen zwar gutgemeinten, aber doch auf die Dauer ziemlich nervenden Äußerungen zu haben."
"Sind Sie Hellseher oder Psychiater?"
"Nun, wenn ich ehrlich sein will: Als Psychiater muß man manchmal so etwas wie hellseherische Fähigkeiten haben, sonst kommt man nicht weiter. Vor allem, wenn man auf soviel Mißtrauen trifft."
Sie schaute auf ihre Armbanduhr.
"Ich bin jetzt keine fünf Minuten hier drinnen - und schon haben Sie mich für sich gewonnen. Dabei kam ich eigentlich nur, um gleich wieder zu gehen. Sind Sie immer so erfolgreich?"
"Erfolgreich kann man mich erst nennen, wenn es Ihnen wieder besser geht, Mrs. Silver. Ich fürchte, davon sind wir noch sehr weit entfernt."
"Na, mit Ihrer Hilfe..."
Er lachte leise, obwohl Lydia die Worte eher ironisch gemeint hatte. Sein Lachen klang ehrlich und herzlich - und auf einmal war der Psychiater Lydia Silver sympathisch. Nicht deshalb, weil sie ihm jetzt vorbehaltlos vertraute, sondern weil er so eine Art Strohhalm für sie war, nach dem bekanntlich Ertrinkende greifen, weil er ihnen Rettung verspricht, was er in der Regel gar nicht halten kann.
"Wäre es Ihnen möglich, Mrs. Silver, die Ironie einmal zu vergessen und mir zu sagen, worum es geht? Sie können völlig offen sein. Es gibt keine Geschichte, die so absurd klingen könnte, daß ich sie noch nie gehört habe."
"Glauben Sie denn... an Geister?"
"Das kommt auf die Umstände an."
"Welche Umstände?"
"Die Umstände, unter denen Ihnen Geister begegnen, Mrs. Silver. Kein verantwortungsbewußter Psychiater würde Ihnen auf diese Frage etwas anderes sagen. Ich will es deshalb für Sie noch präzisieren: Wenn Sie mir von einem Geist erzählen, um mich auf eine falsche Fährte zu locken, werde ich es herausbekommen. Nur wenn Sie die Wahrheit sagen, selbst wenn diese noch so subjektiv erscheinen mag, kann ich Ihnen glauben."
"Das soll heißen: Sie glauben nicht wirklich an Geister, aber sie bemühen sich, MIR zu glauben!" Ja, es war eher eine Feststellung als eine Frage.
Der Psychiater nickte nur, unentwegt lächelnd.
"Also gut", fuhr Lydia Silver fort: "Es gibt zumindest einen Geist. Etwas, woran ich bis vor relativ kurzer Zeit selber nicht hätte glauben können. Für mich gibt es ihn, seit ich... dort wohne."
"Mit Ihrem Mann zusammen? Was hat es mit der Wohnung auf sich?"
"Das Haus gehört dem Vater meines Mannes."
"Sie sagen das so seltsam. Warum benutzen sie nicht die Bezeichnung Schwiegervater?"
"Er ist ein Fremder für mich geblieben, weil ich ihn noch nie gesehen habe. Georgs Vater - Georg ist mein Mann! - lebt in einem Pflegeheim und empfängt grundsätzlich niemanden außer seinem Sohn. Das Haus, in dem er früher wohnte, stand viele Jahre leer. Eines Tages machte er meinem Mann den Vorschlag, er könnte das Haus beziehen. Aber er sollte vorher drei Tage und drei Nächte allein darin verbringen."
"Eine ungewöhnliche Auflage, finden Sie nicht auch?"
"In der Tat! Und mein Mann hielt sich nicht daran."
"Er nimmt seinen Vater nicht ernst?"
"Genauso wenig wie mich!" beklagte sich Lydia Silver. "Das heißt, er tut es ansonsten durchaus..."
"Nur wenn es um den Geist geht, von dem Sie mir erzählen werden, da kann er nicht Ihren Worten vertrauen. Hat er denn selber keinerlei Erlebnisse mit dem... nun, bleiben wir bei dem Ausdruck: Geist?"
"Nein, hat er nicht. Ich weiß nicht, wieso. Das heißt, einen Verdacht habe ich schon..."
"Einen Verdacht?"
"Ach was, lassen Sie mich von vorn erzählen, sonst wird es zu verworren, Herr Doktor."
"Einverstanden! Schießen Sie los!"
*
Mainheart Manners ist ein ungewöhnlicher Name, selbst für ein Haus - dachte ich, als ich ihn zum ersten Mal hörte. Das erste Mal, das war, als Georg heim kam vom Pflegeheim, wo er mal wieder seinen Vater besucht hatte. Er wirkte sonderbar verschlossen, also ganz anders als sonst. Ich hatte ihn noch nie so erlebt, in den zwei Jahren, in denen wir bereits verheiratet waren.
"Ist was mit deinem Vater?" fragte ich besorgt.
Er winkte müde ab. "Jetzt dreht er völlig durch."
"Was ist denn passiert?"
"Ach, passiert ist eigentlich gar nichts. Er ist verschlossen wie immer, redet mit keinem Menschen, außer mit mir... Und heute hat er mir einen ungewöhnlichen Vorschlag gemacht."
"Was für einen Vorschlag?" fragte ich alarmiert.
Er winkte abermals ab: "Er heißt Mainheart Manners, dieser Vorschlag."
"Was ist das? Noch nie gehört!"
"Es ist... mein Elternhaus."
"Wie bitte? Und wieso hast du es noch nie zuvor erwähnt?"
Georg winkte ein drittes Mal ab.
"Entschuldige, aber ich habe mich selber nicht mehr erinnert. Ich war noch ein Kind, als wir dort auszogen. Als ich älter geworden war, habe ich Vater mal danach gefragt. Er hat ziemlich barsch reagiert und mir gesagt, es würde mich nichts angehen. Also unterließ ich künftig Fragen danach. Innerlich hatte ich mit dem Haus sozusagen abgeschlossen. Vielleicht nahm ich auch an, meine Eltern hätten es verkauft? Ich weiß es heute nicht mehr so genau. Es ist einfach zu lange her. Und dann das heute..."
"Was ist mit dem Haus?"
"Er will, daß wir dort einziehen."
"Also hat er es nicht verkauft?"
"Nein, es steht seit damals leer. Niemand hat sich anscheinend jemals darum gekümmert, aber mein alter Herr meint, es sei wohl sofort bewohnbar. Als würde ein Haus nach so langer Zeit nicht verfallen. Ich nehme an, es ist nur noch eine Ruine."
"Was gedenkst du nun, zu tun?"
Er faßte mich an den Schultern und schaute mich ernst an.
"Einerseits ist mir mein Vater sehr wichtig, wie du weißt. Andererseits ist mir das Haus ziemlich egal. Aber er war so eindringlich bei seinem Wunsch. Er hat mir sogar eine Art Auflage gemacht."
"Was verlangt er denn von dir?"
"Ich soll erst mal sozusagen auf Probe in dem Haus wohnen, ganz allein. Für ganze drei Tage und drei Nächte."
"Aber wieso?"
"Ohne besonderen Grund - angeblich."
"Und wann ziehst du ein?"
Er mußte lachen.
"Schatz, ich schlage vor, wie schauen uns das Haus erst einmal an - gemeinsam. Und dann entscheiden wir, ob überhaupt jemand einziehen kann. Für drei Tage oder auch für länger."
Ich schürzte nachdenklich die Lippen. Bis jetzt konnten wir uns kein eigenes Haus leisten. Reizen würde es mich aber dennoch. Es kam nur darauf an, daß es auch wirklich bewohnbar war. Darin mußte ich Georg hundert Prozent rechtgeben.
Ein Bedenken hatte ich dennoch: "Was ist mit deinem Job? Wenn wir umziehen..."
"Na, darüber mache ich mir Gedanken, wenn wir uns dazu entschließen sollten."
"Wann schauen wir uns dein Elternhaus an?"
"Mainheart Manners hat so lange ausharren können, ohne uns, da kommt es auf ein paar Tage mehr oder weniger nicht an."
"Nächstes Wochenende?" drängte ich, denn ich war natürlich neugierig auf das Anwesen.
"In Ordnung, Schatz, wie du willst."
"Und falls wir uns dafür entscheiden sollten: Wie geht es dann weiter?"
"Nun, mein Vater wäre bereit, ausnahmsweise einen Notar zu empfangen. Er würde alles mit mir schriftlich machen, so daß Mainheart Manners noch zu seinen Lebzeiten mir gehören würde."
Ich konnte das nächste Wochenende kaum erwarten. Wenn ich allerdings damals schon gewußt hätte...
*
Der Psychiater Dr. Hackensmith sah auf, als Lydia Silver abbrach. Er betrachtete sie. Ihr Blick erschien seltsam entrückt. Sie war bleich, und es war, als würde sie Dinge sehen, die sie zutiefst erschreckten.
"Was ist mit diesem Haus?"
Ihr Blick kehrte in die Wirklichkeit zurück. Sie blinzelte irritiert.
"Ich denke, es war eine sehr schlechte Idee, mich Ihnen anzuvertrauen. Es ist grundsätzlich eine schlechte Idee, Beweise dafür zu liefern, daß man nicht richtig im Kopf ist, nicht wahr?"
Sie stand auf.
Auch der Psychiater erhob sich. Jetzt wirkte er zum ersten Mal unsicher, seit sie ihn kannte.
"Gehen Sie nicht!" sagte er leise.
"Wie bitte?"
"Gehen Sie nicht, sagte ich."
"Warum sollte ich Ihrem Wunsch folgen? Noch habe ich mich Ihnen nicht ans Messer geliefert. Wenn ich jetzt gehe, ist es noch nicht zu spät."
"Ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen."
"So? Gibt es denn nicht die Möglichkeit einer Zwangseinweisung?"
Er lachte bitter.
"Aha, ich begreife: Sie trauen mir nicht. Sie meinen, wenn ich alles aus Ihrem Munde erfahre, würde ich Sie für unzurechnungsfähig... ja, vielleicht sogar für gefährlich halten."
"Was denn sonst?"
"Aber das ist doch absurd, Mrs. Silver. Wir leben im dritten Jahrtausend unserer Zeitrechnung, nicht im Mittelalter zur Zeit der Inquisition. Was Sie mir zu schildern haben, sind subjektive Erlebnisse."
"Da haben wir es ja: Subjektive Erlebnisse! Ist das die Umschreibung von Bewußtseinsstörungen im fortgeschrittenen Stadium oder was? Sie müssen entschuldigen, aber ich hätte mich vor dieser Begegnung sachkundig machen müssen, was Geisteskrankheiten betrifft. Leider bin ich ein Laie darin. Allerdings könnte sich das ändern. Sagt man nicht 'leiden macht lernen'? Vielleicht bin ich am Ende sogar eine wahre Expertin in Sachen Zwangsvorstellungen, Verfolgungswahn, Halluzinationen und dergleichen?"
"Alle Erlebnisse, über die Menschen berichten, sind gewissermaßen subjektive Erlebnisse. Entschuldigen Sie, Mrs. Silver, aber das nennt man halt so. Kennen Sie denn nicht das Beispiel von den zehn Menschen, die ein und demselben Verkehrsunfall beiwohnen, aber danach zehn verschiedene Geschichten darüber erzählen? - Bitte, setzen Sie sich wieder - und hören Sie ausnahmsweise einmal mir zu."
"Ihnen zuhören?"
"Ja, normalerweise ist es bei Sitzungen eher umgekehrt, und das ist nicht nur ein Vorurteil. Aber ein verantwortungsbewußter Psychiater ist ein Arzt, und wenn eine Patientin kommt, ist jeder Arzt zur Hilfe verpflichtet."
"Nein, mein Lieber, so nicht: Ich habe Ihnen noch keine Beweise geliefert. Also können Sie mich nicht gegen meinen Willen festhalten."
"Das kann ich sowieso nicht. Weder in Ihrem Fall noch in einem beliebigen anderen. Ich bin weder Richter noch Polizist. Ich bin Arzt. Und genau das will ich Ihnen erklären. Ich habe nämlich den Eindruck, Sie haben da völlig falsche Vorstellungen, wieso auch immer."
"Sie irritieren mich, Dr. Hackensmith: Wieso können Sie es nicht akzeptieren, daß ich Sie ablehne als Arzt? Wir leben in einem freien Land. Falls ich der Hilfe bedarf, kann ich mir ja wohl selber aussuchen, an wen ich mich wende. Aber wenn nur Sie meinen, daß ich der Hilfe bedarf..."
"Sie brauchen Hilfe, Mrs. Silver, aber nicht, weil Sie krank sind. Jedenfalls sind Sie es NOCH nicht!"
"Was soll das denn nun heißen?"
"Falls Sie die Güte hätten, sich hinzusetzen, würde ich es Ihnen gern erklären."
Sie zögerte, aber dann setzte sie sich tatsächlich.
Dr. Hackensmith wirkte sichtlich erleichtert. Er setzte sich ebenfalls, aber so, als sei er auf dem Sprung.
"Es ist mir sehr wichtig, daß Sie bleiben und weitererzählen, Mrs. Silver. Nicht, um sie als krank abzustempeln, sondern ganz im Gegenteil: Sie sind gesund, kerngesund sogar. Sowohl geistig, als auch - wie ich annehme - körperlich. Aber es sind Dinge vorgefallen, die Sie nicht auf Dauer verarbeiten können. Eine ungeheure Belastung für Ihre Psyche. Glauben Sie mir eines: Jeder Gesunde kann auch zum Kranken werden."
Sie schüttelte den Kopf.
"So habe ich das noch gar nicht gesehen, Doktor. Sie meinem, ich sei gesund, aber glauben gleichzeitig, daß ich... krank werden könnte?"
"Exakt, Mrs. Silver. Darum meine Eindringlichkeit. Soll ich denn zusehen, wie ein gesunder Mensch zum Kranken wird? Glauben Sie denn, ein Arzt sei nur dazu da, Kranke zu kurieren - oder zumindest die Gesundung nach Kräften zu unterstützen? Nein, ich sehe das anders: Ich bin in der Pflicht. Ich muß gemeinsam mit Ihnen die Ursache Ihrer Not ergründen - und bekämpfen. Sehen Sie mich als eine Art Assistent bei dieser Bekämpfung an, denn psychische Probleme müssen anders gelöst werden als körperliche. Da kann ein Arzt eben nur assistieren. Die Gesundung muß von dem Betroffenen selbst betrieben werden - und auch die Verhinderung einer Krankheit."
"Das war ein langer Vortrag."
"In der Hoffnung, Sie überzeugen zu können, Mrs. Silver!"
Sie lehnte sich zurück und betrachtete ihn aufmerksam.
"Ich glaube Ihnen, Dr. Hackensmith. Wissen Sie eigentlich, daß sie ein besonders ungewöhnlicher Arzt sind? Ich meine, ein anderer Psychiater wäre weit weniger geduldig mit mir."
"Auch das ist sicher nur ein Vorurteil, Mrs. Silver."
"Das sagen Sie!"
"Nun, wie viele Psychiater kennen Sie denn bislang?"
Sie mußte lachen. "Da haben Sie recht: Ich kann Sie nicht mit anderen vergleichen, weil ich keine anderen kenne. Bislang war es auch nicht nötig, einen Psychiater persönlich... kennenzulernen."
Er entspannte sich jetzt und lehnte sich gleichermaßen zurück. Seine Hände falteten sich, als wollte er beten. Dann spreizte er sie ab, so daß sich nur noch die Finger berührten, zu einem spitzen Dach. Er schaute darüber hinweg, als wäre dies eine Art Zieleinheit.
Um mich zu treffen? durchfuhr es Lydia unwillkürlich.
Sie spürte eine Art Beklemmung in sich aufsteigen. Dieser Dr. Hackensmith erschien ihr in der einen Sekunde wie eine Art Rettungsanker, aber in der anderen Sekunde wiederum erschien er ihr irgendwie... dubios. Als würde er etwas im Schilde führen, von dem sie keine Ahnung hatte. War es denn wirklich wahr, daß ein Psychiater nicht einfach jemanden in eine Anstalt einliefern konnte? Aber hatte man das denn nicht schon in diversen Filmen anders gesehen oder in Romanen gelesen?
Es verwirrte sie zunehmend.
Andererseits: Ging sie wirklich ein Risiko ein, wenn sie sich dem Doktor anvertraute?
Sie hatte eine wahrlich verrückte Eingebung: Wenn der mich einliefern wollte, bräuchte er gar nicht zu warten, bis ich alles erzählt habe. Er braucht nur etwas zu erfinden. Also: Welches Risiko gehe ich überhaupt ein?
Dann dachte sie: Warum sollte er denn überhaupt so etwas Böses mir antun wollen? Er kennt mich doch überhaupt nicht. Ich bin eine Patientin unter vielen - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wenn er es darauf anlegen würde, Patienten in eine Anstalt zu bringen, wäre irgendwann seine Praxis leer, nicht wahr?
Letztlich war das ausschlaggebend dafür, daß sie sich wieder mehr öffnete.
"Also gut", versprach sie, "ich werde weiter erzählen..."
*
Mainheart Manners liegt weit außerhalb der Stadt. Unterwegs dachte ich: Ohne Auto ist man da draußen aufgeschmissen - im wahrsten Sinne des Wortes! Aber es ist nicht völlig einsam, denn es gibt ein paar Nachbarn. Doch die Grundstücke um jedes Gebäude sind so groß, daß man sich schwerlich ins Gehege kommt. Ein Glück, wenn man sich jemals begegnet - so mein zweiter Gedanke, als wir endlich anlangten.
Es war Sonntag. So lange hatte ich leider meine Neugierde zügeln müssen. Das hohe und großzügig breite Tor zur Einfahrt war reichlich angerostet, aber ansonsten scheinbar voll funktionsfähig. Georg stieg aus und spähte hindurch.
"Einmal abgesehen davon, daß alles vom Unkraut so sehr überwuchert wurde, um jeglichen Blick zum Hauptgebäude zu verhindern, scheint ja noch alles okay zu sein", sagte er, mehr zu sich selbst gewendet als an meine Adresse gerichtet.
Ich hatte die Scheibe auf der Beifahrerseite nach unten gehen lassen und streckte den Kopf hinaus.
"Kann man das Tor überhaupt noch öffnen?"
Georg antwortete nicht, sondern probierte an der Klinke.
"Nicht abgeschlossen!" murmelte er mürrisch und drückte die Pforte nach innen auf. Nur der eine Flügel gab nach. Den anderen mußte er separat öffnen. Zwar kreischte es unwillig in den Angeln, aber ansonsten gab es keine Probleme bei der Öffnung.
Ungewöhnlich!, schoß es mir durch den Kopf. So lange hat niemand diese Pforte geöffnet... Wie lange eigentlich?
Ich beobachtete, was weiter geschah. Georg schaute sich erst mal mißtrauisch um, ehe er zum Wagen zurück kam.
Er klemmte sich hinter das Steuer und murmelte: "Der Weg hat zwar ein paar Unkrautgewächse inzwischen, aber er ist anscheinend gefahrlos passierbar."
Nachdem er den Motor gestartet hatte, rollten wir langsam durch das Tor auf den Innenweg. Er hatte recht. Zwar hatte Unkraut versucht, den Weg für die Natur zurück zu gewinnen, aber mit wenig Erfolg. Der Weg wand sich zweimal und mündete schließlich in eine Art Vorhof.
Es knirschte unter den Rädern. Alles war mit Schlacke ausgelegt, aber diese war längst fast so dicht wie Beton geworden. Darum war auch der Vorhof nur spärlich bewachsen. Es würde eine Kleinigkeit sein, die wenigen Gewächse auszurupfen, um alles wieder sauber zu haben.
Doch das interessierte mich im Moment herzlich wenig, denn viel interessanter war das Haus selbst.
Überall waren die Blendläden geschlossen. Das Haus machte den Eindruck, als wäre ein neuer Anstrich überfällig, aber ansonsten... Das war die eigentliche Überraschung: Das Haus machte keineswegs einen verfallenen Eindruck. Es hatte die Jahre in tadellosem Zustand überstanden. Keine Kinder, die hier gespielt hatten, um das Anwesen allmählich in eine Ruine zu verwandeln. Kein Zahn der Zeit, der aus den Brettern und Balken morsches Werk produzierte. Nichts und niemand schien diesem trutzigen Bauwerk etwas anhaben zu können.
Auch Georg war mehr als erstaunt.
"Es ist alles so, wie wir es verlassen haben. Ich war damals noch ein kleines Kind. Es ist also gewissermaßen Jahrzehnte her, aber ich kann mich noch so genau erinnern, als sei es gestern gewesen. Vater machte die Blendläden zu. Wir standen neben dem Möbeltransporter und warfen gemeinsam einen letzten Blick zurück. Ja, das Haus ist älter geworden, aber weit weniger, als man es nach all den Jahren vermuten könnte. Es ist, als wären höchstens ein paar Wochen vergangen."
"Oder als hätte das Haus den neuen Anstrich nur nötig gemacht, um sich dafür zu rächen, weil man es so lange im Stich gelassen hat."
"Wie bitte?" fragte er mich.
"Ein Scherz!" antwortete ich und versuchte ein Lächeln. Es mißlang kläglich. Nicht wegen dem Haus, sondern wegen dem Gesichtsausdruck von Georg. Was war los mit ihm?
Georg ist ein liebenswerter Mensch - und nicht nur für mich etwas ganz Besonderes. Zwar ist er einige Jahre älter als ich, aber in seinem Herzen hat er sich eine Jugend bewahrt, die ewig währt. Ich habe keine einzige Sekunde mit ihm jemals bereut. Er ist und bleibt mein wahrer Traummann. Auch wenn Mainheart Manners... Aber ich will nicht vorgreifen:
Die hohe, durchtrainierte Gestalt von Georg erschien vor dem Hintergrund des Hauses beinahe wie ein Scherenschnitt. Nur weil sich unerwartet eine düstere Wolke vor die Sonne geschoben hatte? Irgendwie hatte das Bild etwas Bedrohliches. Dabei war ich sicher, daß diese Bedrohung keineswegs von meinem geliebten Mann ausging, sondern... von dem Haus.
Ja, es war mehr als eigenartig, daß dieses Haus nach all der langen Zeit in einem so tadellosen Zustand geblieben war. Dieser Eindruck verstärkte sich sogar noch, als wir zur Tür gingen und Georg die Schlüssel hervor kramte. Bevor er jedoch aufschloß, zögerte er und probierte an der Türklinke.
Es ließ sich problemlos öffnen!
"Verdammt, da hat überhaupt niemand abgeschlossen!"
Er runzelte die Stirn und grübelte nach.
"Dabei bin ich ziemlich sicher, daß Vater als Letzter das Haus verließ und den Schlüssel im Schloß drehte. Das weiß ich deshalb noch, weil diese Geste etwas Endgültiges hatte."
"Vielleicht war er doch noch einmal hier?"
"Unmöglich!" antwortete Georg - ungewohnt und auch eigentlich völlig unpassend barsch.
"Ich meine: Wer sonst hatte einen Schlüssel?"
"Niemand. Auch Mutter nicht. Nur er. Und er hat die Schüssel gehegt wie sein sprichwörtlicher Augapfel."
"Wer sonst hätte...?"
Ich brach unwillkürlich ab, denn seine Haltung versteifte sich.
"Niemand!" blaffte er, ohne mich dabei anzusehen.
Was war denn auf einmal mit ihm los?
Mit einer fast wütend anmutenden Gebärde stieß er die große Eingangstür ganz auf und trat ein.
Die Blendläden ließen nur wenig Licht zu, aber es reichte, um erkennen zu lassen, daß noch Möbel hier standen. Jemand hatte sie mit Tüchern abgedeckt. Die Möbel waren nicht vollständig.
"Wir haben damals nur einen Teil mitnehmen können. Alles andere blieb hier", erläuterte Georg, ehe ich ihn danach fragen konnte. Jetzt klang seine Stimme wieder so sanft wie sonst.
Ich dachte: Anscheinend sind die Erinnerungen so überwältigend für ihn, daß er sich vorhin zu einem solch barschen Tonfall hat hinreißen lassen.
Und schon hatte ich den Vorfall wieder vergessen. Ich war nicht nachtragend, weil ich Verständnis für ihn hatte.
Gemeinsam gingen wir zur Mitte der großzügigen Eingangshalle.
"Das ist kein Haus, sondern fast so etwas wie ein... Schloß!" Anders konnte ich es nicht beschreiben.
"Ja, gewiß", sagte Georg nachdenklich. "Mainheart Manners ist schon etwas Besonderes. Ich kann nur nicht begreifen, wieso Vater das Haus nie verkaufen wollte. Er berief sich immer darauf, daß es alter Familienbesitz sei."
"Und du? Hast du denn den Wunsch, dieses Haus zu veräußern"
Er schaute mich regelrecht erschrocken an. "Nie im Leben!" versicherte er viel zu heftig.
Ich fuhr unwillkürlich einen Schritt zurück.
"Was verbindet denn die Familie Silver so sehr mit Mainheart Manners?" fragte ich - und als ich diesen Worten nachlauschte, erschienen sie mir wie schiere Ketzerei in einer solchen Situation.
Aber Georg hatte sich offenbar wieder gefangen.
"Es ist die Erinnerung." Schon wieder klang seine Stimme völlig normal. "Das ist mehr als nur dumme Tradition. Unsere Vorfahren waren bettelarm und geächtet - dort, woher sie kamen. Hier, in Amerika, erging es ihnen nicht gerade besser. Es war eine schreckliche Zeit. Mord und Totschlag waren an der Tagesordnung, aber die Familie Silver überlebte nicht nur, sondern... siegte! Sie wurde eine sehr angesehene Familie. Dieses Haus hier war sozusagen die Manifestation ihres Ansehens. Sie zeigte aller Welt: Die Silver sind jetzt wer!"
Sein Tonfall wurde schwärmerisch. Ich hielt mich wohlweislich zurück mit irgendwelchen Kommentaren.
Georg breitete die Arme aus, als wollte er das ganze Gebäude umfassen.
"Es ist nicht einfach nur die Heimstätte der Familie Silver, sondern es ist selber die Familie!"
"Und wieso steht dann dieses Haus so lange schon... leer?"
Nein, das hatte ich mir nicht verkneifen können. Ganz und gar nicht. Georg war daran gewöhnt, daß ich nicht den Mund hielt, wenn ich es für mich angebracht erschien, meine Meinung zu sagen. In dieser Situation befürchtete ich allerdings eine ungewohnt heftige Reaktion.
Nichts dergleichen.
Sein Blick suchte den meinigen und klammerte sich regelrecht daran fest. Sein Stimme klang irgendwie... brüchig, als er sagte: "Wenn ich das wüßte, Liebes, wäre mir um vieles wohler!" Er riß sich sichtlich zusammen und klatschte in die Hände, wie von neuem Tatendrang erfüllt. "Egal wie, jetzt sind erst einmal wir am Zuge. Die Familie Silver ist eine starke Familie - und du bist meine Frau - eine sehr starke Frau. Keine andere Frau auf dieser Welt würde besser in diese Familie passen als du. Also liegt es an uns, Versöhnung zu feiern mit unserem traditionellen Familiensitz!"
Sehr theatralisch, wie ich fand. Und äußerst übertrieben sowieso, denn was meinte Georg mit der "Familie Silver"? Einen Vater, der nur noch mit seinem Sohn reden wollte und mit sonst niemandem auf der ganzen Welt? Einen Sohn, der zwar verheiratet war, aber bislang keine Kinder haben wollte - aus beruflichen Gründen, wie er immer behauptete? Was war DAS denn für eine... Familie?
Eigentlich gar keine!, entschied ich respektlos, wohlweislich aber nur in Gedanken. Es war kaum anzunehmen, daß Georg solch ketzerische Worte aus meinem Munde damals so einfach hingenommen hätte.
Aber eine einzige weitere Bemerkung wollte ich mir trotzdem nicht verkneifen: "War damals deine Mutter noch bei euch gewesen - ich meine, als ihr ausgezogen seid?"
Sein Kopf flog herum wie der eines Habichts, der ein Opfer erspähte. Aber seine Stimme blieb sanft wie immer - und auch sein Gesicht war das des liebenswerten Georg, wie ich ihn kennen und lieben gelernt hatte.
"Ja, Lydia, das war sie. Aber das habe ich dir doch schon erzählt."
"Nein, denn du hast ja auch nichts von diesem Haus hier erzählt, falls ich dich erinnern darf." Das wiederum war meines Erachtens eine ketzerische Bemerkung zuviel - jedenfalls weit mehr, als ich ursprünglich beschlossen hatte.
Er jedoch... mußte jetzt sogar lachen.
"Gut bemerkt, Liebes. In der Tat: Mutter war damals noch bei uns. Sie hat uns erst später verlassen, als wir längst in der Stadt wohnten."
Und jetzt kam es über meine Lippen, auch wenn ich mich noch so sehr dagegen sträubte, es zu sagen. Ich konnte einfach nicht anders: "Aber wenn das Haus für dich und deine Familie so immens wichtig ist: Wieso hast du es dann niemals erwähnt - und sogar... vergessen?"
Er stutzte jetzt und betrachtete mich forschend. Dann lachte er ein zweites Mal.
"Aber, Lydia, wie lange kennen wir uns denn jetzt schon? Das vorhin, das war doch bloß ein Spaß gewesen. Sieh dich um. Ein altes Haus, das zwar ungewöhnlich gut erhalten blieb über all die Jahre, aber dennoch ein altes Haus. Wir werden einiges investieren müssen, daß wir es zur Gänze bewohnen können. Dabei sollten wir es uns wirklich reiflich überlegen, ob wir uns das auch echt antun sollen. Ich meine, zwar leben wir derzeit noch in relativ bescheidenen Verhältnissen, gemessen an dem hier, aber dafür können wir es uns wenigstens leisten. Wer weiß, was mit dem Haus noch für Kosten auf uns zukommen?"
Nur ein Scherz? Ja, wenn das so war, konnte ich es endlich nachvollziehen. Und ich glaubte ihm sogar - zu diesem Zeitpunkt wenigstens! Ja, er hatte nur einen Scherz gemacht. Daran klammerte ich mich fest. Nur ich war plötzlich seltsam, nicht er.
Ich schaute mich um und lauschte dabei in mich hinein. Da war etwas, was ich mir nicht erklären konnte. Ein unbestimmtes Mißtrauen etwa? Oder so etwas wie Angst? Aber wovor? Nur weil das diffuse Licht feinen Staub aufwirbeln ließ, der seltsame Figuren in die Luft malte, als wollten sich dort eine Art... Geister manifestieren?
Ich ging zum nächsten Blendladen und riß ihn auf. Das bereitete keinerlei Mühe.
Mit dem Tageslicht, das nun herein flutete, verflog auch die seltsame Spannung, die sich in mir breit gemacht hatte. Zwar waren die Scheiben ziemlich verdreckt und dadurch halb blind, aber die Helligkeit ließ mich dennoch blinzeln.
Ich drehte dem Fenster den Rücken zu und schaute mich in der Halle um.
Überall lag fingerdick der Staub. Aber ich sah keine Beschädigung.
"Komm", rief Georg fröhlich, "schauen wir uns im ganzen Haus um."
Ich folgte ihm zögernd.
Bevor wir die Treppe betraten, die nach oben auf die Empore führte, prüfte sie Georg mit dem Fuß. Das tat er bei jeder weiteren Stufe, aber die Treppe war stabil wie eh und je.
"Trotzdem", sagte er unterwegs, "ich werde einen Gutachter bestellen, der sich alles mit fachmännischen Augen anschauen soll, ehe wir hier einziehen." Er wandte sich an mich. "Vorausgesetzt, das willst du überhaupt - hier einziehen..."
"Warum nicht?" wich ich der Frage aus.
Georg war damit zufrieden, und wir gingen weiter.
Oben besichtigten wir sämtliche Räume. Überall öffnete Georg die Blendläden, damit wir im Tageslicht alles besser sehen konnten.
Es gab so viele Möbel in dem Haus, daß wir eigentlich schon gleich hätten einziehen können. Es wäre noch nicht einmal ein Umzug nötig gewesen.
So kam es keineswegs überraschend für mich, als Georg sagte: "Weißt du was, Liebes: Wir können doch hier sozusagen zur Probe wohnen? Ich meine, das Haus ist sowieso viel zu groß für uns. Möbel gibt es genug. Wir machen erst mal klar Schiff in einem kleinen Teil, den wir dann nutzen können. Die Wohnung in der Stadt behalten wir vorerst."
"Aber die Kosten!" gab ich zu bedenken.
"Nun, es kommt ganz darauf an, was darüber der Gutachter sagt. Wenn es bei Kleinigkeiten bleibt, was wir reparieren oder restaurieren müssen, steht dem nichts mehr im Wege. Und wenn wir hier mal erst wohnen, können wir nach und nach den Rest besorgen. Bis das Haus im alten Glanz erstrahlt. Zeit genug lassen wir uns dabei. Selbst wenn darüber Jahre ins Land gehen sollten. Und erst wenn wir wirklich hundertprozentig sicher sind, ja, dann geben wir unsere bisherige Wohnung ganz auf."
Er nahm mich in seine starken und doch so zärtlichen Arme, drückte mich fest an sich. Oh, das tat unendlich gut, ihn so zu spüren.
"Du hast mich ein paarmal danach gefragt, wann wir ein Kind haben könnten", flüsterte er zärtlich in mein Ohr. "Unsere gegenwärtige Wohnung ist kaum dafür geeignet, aber ein solches Haus...?"
Ich stieß ihn auf halbe Armlänge von mir weg, um sein Gesicht studieren zu können.
Das Licht, das hell von draußen herein strahlte, untermalte sein schönstes Lächeln.
"Ist das dein Ernst?"
Er lachte. "Ja, natürlich ist es das, Liebes! Oder meinst du, damit würde ich Scherze machen?"
Er nahm mich erneut in die Arme - und ich war in diesem Moment die glücklichste Frau der ganzen Welt.
Auch wenn irgendwo ein Gefühl sich eingenistet hatte, das alles Glück zerstören wollte. Es tut mir leid, aber ich kann es nicht anders sagen: Es war, als hätte das Haus persönlich etwas dagegen. Schlimmer noch: Es war, als sei das Haus persönlich... gegen mich!
Georg spürte davon nichts. Bis heute nicht. Wie auch? ER ist schließlich ein echter Silver...
*
Der Psychiater schürzte nachdenklich die Lippen. "Aber auch Ihr Schwiegervater ist ein echter Silver, wie Sie es auszudrücken belieben."
Lydia schreckte wie aus einem Traum.
"Was sagen Sie da?"
Er schüttelte den Kopf.
"Nun, Sie haben mir erzählt, daß dieses Haus all die Jahre unbewohnt geblieben ist. Niemand wollte dort mehr seinen Fuß hinein setzen. Vor allem wohl Ihr Schwiegervater nicht. Er wolle es andererseits auch nicht verkaufen. Aus welchem Grund?"
Lydia wirkte reichlich verwirrt.
"Denken Sie denn, Georgs Vater hatte ein ähnlich negatives Gefühl in diesem Haus?"
"Warum hätte er sonst ausziehen sollen, um in wesentlich bescheideneren Umständen in der Stadt zu wohnen, wie ich mal vermuten will?"
"Ich weiß nicht, unter welchen Umständen er in der Stadt gewohnt hat - danach. Jedenfalls bescheidener als auf Mainheart Manners, wie Sie gewiß richtig vermuten."
"Wie Sie es wiedergeben, erfolgte der Auszug ja beinahe... fluchtähnlich. Ich meine, wer läßt schon den größten Teil seiner Möbel zurück, wenn er irgendwo auszieht? Zumal ich keinen Grund für einen Auszug sehe."
"Ich auch nicht", bekannte Lydia nachdenklich. "Auch Georg ist es nicht klar. Ich nehme an, er hat all die Jahre das Haus einfach aus seinem Gedächtnis verbannt, weil ihn der Auszug damals unendlich enttäuscht hat. Für ihn war das beinahe wie eine Vergewaltigung gewesen."
"Und seine Mutter?"
Lydia schaute den Arzt überrascht an.
"Sie haben recht: Georgs Mutter hat die Familie erst nach dem Auszug verlassen!"
"Vielleicht hing es damit zusammen, weil sein Vater so dringend auszog? Vielleicht hatte er damit seine Ehe retten wollen?"
"Aber dann hätte Georgs Vater doch anschließend wieder einziehen können!" gab Lydia zu bedenken.
"Nicht unbedingt, denn es mag sein, daß er an seiner Frau so sehr hing, daß er alles vermeiden wollte, was an sie erinnerte - einschließlich das Haus. Und jetzt hat er mit allem endlich abgeschlossen und findet, daß er das Haus seinem einzigen Sohn nicht länger vorenthalten darf."
"Das ist sehr einleuchtend. Beziehungsweise: Es WÄRE einleuchtend."
"Und wieso ist es das nicht?"
"Es wäre eine rationale Erklärung, sozusagen. Doch es erklärt in keiner Weise die Dinge, die ich in diesem Haus erleben mußte!"
"Welche Dinge, Mrs. Silver?"
Lydia wich seinem forschenden Blick aus. Ihr Gesicht wirkte auf einmal ungewöhnlich blaß.
"Es - es ist kein gewöhnliches Haus. Es überstand die Jahre, weil es..."
"Weil es... was?"
"Es - es lebt, Herr Doktor!"
"Ein Haus, das... lebt?"
Sie ballte die Hände zu zitternden Fäusten und schaute ihn an, als wollte sie am liebsten auf ihn einprügeln.
"Zumindest ein Teil von diesem Haus... lebt! Ich habe einfach keine andere Bezeichnung dafür. Sie mag falsch sein, aber vielleicht bin ich hier, damit Sie mir die richtige Bezeichnung beibringen? Vielleicht auch noch bevor Sie mich in irgendeine geschlossene Anstalt einliefern?"
"Bitte, Mrs. Silver, jetzt nicht melodramatisch werden! Das hatten wir doch schon zur Genüge, oder?"
Er hatte den richtigen Ton getroffen. Lydia entspannte sich sogleich wieder.
Ruhig fuhr der Psychiater fort: "Niemand würde jemals einen gesunden Menschen in eine Anstalt einweisen. Aber gestatten Sie mir eine Frage: Wenn das Haus Sie so sehr haßt, wieso ziehen sie nicht einfach wieder aus? Oder hat Ihr Mann die Stadtwohnung inzwischen doch aufgegeben?"
"Nein, die besteht nach wie vor - und meine meisten Sachen sind dort. Ich lebe auf Mainheart Manners ein wenig, als sei ich dort nur auf Urlaub. Obwohl es alles andere als ein... Urlaub ist!"
"Sie haben mir dies alles erzählt, ohne auf die eigentlichen Vorgänge einzugehen. Das ist mehr als nur eine notwendige Einleitung, Mrs. Silver. Sie haben auf diese Weise nur hinauszögern wollen, das auszusprechen, um was es eigentlich geht. Darum erneut meine Frage: Wieso kehren Sie dem Haus nicht einfach den Rücken, wenn es Ihnen so unerträglich ist, dort zu leben?"
"Ich - ich kann nicht!"
"Sie können nicht?"
"Das Haus... haßt mich. Es versetzt mich in Angst und Schrecken, und ich habe sogar den Eindruck, es will mich auf Dauer... umbringen. Aber ich kann es nicht noch einmal im Stich lassen. Es hat so sehr leiden müssen."
"Sie haben... Mitleid mit dem Haus? Bei allem, was es Ihnen anscheinend antut?" wunderte sich der Psychiater.
"Na, sehen Sie: Jetzt steht Ihre Diagnose doch endlich fest. Jetzt ist doch klar, daß ich nicht richtig im Kopf bin, nicht wahr? Nein, ich bin keineswegs gesund, sondern ich leide unter Zwangsvorstellungen, vor denen ich selber geschützt werden muß, indem man mich schleunigst irgendwo einsperrt. Ist es nicht so?"
Ein flüchtiges Lächeln umspielte seine Lippen, obwohl es kaum zur Situation paßte. Aber er begründete es sogleich: "Schon wieder diese Melodramatik. Ich sehe schon, Mrs. Silver, sobald wird es mir nicht gelingen, Ihr vollstes Vertrauen zu erlangen. Ich stelle eine einfache Frage - und Sie vermuten sogleich das Schlimmste, was überhaupt denkbar oder sogar undenkbar wäre. Dabei bräuchten Sie einfach nur zu antworten. Na, wie wärs jetzt damit? Wollen Sie auf meine Frage eingehen oder nicht? Oder soll ich sie erneut wiederholen?"
Sie winkte mit beiden Händen ab.
"Schon gut, Doktor, ich habe auch diese Lektion begriffen. Ich werde Ihnen also antworten: Dieses Haus braucht meine Hilfe - mehr als ich die Hilfe von irgendwem brauche. Nur ich kann ihm diese Hilfe gewähren. Das ist offensichtlich."
"Und wie soll eine solche Hilfe aussehen?"
"Ich weiß es nicht - noch nicht!"
"Warum sind Sie hier, bei mir?"
"Weil Georg es so wollte. Aus tiefster Sorge, wie ich vermute. Denn er empfindet das Haus völlig gegensätzlich. Als würde es ihn... lieben, während es mich abgrundtief haßt. Doch das kriegt er gar nicht mit."
"Kommen Sie denn nicht auf die Idee, daß Sie dem Haus helfen könnten, indem Sie einfach ausziehen? Ich meine, es scheint ja regelrecht unter Ihnen zu leiden. Zumindest verzehrt es sich in Haß."
"Ein seltsamer Vorschlag, Herr Doktor, ungewöhnlich aus dem Mund eines Fachmannes wie Sie: Wann jemals hat es etwas genutzt, vor einem Problem zu fliehen, anstatt sich ihm zu stellen?"
"Was wollen Sie mir denn mit diesen Worten beibringen, Mrs. Silver?"
"Das Haus haßt mich, weil es Georg liebt. Doch was ist der tiefe Grund für diesen Gefühlskonflikt? Was ist die eigentliche Ursache? Muß ich Ihnen als Psychiater erklären, daß man nicht Symptome behandeln, sondern Ursachen beseitigen sollte?"
"Sie opfern sich dafür, riskieren vielleicht sogar Ihr Leben, wie Sie es andeuteten. Das ist mehr, als ein Psychiater jemals für einen Patienten wagen würde. Wieso halten Sie dieses Opfer für angebracht?"
"Fragt man eine Mutter danach, wieso sie bereit wäre, für ihr Kind sogar ihr Leben zu opfern?"
"Sie sind keine Mutter, Mrs. Silver", erinnerte sie der Psychiater, "und das Haus ist ein Haus und kein Kind - schon gar nicht Ihr eigenes!"
Es waren harte Worte, die Lydia im tiefsten Innern trafen, aber nicht wirklich verletzten. Sie begriff, daß der Arzt das aus therapeutischen Gründen so gesagt hatte. Er wollte sie aus purer Fürsorglichkeit einfach vor einem Fehler bewahren, der sie am Ende sogar das Leben kosten konnte.
Wenn es nur das Leben wäre..., dachte sie resignierend. Denn es gibt Schlimmeres als der Tod, wahrlich.
Ja, das wußte sie inzwischen zur Genüge!
Sie stand auf.
"Ich fürchte, sie haben nicht das Geringste begriffen, Dr. Hackensmith!"
"Das fürchte ich allerdings auch, Mrs. Silver. Aber vielleicht liegt es nicht daran, daß ich nicht willens und in der Lage dazu bin, sondern weil mir zu viele Informationen noch fehlen?" Er stand ebenfalls auf. "Im übrigen fürchte ich, wir müssen die Fortsetzung vertagen, denn Ihre Stunde ist längst um."
"Und ich fürchte, daß es das erste und letzte Mal war, daß wir uns begegneten, Dr. Hackensmith!" Lydia reichte ihm die Hand, lächelte ein wenig verkrampft und machte dann brüsk kehrt. Ohne einen weiteren Gruß verließ sie das Sprechzimmer.
Dr. Hackensmith schaute ihr nach, lächelnd.
"Sie werden wiederkommen, Mrs. Silver", meinte er, obwohl sie es nicht mehr hören konnte. "Denn Sie werden über alles nachdenken und zu dem untrüglichen Schluß kommen, daß ich der einzige Mensch auf Erden bin, der Ihnen beistehen kann."
Er setzte sich hinter den Schreibtisch und wartete noch ein paar Sekunden. Dann drückte er die Sprechtaste der Gegensprechanlage.
"Miß Carmichael, ich möchte für die nächsten Minuten nicht gestört werden: Ein dringendes Telefonat. - Danke, bemühen Sie sich nicht, ich wähle die Nummer selbst!" fügte er rasch hinzu, ehe Miß Carmichael, seine Assistentin, einen entsprechenden Vorschlag machen konnte.
*
Lydia fühlte sich wie in Trance, während sie mit ihrem kleinen Flitzer aus der Stadt fuhr, in Richtung Mainheart Manners. Einerseits fühlte sie sich regelrecht erleichtert, aber andererseits hatte sie nach wie vor ihre Vorbehalte.
Dumme Vorbehalte, wie der Psychiater sie sicher nennen würde.
So erreichte sie ihr Ziel und wurde sich dessen erst bewußt, als sie vor der Pforte hielt.
Georg hatte einen elektrischen Mechanismus eingebaut. Sie brauchte nur den Fernauslöser zu betätigen und das Tor schwang wie von Geisterhand bewegt auf.
Ein Gefühl der Beklommenheit machte sich in ihr breit. Lieber hätte sie das Tor von Hand geöffnet. Dieses gespenstische Aufgleiten behagte ihr ganz und gar nicht. Hätte es sich um ein normales Haus gehandelt, wäre das was anderes gewesen. So jedoch...
Sie bog ein und fuhr den inzwischen vom Unkraut befreiten Weg entlang zum Hauptgebäude. Das Tor glitt hinter ihr lautlos zu. Als es dann ins Schloß schepperte, schreckte Lydia unwillkürlich zusammen, obwohl sie das Geräusch erwartet hatte.
Das Haus wirkte im Tageslicht freundlich. Zwar sehr altmodisch, aber genau das war ja der besondere Reiz an solchen Gemäuern. Normalerweise!, fügte Lydia in Gedanken hinzu.
Sie parkte den Wagen direkt vor dem Eingang, obwohl Georg das nicht gern sah, denn eines der Nebengebäude, das früher wohl die Stallungen beherbergt hatte, war bestens als Garage geeignet. Man hätte allerdings gut zwanzig solcher Autos dort unterbringen können. Soviel Platz gab es. Georg hatte nur einen Teil als Garage hergerichtet. Für sie reichte es allemal.
Auch das Gebäude selbst war erst teilweise wohnlich. Trotzdem hatten sie darin mehr Platz für sich als sie in der Stadt jemals hätten bezahlen können.
Ich müßte zufrieden sein!, sagte sich Lydia. Ja, ich wäre es auch, wären die Umstände andere...
Sie stieg aus und schaute an dem herrschaftlichen Gebäude empor. Dort, wo sie die Räume noch nicht hergerichtet hatten, waren die Blendläden nach wie vor geschlossen. Es war, als sei nach all den Jahren der Ruhe erst ein geringer Teil des Gesamtgebäudes aus dem Schlaf erwacht.
"Ich bin wieder da!" sagte Lydia wie zur Begrüßung und steuerte auf den Eingang zu. Dabei zückte sie die Schlüssel, denn beim Weggehen heute morgen hatte sie hinter sich abgeschlossen.
Fast hatte sie die Haustür erreicht, da schnappte es im Schloß, als würde jemand auf der anderen Seite die Klinke betätigen. Lautlos schwang die Tür auf. Genauso wie vordem die Pforte draußen. Aber hier gab es keinen elektrischen Mechanismus, der dies bewirkte. Da war Lydia völlig sicher.
Die Angst kroch in ihr empor, aber sie blieb tapfer, und als die Tür offen stand, trat sie ein.
Drinnen war es hell, aber nicht ganz so hell wie draußen. Sie war für einen Augenblick wie geblendet, und als sich ihre Augen an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten, schaute sie sich um.
"Ist da jemand?" Sie lauschte.
"Natürlich nicht!" fügte sie leise hinzu. "Zumindest niemand, der noch lebt."
Sie betrat die große Eingangshalle und blieb inmitten stehen. Auf den Hacken drehte sie sich halb um sich selbst.
"Ist hier jemand?" schrie sie.
Irgendwo gab es ein ganz schwaches Echo: "...jemand?"
Es klang in ihren Ohren wie eine Verhöhnung.
"Ich war bei einem Psychiater, hörst du?" sagte sie im normalen Plauderton. "Ich habe ihm ein wenig was erzählt. Allerdings bin ich nicht ganz bei der Wahrheit geblieben. Aber vielleicht hole ich das verstärkt nach? Obwohl ich sicher bin, daß ihn die Wahrheit so sehr erschreckt, daß er mich einsperren läßt. Jedenfalls: Ich an seiner Stelle würde genauso handeln. Ich könnte es ihm nicht verdenken."
Sie lachte leise. Es klang eine Spur zu hysterisch.
"Die Tür kannst du jetzt wieder schließen. Oder willst du mit der offenen Tür sagen, ich sollte lieber gleich wieder gehen? Aber dann hättest du sie auch zu lassen können."
Tatsächlich: Die Tür schwang zu und schlug krachend ins Schloß.
Das Geräusch reizte Lydia nur zu einem weiteren Lachen.
"Falls du mich in den Wahnsinn treiben willst: Aussichtslos! Echt! Denn ich bin entweder schon längst wahnsinnig und bilde mir alles sowieso nur ein - oder du hast keine Chance, es jemals zu schaffen. Bei dem, was ich schon hinter mir habe, kann es eigentlich gar nicht mehr schlimmer werden."
Noch während sie das sagte, keimte in ihr der Verdacht auf, daß sie sich genau darin gewaltig irrte.
Sie warf ihre Handtasche achtlos auf den Telefontisch neben das Telefonregister und murmelte vor sich hin: "Du bist jetzt schon aktiv, bei Tageslicht. In diesem Maße warst du das bisher noch nie. Jetzt die Steigerung?"
Lydia lenkte ihre Schritte aus der Halle, durch das großzügige Eßzimmer in die Küche, die fast wie die Großküche von einem Wohnheim anmutete, und von dort in das angrenzende Gewächshaus. Es hatte sie einige Arbeit gekostet, teilweise beschädigte Scheiben auszuwechseln und aus dem Gestrüpp etwas zu machen, was auch tatsächlich nach einem Gewächshaus aussah. Zwar wirkte es noch reichlich unvollständig, aber sie konnte mit dem bisherigen Ergebnis zufrieden sein.
Verbissen machte sie sich an die Arbeit, ohne sich vorher umzuziehen. Dabei würde sie ihr Kleid ruinieren, doch im Moment war ihr das egal. Erfahrungsgemäß hatte die Arbeit im Gewächshaus auf sie eine beruhigende Wirkung. Es war genau das, was sie zur Zeit bitter nötig hatte.
*
Die telefonische Verbindung kam rasch zustande. Der Psychiater sagte in den Hörer: "Sie war vorhin bei mir!"
Auf der anderen Seite der Verbindung wurde es für Sekunden still.
"Bist du noch dran?"
"Natürlich bin ich das. Wie lief es?"
"Sie hat Probleme, mir zu vertrauen - ungewöhnlich große Probleme sogar. Ich frage mich unwillkürlich, wieso sie trotzdem gekommen ist."
"Und was glaubst du? Was ist der Grund?"
"Ich denke mal, unterbewußt begreift sie, daß sie dringend Hilfe braucht. Aber sie wehrt sich vehement dagegen. Einerseits bin ich so etwas wie ein Rettungsanker für sie, aber andererseits..."
"Du hast ihr doch hoffentlich nichts gesagt?"
"Nur keine Panik, mein Lieber. Nein, sie ahnt noch nicht einmal was."
"Blieb sie denn bis zum Schluß der Sitzung? Ich meine: Ist sie nicht vor Ablauf der Zeit schon weggelaufen?"
"Das wäre sie, aber ich konnte sie überreden, zu bleiben. Trotzdem..."
"Was willst du mir damit sagen? Was bedeutet dieses... trotzdem?"
"Ich bin nicht sehr glücklich über die Umstände. Um es einmal so zu umschreiben. Ich bin ein seriöser Arzt, mein Lieber, und kein windiger Quacksalber, der miese Tricks nötig hat."
"Darum habe ich ja auch dafür gesorgt, daß sie zu dir kam und nicht zu irgendwem."
"Aha? Ich bezweifle inzwischen, daß dies dein wahres Motiv ist."
"Wieso? Hör mal, Peter, ich..."
"Bei aller Freundschaft, mein lieber Georg Silver: Was hast du wirklich mit deiner Frau angestellt? Und was erwartest du wirklich von mir?"
"Das weißt du doch, Peter. Wir sind die besten Freunde. Haben wir denn nicht alles vorher besprochen? Ich verlange nur von dir, daß du dich an unsere Abmachungen hältst."
"Warum sollte ich eigentlich? Nur weil du dich ein Freund schimpfst?"
"Das ist nicht der einzige Grund, wie dir bekannt sein dürfte. Also, mach einfach deine Arbeit als Psychiater. Mehr verlange ich nicht von dir."
"Und ich verlange von dir, daß du mir endlich die volle Wahrheit sagst. Wenn ich dir schon helfen soll, dann muß ich genau wissen, um was es geht."
Wieder wurde es still am anderen Ende der Verbindung. Dann: "Ich verstehe nicht, was du meinst. Ich habe alles gesagt, was ich weiß. Wie kommst du auf die Idee, ich könnte dich belügen? Was hat Lydia mit dir angestellt? Hat sie dich... gegen mich aufgehetzt oder was? Schöpft sie etwa... Verdacht?"
"Keines von beidem, Georg. Es ist nur so: Ich habe bei der Sache ein äußerst ungutes Gefühl. Und das ist nicht gut für einen Psychiater, glaube mir."
"Welches Gefühl denn?"
"Egal jetzt, wir sprechen uns noch."
"Du willst doch nicht etwa die Behandlung abbrechen, ehe sie so richtig begonnen hat?"
"Natürlich nicht. Aber eines kann ich dir versichern: Ich werde nichts decken, was meines Erachtens zu weit geht."
"Halte dich einfach an unsere Abmachung. Mehr verlange ich nicht von dir, Peter. Ich kann sowieso nicht begreifen, auf was du hinaus willst. Ist es nicht die Arbeit von einem Psychiater, sich um psychisch Kranke zu kümmern?"
"Nur, wenn diese wirklich psychisch krank sind! Und jetzt lege ich auf, Georg. Tut mir leid, aber ich habe das Wartezimmer voll. Wir hören voneinander."
Er wartete den Gruß seines Freundes erst gar nicht ab, sondern unterbrach die Verbindung.
Eine Weile schaute er nachdenklich vor sich auf den Schreibtisch. Dann machte er sich ein paar Notizen, aber diese tat er nicht zur Kartei von Lydia Silver, sondern ließ sie in einem abschließbaren Geheimfach seines Schreibtischs verschwinden.
"Ja, du hast mir deine Motive geschildert, Georg Silver, aber war das auch wirklich die Wahrheit?" murmelte er dabei. Er drückte die Sprechtaste der Gegensprechanlage und sagte ruhig: "Miß Camichael, Sie können mir jetzt den nächsten Patienten hereinführen.
Er lehnte sich zurück und wartete. Irgendwie fiel es ihm schwer, sich auf den nächsten Fall zu konzentrieren. Er dachte ununterbrochen an Lydia Silver - und an deren Mann Georg, sein alter Freund noch aus frühen Schultagen, mit dem er eine Vereinbarung hatte. Das gefiel ihm ganz und gar nicht mehr, aber er wußte gleichzeitig, daß er sich strikt daran halten würde - daran halten mußte.
*
Ein Donnergrollen ließ Lydia zusammenzucken. Ihr Kopf flog hoch. Erst jetzt bemerkte sie, daß es zusehends dunkler geworden war. Sie schaute auf die Uhr. Wo war nur die Zeit geblieben? Aber es war noch nicht ganz Abend. Es hätte noch wesentlich heller sein müssen.
Die drohenden Wolken, die sich aufgetürmt hatten, verhinderten es, daß die Sonne genügend Licht spendete.
Innerhalb von Augenblicken wurde es noch schlimmer. Und dann zuckte der erste Blitz über Mainheart Manners auf und schickte sich an, den Himmel zu zerreißen. Der Blitz war so grell, daß es in Lydias Augen schmerzte und sie blinzeln ließ.
Irgendwo in der Nähe des Hauses schlug der Blitz ein. Und dann prasselte der Regen nieder, mit einer solchen Wucht, als würde er sich bemühen, das Gewächshaus zum Einsturz zu bringen und Lydia unter den Scherben zu begraben.
Fluchtartig begab sich Lydia in das Innere des Gebäudes. Sie mußte in der Küche das Licht anmachen, sonst fand sie sich nicht mehr zurecht.
Sie durchquerte die Küche und auch das angrenzende, großzügig bemessene Eßzimmer und gelangte in die Halle.
Dort war es am schlimmsten. Das Donnergrollen schien hier seinen Ursprung zu haben. Das war zwar nur Einbildung, sicher, aber es hörte sich tatsächlich so an.
"Eigentlich dachte ich, du würdest mich bis zur Nacht in Ruhe lassen. Und ich dachte, dann wäre Georg sowieso schon bei mir, um das Schlimmste zu verhindern. Denn wenn er bei mir ist, unternimmst du nichts. Aber jetzt dieses Unwetter. Es kommt dir wie gerufen, nicht wahr?"
Wie zur Antwort hörte sie ein seltsam entrücktes Geräusch. Es klang wie ein klägliches Wimmern, nicht von dieser Welt stammend. Oder war es doch nur der Sturm, der um das Haus tobte, als wollte er es abreißen?
Lydia breitete beide Arme aus und drehte sich einmal um sich selbst.
"Sieh, ich bin hier! Ich habe nicht vor, zu fliehen. Du kannst mich weder wahnsinnig machen noch vertreiben. Wenn du mich umringen willst, ist jetzt die beste Gelegenheit dazu."
Das Haus schüttelte sich regelrecht. Oder war es ein Erdbeben? Es war auch möglich, daß in der Nähe ein mächtiger Blitz eingeschlagen war und diese Erschütterungen verursachte.
"Oder bist du das selber?" Lydia lachte verkrampft. "Nein, ich denke nicht, daß deine Macht dafür reicht."
Die Eingangstür sprang auf und schlug wie wütend gegen die Wand. Der Sturm fegte herein und brachte Regen mit. Fein zerstäubt zischte das Wasser Lydia mitten ins Gesicht.
Doch Lydia machte das nichts aus. Sie kämpfte sich gegen den hereinwehenden Sturm bis zur Tür durch und versuchte, sie wieder zu schließen. Das war gar nicht mal so leicht, aber irgendwie gelang es ihr bei aller Mühe. Sie nahm den Schlüssel und drehte ihn im Schloß. Aber sofort schnappte dieses, um die Tür wieder zu entriegeln.
"Also gut, wie du willst. Dann laß meinetwegen den Sturm herein, wenn es dir Spaß macht."
"Georg!" weinte es von irgendwoher wie zur Antwort - oder bildete Lydia sich das nur ein?
Sie wandte sich ab von der Tür, doch diese blieb jetzt geschlossen, auch wenn der Sturm noch so zornig daran rüttelte.
"Georg!" Es klang nach der Stimme einer jungen Frau, sehnend, weinerlich. Das war neu. So hatte sich das Haus noch nicht bemerkbar gemacht bisher.
"Dieses verdammte Haus!" Lydia knirschte mit den Zähnen, obwohl das ganz und gar nicht ihre Art war - normalerweise. "Bist du es wirklich?" erhob sie ihre Stimme. "Antworte mir!"
Ein fernes Schluchzen, das von überall und nirgendwo kam. Mehrmals drehte sich Lydia inmitten der Halle um sich selbst, um herauszufinden, woher dieses Schluchzen kam.
"Und wenn ich mir dies alles wirklich nur einbilde? Vielleicht ist nur das Türschloß kaputt, wie Georg schon angenommen hat? Er hat es überprüft, doch nichts gefunden. Und es ist ja auch wirklich möglich, daß eine Tür nicht richtig schließt und aufspringt, nicht wahr? Dazu bedarf es nicht der Einmischung einer unerklärlichen Macht. Vielleicht kann man alles dies, was hier geschieht, ganz rational erklären? Wenn man nur will!" So sprach sie, aber sie mochte ihren eigenen Worten nicht glauben. Es gab so viele Phänomene in diesem Haus, die sie mit ihrem Verstand keineswegs rational erklären konnte. Aber sie wußte, wenn sie davon erzählte, würde ihr niemand glauben können. Es gab ja auch nicht die geringsten Beweise. Zumindest keine schlüssigen.
"Falls du es wirklich darauf anlegst, mich umzubringen - sozusagen als Rivalin, Georg betreffend -, mußt du es schon so anstellen, daß es wie ein Unfall aussieht." Lydia gab sich Mühe, diese Worte gehässig klingen zu lassen, aber es gelang ihr nicht. Dafür erzeugte das gewaltige Gewitter draußen zuviel Angst in ihr.
Erneut ein Wimmern. Jetzt war sie sicher, daß es aus dem Keller gekommen war.
Rasch eilte sie hinüber zur Kellertür, um dort zu lauschen.
Das Wimmern blieb - und war für sie der endgültige Beweis.
Sie riß die Tür auf und starrte in die gähnende Finsternis. Unten gab es zwar schmale Kellerfenster, aber jetzt war es draußen so finster geworden, daß sie nicht mehr reichten, um genügend Licht in das unterirdische Kellergewölbe zu lassen.
Lydia ließ die Deckenbeleuchtung aufflammen. Vor ihr begann die steile Kellertreppe, jetzt deutlich sichtbar.
Ein Unfall? Ja, wenn sie jetzt auf dieser Treppe stolperte und abwärts sauste... Sie könnte sich dabei das Genick brechen. Niemand würde auf die Idee kommen, eine geheimnisvolle Macht habe nachgeholfen - oder sogar das Haus persönlich. Das paßte einfach nicht in das nüchterne Weltbild dieses Jahrhunderts der Modernen. Ein Unfall. Ja, so würde es heißen.
Sie griff nach dem Handlauf und rüttelte probehalber daran. Er schien sicher zu sein. Aber sie wagte es trotzdem nicht, auch nur einen Fuß auf die steile Steintreppe zu setzen.
Bis sie wieder das Wimmern hörte, von ganz unten.
Nein, das war unmöglich der Wind an einem der Fenster. Es gab dort unten auch keine Ratten, und die hätten ganz andere Geräusche verursacht, vielleicht vor Panik vor dem wütenden Unwetter draußen, das in einer Stärke über Mainheart Manners hereingebrochen war, als würde dem Gemäuer und auch seiner Insassin das letzte Stündlein schlagen.
Jetzt griff Lydia mit beiden Händen nach dem Handlauf, so fest, daß ihre Knöchel weiß hervortraten. Und sie wagte den ersten Schritt.
Als nichts geschah, außer daß dieses seltsame Wimmern sich verstärkte, wurde sie mutiger.
Der nächste Schritt, dem der dritte sogleich folgte.
Zwei Sekunden später war sie auf halber Treppe - und das Licht fiel aus.
Seltsam, aber Lydia wunderte sich überhaupt nicht darüber. Sie hatte im Gegenteil die ganze Zeit darauf gewartet, daß dies endlich eintrat. Es war schließlich nicht das erste Mal, daß die Elektrik des Hauses verrückt spielte, wie Georg es zu umschreiben beliebte. Denn er wollte natürlich nicht daran glauben, daß ein Haus in der Lage sein könnte, dies selber zu bewerkstelligen.
Lydia wußte es besser. Jedenfalls war sie überzeugt davon.
"Eine Falle!" schrie sie außer sich. "Du hast mir eine Falle gestellt mit diesem Wimmern. Du wolltest, daß ich hier mitten auf der Treppe stehe, wenn das Licht ausfällt."
Sie lauschte. Außer dem tosenden Sturm und den prasselnden Wassermassen war nichts mehr zu hören. Kein Donnern mehr. Auch das Wimmern war verstummt, was ihren Vorwurf zu unterstreichen schien.
In diesem Augenblick spürte Lydia die Berührung. Sie war zwar nur flüchtig, aber von einer solchen Kälte, daß sie vor Schreck beinahe den Handlauf los gelassen und doch noch abwärts gesaust wäre.
Ein Lufthauch, der unmöglich mit dem Sturm draußen zusammenhängen konnte, wehte an ihr vorüber in Richtung Erdgeschoß.
Lydia rüttelte mal wieder probehalber am Handlauf. Wenn dieser sich jetzt aus der Wand löste... Nicht auszudenken!
Aber er löste sich nicht, sondern schien im Gegenteil fest mit der Wand verbunden zu sein, als könnte keine Macht der Welt dies jemals ändern.
Zitternd schmiegte sich Lydia gegen die Wand, nur noch den Handlauf zwischen sich und dem kalt-feuchten Gestein.
Ich muß wieder hinauf!, hämmerten ihre Gedanken.
In der Dunkelheit arbeitete sie sich höher, Stufe für Stufe. Sie zitterte so sehr, daß es ihr unendlich schwerfiel. Aber sie wußte, daß sie keine Wahl hatte.
Eigentlich hätte sie längst oben sein müssen, aber die Treppe schien auf einmal endlos zu sein. Und auch oben war es stockfinster.
In diesem Moment schlug die Kellertür zu. Im Schloß schnappte es. Ein häßliches, irgendwie höhnisch klingendes Geräusch.
Eine Hand löste Lydia vom Handlauf. Sie ballte sie zur Faust und hämmerte gegen die Tür.
"Aufmachen!"
Wie zur Antwort heulte der Sturm um das Gemäuer.
Aber es entstand ein Geräusch, das stärker war als der Sturm und bis zu Lydia hin drang: Schluchzen! Eine verzweifelte Frau. Sie war jenseits der Tür. Lydia hörte sie ganz deutlich. Nein, sie irrte sich unmöglich. Das war nicht der Sturm, der sich nur so ähnlich anhörte. Das war eindeutig eine fremde Frau. Hatte sie denn die Tür geschlossen? Warum? Um Lydia noch mehr in Angst und Schrecken zu versetzen?
Kaum hatte Lydia es ausgedacht, als die Tür aufschwang, als sei sie gar nicht zugesperrt gewesen. Wenn Lydia mit der einen Hand nicht krampfhaft sich am Handlauf festgeklammert hätte, wäre sie von der unerwartet aufschwingenden Tür die Treppe hinuntergestoßen worden. Es hätte kein Halten mehr für sie gegeben.
Blitze zuckten irgendwo in der Ferne. Das Gewitter war weitergezogen. Nur der Sturm und der niederprasselnde Regen waren geblieben. Das ferne Irrlichtern erfolgte zunächst lautlos. Der Donner würde später erst kommen, und in diesem Irrlichtern sah Lydia, daß die Halle leer war. Niemand hatte die Tür geöffnet. Zumindest kein menschliches Wesen, denn so schnell hätte sich ein Mensch nicht zurückziehen können.
Lydia lauschte.
Das herzerweichende Schluchzen war wieder da. Es kam nicht aus der Halle, sondern eindeutig aus dem Arbeitszimmer von Georg. Er hatte es sich hier im Erdgeschoß eingerichtet. Die Tür führte direkt aus der Halle hinein. Sie war geschlossen, wie Lydia bei einem erneuten Irrlichtern sehen konnte.
Wie in Trance bewegte sie sich vom Keller weg und auf das Arbeitszimmer zu. Mit jedem Schritt wurde das Schluchzen deutlicher. Das konnte weder der Sturm noch das ferne Donnergrollen übertönen, das jetzt und reichlich verspätet dem Irrlichtern folgte.
Fast hatte Lydia die Tür erreicht, als plötzlich das Licht wieder aufflammte.
Nein, nicht das Haus hatte es diesmal bewirkt, sondern es war ein ganz normaler Stromausfall gewesen so weit hier draußen. Jemand hatte es geschafft, den Schaden zu beheben auf dem Weg, den der Strom von der Stadt bis zu diesem Anwesen nahm. Jetzt war alles wieder wie zuvor. Nur der Sturm und der Regen blieben.
Und das Schluchzen! Denn es setzte in der nächsten Sekunde wieder ein. Das Licht konnte es nicht vertreiben.
Kein Wunder, dachte Lydia unwillkürlich: Im Arbeitszimmer ist es nach wie vor dunkel.
Aber diese Annahme war falsch. Obwohl es in der Halle jetzt wieder hell war, konnte sie deutlich den Lichtschimmer unter der Tür zum Arbeitszimmer sehen. Was war das denn für ein Phänomen? Wieso konnte sie den Lichtschimmer sehen? Eigentlich war das unmöglich. Es sei denn, es war so extrem hell im Arbeitszimmer, daß dies dadurch sichtbar wurde.
Lydia erreichte die Tür und zögerte. Nur kurz. Dann drehte sie den Türknauf und stieß die Tür auf.
Sie bewegte sich lautlos in den Angeln. Strahlende Helligkeit flutete in die Halle hinaus. Lydia hatte sich nicht geirrt: Es war extrem hell hier. So hell, daß sie für Augenblicke geblendet war und erst einmal gar nichts sah. Als sie sich an die strahlende Helligkeit gewöhnt hatte, riß sie erschrocken die Augen auf. Die Helligkeit wurde unter anderem verursacht von ungezählten, flackernden Kerzen. Sie waren im ganzen Raum verteilt. Doch das war längst nicht alles: Der Schreibtisch war beiseite geschoben, damit inmitten des Arbeitszimmers ein freier Platz entstand. Darauf waren mehrere Scheinwerfer gerichtet, wie Spots, damit man alles ganz genau sehen konnte, was sich hier abspielte.
Gerade das war es dann, was dieses Grauen in Lydia erzeugte und sie laut losschreien ließ. Sie schrie sich schier die Seele aus dem Leib und wollte gar nicht mehr aufhören damit.
Kein Wunder, denn am Boden kauerte eine junge Frau, eher noch ein Mädchen, wie sie aussah. Sie war ziemlich altmodisch, um nicht zu sagen bieder gekleidet, hatte ihren linken Ärmel hochgekrempelt und starrte herzerweichend schluchzend auf das Blut, das aus ihrem mit einem Rasiermesser geöffneten Handgelenk pulsierte, unaufhaltsam.
Jetzt hob sie den Blick und schaute Lydia aus verweinten und schwarz umränderten Augen an.
"Georg ist mein Mörder! Er wird auch dich noch soweit kriegen. Glaube ja nicht, daß ich sein einziger Fehltritt war. Ein Fehltritt, ich? Das ist so unendlich traurig. Dabei habe ich so sehr geglaubt, er liebt mich. Aber er liebt nur sich selbst. Wenn er hier herein kommt und mich sieht, wie ich tot in seinem Arbeitszimmer liege... Das wird ihn leiden machen. Da bin ich ganz sicher. Er wird leiden, sein Leben lang."
Lydia hörte mehr unbewußt, daß in diesem Moment jemand weit hinter ihr die Eingangstür aufschloß, aber sie war unfähig, auch nur den Blick zu wenden, geschweige denn, sich von der Stelle zu rühren.
Die unbekannte junge Frau sank auf einmal kraftlos in sich zusammen und kippte um - in die riesige Blutlache, die sich unter ihr gebildet hatte.
Und Lydia war immer noch unfähig, sich auch nur zu rühren. Sie konnte nur wieder losschreien.
Bis jemand sie beinahe brutal von hinten an den Schultern packte und mit einem Ruck zu sich herumdrehte.
Vor ihr stand Georg. Irgendwie kamen ihr seine Gesichtszüge grausam verzerrt vor.
"Mörder!" schrie sie ihn an.
Er schüttelte sie heftig.
"Lydia!" schrie er jetzt seinerseits. "Was ist denn los mit dir?"
Schlagartig wurde Lydia ruhig.
"Wer ist diese junge Frau da drinnen, die du auf dem Gewissen hast?" fragte sie mit zittriger Stimme.
"Welche junge Frau denn?" Georg schaute an ihr vorbei.
"Na, die da, wie sie..." Während Lydia sprach, drehte sie den Kopf, um wieder hinein zu sehen.
Im Arbeitszimmer war es dunkel. Keine blendende Helligkeit mehr. Aber es fiel genügend Licht von der Halle hinein, damit sie sehen konnte, daß alles unverändert war. Das hieß: Der Schreibtisch stand an seinem Platz. Keine einzige Kerze, keine Scheinwerfer, kein blutendes Mädchen, nichts von alledem, was sie noch vor Sekunden hier drinnen gesehen hatte.
"Lydia!" Es klang sehr besorgt aus dem Mund von Georg.
Sie schaute jetzt ihn wieder an. Nein, seine Gesichtszüge waren nicht grausam verzerrt, wie sie zunächst angenommen hatte, sondern zeigten nur eines: Tiefe Sorge.
Nicht zu unrecht!, dachte sie zerknirscht.
*
Lydia klammerte sich plötzlich an ihrem geliebten Mann fest wie an einem Rettungsanker. Er zögerte kurz, aber dann schlosssen sich seine starken Arme um sie.
Lydia zitterte wie Espenlaub. Georg zischte beruhigend und streichelte ihr zärtlich über den Rücken.
Minutenlang wollte sich Lydia nicht beruhigen. Und dann hörte ihr Zittern schlagartig auf.
"Was war das für eine junge Frau?"
"Tut mir leid, Lydia, aber ich habe niemanden gesehen, ehrlich!" murmelte Georg brüchig.
Sie befreite sich aus seiner Umarmung, damit sie ihm ins Gesicht sehen konnte.
"Sie hat dort drinnen Selbstmord begangen. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Sie hat sich die Pulsader am Handgelenk geöffnet, und bevor sie starb, hat sie dich angeklagt."
"Mich?" wunderte er sich. Es wirkte ehrlich, aber Lydia ließ sich davon nicht beirren.