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Große Ereignisse werfen weite Schatten: Wenn im Januar Donald Trump ins Weiße Haus einzieht oder im September der deutsche Bundestag gewählt wird, gibt es auch für den Heidelberger Privatermittler Max Koller jede Menge zu tun. Denn auch am Neckar bleibt man von der Weltpolitik nicht unberührt. In 12 Kurzkrimis werden die Themen des Jahres 2017 noch einmal durchgespielt: vom Terrorismus über die Flüchtlingsdebatte bis zum europäischen Schlingerkurs und Fake News. So aktuell waren Krimis noch nie!
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Seitenzahl: 138
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Marcus Imbsweiler
Spätlese
12 Monatskrimis mit Max Koller
Tödliches Dutzend Große Ereignisse werfen weite Schatten: Wenn im Januar Donald Trump ins Weiße Haus einzieht oder im September der deutsche Bundestag gewählt wird, gibt es auch für den Heidelberger Privatermittler Max Koller jede Menge zu tun. Denn auch am Neckar bleibt man von der Weltpolitik nicht unberührt. In 12 Kurzkrimis werden die Themen des Jahres 2017 noch einmal durchgespielt: vom Terrorismus über die Flüchtlingsdebatte bis zum europäischen Schlingerkurs und Fake News. So aktuell waren Krimis noch nie!
Marcus Imbsweiler, geboren im Saarland, studierte Germanistik und Musikwissenschaft. Seit 1990 lebt er als freier Musikredakteur und Autor in Heidelberg; Schwerpunkte seiner belletristischen Arbeit sind Krimis sowie Erzählungen rund um das Thema Klassische Musik. 2007 startete er mit »Bergfriedhof« seine Krimireihe um den Privatermittler Max Koller, die sofort eine große Fangemeinde gewann. Der letzte Band der Serie, »Abschiedstour«, erschien 2015, doch ist Max Koller auf anderem Terrain noch aktiv, so auf der Bühne (»Luna Tours«, 2016) und in den vorliegenden Kurzkrimis, die im Jahr 2017 monatlich in der Rhein-Neckar-Zeitung erschienen.
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Ei mit Schuss (2017)
Luna Tours (E-Book Only, 2016)
Abschiedstour (2015)
Dreamcity (2014)
Glücksspiele (2012)
Schlossblick (2012)
Die Erstürmung des Himmels (2011)
Himmelreich und Höllental (2011, als Peter Paradeiser)
Butenschön (2010)
Altstadtfest (2009)
Schlussakt (2008)
Bergfriedhof (2007)
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Besuchen Sie uns im Internet:
www.gmeiner-verlag.de
© 2017 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2017
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
E-Book: Mirjam Hecht
Herstellung: Julia Franze
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © nnattalli/shutterstock.com
Druck: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-8392-5498-1
Zum Buch
Impressum
Inhalt
Januar
Mauerspechte
Februar
Die Narrenwehr
März
Ungebremst
April
Ihr ganz privater Brexit
Mai
Last Exit Pfaffengrund
Juni
Der Spießer
Juli
Homo Heidelbergensis
August
Urlaub zu Hause
September
Dr. Merkel & Mr. Schulz
Oktober
Djangos Albtraum
November
Totensonntag
Dezember
Sankt Nikolaus
Anhang
2017
Alles bio
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
Oktober
Lehrermangel
Zeittafel
2017
Nachwort
Die Augen des Mannes waren aufgerissen, ebenso der Mund. Als würde er schreien, jetzt, in diesem Moment.
Aber wenn eines sicher war, dann das: Dieser Mann würde nicht mehr schreien. Nie wieder.
»Wer soll das sein?« Ich warf das Foto auf den Tisch zurück. Es hatte die Tischplatte noch nicht berührt, als das Gezeter losging.
»Wer das sein soll? Sie fragen mich, wer …? Sie müssen ihn doch erkennen!«
Ich zuckte die Achseln. Das Gesicht auf dem Foto war hellgrau. Eingestäubt mit Vollkornmehl. Das Zeug saß in den Haaren, den Brauen, den Nasenlöchern, einfach überall. Auch die aufgesperrten Augen waren damit überpudert und der Mund bis tief in den Rachen hinein. Eine Art Maske. Sie raubte dem Mann jegliche Individualität, das Aussehen, das Alter.
»Das ist Whitebread! Den Sie beschützen sollten. Und jetzt ist er tot, Herr Koller! Kapieren Sie, was das heißt?«
»Dass Ihr Aktienkurs nach unten geht?«
Der Brüllaffe, Doktor Gutperle, kam um den Tisch herum.
»Sie hatten einen Auftrag, Koller. Und Sie haben versagt. Ihr Honorar können Sie vergessen.«
»Als Whitebread gestern Abend ins Hotel ging, war er quicklebendig. Wie sollte ich ahnen, dass er …«
»Schon mal was von Jetlag gehört? War doch klar, dass der Kerl noch mal um die Häuser ziehen würde!«
Bevor ich antworten konnte, öffnete sich die Tür. Eine Frau betrat das Büro von Doktor Gutperle: groß und schlank, Kurzhaarschnitt, hohe Stiefel zum karierten Rock. Sie schmetterte uns ein »Guten Morgen« entgegen, dass die Wände wackelten.
»Was soll das?«, fuhr Gutperle auf. »Meine Sekretärin …«
»Konnte meinen Argumenten nicht widerstehen«, lächelte die Frau. »Ich bin die neue Hauptkommissarin, Kehrer mein Name. Sie sprachen über den Mordfall Whitebread?«
Mein Auftraggeber riss sich zusammen und schüttelte der Besucherin die Hand. Er war nicht klein, doch sie überragte ihn deutlich. »Eine Tragödie ist das!«, flötete er.
Die Kommissarin wies auf das Foto. »Woher haben Sie das, Doktor Gutperle?«
»Von dem Mitarbeiter, der die Leiche entdeckte.«
»Und wo?«, mischte ich mich ein.
»Auf unserem Firmengelände. Halb verbuddelt in einem Zementhaufen.«
»Gehören Sie auch zur Firma?«, fragte die Kehrer.
»Um Gottes willen!«, wehrte Gutperle ab. »Herr Koller ist Privatdetektiv. Wir hatten ihn zum Schutz von Mister Whitebread engagiert.«
»Als Bodyguard?« Die Kommissarin zog eine Braue nach oben. »Nun, das hat ja nicht ganz funktioniert.«
Ich schwieg. Gutperle nickte grimmig.
»Können Sie uns sagen, wo sich Whitebread gestern Abend aufgehalten hat? Wollte er jemanden treffen?«
»Ich weiß nur, dass er gegen halb zehn im Hotel eincheckte«, sagte ich. »Er wirkte nicht, als wolle er spät noch einmal ausgehen. Ich wartete eine halbe Stunde, dann fuhr ich nach Hause.«
»Laut Nachtportier verließ er das Hotel gegen 22.15 Uhr und kehrte nicht zurück.«
»Eine Viertelstunde!«, schäumte Gutperle. »Hätten Sie nur 15 Minuten länger ausgehalten. Das ist unprofessionell, Koller!«
»Dienstleistungswüste Germany«, schmunzelte die Kehrer. »In den USA käme so etwas nicht vor.«
»Wohl wahr.«
»Apropos: Was wollte Mister Whitebread eigentlich in Heidelberg?«
»Plattmachen«, sagte ich. Wir saßen in Kehrers Auto, die Kommissarin fuhr, von unten schmeichelte die Sitzheizung. »Whitebread war hier, um Doktor Gutperle und seinen Zementladen plattzumachen. Im Auftrag der US-Regierung.«
»Das müssen Sie mir erklären.«
»Whitebread gehörte Trumps Wahlkampfteam an, jetzt ist er seine Allzweckwaffe in Wirtschaftsbeziehungen. Kurvt per Privatjet um die Welt und bringt die Menschheit auf Kurs. Es geht ihm um die Mauer.«
»Die Mauer an der Grenze zu Mexiko? Was hat die mit Heidelberg zu tun?«
»Sie sind wirklich neu hier«, seufzte ich. »Als Trump im November gewählt wurde, knallten in der Firma die Sektkorken, der Aktienkurs schoss durch die Decke. 25 Milliarden Dollar soll das Ding kosten. Und wer baut’s? Die Kurpfalz Zement AG.«
»Ist das wahr?«
»Ihr gehören Werke in Texas und Arizona. Und der größte Konkurrent auf mexikanischer Seite weigert sich, Material für so einen Mist zu liefern.«
»Verstehe.« Sie riss das Steuer nach links, um einen Schleicher vor uns zu überholen. »Aber was meinten Sie dann mit plattmachen?«
»Liegt doch auf der Hand. 25 Milliarden, das finanziert nicht mal ein Donald Trump. Also muss er den Preis drücken. Auf die Hälfte oder ein Drittel. Vielleicht auf ein Zehntel, keine Ahnung.«
»Und davor fürchtet sich Doktor Gutperle?«
»Nach den Jubelarien vom November erwarten die Märkte jetzt Vollzug. Wenn Trump morgen seine Rede zur Amtseinführung hält, werden sie an der Börse ganz genau hinhören, was er bezüglich Mauer sagt. Ob sie kommt, ob sie teilweise kommt, wie viel man investieren will … Von ein paar Worten hängt die Zukunft der Firma ab. Und was Trump sagen wird, hängt wiederum von den Signalen ab, die er von Whitebread bekommt. Beziehungsweise bekommen sollte.«
»Am Ende nützt Whitebreads Tod Doktor Gutperle sogar.«
»Das haben Sie gesagt.«
»Was war Ihre Rolle in der Angelegenheit?«
»Offiziell sollte ich den Typ beschützen. Und zwar, ohne dass er es merkte. Gutperle ging es wohl eher darum, Whitebread zu überwachen. Wohin geht er, mit wem trifft er sich? Nimmt er Kontakt zur Konkurrenz auf?«
»Ich dachte, Kurpfalz Zement sei konkurrenzlos?«
»Das glaubte Hillary Clinton auch.«
Sie lachte ein dreckiges Lachen.
Eine Reihenhaussiedlung im Kirchheimer Westen: Achtzigerjahrestil, putzige Vorgärten, Mittelklassewagen auf dem Bürgersteig. Als ich mein Rad vor dem Haus ganz rechts abstellte, ging eine Nachricht von Doktor Gutperle ein. Bloß keine Details an die Kommissarin, Herr Koller, flehte er zum zigsten Mal. Ich drückte ihn weg.
Ein Blick auf das Klingelschild: »Rolf & Sandra Specht mit Jenny & Justin«. Alles so normal hier … verrückt! Plötzlich hörte ich Schritte hinter mir.
»Herr Koller«, säuselte Kommissarin Kehrer. »Was für eine Überraschung, Sie hier zu sehen!«
»Ganz meinerseits.«
»Im Hotel sagte man mir, Mister Whitebread habe sich gestern nach der Schwarzwaldstraße erkundigt. Und nun treffe ich Sie hier. Wie kommt’s?«
»Zufall. Wollte gerade wieder gehen.«
Sie lächelte. »Niemand zu Hause?« Und als ich nicht antwortete, legte sie eine Hand auf meine Schulter und flüsterte mir ins Ohr: »Raus damit, Koller, sonst mache ich Ihnen die Hölle heiß.«
»Okay«, seufzte ich. »Whitebread war hier. Nehmen Sie die Hand weg, dann erzähl ich’s Ihnen.«
Meine Beichte war kurz, aber bitter. Anders, als ich es Doktor Gutperle gegenüber behauptet hatte, war ich gestern Abend nicht nach Hause gefahren, sondern hatte vor dem Hotel gewartet, bis der Amerikaner herauskam. Ich folgte ihm nach Kirchheim, in die Schwarzwaldstraße, sah, wie er bei den Spechts läutete und im Haus verschwand.
»Und dann?«, fragte die Kehrer.
Ich stöhnte. »Nichts und dann. Ich bin eingepennt! Hinterm Steuer. Heizung hochgedreht, Lehne zurück – schon hab ich geratzt. Als ich um vier wieder aufwachte, war Whitebreads Wagen fort. Im Haus alles dunkel. Ich also heim ins Bettchen.«
Sie lachte schallend. »Das war’s?«
»Ehrlich, ich habe keine Ahnung, wer die Spechts sind und was Whitebread von ihnen wollte.«
»Fragen wir sie.«
Sie läutete. Es dauerte eine Weile, dann öffnete eine nicht mehr taufrische blonde Frau, die uns verwundert ansah.
»Frau Specht?« Die Kommissarin wies sich aus und bat darum, hereinkommen zu dürfen.
»Ja, bitte«, murmelte die Frau. Ihre Augen sagten das Gegenteil.
Wir blieben im Flur mit Blick ins offene Wohnzimmer stehen. Alles aufgeräumt, alles picobello.
»Sie haben sicher wenig Zeit«, meinte die Kehrer gut gelaunt, »also kommen wir gleich zur Sache. Kennen Sie diesen Mann?«
Sie hielt der Specht ein Foto des Toten unter die Nase. Die schreckte zurück, warf einen unsicheren Blick darauf und verneinte.
»Er war gestern Abend bei Ihnen. Dafür gibt es Zeugen.«
»Das … davon weiß ich nichts. Ich …« Ihre Hand wanderte zur Halskette. »Moment, vielleicht ist das … Mein Mann sagte, spät abends hätte jemand bei uns geklingelt. War aber falscher Alarm.«
»Ihr Mann sagte das?«
»Ich hab mittwochs Yoga. Deshalb … Es war wohl ein Ausländer, der sich in der Adresse geirrt hat. Mein Mann hat ihn fortgeschickt.«
»Er war bei Ihnen im Haus«, sagte ich.
»Möglich. Fragen Sie meinen Mann, wenn Sie Näheres wissen wollen.«
»Wollen wir«, nickte die Kommissarin.
Während sie sich Spechts Handynummer diktieren ließ, sah ich mich unauffällig in der Wohnung um. Was, verdammt, hatte Whitebread hier gewollt? Ein US-Politprofi – hier, in dieser IKEA-Welt? Von der Flurwand grüßte die heile Familie: Rolf, Sandra, ihre beiden Sprösslinge, dazu Opas und Omas, Bilder von Heidelberg, Urlaubserinnerungen. So was von Ultranormal! Keine Spur von tödlichem Zementstaub.
Die Polizistin nahm das Handy vom Ohr. »Ausgeschaltet«, murmelte sie.
»Würden Sie jetzt gehen?«, flüsterte die Specht. »Mir ist nicht gut.«
»Einen Moment«, sagte ich und wies auf ein Schwarz-Weiß-Foto, das die Vorderfront eines Tante-Emma-Lädchens zeigte. »Gehörte dieses Geschäft Ihrer Familie?«
»Ja, es war der Laden meiner Eltern.«
»Dann kenne ich jetzt die Verbindung zwischen Ihnen und Whitebread.«
Über der Ladentür stand in Schreibschrift: »Lebensmittel Weisbrodt«.
Sandra Specht erbleichte.
Ich erwischte meinen Auftraggeber vor dem firmeneigenen Festsaal, dessen Außenwand in goldenes Licht getaucht war. Als Doktor Gutperle mich sah, warf er die halb gerauchte Kippe weg.
»Ganz schlecht, Herr Koller. Die Aufführung startet.«
»Wollen Sie nicht wissen, wie Mister Whitebread zu Tode kam?«
»Okay, kommen Sie mit.«
Er führte mich hoch zur Empore. Während er unablässig Hände schüttelte und Glückwünsche entgegennahm, studierte ich das ausliegende Heftchen, das ein Interview mit ihm enthielt. Derweil betraten Chor und Orchester die Bühne.
Ich legte das Heft beiseite. »Sie lieben Musik?«
»Im Grunde meines Herzens«, seufzte er, »bin ich ein sentimentaler Mensch.«
»Das war Whitebread auch. Sein Mörder heißt übrigens Specht.«
Gutperle runzelte die Stirn. Kaum hatte unten die Musik begonnen, als sein Handy summte. Er wischte über das Display und ballte die Faust.
»Trump wird bauen«, zischte er triumphierend. »Die Mauer. 12 Meter hoch, 1.600 Kilometer lang.«
Ich schwieg. Alle paar Takte wurde der Zementmann nun mit News beglückt, alle paar Takte bleckte er die Zähne, hob einen Daumen, zeigte die ortsübliche Becker-Faust. Ich gähnte.
In einer Pause beugte sich Gutperle zu mir herüber. »Was ist mit diesem Specht?«
»Whitebread hat ihn am späten Abend besucht. Er wollte die Familie seiner Vorfahren kennenlernen.«
»Die was?«
»Die Trumps stammen aus der Pfalz, die Whitebreads von hier. Da gab es wohl eine wachsweiche Stelle im Herzen unseres Eisenmannes.«
»Wäre er mal aus Zement gewesen«, kicherte Gutperle. Dann wurde er wieder ernst und schickte Kommandos in den Orbit: vergab Aufträge, kaufte ein, stieß ab. In der nächsten Pause erzählte ich von Spechts Geständnis. Die Familie hatte zusammengesessen, um den Geburtstag des Sohnes zu feiern, als Whitebread auftauchte. Specht dachte wohl, er könne von der Anwesenheit des VIPs irgendwie profitieren, finanziell oder so, deshalb war die Stimmung zunächst gut, es gab reichlich Alkohol, man trank Brüderschaft – bis Whitebread der Specht-Tochter an den Hintern griff.
»Dieser alte Bock?«, entfuhr es Gutperle.
»Nach bewährter Trump’scher Manier. Außerdem: Familie. Da darf man das, dachte er. Es kam zum Streit, und irgendwann hatte Vater Specht eine Pfanne in der Hand. Gusseisern.«
Gutperle ließ pfeifend Luft ab. Vor dem letzten Stück vervollständigte ich die Erzählung: wie die Spechts die Leiche in Whitebreads Wagen gepackt und wie sie ihn auf das Firmengelände gebracht hatten, um den Verdacht von sich abzulenken. Gutperle schüttelte den Kopf.
»Irre. Und warum? Weil vor 100 Jahren ein Kurpfälzer in die USA ausgewandert ist.« Wieder ging eine Jubelmeldung von der Börse ein. »Gute Arbeit, Koller. Aber jetzt lassen Sie uns die Musik genießen.«
Das taten wir dann auch. Jeder, wie er konnte. Dieses Gesinge ist ja nicht so meins. Aber das Stück kam mir bekannt vor.
»Sagen Sie«, flüsterte ich Gutperle irgendwann zu, »ist das nicht die Musik, die damals in Berlin gespielt wurde? Nach dem Fall der Mauer?«
»Beethoven«, nickte er. »Hätte die DDR unseren Zement verwendet, stünde das Ding heute noch.«
»Meinen Sie?«
»Die Mauer für Trump werden wir so bauen, dass sie bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag hält. Mein Wort darauf.« Sein Handy brummte.
»Ja«, sagte ich. »Es kommt eben drauf an, was man daraus macht.«
»Spuck’s aus, Junge.« Ich legte Benni meinen Arm um die Schultern. »Glaub mir, hinterher fühlst du dich besser.«
Er begann zu zittern. Seine Augen waren rot umrändert, an der Nasenspitze hing ein Tropfen Wasser. Unter der Last meines Arms knickte sein Oberkörper ein. Benni war fällig. Eine Woche lang hatte er den harten Mann gespielt, aber nun wurde ihm bewusst, dass er mit der Schuld nicht würde leben können. Vor ihm auf dem Tisch lag sein Handy. Dauernd gingen Nachrichten ein, doch er ignorierte sie.
Tanjas Bild war noch immer auf dem Display. Oder wieder?
»Na komm.« Ich gab ihm einen Klaps. »Du hast das nicht gewollt. Du warst besoffen. Und als ihr …«
Ein heftiger Knall schnitt mir das Wort ab. Wir sprangen beide auf, Benni fiepte vor Schreck. In einem der Wohnzimmerfenster klaffte ein großes Loch. Draußen wurde gejohlt.
Vorsichtig näherte ich mich dem Fenster. Vor dem Haus standen zwei Dutzend Maskierte, pfiffen, jubelten und schrien wild durcheinander. Kalte Winterluft strömte durch das Loch ins Zimmer, aber das war nichts im Vergleich zu dem, was mir aus der Menge entgegenschlug.
»Rück das Schwein raus!«, brüllten sie. »Her mit dem Kerl oder wir holen ihn uns!«
»Verpisst euch«, sagte ich heiser und zog die Vorhänge zu.
Benni schlurfte zu dem Stein, der die Scheibe durchschlagen hatte, und bückte sich nach ihm. Als er ihn fast erreicht hatte, knickten seine Beine ein, er fiel auf die Knie. Ich schloss auch die übrigen Vorhänge.
»Was ist hier los?« Bennis Mutter erschien in der Wohnzimmertür. Vorhin, als ich kam, hatte sie sich in den Fitnessraum verzogen. Die grellen Farben ihrer Funktionswäsche ließen ihr Gesicht noch fahler erscheinen als üblich. Sie hatte eine Topfigur, ein Tophaus und drüben in Neuenheim eine Topgalerie. Und sie hatte einen Vergewaltiger zum Sohn.
»Wir sollten die Polizei rufen«, sagte ich. »Da braut sich was zusammen.«
Benni schluchzte. Eine andere Mutter hätte ihm auf die Beine geholfen. Seine vermied seit einer Woche jede Berührung.
Dann wurde es laut im Haus. Gelächter, »Hajo«-Rufe, schließlich Schritte im Flur. Wie paralysiert starrten wir auf die Menschen, die sich in den Raum drängten, die ihn regelrecht überfluteten, so viele waren es. Sie trugen Kostüme, waren geschminkt, ihre Gesichter glitzerten. Blieben die Vordersten stehen, wurden sie von den Hinteren weitergeschoben. Wir wichen zurück, Benni noch immer auf allen vieren. Ein Typ im Zebraoutfit stolperte über den Perser und flog der Länge nach hin. Hexen und Cowboys umschunkelten uns. Es roch nach Schweiß, Alkohol und Zigaretten. Einer stellte sich an den Flügel, klappte den Deckel hoch und klimperte auf den Tasten herum. Ich griff nach meinem Handy.
»Was wollen Sie hier?«, kreischte Bennis Mutter. »Verlassen Sie mein Haus, auf der Stelle!«