55 - Marcus Imbsweiler - E-Book

55 E-Book

Marcus Imbsweiler

3,6

  • Herausgeber: Conte Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

»Steine und Fäuste fliegen, Trillerpfeifen gellen, Schilder werden zu Waffen. Einige der Demonstranten haben Holzlatten in der Hand und schlagen auf die Türen ein. Die Parolen steigern sich zum Orkan: ›Verräter! Separatisten! Franzosenfreunde!‹« Kurt ist gestorben: das Herz. Und was macht Fred, sein ewiger Widersacher? Stöbert in Fotoalben aus den Fünfzigern. Was verband die beiden Alten? Freds Enkel Joris weiß nur von politischer Gegnerschaft. Aber Joris fremdelt mit seiner saarländischen Heimat, er war lange fort und hadert – doch er ist nicht der Einzige. Mitten im Dorf sollen Asylbewerber unterkommen. Widerstand formiert sich, zu den Initiatoren gehörte der verstorbene Kurt. Plötzlich werden Zweifel an seinem natürlichen Tod laut. Die Polizei ermittelt auch gegen Joris, weshalb der selbst mit Recherchen beginnt. Und die ziehen ihn unaufhaltsam in die Vergangenheit – sowohl des Saarlandes, als auch in die seiner eigenen Familie. Es gilt Licht ins Dunkel des Jahres 1955 zu bringen, als jugendliche Liebe und Eifersucht in einer Nacht enden, die alles verändert.

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Seitenzahl: 308

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Inhalt
Cover
Marcus Imbsweiler - 55
Als Erstickung …
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Impressum
Lesetipps

Als Erstickung bezeichnet man jede Unterbrechung des Gasaustausches zwischen Lunge und Blut, also jede Unterbrechung der normalen Atmung. Erstickung tritt demnach ein, wenn ein Zustand erreicht ist, der dem Blut nicht mehr erlaubt, die im Gewebe gebildete Kohlensäure in die Lungen abzugeben und dafür Sauerstoff aufzunehmen. Auch der Tod durch Erhängen und Ertrinken ist also Erstickung, ebenso der Zustand, in dem ein Mensch Atemluft, die zu wenig Sauerstoff und zu viel Kohlensäure enthält, einatmen muß.

Saarbrücker Zeitung vom 28. Juni 1955

Sonne und Mond standen gleichzeitig am Himmel, als über der Kuppe der Dorfstraße von Dürrweiler ein Augenpaar erschien. Das Geheul eines starken Motors durchschnitt die morgendliche Stille, die letzten Nebelschleier zerrissen. Etwas blitzte auf, ein Sonnenstrahl, umgelenkt ins Auge des Betrachters. Wie ein Raubvogel, ein wütendes, hungriges Stück Vieh, stürzte sich das Fahrzeug in die Tiefe. Doch es war kein Vogel. Bloß ein Traktor war es, ein alter, schwerer Traktor. Röhrend vor Anstrengung kämpfte er sich voran. Man spürte die Hitze, die in ihm loderte, als er die Mitte des Ortes ansteuerte und Schwung nahm für den Gegenhang.

Dort, am tiefsten Punkt der Dorfstraße, stand einer. Braune Schirmmütze auf dem Kopf, zuckende Bässe in den Ohren. Das Hemd, verwaschen, lappte über Bauch und Hose. Ein massiger Körper, überrollt von der Hitzewelle. Auf der Netzhaut des Jungen brannte noch das Negativ, das der Traktor bei seinem Eintritt in den Sonnenkreis hinterlassen hatte. Dazu der Lärm, das Kriegsgeschrei dieses einen, kraftstrotzenden Fahrzeugs. Die Hand des Betrachters ging zum Smartphone, der Daumen stoppte die Musik. Ohne Nebengeräusche entfaltete sich das Schauspiel.

Im Osten die Sonne, eher weiß als golden; ihr gegenüber eine schmale, blasse Mondsichel, im Verschwinden begriffen. Unten, auf dem Grund der Talsohle, erwartete Joris den Ansturm des Traktors. Die breiten Reifen der Landmaschine klatschten über den Asphalt. Hinter der sandschlierigen Frontscheibe war der Umriss eines Mannes zu erkennen. Grüne Jacke, dunkle Mütze. Der Traktor hielt genau auf Joris zu. Es war ein Massey Ferguson, ein kantiges Siebzigerjahremodell, die rote Außenhaut rostüberzogen. Dass das Gefährt so bedrohlich wirkte, lag weniger am Lärm, den es verbreitete, auch nicht an seiner Geschwindigkeit. Sondern an der Schaufel, die in halber Höhe vor dem Traktor hing. Sie war das aufgesperrte, zahnbewehrte Maul des Riesenviehs, bereit, jeden zu verschlingen, der ihm in den Weg trat. Joris stand auf dem Bürgersteig, machte zur Sicherheit aber noch einen Schritt nach hinten, fort von der Dorfstraße.

Röhrend und ruckelnd zog der Massey Ferguson vorbei. Und Joris erkannte, wer hinterm Steuer saß: David, ein Schulfreund von früher. David Schwitzgebel. Landwirt wie sein Vater, sein Großvater. Rötliche Haarspitzen, breite Nase, ein Kinn zum Fürchten. Und auch wenn sich die Blicke der beiden nur kurz trafen, würde Joris den des anderen nie vergessen.

Ein Blick wie ein Hilfeschrei.

Er konnte nicht sagen, was in ihm lag. Wut, Verzweiflung, Hass? Von allem wohl ein Teil und noch mehr. Noch etwas anderes. Vielleicht ließ es sich benennen, wenn das Grollen des Motors und die Lichtschneise des Fahrzeugs aus seinem Gedächtnis getilgt waren. Vielleicht.

Joris blickte dem Traktor hinterher. Die Kraft der Maschine war beängstigend; im Anstieg verlor sie kaum an Geschwindigkeit. Von oben näherte sich ein PKW, geradezu rührend in seinem bescheidenen Auftreten. Und dann, ohne zu blinken oder das Tempo zu drosseln, riss David das Steuerrad nach links und bog in die Friedhofsstraße ein. Der Fahrer des entgegenkommenden Wagens trat auf die Bremse. Schlingernd kam er zum Stehen. Erst nach einer Schrecksekunde besann er sich auf die Hupe. Da war der Traktor bereits in der Nebenstraße verschwunden, und gegen sein sattes Gebrüll kam das verärgerte Quieken ohnehin nicht an.

Der Lärm verebbte. Was wollte David am Friedhof? Reifenquietschend fuhr der PKW wieder an. Joris sah, wie der Mann hinterm Steuer die Hand vom Schaltknüppel nahm, um sich heftig gegen die Stirn zu tippen. Saarbrücker Kennzeichen. Keiner von hier.

›Keiner von uns‹, dachte Joris und spürte im selben Moment, wie fremd die Formulierung klang. ›Keiner von hier‹ – das klang vertrauter. Er stellte die Musik wieder an. Den Rhythmus seiner eigenen Welt. Ich da drinnen, ihr dort draußen. Fahrt ihr nur, jagt eure Trecker durchs Dorf, spielt mit dem Leben der anderen. Ohne die Reaktion des Saarbrückers wäre der Zusammenstoß unvermeidlich gewesen. Totalschaden, Verletzungen, Schuld bis ans Lebensende. David, du Idiot.

Erst als Joris seinen Weg durchs Dorf fortsetzte, sah er Sonne und Mond gleichzeitig über den Septemberhimmel ziehen.

60 Jahre vor diesem Ereignis wird ein junger Mann wegen überhöhter Geschwindigkeit von der Polizei angehalten. Er sitzt in einem brandneuen Wagen, einem Porsche Spyder 550, der erst ganz wenige Meilen auf dem Buckel hat. Der also ausgefahren werden muss. Zur Not auch schnell. In einem Werbespot zwei Wochen vorher hat der junge Mann andere junge Menschen davor gewarnt zu rasen, aber das war fürs Fernsehen. Außerdem lange her. Jetzt, zwei Wochen später, ist keine Kamera in der Nähe, kein Regisseur, der einem Worte in den Mund legt. Man befindet sich in der Realität, auf dem Freeway 99 südlich von Bakersfield. Und hier passiert es: Er ist zu schnell. Holt sich einen Strafzettel ab und fährt weiter.

Lachend.

Zum Abendessen ist er mit Freunden in Paso Robles verabredet. Dann geht es nach Salinas, wo am nächsten Tag ein Autorennen stattfinden soll. Dieses Rennen wird er mit seinem neuen Spyder bestreiten. Er hat die Startnummer 130. Neben ihm sitzt sein Mechaniker, ein Deutscher, der ihm die Feinheiten und Eigenheiten seines Wagens erklärt. Die Seele des Fahrzeugs, wenn man so will. Der Porsche Spyder ist leicht und flach, er hat nur zwei schmale Sitze, kein Verdeck und keinen Kofferraum. Vorne breitet sich der Tank aus, von hinten drückt der Motor. 110 PS, 550 Kilogramm Gewicht. Bis zu 220 km/h in der Spitze. Ein Rennwagen, der auch für die Straße zugelassen ist. Für die U.S. Route 466 zum Beispiel, die der junge Mann jetzt einschlägt. Eine kurze Rast bei Blackwells Corner, Bakersfield haben sie hinter sich gelassen. Es geht Richtung Westen, immer geradeaus. Eine Straße, wie mit dem Lineal gezogen. Bodenwellen, wechselnder Untergrund – egal. Das Lineal gibt die Richtung vor. Tief am Horizont steht die Septembersonne, sie blendet, sie lockt. Der Porsche ist unruhig, das Heck ständig in Bewegung. Zittert, zuckt, reagiert auf kleinste Manöver. Eine Diva, sagt der Mechaniker und lacht.

Der Blick schweift zur Seite. Links und rechts kahle Bergzüge, Gelb- und Violetttöne dominieren. Eine gewundene Reihe von Bäumen lässt einen Wasserlauf erahnen. Die Schatten werden länger. Mäßiger Verkehr. In einiger Entfernung ist bereits die California State Route 41 zu sehen, die aus Nordosten auf die 466 stößt. »Fahrt vorsichtig«, hat der junge Mann in dem Fernsehspot gesagt, »der nächste, dem ihr auf der Straße begegnet, könnte ich sein.« Für diesen Spot hat er die Dreharbeiten an seinem neuen Film unterbrochen, Giganten, der ihn in die erste Reihe der Hollywood-Schauspieler befördern soll. Der aus ihm einen Star machen soll, ein Idol.

Das wird dem Film auch gelingen. Noch mehr aber wird es der 466 gelingen und der 41. Und dem, was sich auf ihnen zuträgt am 30. September des Jahres 1955.

Wie schnell ist der junge Mann, als er sich der Einmündung der 41 nähert? Seinen Beifahrer wird man vergebens befragen, der hat keine Erinnerung mehr an den Unfall. Er kann froh sein, dass er überlebt. Der andere, der Unfallverursacher, weiß es auch nicht. Er wird angeben, er habe den schmalen, flachen Porsche Spyder nicht kommen sehen. Nicht einmal einen Meter ist das Auto hoch, es verwächst geradezu mit dem Asphalt, in dieser weiten, leeren Landschaft. Der Unfallverursacher denkt also, die Straße sei frei, vielleicht ist er abgelenkt, vielleicht noch ein Anfänger am Steuer; den Fernsehspot mit dem jungen Mann hat er nicht gesehen. Er biegt links ab, auf die Vorfahrtsstraße.

»Der nächste könnte ich sein.« Er ist es. Ich.

In seinem nagelneuen Porsche Spyder, einem von nur 115 produzierten Exemplaren, der frontal in den schweren Ford des Unfallverursachers hineinkracht, sitzt der 24-jährige James Dean. Er stirbt auf dem Weg zum Krankenhaus.

Der Unfallverursacher ist erst 22.

Das Rennen in Salinas findet trotzdem statt.

Für die Bewohner von Dürrweiler war der Friedhof nicht nur im übertragenen Sinn das Ende. Hinter ihm kam auch sonst nicht mehr viel. Es gab noch eine Bank, die keinen zum Verweilen einlud, das Ortsausgangsschild, eine verschlossene Kiste mit Streugut für den Winter und dahinter einen verrottenden Holzhaufen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite warb ein Plakat für ein Oldtimerrennen, das unlängst stattgefunden hatte. Und es gab einen Feldweg, der in den Wald führte.

Mit derselben ruckartigen Bewegung, die unten im Dorf beinahe zum Zusammenstoß geführt hatte, lenkte David den Traktor nach rechts in den Feldweg hinein. Die Erde stäubte, als er Kurs auf den Wald nahm. Rumpelnd verschwand der Massey Ferguson im Grün. Schon nach wenigen Metern öffnete sich eine Lichtung, auf der ein Holzhäuschen stand. Eine kleine, dunkelbraun gestrichene Hütte, zwei Räume höchstens, putzige Vorhänge, Hirschgeweih über der Tür, an der Wand eine Dartscheibe, Deutschlandfahne über dem First. Vor der Hütte ein Schwenkgrill, alte Gartenstühle, eine leere Bierkiste, ein Fußball, der gescheiterte Versuch eines Beets. Um das Gelände lief ein grüner Drahtzaun. In den Grashalmen glitzerte Tau.

Der Traktor kam näher. Mit ihm die Hitze, das Dröhnen des Motors, das gierige Schaufelmaul. So schaukelte das Gefährt über die Lichtung, David schaukelte mit. Unter der Mütze hing noch immer dieser Blick des Jungen, der nichts Gutes verhieß. Einen Moment lang schien es, als zögere er, die Fahrt fortzusetzen. Aber es schien nur so. Die Räder des Traktors fraßen sich in den Zaun, warfen ihn zu Boden, rollten über ihn hinweg. Gleich darauf platzte der Fußball unter dem Gewicht der Maschine.

Und dann?

Dann krachte die erhobene Traktorschaufel gegen die Holzhütte. Ihre Zähne bohrten sich in die Tür, das Hirschgeweih splitterte. Ganz oben wankte die Fahne. Mehr passierte nicht. So zerbrechlich das Häuschen wirkte, es hielt dem Angriff des Massey Ferguson stand.

David legte den Rückwärtsgang ein. Ruckelte einige Meter nach hinten und nahm neuen Anlauf. Jetzt knickte die obere Hälfte der Tür weg, Holz ächzte, die Fahne kippte zur Seite und rutschte in die Regenrinne. Rückwärtsgang. Der nächste Stoß mit erhobener Schaufel galt dem Dachfirst. Das ganze Gebäude zitterte. Anschließend setzte David auf den Seiten an, jagte die Schaufel in die beiden Fenster, gegen die Eckpfosten, die Dachziegel. Mit einem hässlichen Geräusch brach der Schwenker auseinander. Knirschend bahnte sich der Traktor seinen Weg durch Scherben von Glas und Ton. Die Fassade bekam Risse und Löcher, bis irgendwann ein Teil des Dachs einstürzte und den Blick auf das Innere der Hütte freigab.

Ein Bett kam zum Vorschein. Gewürfelter Überzug, nachlässig glattgestrichen. Ein Tisch, Stühle. Blumen, die wohl in einer Vase gesteckt hatten. An der Wand ein weiteres Hirschgeweih, noch ohne Blessuren.

David hielt nur kurz inne, um zu verschnaufen und sein Werk zu begutachten. Seine Hand lag am Schalthebel, zitterte mit ihm. Dann machte er weiter. Solange die Hütte noch als Hütte erkennbar war, das Bett einladend dastand und der Tisch auf Gäste zu warten schien, war seine Arbeit nicht zu Ende. Das Gebrüll des roten Massey Ferguson drang weit über die Hügel. Das große Maul mit den Metallzähnen klaffte, die Schweinwerferaugen glühten.

Sehr viel später erst, als von der Hütte nur noch Stümpfe und Splitter standen, lugte ein Streifenwagen um die Waldecke, kam mit federndem Chassis über den Feldweg geschlichen.

»Komm mal her, Helga«, sagte der Polizist und breitete seine Arme aus.

Um die Mundwinkel der Frau zuckte es. Sie war im Bademantel, ihre nackten Füße steckten in Pantoffeln. Über die Schultern hatte sie einen breiten Wollschal gelegt, fast eine Decke, den sie nun fester um den Hals zog, was ihrer geschienten rechten Hand sichtlich Schwierigkeiten bereitete. Erst danach leistete sie der Aufforderung Folge. Mit hängendem Kopf ließ sie sich von dem deutlich jüngeren Polizisten in den Arm nehmen. Beide vermieden allzu direkte Berührungen. Es war eine Geste von solcher Unbeholfenheit, dass sie weniger peinlich als rührend wirkte. Kratzend lag der Wollschal zwischen den beiden Körpern.

»Das wird schon«, sagte der Polizist, während er ihr die Schulter tätschelte. »Du schaffst das, Helga. Eine wie du schafft das.«

Helga schwieg. Ihr Blick fiel über die Treppe ins Untergeschoss, den ausgebauten Wohnkeller. Am Fuß der Treppe standen eine Frau und ein junger Kerl um einen bewegungslos daliegenden Körper. Kopf, rechter Arm und Schulterpartie des Mannes berührten den Boden, der gekrümmte Leib erstreckte sich über die untersten Stufen. Ganz oben steckten die Füße noch in Straßenschuhen. Zum weißen Hemd trug der Mann einen dünnen Anorak.

»Nimm den Anorak, Kurt«, hatte sie beim Abschied gesagt. »Es könnte regnen.«

Es hatte nicht geregnet. Nicht am Abend und auch nicht in der Nacht. Das war ihre erste Erkenntnis gewesen, als sie am Morgen ans Schlafzimmerfenster trat und hinaussah. Nein: ihre zweite. Als erstes hatte sie festgestellt, dass Kurt nicht neben ihr lag. Sein Bett war unbenutzt.

Stattdessen lag er am Fuß der Kellertreppe. Die ganze Nacht.

»Das wird schon«, sagte der Polizist und ließ Helga los. »Eine starke Frau wie du, gell?«

Die ganze Nacht.

Sie wischte sich eine nicht vorhandene Träne aus den Augen. Wie lange waren sie nun verheiratet? Mehr als 55 Jahre, Kurt und sie. Bald nach der Hochzeit der Bau des Hauses. Keine Kinder. Immer die Hoffnung, doch es kamen keine. Fahrten nach Italien, Spanien. Kurt in der Kommunalpolitik. Seine Hemden. Wie viele Stunden sie mit Bügeln zugebracht hatte in ihrem Leben! Später der Kellerausbau. Rotbraune Fliesen auf den Stufen, Kurts lebloser Körper auf den Fliesen, die Stille auf seinem alten Gesicht. Beide Augen geschlossen.

»Du schaffst das, Helga, oder?« Bungert, der Polizist, sah sie prüfend an.

›Man kommt auf seltsame Gedanken, wenn der Tod im Haus ist‹, schoss es ihr durch den Kopf. Kurt war tot, und sie dachte ans Bügeln.

»Ja«, sagte sie und nickte. »Ja.«

Bungert nickte ebenfalls. Er schob sich die Mütze aus der Stirn, warf den beiden im Keller Tätigen einen Blick zu, seufzte unentschlossen. Dann schlug er vor, in die Küche zu gehen.

»Im Sitzen redet es sich besser.«

Helga nickte mechanisch.

»Vielleicht kochst du dir einen Kaffee. Du hast sicher noch keinen getrunken.«

»Nein«, sagte sie und ging voraus. Die Küche war groß, viel zu groß für zwei Personen, penibel aufgeräumt und blitzblank. Mit der Linken rückte Helga einen Stuhl zurecht. Bungert setzte sich. Er legte die Mütze auf den Tisch, strich das dünne Haar nach hinten und schaute sich um. Helga stand mit dem Rücken zum Fenster.

»Willst du dir keinen Kaffee machen? Meinst du nicht, dass …«

Sie schüttelte den Kopf.

»Soll ich jemanden kommen lassen? Vom psychologischen Dienst?«

Sie winkte ab. Stirnrunzelnd, fast energisch. Blickte ihn an. »Magst du einen?«

Er nickte.

Während sie die Maschine mit Wasser befüllte und den Filter mit Kaffeepulver, sah Bungert sich um. An der Wand hingen gerahmte Fotos von früher. Dokumente des Dorflebens: ein Umzug, die Kirmes, ein Sportfest. Kurt als Fußballer, athletischer Körper. Helga und Kurt vor der Porta Nigra. Schwarz-Weiß-Bilder allesamt. Der einzige Farbtupfer: ein Teller mit dem Gemeindewappen.

»Die guten, alten Zeiten«, lächelte er behaglich. Oder tat wenigstens so als ob.

Schweigend holte Helga zwei Tassen aus dem Schrank.

»Wo war dein Mann gestern Abend?«

»Bei der Bürgerversammlung.« Sie stellte die Tassen auf den Tisch und nahm Platz. »Wegen der Sache mit den Flüchtlingen.«

»Und du hast nicht gehört, wie er zurückkam?«

»Wird ja immer spät.«

»Ja.«

»Stunden.«

Er lächelte wieder. »Gibt halt viel zu bereden.«

»Außerdem habe ich was genommen.« Sie hob den rechten Arm. »Deswegen.«

»Schlimm?«

»Angebrochen. Bin im Garten gestolpert. Hängen geblieben, irgendwo.« Sie betrachtete ihre Finger. »Komm du mal in mein Alter, dann passiert dir das auch. Man stolpert, fällt hin.«

Bungert nickte. »Es ist ein Elend.«

»Ja.«

»Ein Elend ist das.«

Eine Weile saßen sie schweigend. Der Kaffee tropfte durch den Filter in die Kanne. Irgendwann erschien die Frau, die den Toten untersucht hatte, in der Tür.

»Wir wären so weit. Riecht gut bei Ihnen.«

»Und?«, fragte Bungert.

»Sieht nach Herzinfarkt aus. Die Sturzverletzungen scheinen nicht tödlich gewesen zu sein. Zu inneren Verletzungen kann ich natürlich nichts sagen.« Sie wandte sich an die Witwe. »Hatte Ihr Mann Herzprobleme?«

Helga nickte.

»Und zwar?«

Sie seufzte. »Er war fast 80.«

»Welche Probleme konkret? Nahm er Tabletten?«

Helga stand auf. »Ich zeige sie Ihnen. Wollen Sie auch einen Kaffee?«

»Nein, danke.«

Einer Küchenschublade entnahm Helga einige Tablettenschachteln. Die Ärztin schaute sie der Reihe nach an und machte sich Notizen.

»Die Todesursache ist also unklar?«, fragte Bungert.

»Man sollte das überprüfen, ja.«

Er kratzte sich im Nacken. »Na, dann.«

Irgendwo im Haus schlug eine Uhr. Der Stift der Ärztin fuhr geräuschvoll über das Papier.

»Überprüfen?«, sagte Helga.

Bungert winkte ab. »Reine Routine. Mach dir keine Sorgen, Helga. Reine Routine.«

Sein Handy läutete. Er stand auf, nahm das Gespräch an, telefonierte im Flur weiter. Während er zuhörte und nur ab und zu eine kurze Frage stellte, fiel sein Blick auf weitere Fotos an der Wand. Fotos der kleinen, aus zwei Personen bestehenden Familie. Mit dem Zeigefinger fuhr er über den Rahmen eines der Bilder. Kein Staub.

In der Küche schenkte Helga Kaffee aus.

»Wollen Sie wirklich keinen?«, fragte sie die Ärztin. Die winkte ab.

Helga goss fettarme Milch in ihre Tasse, bis der Kaffee ganz hell war. Dann rührte sie um. Immer wieder kreiste der Löffel durch die Tasse. Ihr Blick ging ins Nichts.

Der Polizist kam zurück, räusperte sich. »Na«, sagte er und lachte verlegen. »Na, das ist jetzt komisch. Tage gibt’s!« Er setzte sich und nahm einen Schluck Kaffee ohne Milch. »Als wenn gestern Vollmond gewesen wäre.«

»Noch ein Unfall?«, fragte die Ärztin.

»Der Schwitzgebel David«, er schüttelte den Kopf und lachte erneut, »der Schwitzgebel David hat die Hütte vom Karlmann platt gemacht. Mit seinem Traktor. Platt. Weg. Alles.«

»Die Hütte vom Karlmann?« Die Ärztin hob die Brauen. »Warum das denn?«

Achselzuckend trank Bungert die Tasse aus. »Er sagt nix. Vielleicht weiß er es nicht mal. Der David, Mensch!« Er griff nach seiner Mütze und erhob sich. »Ich muss da hin, Helga. Aber ich komme wieder. Dauert nicht lange. Ich kümmere mich um dich, versprochen.« In der Tür drehte er sich noch einmal um. »Wollte der Karlmann nicht auch zu dieser Bürgerversammlung gestern?«

Helga nickte. Dann starrte sie wieder ins Leere.

Unter den Fotos, die Bungert, der Polizist, während seines Telefonats im Flur betrachtet hatte, war auch eines, das Kurt im Rennwagen zeigte. In einem silbergrauen Porsche 550 Spyder. Goldbraun leuchtete das Herbstlaub, aber noch stärker leuchteten Kurts Augen. Der Mann war Motorsportler mit Leib und Seele. Er kannte die Marken, kannte die Fahrer, vor allem die seiner Jugend: Fangio, Moss, Kling, Hawthorn. Stundenlang konnte er vom Mercedes 300 SLR schwärmen, vom Porsche 500, den eleganten Ferraris und Alfas. Natürlich hatte er auch ein Vorbild, einen Deutschen: Hans Herrmann, den Stuttgarter, nur wenig älter als er selbst. Herrmann hatte es geschafft, er war von Daimler und Porsche verpflichtet worden, hatte für sie die Mille Miglia bestritten, die Targa Florio und die Carrera Panamericana, war in Silverstone angetreten, in Monaco, Monza, Indianapolis … Kurt sah die Berichte im Fernsehen, las das , und am Ende saß er neben Herrmann, lenkte und schaltete mit ihm, legte sich mit ihm zusammen in die Kurven. Aber: Er tat all dies nur in seinen Träumen, denn natürlich war ein Kurt Bosslet vom echten Leben als Motorsportler so weit entfernt wie seine Heimat Dürrweiler von der Bundesrepublik.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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