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Krise? Welche Krise? Als Fahrradkurier hat Ex-Privatdetektiv Max Koller genug zu tun. Und wird dann doch rückfällig: Als ein Bekannter, der Schriftsteller Robert Usedom, erschossen aufgefunden wird, nutzt Koller die Vermisstenanzeige einer Lokalpolitikerin für eigene Ermittlungen. Er kommt einem Umweltskandal auf die Spur, jagt einen selbsternannten Rächer und lernt zutiefst verunsicherte Mitmenschen kennen. Die Krise ist überwunden, aber der Blues bleibt.
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Seitenzahl: 431
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Marcus Imbsweiler
Heidelbergblues
Kriminalroman
Max Koller ist zurück! Wer steckt hinter dem Mord an Schriftsteller Robert Usedom? Für Ex-Ermittler Max Koller, der den Trenchcoat längst an den Nagel gehängt und erfolgreich auf Fahrradkurier umgesattelt hat, eigentlich keine Aufgabe mehr. Aber Usedom war ein entfernter Bekannter, kurz zuvor erst hatte er sich bei Koller gemeldet. Da kommt ein anderer Auftrag gerade zur rechten Zeit: Die Lokalpolitikerin Amelie Berendsen sucht ihren eritreischen Schützling Makeda. Und weil es zwischen Makeda und dem Toten eine Verbindung gab, nutzt Koller dies für eigene Nachforschungen in Sachen Usedom. Zunächst sieht alles nach einem politischen Motiv aus, schließlich steht die Heidelberger Oberbürgermeisterwahl kurz bevor, und Berendsen zählt zu den Favoritinnen. Aber dann lernt Koller den Umweltaktivisten Pierre Wörner kennen – und plötzlich müssen einige Menschen um ihr Leben fürchten.
Marcus Imbsweiler, aufgewachsen im Saarland, arbeitet als freier Musikredakteur für Orchester, Festivals und Rundfunksender deutschlandweit. Seit 2005 ist er außerdem als Schriftsteller tätig. Seine Krimireihe um den Heidelberger Privatermittler Max Koller zählt bislang acht Bände. Im Gmeiner-Verlag erschienen zudem der Liszt-Roman »Die Erstürmung des Himmels«, der fantastische Krimi »Himmelreich und Höllental« (als Peter Paradeiser), die Kurzstücke »Luna Tours« sowie der Osterkrimi »Ei mit Schuss«. Imbsweiler schreibt Romane, Erzählungen und Theaterstücke und gibt regelmäßig Einführungen in klassische Konzerte.
Mehr Informationen zum Autor unter: www.marcus-imbsweiler.de
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2022 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Johannes Stoll / Photocase.de
ISBN 978-3-8392-7268-8
Nee jetzt.
Da brach doch genau in der Sekunde, als ich den rostigen Schlüssel ins Schloss der Schuppentür steckte, die Sonne durch das Wolkengrau über uns. Einer ihrer Strahlen verfing sich im Schlüsselloch und brachte es zum Leuchten. Wenn das mal kein Zeichen war! Ein Moment der Magie, kitschig schön, wie in einem Fantasyfilm. Verweile doch, rief es von allen Seiten … Tja. Kaum drehte ich den Schlüssel, war es vorbei mit der Magie. Das Schloss klemmte, beim Aufstoßen schleifte die Tür über den Boden und produzierte eine Serie hässlicher Geräusche. Ein Schaben, ein Knarren, dann ein Quietschen, das immer schriller wurde, um auf dem Höhepunkt abrupt abzubrechen. Gewissermaßen mit Ausrufezeichen. Könnten Türen sprechen, wäre das ein Nein gewesen.
»Doch«, sagte ich und betrat den Schuppen.
Abgestandene, muffige Luft schlug mir entgegen. Ich schloss die Augen und füllte die Lungen bis zum letzten Winkel. Wonach roch es? Nach etwas ganz Speziellem: Abwesenheit. Der Abwesenheit von Menschen. Hier hatte es einmal Ausdünstungen gegeben, Schweiß, Nähe, Reibungen, den kompletten olfaktorischen Kladderadatsch. Jetzt: ein stummer Schrei nach Leben, das Flehen um Gesellschaft. Mit einem Wort: Es roch trostlos. Wann hatte ich die Bude zum letzten Mal betreten? Ewig her.
»Lüften«, murmelte ich. »Dringend.«
Ich knipste das Licht an; immerhin, es funktionierte. Leider sah man nun den Staub, der sich im Raum breitgemacht hatte. Er lag auf dem Schreibtisch, dem Computer, dem Regal, den Stühlen, einfach überall. Wie Schnee, nur in Grau. Ich ging zum Fenster hinüber und zog es unter einiger Gewaltanwendung auf. Auf den Scheiben hatte sich so viel Dreck angesammelt, dass sie fast blind waren. Blind klagten sie mich an: Der Gartenschlauch, Alter, gib ihn uns!
»Nur die Ruhe«, sagte ich. »Später.«
Erst mal hinsetzen. In der Ecke stand ein freier Stuhl, dem ein Bein fehlte; stattdessen blitzte eine Metallfeder aus der Polsterung. Eher was für Delinquenten als für Gäste. Die einzige stabile Sitzgelegenheit war von einem großen gerahmten Schild belegt, auf dem »Museum für angewandte Kriminalistik« stand. In Schönschrift. Ich pustete einmal von links nach rechts, um die Buchstaben freizulegen, dann hob ich es vom Stuhl und lehnte es gegen die Wand. In einer Hosentasche fand ich ein kaum benutztes Papiertaschentuch, mit dem ich den Stuhl gründlich sauber wischte. Wie das Tuch anschließend aussah, behalte ich für mich.
»Geht doch«, nickte ich.
Ich quetschte mich um den Schreibtisch herum und nahm auf einer leeren Getränkekiste Platz. Genauer gesagt: auf dem Polster, das auf der Kiste lag. Noch genauer: auf dem Polster, nachdem ich es einmal umgedreht hatte. Mit einem Unterarm wischte ich über die Tischplatte, blies kräftig gegen den Computerbildschirm und beobachtete, wie der Staub durch den Raum tanzte. Die einzelnen Staubkörnchen glänzten im Licht der Deckenlampe, es sah eigentlich ganz hübsch aus. Fast so magisch wie vorhin bei dem Türschloss. Nicht zu vergessen die Gestalt, die hinter dem Glitzern auftauchte, eine Gestalt wie von einem Heiligenschein gerahmt.
»So, Frau Berendsen«, sagte ich. »Dann wollen wir mal.«
Der Glanz zerstob, mein Gast setzte sich. Ein wenig widerstrebend zwar, wie mir schien, aber er tat es. Beziehungsweise sie. Es handelte sich nämlich um einen weiblichen Gast, und seinen Namen hatte er – also sie – mir bereits am Telefon genannt: Amelie Berendsen. Meine erste Reaktion auf den Anruf war die übliche gewesen: abwimmeln. So, wie ich in den letzten Jahren alle abgewimmelt hatte. Aber dann … sagen wir so: Ich hatte mich umentschieden. Ganz spontan. Und schon hatten wir sie wieder, diese archetypische Konstellation, die am Beginn großer Abenteuer und verzwickter Fälle steht. Eine Auftraggeberin, ein Ermittler, ein Problem.
Auch wenn ich schon lange kein Ermittler mehr war.
Der Gast namens Amelie Berendsen schlug die Beine übereinander und blickte sich um. »Das hier«, begann sie zögernd, »das ist Ihr …?
Ich folgte ihrem Blick. Oben in der Ecke hingen ein paar Spinnweben durch. Riesenspinnweben. »Ja«, nickte ich. »Mein Büro.«
»Ein Museum?«
Ich zeichnete einen Kreis in den Staub. »Nachdem ich mich als Ermittler zur Ruhe gesetzt hatte, kam ich auf die clevere Idee, mein Büro für die Allgemeinheit zu öffnen, damit die Leute, die von meinen Fällen gelesen haben …« Ich winkte ab. »Egal.«
»Keine clevere Idee?«
»Anfangs kamen ein paar Besucher. Aus Mitleid wahrscheinlich. An Halloween rückte mal Polizeinachwuchs an, eine komplette Staffel. Die hatten ihren Spaß, das versichere ich Ihnen. Und in den vergangenen Jahren …« Ich wischte den Kreis weg. Es gibt Sätze, die braucht man nicht zu beenden.
»Verstehe«, sagte die Berendsen. »Durfte ja eh keiner mehr kommen.«
Wir seufzten beide ein bisschen, wie man es tut, wenn man gerade einen verdammt anstrengenden Marathon hinter sich gebracht hat. Marathon ist vielleicht das falsche Wort für die hinter uns liegende Zeit, aber auch nicht schlechter als Krise oder Plage oder Seuche und wie diese alttestamentarischen Begriffe alle lauten. Mein Entschluss, nicht mehr als Privatflic zu arbeiten, war lange vorher gefallen, und was bringt mir ein geöffnetes Museum, wenn es nur von angeschickerten Polizeianwärtern besucht wird? Du musst nach vorne schauen, immer nach vorne.
»Angewandte Kriminalistik«, hörte ich meinen Gast sagen. »Klingt, als müsste man dafür studiert haben.«
Apropos nach vorne schauen. Als ich das tat, mit einem Ruck sozusagen, sah ich Amelie Berendsen zum ersten Mal lächeln. Na also! Da hatte der Name meines Museums seinen Zweck doch schon erfüllt. Angewandte Kriminalistik – klang nach Frankfurter Schule, war aber nur Heidelberger Hinterhof. Dafür zauberte es den Leuten ein kurzes Lächeln ins Gesicht, und ich nahm das zum Anlass, meine Besucherin nach all dem Staubwischen und Stühlesuchen eingehend zu mustern. Ebenfalls zum ersten Mal. Es gibt ja Leute, die müssen bloß einen Raum betreten und ziehen sofort alle Aufmerksamkeit auf sich, da kümmerst du dich hinterher darum, wo sie sitzen sollen. Und dann gibt es Leute, die nimmst du erst wahr, wenn alles andere erledigt ist. Amelie Berendsen gehörte eindeutig zur letzten Sorte. Mittelgroß, schlank, flaches Gesicht mit breiten Wangenknochen. Die Haare hellbraun und schulterlang. Sie saß mit übereinandergeschlagenen Beinen da und starrte mich aus großen grünen Augen an. Erst dachte ich, sie sei über irgendetwas verwundert – Grund genug gab es ja –, bis mir irgendwann klar wurde, dass sie immer so schaute. Aufmerksam, zugewandt, eine Spur bestürzt. Sogar wenn sie lächelte. Das Ungewöhnlichste aber war ihre flache, fast konturenlose Oberlippe. Wo andere Leute eine Kerbe haben oder wenigstens eine Senke, damit die Lippenhälften rechts und links Schwung nehmen können, war bei ihr nichts. Nur ein blassroter waagerechter Streifen.
Das irritierte mich. Und ich konnte nicht einmal sagen, weshalb es mich irritierte. Eine doppelte Irritation gewissermaßen, zu der prompt eine dritte kam, als mir ein Wort durch den Kopf schoss: Buch. Amelie Berendsen war wie ein aufgeschlagenes Buch mit leeren Seiten, die jeder auf seine Weise füllen konnte.
»Studieren?«, sagte ich und kratzte mich am Kopf. »Nö, geht auch ohne.«
»Arbeiten Sie denn jetzt wieder? Als Ermittler, meine ich.«
Ich rutschte auf meiner Getränkekiste hin und her. Was sollte ich darauf antworten? Wusste es ja selbst nicht. Manche Fragen hält man für erledigt, abgehakt, für längst beantwortet, und dann kommt der Tag, an dem man merkt, dass sie immer noch da sind, rau und schorfig wie ein Ausschlag, der einfach nicht weggeht.
»Es hieß, Sie würden keine Fälle mehr übernehmen«, fuhr sie fort. »Ich habe es dann trotzdem bei Ihnen probiert, obwohl ich mit einer Absage rechnete. Und jetzt …«
»Jetzt wische ich sogar den Staub von dem Museumsschild«, beendete ich den Satz. Ich ließ meinen Blick durch das Büro schweifen, über den Trenchcoat, den ich nie getragen, aber gut sichtbar aufgehängt hatte, über die Zeitungsberichte, die Todesanzeigen, die leeren Whiskyflaschen auf dem obersten Regalbrett. Eine Zeitkapsel, dieses Büro. Die Exzentrale eines Exermittlers. »Ich schlage vor, Frau Berendsen, Sie erzählen mir von Ihrem Problem, anschließend entscheide ich. Wer zehnmal Nein sagt, kann beim elften Mal trotzdem Ja sagen.«
Das Lächeln kehrte zurück. »Wie schön«, sagte mein Gast. »Elf ist meine Glückszahl.«
»Meine auch«, hörte ich mich murmeln. Es war ein Reflex: auf eine Lüge mit einer Gegenlüge zu antworten. Ist doch wahr, wer hatte schon die Elf als Glückszahl? Irgendwo in Fernost vielleicht, aber nicht hier! Warum wollte sie mich so billig auf ihre Seite ziehen? Egal; um meine doofe Reaktion vergessen zu machen, redete ich rasch weiter. »Wenn ich Sie am Telefon richtig verstanden habe, Frau Berendsen, ist Ihre Hausangestellte verschwunden.«
Sie wurde wieder ernst. Die Augen, hell und groß. »Angestellte … nein. Makeda war eher eine Art Mitbewohnerin. Ein Familienmitglied. Sie hat bei uns gewohnt, und dabei hat sie natürlich auch im Haushalt mitgeholfen, so wie wir alle.«
»Makeda?«
»Eine junge Frau aus Eritrea, die in Deutschland Asyl beantragt hat. Wir haben sie vor einem Jahr bei uns aufgenommen.«
»Und jetzt ist sie verschwunden? Seit wann?«
Berendsen hob die Schultern. »Schwer zu sagen. Seit Beginn der Woche etwa. So lange haben wir sie jedenfalls nicht mehr gesehen. Sie hat eine Einliegerwohnung bei uns im Haus; wann sie dort zum letzten Mal übernachtet hat, wissen wir nicht. Bis vor drei Tagen habe ich noch Nachrichten von ihr bekommen, seitdem nichts mehr. Sie geht nicht ans Handy, auf Nachfragen reagiert sie nicht. Wir machen uns Sorgen.«
Sorgen, soso. Ich legte mir einen nachdenklichen Gesichtsausdruck zu und hoffte, dass mein Gast keine Gedanken lesen konnte. In diesem Moment fragte ich mich nämlich, woher ich Amelie Berendsen kannte. Schon am Telefon, bei der Nennung ihres Namens, hatte etwas in meiner Erinnerung geklingelt, sehr leise allerdings. Als sie dann vor mir saß, klingelte es erneut, etwas stärker diesmal. Ich war dieser Frau schon mal begegnet, aber wo? Und in welchem Zusammenhang? War sie ein Promi? Fernsehstar, ehemalige Sportgröße, Nobelpreisträgergattin? Von denen tummelten sich ja jede Menge in der Stadt. Berendsen, Berendsen … irgendwo war da was. Und warum löste das Wort »Sorgen« diese Assoziationskette aus? Na logisch, sie war Ärztin! Kinderärztin wahrscheinlich. Ihr Blick, die nach oben gezogene Lippe – exakt der Typ Mensch, der sich Sorgen machte, der einen ernst nahm. Gleichzeitig bewahrte sie die Ruhe, war sicher im Auftreten – sie machte einen auch wieder gesund. Vertrieb die bösen Sorgen. Doktor Amelie Berendsen, das sprach und las sich doch wie aus einem Guss. Beim Heiligen Hippokrates!
»Ja«, murmelte ich. »Verstehe.«
Sie schwieg und starrte auf meine Hände.
»Ach das«, sagte ich. »Der ist nicht geladen, keine Angst.« Während ich über sie und ihren Beruf philosophiert hatte, hatten sich meine Finger selbstständig gemacht und mit einem Revolver herumgespielt, der auf dem Schreibtisch vor sich hin dämmerte. Zu Ausstellungszwecken natürlich. Total eingestaubt natürlich. »Hab ich mal einem Zuhälter … lange her. Wo waren wir?«
»Makeda wartet auf ihren Asylbescheid. Sie würde auf keinen Fall etwas Riskantes oder Verbotenes unternehmen. Sie fährt nicht mal nach Mannheim, ohne uns Bescheid zu sagen. Deshalb machen wir uns ja solche Sorgen.«
»Haben Sie eine konkrete Befürchtung, was passiert sein könnte?«
»Nein.«
»Was für Nachrichten hat sie Ihnen geschickt?«
»Nur allgemeines Zeug. Mir geht’s gut, alles in Ordnung, bin bei Freunden … solche Sachen. Dabei hat sie kaum Freunde. Und übernachtet hat sie bei denen auch noch nicht.«
»Wie alt ist sie?«
»19. Wahrscheinlich.«
»Wahrscheinlich?«
Ein kleines Zucken in ihren Mundwinkeln. »Wo sie herkommt, sind exakte Altersangaben nicht so wichtig.«
Ich ließ das Gesagte eine Weile auf mich wirken, dann stand ich auf, um das Fenster zu schließen. Wir hatten schließlich Herbst, und irgendwann war es auch gut mit der Lüfterei. Außerdem brauchte ich Zeit, um mir die nächste Frage zurechtzulegen. Ich stand also am geschlossenen Fenster, schaute in den Hof und überlegte.
Hinter mir erklang ein Seufzer. »Wir hoffen wirklich sehr, dass ihr nichts zugestoßen ist.«
Ich fuhr auf dem Absatz herum. »Apropos zugestoßen«, sagte ich. »Vorhin am Telefon erwähnten Sie einen Namen. Den Namen eines Mannes, den ich kannte. Flüchtig kannte. Bei einem meiner Uraltfälle hat er eine Art Rolle gespielt.«
Sie sah mich fragend an. Ich ging zum Regal, pustete den Staub von einigen Büchern und zog eines davon heraus. Vorne drin war eine Widmung: »Für Max, den alten Revoluzzer.« Die Widmung hatte ich zig Mal gelesen, das Buch nie. Ich legte es so auf den Schreibtisch, dass mein Besuch den Namen des Autors erkennen konnte.
»Robert Usedom«, nickte Amelie Berendsen. »Schrecklich. Der arme Kerl.«
»Bah!«, machte Kommissar Sorgwitz. Erstaunlich, was man mit einer einzigen Silbe alles ausdrücken kann: Überraschung, Abwehr, Widerwillen, Abscheu, Protest. Andere brauchten für so was halbe Romane, dem Kommissar genügten drei Buchstaben. Zur Verdeutlichung riss er seine Augen auf, so weit es ging, aber das war nicht sehr weit, weil sie so klein und kugelig waren. Die Augen eines Kampfhunds! Im nächsten Moment kniff er sie schon wieder zusammen, Modell stechender Blick, und fixierte mich drohend. »Sie …! Woher? Was wollen Sie? Wer hat Sie gerufen?«
»Danke, gut«, sagte ich. »Und Ihnen?«
Über dem kantigen Polizistenschädel standen die weißblonden Härchen stramm. Sorgwitz schien neuerdings im Fitnessstudio zu wohnen; sein breites Kreuz war noch breiter geworden und reichte von Türpfosten zu Türpfosten. Eine Wand aus Muskelmasse. »Sie!«, knirschte er und nahm den Zeigefinger zu Hilfe, um mich aus seiner Gegenwart und am besten gleich aus der ganzen Welt hinweg zu fuchteln.
»Ihr Chef«, sagte ich.
»Was?«
»Sie haben gefragt, wer mich gerufen hat. Das war Ihr Chef. Von alleine wäre ich nicht auf den Gedanken gekommen, hier aufzutauchen.«
Sorgwitz ließ ein ungläubiges Lachen hören. Dann drehte er sich um und lachte nicht mehr. Hinter ihm stand Kommissar Fischer, sein gelbgesichtiger Vorgesetzter, und machte nichts weiter als eine kleine, nachlässige Bewegung mit der Hand. Schwupps. Ich meine, das muss man sich mal vorstellen: Da wedelte dieser alte, dauerherzinfarktgefährdete Mann einmal kurz mit seinen Nikotinfingern, und Modellathlet Sorgwitz hüpfte brav zur Seite. Zum Piepen, eigentlich.
Aber niemand piepte.
Wortlos betrat ich das Haus, ignorierte das Schnaufen des Blonden und folgte seinem ebenfalls schweigsamen Chef. Fischer sah noch kränker, noch eingefallener und kurzatmiger aus als früher, aber bei ihm wusste man nie, ob das Tagesform oder Dauerzustand war. Von der Diele aus führte eine steile Holztreppe ins obere Stockwerk. Der Kommissar, eine Hand am Geländer, stiefelte voran, ich hinterher. Oben tummelte sich eine ganze Menge Leute, alle in Plastikmontur inklusive Häubchen und Visier. Die Aufmachung rief geradezu nach einem schlechten Witz über eine neue pandemische Lage, aber schlechte Witze waren in den vergangenen Jahren zu viele gemacht worden. Außerdem hatte mich Kommissar Fischer am Handy über die Ursache des Mummenschanzes aufgeklärt.
Am Eingang zu einem Zimmer blieb er stehen. Ich mit ihm. Jemand reichte uns Überzieher für die Schuhe und Hauben für den Kopf. Brav zogen wir beides an.
Drinnen wurde gearbeitet. Fotografiert, gesichtet, auf Laptops herumgetippt, in Diktiergeräte gesprochen. Das Licht starker Scheinwerfer zielte auf ein seitlich stehendes Bett. Plastikstoffe raschelten ohne Unterlass. In meiner Hosentasche brummte mein Handy. Ich ignorierte es.
»Lange nicht gesehen«, brummte der Kommissar.
»Sie haben sich gar nicht verändert«, antwortete ich.
Er lachte unfroh.
Schon versickerte unser Gespräch wieder. Ich gähnte. Anstatt im Bett zu liegen, wie es sich um diese Uhrzeit gehörte, stand ich im Obergeschoss eines abgelegenen Hauses, umgeben von Regalen voller Bücher, und wartete. Was mir nicht gut tat. Besonders meinen Gedanken nicht. Ich merkte, wie sie in Gegensatzpaare zerfielen: Schlaf und Wachen. Leben und Tod. Das grelle Licht hier drinnen, draußen die Dunkelheit. Unser gemeinsames Warten, während im Zimmer Betriebsamkeit herrschte. Und dann die Hoffnung, die vergebliche Hoffnung, dass die Welt anders sein könnte, als sie war.
»Es gab einen anonymen Anruf«, sagte Fischer. »Jemand hat einen Schuss gehört.«
Ich reagierte nicht.
»Alles klar mit Ihnen?«
»Alles bestens, Herr Kommissar. Jammern ist so was von gestern.«
Endlich kam einer der Plastikmenschen aus dem Zimmer und nickte dem Kommissar zu. Fischer trat ein, blieb aber schon nach wenigen Schritten stehen und winkte mich heran.
»Näher nicht«, murmelte er, als ich neben ihm stand.
Nein, näher nicht. Warum auch, man sah ja, was passiert war. Der Mann, der einmal der Schriftsteller Robert Usedom gewesen war, lag zusammengekrümmt auf dem Bett, einen Arm unter dem Körper, den anderen über die Matratze ins Leere ragend. In seiner Schläfe klaffte ein Loch, die grauen Locken waren blutverschmiert, Decke und Kissen ebenfalls. Seine Augen standen offen.
Ich sah ihn an und dachte nichts. Gar nichts. Nicht mal so Sachen wie: armer Teufel. Einsamer Tod. Alles geht zu Ende. Nein, ich stand einfach da, starrte auf die Leiche und machte Pause vom Dasein. Wusste ja, dass ich jederzeit wieder zurückkonnte. Im Gegensatz zu Usedom.
Fischer schwieg ebenfalls. Stumm ließen wir unsere Blicke über den Toten gleiten, über die geschäftigen Kriminaltechniker, die Gegenstände im Raum. Usedom trug Hemd und Hose, aber seine Füße waren nackt. Vor dem Bett lag ein kleiner Flickenteppich, halb zerknüllt. Daneben ein Korbsessel mit Fransendecke, ein Nachttisch mit Lampe und einigen Büchern, auf der gegenüberliegenden Zimmerseite ein abgebeizter Kleiderschrank. Über dem Bett zwei Plakate, also keine gerahmten Bilder, sondern Papier, mit Reißzwecken an die Wand gepinnt: Che Guevara und Dürers Selbstbildnis als Jesus mit den Goldlocken. Das nannte ich mal eine haarige Kombination!
Irgendwie musste ich zu laut aus- oder eingeatmet haben, denn Kommissar Fischer sah mich von der Seite an und brummte: »Alles in Ordnung?«
»Warum fragen Sie dauernd, ob alles in Ordnung ist?«, gab ich zurück. »Und dann noch in diesem Ton!«
»Gut, dann frage ich Sie etwas anderes. Was halten Sie davon?«
»Wovon?«
»Von dem Schlamassel hier.« Er zeigte zum Bett. Und weil ich nur mit den Achseln zuckte, fuhr er gereizt fort: »Na los, wonach sieht das aus? Mord, Raubmord, Selbstmord, Unfall? Sie basteln doch schon am Tathergang, ich sehe es Ihnen an.«
»Basteln, ich? Dass ich kein Ermittler mehr bin, heißt noch lange nicht, dass ich jetzt unter die Hobbybastler gegangen wäre.«
»Einmal Schnüffler, immer Schnüffler«, knurrte Fischer. »Zieren Sie sich nicht so. Ich will bloß Ihre Einschätzung. Das Urteil eines Fachmanns.«
Ich schüttelte den Kopf. Dann drehte ich mich von der Leiche und den Kriminaltechnikern weg und sagte mit gedämpfter Stimme: »Wie lange habe ich keinen Fall mehr bearbeitet, Herr Fischer?«
»Keine Ahnung. Lange.«
»Sehr lange. Jahre. Und das lag nicht an fehlenden Aufträgen, sondern an der fehlenden Motivation. Verstehen Sie, ich hatte keine Lust mehr, ich wollte etwas anderes tun. Und ich habe immer noch keine Lust. Das hier ist Ihre Sache, Herr Kommissar. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei den Ermittlungen, aber mich halten Sie bitte raus.«
Fischer sah mich mit kaum verhohlener Skepsis an. Von unten sozusagen, obwohl er nur ein paar Zentimeter kleiner war als ich.
»Gut«, sagte er schließlich achselzuckend. »Wenn Sie meinen.«
»Meine ich.«
Er seufzte, kramte mit der Rechten umständlich in seiner Jackentasche und holte am Ende jenen Gegenstand ans Licht, auf dessen Erscheinen ich schon die ganze Zeit gewartet hatte: einen Zigarillostummel. Den steckte er sich kalt zwischen die Lippen und begann ihn durchzumümmeln.
»Sie«, nahm ich meine Bemerkung von vorhin wieder auf, »haben sich nicht verändert. Ich schon.«
Er winkte ab. Mümmelnd. Die folgenden Sätze kamen eher undeutlich über seine Lippen. »Immerhin«, brummte er, »waren Sie und Usedom befreundet. Da sollten Sie etwas …«
»Falsch«, unterbrach ich ihn. »Wir waren keine Freunde. Wir sind uns damals im Rahmen einer Ermittlung begegnet, rein zufällig, und er fand mich wohl … keine Ahnung, jedenfalls wollte er danach den Kontakt halten. Und wissen Sie, was? Mich hat er genervt. Auch wenn das jetzt hart klingt.«
»Tatsächlich?«
»Schauen Sie sich das doch an!« Ich wies auf die beiden Plakate über dem Bett des Toten. »Wollen Sie mit so einem befreundet sein?«
»Als Schriftsteller wurde er gelobt.«
»Von mir nicht.«
»Also keinen Kontakt mehr in letzter Zeit?«
»Doch, schon. Sporadisch. Und immer war er es, der sich meldete. Immer. Wenn Sie mich fragen: Der Kerl hatte ein Aufmerksamkeitsproblem.«
Kommissar Fischer nickte. »Könnte stimmen. Er war alleinstehend, nicht mehr der Jüngste … Vielleicht hat er deshalb Suizid begangen.«
»Suizid?« Ich sah ihn von der Seite an.
»Ah!« Ein schelmisches Lächeln breitete sich auf dem Polizistengesicht aus. »Habe ich den Ermittler in Ihnen geweckt? Suizid – das ist hier die Frage! Was spricht dafür, was dagegen? Wollen Sie mir nicht doch etwas verklickern?«
»Herr Fischer, es ist spät, meine Exfrau wartet auf mich, und ich …«
»Schon gut, schon gut, mit der lieben Frau Markwart will ich es mir natürlich nicht verscherzen. Deshalb in aller Kürze und nur als erster Eindruck meinerseits«, er nahm den Zigarillostumpf aus dem Mund, »und vor allem ohne meinen werten Kollegen vorgreifen zu wollen …« Er nickte jedem Einzelnen im Raum zu, auch wenn kaum einer Notiz davon nahm.
Ich wartete.
»Also, lieber Herr Koller, vom Gesamteindruck her, der Auffindesituation, der Umgebung, den privaten Verhältnissen und überhaupt würde ich sagen: klassischer Suizid. Lehrbuchmäßig. Ich gehe davon aus, dass der Tote Rechtshänder war. Waffe in die rechte Hand; gegen die Schläfe gedrückt; ein einziger Schuss. Wenn man dabei nicht wackelt oder die Waffe im letzten Moment wegzieht – was leider ziemlich oft passiert –, eine sichere Sache.« Nachdenklich sah er auf den Zigarillo in seiner Hand. »Wobei es hier ein kleines Problem gibt.«
»Nämlich?«
»Die Waffe.«
»Was ist damit?«
»Wir haben keine gefunden.«
»Ja«, sagte ich und nahm wieder Platz, »schrecklich.«
Amelie Berendsen schaute mich mit ihren großen betörenden Augen an. »Sie waren befreundet, nicht wahr?«
»Nein.«
»Nein?« Und als ich nicht antwortete, fuhr sie fort: »Er erwähnte so etwas.«
»Usedom, ja. Nennen wir es Wunschdenken. Wissen Sie, das soll jetzt nicht arrogant klingen, aber er fand mich sympathischer als ich ihn. Künstler sind einfach nicht meine …«, ich suchte nach Worten, »nicht meine Wellenlänge, verstehen Sie?«
»Er hat Sie mir empfohlen. Wärmstens.«
Ich verdrehte die Augen. Wärmstens, auch das noch!
»Ja, ich glaube, es war damals, als Makeda bedroht wurde. Da sagte er zu mir, wenn du mal Unterstützung brauchst, wende dich an meinen Freund Max.« Sie lächelte schwach. »Deshalb bin ich hier.«
»Moment. Makeda wurde bedroht? Also doch!«
Das Lächeln verschwand. »Stimmt«, sagte sie nach kurzem Zögern, »das habe ich völlig … Wobei bedroht die Sache nicht trifft. Vor einigen Monaten hat Makeda gegen einen Mann ausgesagt, der vor Gericht stand. Und der meinte in seiner Wut, das würde sie noch bereuen. Damals nahmen wir das ernst, der Typ hatte was von einem Altnazi. Aber als dann nichts passierte, habe ich den Vorfall verdrängt.«
»Worum ging es in dem Prozess?«
»Der Mann hat Asylanten den Hitlergruß gezeigt. Er bekam eine Geldstrafe.«
»Aufgrund von Makedas Aussage?«
»Auch, ja.«
Ich wiegte den Kopf. »Frau Berendsen, das würde ich nicht auf die leichte Schulter nehmen. Selbst wenn es Monate her ist. Vielleicht hat der Kerl nur auf die richtige Gelegenheit gewartet. Können Sie mir den Namen des Mannes geben?«
Sie nickte. »Ich muss in den Unterlagen nachschauen. Zu Hause.«
»Gut. Was gäbe es ansonsten für Gründe zu verschwinden? Makeda könnte auch aus freien Stücken gegangen sein.«
»Aus freien Stücken?« Ihr Blick war skeptisch. »Als Asylbewerberin? Da gibt es eher wenig, was Sie aus freien Stücken tun. Diese Menschen leben in ständiger Angst vor Abschiebung, Tag und Nacht. Das macht was mit Ihnen, da sind Sie niemals richtig frei.«
»Wie standen ihre Chancen zu bleiben?«
»Nicht schlecht, Eritrea ist eine Diktatur. Aber es gibt Unterschiede. Junge Männer, die dem Militärdienst entfliehen wollen, bekommen fast alle Asyl. Frauen dagegen müssen konkret nachweisen, dass sie verfolgt oder bedroht wurden. Und wenn sie dort unten noch Familie haben, wird es kompliziert. Dann sind sie gewissermaßen Geisel des Regimes.«
»Sie meinen, wenn sie hier das Falsche tun oder sagen, müssen es die Familienmitglieder in Eritrea ausbaden?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Makeda hat Geschwister, die sie gern nachholen würde.«
»Okay. Dass sie freiwillig untergetaucht ist, kommt also eher nicht in Betracht.«
»Es kann schon sein, dass sie Panik bekommen hat. Aus welchem Grund auch immer. Aktuell gab es keine Anzeichen für eine drohende Abschiebung, aber wann gibt es die schon? Du gehst abends zu Bett, morgens um 4 steht die Polizei vor der Tür, um 6 sitzt du im Flieger, und noch am selben Abend bist du in Afrika. Tausendfach passiert.«
»Und wenn Angst der Grund war – wo könnte sie jetzt stecken? Bei wem würde sie Zuflucht suchen?«
»Da bin ich überfragt. Bei einem Asylanwalt vielleicht, Leuten von Amnesty. Sie hat ein paar eritreische Bekannte, aber niemanden, den sie als Freund bezeichnen würde. Ist ja auch kein Wunder, wenn man sich über Monate nicht in der Stadt treffen kann, sondern nur per Videokonferenz. Da entstehen keine Freundschaften.«
»Freundschaften werden überschätzt«, fuhr es mir durch den Kopf, aber das behielt ich für mich. Ich überdachte eine Weile, was mir Amelie Berendsen erzählt hatte, und sagte schließlich: »Viel Konkretes ist das ja nicht. Hat es kein Ereignis gegeben, das Makedas Verschwinden erklären oder wenigstens plausibel machen könnte? Keine Bemerkung, keine Nachricht, nichts?«
»Wäre ich dann hier, Herr Koller?«
Das klang fast ein wenig abweisend. Aber nur fast. Gegen Sorge und Verständnis, die absoluten Platzhirsche in Amelie Berendsens Gefühlshaushalt, hatten solche kleinen Missstimmungen keine Chance. Ja, blicken Sie mich nur groß an, Frau Doktor, es gibt nun mal Krankheiten, gegen die hilft kein Medikament, und genauso gibt es Fälle, da weiß man auf Anhieb, dass man sich einen Wolf ermittelt. Diese Makeda konnte überall sein. Vielleicht auf Sauftour, vielleicht hatte sie ihren Traumtypen gefunden, vielleicht war sie aber auch in den Neckar gefallen und trieb gerade Richtung Nordsee. Bevor ich weitere solcher Szenarien ausmalen konnte, knarrte und quietschte es vom Eingang her.
Christine stand in der Tür und schaute uns verblüfft an.
»Hallo«, begann sie, »ich … das ist … störe ich?«
»Meine Exfrau«, erklärte ich.
Jetzt galt ihr Blick allein mir. »Was machst du da, Max?« Es kam mir vor wie eine Anklage.
»Ich unterhalte mich mit meinem Gast. Magst du uns beiden einen Kaffee bringen?«
Die Berendsen wehrte ab. Vielleicht besser so, denn meine Ex machte in diesem Moment nicht den Eindruck, als sei sie in der Lage, die Kaffeemaschine zu bedienen. »Ich habe Licht im Schuppen gesehen«, stotterte sie, »und dachte, vielleicht ist jemand …«
»Völlig korrekt gedacht. Hier ein Jemand, dort ein Jemand. Wirklich keinen Kaffee, Frau Berendsen?«
Wieder das Kopfschütteln. Gleichzeitig wurden Christines Augen rund und groß, sie passte sich dem Aussehen meiner Besucherin also an. Und nicht nur das, über ihr Gesicht flog ein Lächeln, zuckrig wie ein Karamellbonbon.
»Sie sind … Amelie Berendsen?« Mein Gast nickte. »Wie toll!«, keuchte Christine. »Freut mich, wirklich.«
»Danke.«
Jetzt war ich derjenige, dem die Gesichtszüge entglitten. Woher kannte meine Ex die Berendsen? Aus dem Krankenhaus? Von einer Sprechstunde? Aber warum grinste sie dann so dämlich?
»Meine Stimme haben Sie«, kündigte sie nicht ohne Stolz an. »Viel Erfolg jedenfalls!«
»Dankeschön.« Es hörte gar nicht mehr auf mit dem Süßholzraspeln!
»Gut«, strahlte Christine. »Dann lass ich euch mal alleine.«
»Danke, Schatz«, ätzte ich.
Im Gehen drehte sie sich noch einmal um. »Und Sie wollen wirklich keinen Kaffee, Frau Berendsen?«
Ein verhaltenes »Danke, nein« von der einen Seite, ein lautes »Ich auch nicht!« von der anderen, dann war der Spuk vorbei. Endlich! Wir waren wieder zu zweit.
»Stimme?«, fragte ich. »Sind Sie keine Ärztin?«
»Doch, bin ich.« Und als ich immer noch ratlos schaute, fuhr sie fort: »Ich arbeite in der Jugendpsychiatrie. Zur Zeit nur halbtags, um bei der Oberbürgermeisterwahl antreten zu können. Das meinte Ihre Frau mit Stimme.«
»Exfrau«, murmelte ich. Natürlich, deshalb hatte es vorhin bei mir geklingelt. Schwach, aber geklingelt. Die Wahl! Amelie Berendsen – dauernd tauchte ihr Gesicht in der Zeitung oder sonstwo auf. Musste ich sie deswegen kennen? Dazu hätte mich dieser Wahlkampf interessieren müssen, und das tat er nicht. Änderte sich ja eh nix. Klar, wenn der große Tag kam, würde ich mich von Christine ins Wahllokal mitschleppen lassen und mein Kreuzchen bei dem respektive der machen, die mir nicht ganz so angepasst oder ausgelutscht erschienen wie der Rest. Vielleicht sogar bei Amelie Berendsen, mal sehen. Mit dem verzückten Groupie-Lächeln meiner Exgattin wollte ich jedenfalls nichts zu tun haben.
»Sie sind die von den Grünen«, sagte ich.
»Ich bin Mitglied, ja. Werde aber von mehreren Gemeinderatsfraktionen unterstützt.«
»Okay.« Mir lag eine ganze Lawine von Bemerkungen auf der Zunge, die ich allesamt hinunterschluckte. Warum tun Sie sich das an, gute Frau? Haben Sie sich das reiflich überlegt? Was sagt Ihre Familie dazu? Und so weiter – Bemerkungen, die mehr über mich und mein Verhältnis zur Lokalpolitik verrieten als über Amelie Berendsen und ihre Mitstreiter.
Ach ja, es schmuggelte sich auch dieser Satz darunter: Hätte nie gedacht, dass mir ein Politiker mal sympathisch vorkommt. Das war womöglich der blödeste Satz von allen, und ich schluckte doppelt, um sicherzugehen, dass er auch wirklich unten war.
»Ich hoffe, das hält Sie nicht davon ab, den Auftrag anzunehmen«, lächelte sie milde. Verdammt, konnte sie Gedanken lesen?
»Ganz im Gegenteil«, erwiderte ich, »es bringt mich vielmehr zu der Frage, ob der Grund für Makedas Verschwinden in Ihrem politischen Engagement zu suchen ist.«
Sofort wurde sie ernst. »Wie meinen Sie das?«
»Sie unterstützen einen Flüchtling, lassen ihn bei sich wohnen. Das gefällt nicht jedem. Will Ihnen vielleicht jemand an den Karren fahren? Druck auf Sie ausüben? Sie von der Kandidatur abhalten?«
»Aber dann müsste es doch eine Drohung geben, eine Erpressung oder irgendwas.«
»Gibt es aber nicht?«
»Nein.«
»Keine Bemerkungen in dieser Richtung? Keine politische Kampagne? Nach dem Motto: Die Afrikaner nutzen uns doch nur aus – da schau, dein Flüchtling ist dir auch abgehauen. Macht sich bestimmt einen schönen Lenz mit unseren Steuergeldern.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Gut.« Wieder malte ich Figuren auf die Schreibtischplatte. »Dann fasse ich zusammen: Ihrem Eindruck nach gibt es weder einen äußeren Anlass für Makedas Verschwinden noch einen persönlichen Grund. Das ist verdammt wenig, wo ich ansetzen könnte.«
»Tut mir leid.«
Ich winkte ab. »So ist es halt. Manchmal gibt es so viele Spuren, dass man gar nicht weiß, wo anfangen, und manchmal hat man nichts. Nur Nebel und Treibsand.«
Wieder dieser staunende, umarmende Blick. »Nebel und Treibsand … das klingt schön.«
»Mag sein.« Mit spitzen Fingern packte ich den Revolver und legte ihn an den äußersten Rand des Schreibtischs. »Was ich damit andeuten will, ist allerdings weniger schön.« Ich machte eine Pause. In einer Ecke tanzte der Staub, weit entfernt war die Sirene eines Krankenwagens zu hören. »Menschen verschwinden, Frau Berendsen«, sagte ich. »Sie sind weg, einfach so. Und das Leben geht weiter, die Welt kommt ohne sie aus. Es ist, als ob sie nie da gewesen wären. So was passiert, ob nun Pandemie ist oder nicht. Sie wissen das, Sie sind Ärztin.«
Sie schwieg. Nur ihre Augen sprachen, und das genügte mir.
»Okay«, sagte ich und erhob mich. »Ich überlege mir das mit dem Auftrag und melde mich morgen früh bei Ihnen.«
»Keine Waffe?«, sagte ich. »Also Mord!«
Tadelnd schüttelte Kommissar Fischer den Kopf. »Das habe ich nicht gesagt. Ich sagte nur, dass keine Waffe gefunden wurde.«
Wieder glitten meine Blicke über den Toten und das zerwühlte Bett. »Haben Sie denn schon gründlich gesucht?«
»So gründlich es zum jetzigen Zeitpunkt möglich war.« Wenn ich erwartet hatte, dass Fischer auf meine Frage irgendwie gereizt reagieren würde, so hatte ich mich getäuscht. Er klang ganz sachlich. »Natürlich konnten wir noch nicht jede kleinste Ritze untersuchen, aber dort, wo eine Waffe normalerweise liegen müsste, liegt sie nicht. Nicht auf dem Boden, nicht im Bett, auch nicht unter seinem Körper. Selbst wenn er mitten im Zimmer stand, nach dem Schuss noch ein paar Meter getorkelt und dann erst auf das Bett gefallen ist, müsste sich die Waffe irgendwo hier oben finden. Tut sie aber nicht. Sobald die Kollegen fertig sind mit ihrer Arbeit, werden wir noch einmal alles auf den Kopf stellen, aber die Chance, etwas zu finden, geht gegen null. Meiner Ansicht nach.«
»Also Mord«, bilanzierte ich.
»Das könnte Ihnen so passen!«, zischte es hinter mir.
Ich drehte mich um. Kommissar Greiner, das dunkelhaarige Pendant zum blonden Sorgwitz, stand in der Türöffnung und blitzte mich an. Wenn mich nicht alles täuschte, zogen sich die ersten Silberfäden durch sein Fell, aber das dicke Kassengestell auf seiner Nase war noch dasselbe wie früher. Dito seine Abneigung mir gegenüber.
»Auf so was hat der doch nur gewartet, Chef«, giftete er. »Da glaubt man, endlich herrscht Ruhe im Karton, und kaum gibt es eine Leiche, springt er wieder aus der Kiste. Steht hier rum und grinst sich eins. Wenn der seine Nase in alles steckt, ist der Ärger vorprogrammiert, Chef. Riesenärger!«
»Ist ja gut«, brummte Fischer, aber Greiner war nicht zu bremsen.
»He, Leute!«, rief er den Kriminaltechnikern zu. »Ist er euch schon durch den Tatort getrampelt? Hat er an der Leiche herumgefummelt? Wenn ihr dem den Rücken zuwendet, klaut er dem Toten die Goldzähne aus dem Gebiss!«
»Nun reicht’s aber«, plärrte sein Vorgesetzter.
»Wirklich, ich verstehe nicht, warum der hier ist!« Wenn der Rottweiler sich in etwas verbissen hatte, blieb er dran. »Wir könnten ihn morgen früh verhören, in aller Ruhe, ohne dass er Gelegenheit zum Herumschnüffeln bekommt. Stattdessen darf er sich hier am Tatort breit machen und die Kollegen an ihrer Arbeit hindern. Außerdem …«
»Lass mich mal durch, Dicker«, unterbrach ihn einer der Kriminaltechniker und schob ihn von der Tür weg. »Und zieh dir gefälligst was über die Haxen.«
»Recht hat er trotzdem«, kam es von der Treppe. Sorgwitz war nach oben gestiefelt, um seinem Kumpel beizuspringen. »Schnüffler lädt man nicht an den Tatort.«
»Ruhe!«, herrschte ihn Kommissar Fischer an und scheuchte Greiner und mich aus dem Zimmer. »Wir reden unten weiter.«
Zu viert ging es hinab ins Erdgeschoss und dort in die links vom Eingang liegende Küche. Die Küche war schmal und nicht besonders lang, aber doch so groß, dass wir ein wenig Sicherheitsabstand halten konnten. Greiner und Sorgwitz bombardierten mich mit vernichtenden Blicken, die alle an mir abprallten. Ich hatte in Drachenblut gebadet.
Kommissar Fischer schloss die Küchentür. Den Zigarillo musste er unterwegs weggesteckt haben, seine Mundwinkel waren jedenfalls frei. Während er ein paar Mal tief Luft holte, stützte er sich mit der Hand an der Türklinke ab. Und dann ging es los. Langsam und leise. »Ich«, hörten wir ihn flüstern, »bin ein alter Mann. Ein alter Knacker, der bestimmt nicht immer die richtigen Entscheidungen trifft« – die Hand wurde weggezogen, die Lautstärke etwas erhöht – »weshalb ich nichts gegen Kritik einzuwenden habe« – kurzer Zwischenatmer, danach wieder leise, wie zu Beginn – »ich möchte Sie sogar ermuntern, mir Ihre Meinung zu sagen« – und jetzt noch einmal viel Luft und dann schreien, was die Lunge hergab: »Aber nicht in Anwesenheit der halben Belegschaft, ist das klar? Nicht im Angesicht eines toten Menschen! Was sollen die Kollegen von uns denken? Und was sollen sie von Herrn Koller denken, der uns seit Jahr und Tag keinen Ärger mehr gemacht hat? Sie … Sie Pubertätsnickel!«
Stille. Fischers Lunge war nicht mehr fabrikneu, weshalb sie auch keinen Orkan entfachte, bloß einen mittleren Herbststurm. Trotzdem hallten seine Worte in dem schmalen Raum eindrucksvoll nach. Pubertätsnickel war hübsch, das musste ich mir merken. Davon abgesehen, musste ich gar nichts, nicht mal Partei ergreifen. Sollten sie schreien, sollten sie sich aufregen. Ich hatte auf all das keinen Bock mehr.
Der Kommissar, hochrot angelaufen oder eher dunkelorange, wegen seiner gelblichen Grundfarbe, zückte ein ausgebleichtes Stofftaschentuch und wischte sich übers Gesicht. Das Orange blieb. Er ähnelte Donald Trump, fehlte nur noch die rote Krawatte. Währenddessen zückte ich ebenfalls, mein Handy nämlich, und wischte meinerseits, nämlich über das Display. Was zur Folge hatte, dass sich die Köpfe der beiden Gemaßregelten in meine Richtung drehten. Als ich aufsah, fing ich ihre irritierten Blick ein.
»Herrgott, Leute«, knurrte Fischer und steckte das Tuch zurück. »Ihr bringt mich noch ins Grab.«
»Ist Ihnen nicht gut?«, murmelte Sorgwitz. Die Frage galt mir, nicht seinem Chef.
Greiner legte den Kopf schief und kratzte sich im Ohr.
»Pubertätsnickel«, dachte ich, ihrem Blick standhaltend.
Ihr Chef hustete. Dann zog er sich einen Hocker heran, nahm darauf Platz und hustete weiter. Was musste der alte Mann auch so schreien? Als es sich endlich ausgehustet hatte, atmete er tief durch und krächzte: »So. Können wir jetzt?«
Von den beiden Kläffern keine Reaktion. Ich zuckte mit den Achseln und sagte: »Usedom hat mich vor drei Tagen kontaktiert. Ohne speziellen Anlass, er wollte bloß mit mir quatschen. Was wir auch getan haben, am Telefon, vielleicht eine halbe Stunde, höchstens. Heute kam wieder eine Nachricht von ihm: ob wir uns spontan auf ein Bierchen treffen könnten. Ich schrieb, ich müsste arbeiten, heute ginge es nicht. Hier, falls Sie nachlesen wollen.« Ich hielt mein Handy in die Höhe. »Aber das haben Sie ja längst.«
Die Stille, die jetzt herrschte, war ganz anders als die vorherige. Aber nicht weniger beeindruckend. Auf der einen Seite der Küche glotzten sich die Jungkommissare fast die Augen aus dem Kopf, Greiners Mund stand ein Stück offen. Fehlte nur noch, dass er zu sabbern begann! Ihr Vorgesetzter dagegen stemmte beide Hände auf die Knie und bedachte mich mit einem grimmigen Blick. Irgendwann knurrte er: »Warum erzählen Sie uns das?«
»Herr Fischer«, sagte ich und ließ das Handy wieder sinken, »wie lange kennen wir uns jetzt? Wir wissen, wie der andere tickt. Sie haben mich doch nicht ohne Grund zu einem Toten gerufen, mit dem ich vor Jahren mal zu tun hatte. Es ist mitten in der Nacht, Sie haben gerade erst mit den Nachforschungen begonnen, die Leiche ist noch warm. Warum der Aufwand? Weil Sie gesehen haben, dass mich Usedom heute kontaktiert hat. Vielleicht als einen der Letzten in seinem Leben. Sie haben den Chatverlauf in seinem Handy gelesen und sich gedacht, fragen wir den Koller gleich mal persönlich, was da los war.« Ich warf Sorgwitz, der unmotiviert mit den Füßen scharrte, einen kalten Blick zu. »Allerdings werden Sie dann auch gelesen haben, dass es kein Treffen zwischen uns gab. Ich hatte einfach keinen Bock auf diesen Typen.«
Fischer starrte mich eine Weile schweigend an. Dann sagte er: »Fast.« Kurze Pause. »Es war fast so, wie Sie vermuten. Nicht ganz. Wir haben kein Handy bei dem Toten gefunden.«
»Er hatte aber eins.«
»Wir stehen erst am Anfang unserer Ermittlungen. Vielleicht taucht es noch auf. Was wir stattdessen gefunden haben, ist ein Jahresplaner, der im Wohnzimmer lag, und da ist Ihr Name unter dem Datum von heute verzeichnet. Mit Bleistift, ganz altmodisch. Sonst kein Hinweis, worum es gehen könnte. Darum habe ich Sie herbestellt.«
Ich reichte ihm mein Handy. »Hier, der Chatverlauf.«
Aus der Greiner-Sorgwitz-Ecke röchelte es.
»Sie dürfen es auch gerne lesen«, wandte ich mich den beiden zu. Jetzt gab es kein Halten mehr.
»Was ist denn mit dem los?«, brach es aus dem Kampfhund hervor. »Der wehrt sich ja gar nicht!«
»Sie überlassen es uns wirklich freiwillig?«, fragte Greiner. »Ohne Gewaltanwendung?«
»Und ohne dummes Geschwätz? Chef, das kann nicht sein! Das ist nicht Koller. Das ist ein Avatar.«
»Oder er ist auf Droge. Er hat was geschluckt, was …«
»Ruhe!«, bellte Fischer. Er hielt das Handy mit ausgestrecktem Arm von sich und versuchte, den Nachrichtenverlauf zu entziffern. Als er damit fertig war, winkte er Sorgwitz zu sich und reichte ihm das Ding. Der Blonde war derart fassungslos, dass es ihm schier aus den Fingern glitt. Gemeinsam mit seinem Kumpel beugte er sich über den Bildschirm. Ich sah, wie sich ihre Lippen bewegten.
»Und Ihr Telefonat?«, wollte Fischer wissen. »Worum ging es?«
»Aus meiner Sicht«, erwiderte ich, »vor allem darum, das Gespräch so schnell wie möglich wieder zu beenden. Usedom war nur am Lamentieren. Die Krise, der Lockdown, die gesellschaftlichen Perspektiven … alles schlecht, alles dem Untergang geweiht. Wollte sich ausheulen, am liebsten bei einem gemeinsamen Besäufnis. Nichts, worauf ich Lust hatte.«
»Deshalb haben Sie ihn abgewimmelt.«
»Ja.« Ich wartete ein paar Sekunden, dann sagte ich: »Konnte ja nicht ahnen, dass er drei Tage später erschossen wird.«
»Oder sich selbst erschossen hat«, murmelte der Kommissar. »Was würden Sie dann denken?«
»Nee, Herr Fischer, diesen Schuh ziehe ich mir nicht an. Selbst wenn es Suizid war, und ich finde, danach sieht es überhaupt nicht aus, solange Waffe und Handy fehlen – selbst wenn sich Usedom umgebracht hat, dann hat das nichts mit mir zu tun. Wir kannten uns nur flüchtig. Er hatte für mein Leben genauso wenig Bedeutung wie ich für seines.«
»Viel Kontakt hatten Sie wirklich nicht«, sekundierte Kommissar Greiner, mein Handy in spitzen Fingern haltend. »In den letzten zwei Jahren praktisch gar nicht, und davor schreiben Sie ihm dauernd, warum Sie keine Zeit haben oder ein geplantes Treffen wieder verschieben müssen.«
»Sag ich doch.«
Greiner gab mir das Handy zurück. Fast unterwürfig, und dabei schaute er immer noch ziemlich dämlich aus der Wäsche.
»Nun gut«, brummte sein Chef. »Freut mich, das zu hören. Es wäre mir unangenehm gewesen, Sie mit dieser … dieser Tat in Verbindung bringen zu müssen.«
»Dem Schlamassel«, sagte ich, ihn zitierend.
»Dem Schlamassel, genau. Noch unangenehmer wäre es mir allerdings, wenn Sie uns nicht die Wahrheit gesagt hätten. In Bezug auf Ihr Telefonat mit Usedom.«
Ich steckte das Handy ein. »Herr Fischer, es ist einiges passiert in den letzten Jahren. Meinen Entschluss, nicht mehr als Privatflic zu arbeiten, habe ich nicht eine Sekunde bereut. Und dabei bleibt es. Dass Robert Usedom tot ist, lässt mich zwar nicht kalt, aber ich werde Sie bei Ihren Ermittlungen nicht behindern, keine Sorge. Finden Sie heraus, wer das war. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg.«
Zum dritten Mal innerhalb kurzer Zeit herrschte tiefe Stille in der Küche. Fischer nickte versonnen vor sich hin und wirkte eigentlich ganz zufrieden. Seine Untergebenen dagegen versuchten sich in allen möglichen und unmöglichen Spielarten der Fassungslosigkeit: glotzten, wanden sich, hielten Maulaffen feil, wussten nicht, wohin mit ihren Händen, schnappten nach Luft.
Es war der blonde Sorgwitz, der das Intermezzo schließlich beendete. »Chef«, sagte er mit weinerlicher Stimme, »Sie können mich schlagen, aber ich glaube dem Arschloch.«
»Du auch?«, hauchte Greiner.
Ich rollte mit den Augen.
»Danke, dass Sie gekommen sind«, knurrte Fischer und stand auf. »Darf ich fragen, was Sie heute Abend gearbeitet haben? Wo Sie doch kein Ermittler mehr sind?«
Vor dieser Frage hatte ich mich gefürchtet. »Wollen Sie das wirklich wissen, Herr Fischer?«
Er schwieg.
»Ich habe nicht gearbeitet«, sagte ich. »War zu Hause und hab mir eine Serie reingezogen.«
»Ach?«
»Ja. Ich habe mich von Usedom mit einer Lüge verabschiedet.«
»Amelie Berendsen!«, schmetterte meine Exgattin. »Max, hallo! Wie oft habe ich dir von ihr erzählt? Tausendmal, mindestens! Und du erkennst sie nicht, wenn sie dir gegenübersitzt?«
»Hast du mir jemals ein Foto von ihr gezeigt?«
»Foto? Ihr Konterfei hängt seit Wochen in jeder Straße der Stadt. Du musst nur die Neckar-Nachrichten aufschlagen …«
»Tue ich nicht.«
»Und was machst du, wenn du morgens zum Bäcker gehst?«
»Da schlafe ich noch.«
»Max!« Sie stemmte beide Hände in die Hüften. Dann winkte sie mich zum Fenster. »Komm her. Na los, beweg dich!«
Ich konnte knurren und nörgeln, so viel ich wollte, Christine ließ nicht locker, bis ich aufstand und gemeinsam mit ihr durch unser Wohnzimmerfenster hinunter auf die Bergheimer Straße schaute.
»Und, was siehst du?«
Die Straße war übersät mit Wahlplakaten. An jedem Strommast, jeder Laterne, an Zäunen, Privathäusern und Bushaltestellen trompetete es: »Oberbürgermeister jetzt! Ihr OB-Kandidat. Der Richtige für unsere Stadt!« Und so weiter. Es gab ein Bleichgesicht mit Scheitel und Krawatte, einen untersetzten älteren Kerl ohne Hals sowie diverse andere Herrschaften. Und es gab eine Frau, aus der ein wenig Sorge, viel Anteilnahme und noch mehr Zuversicht sprach. »Dr. Amelie Berendsen. Neuer Wind für Heidelberg. Sozial, engagiert, kompetent. Oberbürgermeisterin jetzt!« Die Sprüche waren austauschbar, die Gesichter nicht unbedingt. Im Haifischbecken der Heidelberger Lokalpolitik war Dr. Berendsen der Goldfisch, und ich hatte das Gefühl, die Haie mussten sich verdammt warm anziehen. Krawatte hin oder her.
»Stimmt«, sagte ich, »da hängt sie ja.«
»Und zwar schon lange. Du willst mir doch nicht erzählen, dass du sie nie …«
»Christine, sobald ein Wahlplakat meinen Weg kreuzt, schaue ich in die entgegengesetzte Richtung.«
»Dort hängt auch eins! Überleg mal, du bist jeden Tag stundenlang in der Stadt unterwegs. Wer soll die OB-Kandidaten kennen, wenn nicht du?«
Augenrollend ging ich zum Tisch zurück. Im Prinzip hätte mir egal sein können, ob mich meine Ex für einen Kenner der Lokalpolitik hielt oder nicht. Dieser Eifer aber, diese Atemlosigkeit – das hatte ja schon etwas Missionarisches. Und ihr grenzdebiles Fan-Lächeln von vorhin hatte ich auch nicht vergessen.
»Okay«, sagte ich, sobald wir uns wieder gegenübersaßen, »ich wollte es dir verheimlichen, aber nun muss es raus. Wenn mich die Pflicht auf die Straßen treibt, dann ist das kein Fahrradfahren im üblichen Sinne. Es ist vielleicht überhaupt kein Fahren mehr.«
»Sondern?«, machte sie argwöhnisch.
Ich nahm ihre Hand in meine. »Du kennst die Welt der Fahrradkuriere nicht. Es ist Turbokapitalismus pur. Kapitalismus sowieso. Vor allem aber Turbo! Wenn mein Chef sieht, dass meine Durchschnittsgeschwindigkeit beim Ausliefern unter 40 Kilometer pro Stunde gesunken ist, schmeißt er mich raus. Wird ja alles aufgezeichnet, in Echtzeit. Der feuert mich, während ich noch auf Tour bin. Deshalb hänge ich mich immer in den Windschatten eines Cayenne, um den Schnitt zu schaffen. Auf der Römerstraße wurde ich schon drei Mal geblitzt! Einmal freihändig.«
»Red kein Blech«, knurrte Christine und entzog mir ihre Hand.
»Und es ist ja nicht nur die Geschwindigkeit! Dauernd tippe ich auf meinem Handy rum, wegen der Route, der neuen Bestellungen, dem Wetter. Die aus der Zentrale brüllen mich an, irgendwelche Plattärsche schneiden mir den Weg ab … Glaubst du, da hätte ich noch Zeit, mir auch nur eine Politikerfresse am Straßenrand näher anzuschauen?«
»Amelie Berendsen hat keine Fresse«, sagte Christine finster. »Ich finde, sie ist das exakte Gegenteil dessen, was du unter einem Klischeepolitiker verstehst. Das exakte! Weder Parteisoldat noch Selbstdarsteller. Mit ihr wird es wirklich frischen Wind in der Stadt geben.«
»Na, dich hat sie ja ganz schön eingewickelt.«
»Ach komm, du findest sie doch auch gut, gib’s zu. Übrigens haben wir uns schon mal über sie unterhalten, wir zwei. Vor ein paar Wochen, als sich die Kandidaten zum ersten Mal vorgestellt hatten.«
Ich überlegte. »War das, als du sagtest, Gott sei Dank, wenigstens eine Frau?«
»Korrekt.«
»Und genau deshalb habe ich sie sofort wieder vergessen. Wenn du sie nur wählst, weil sie eine Frau bist, brauche ich mir den Namen nicht zu merken. Bin ja ein Mann.«
»So ein Quatsch, natürlich wähle ich sie wegen der Inhalte. Vor allem deswegen. Aber dass sie eine Frau ist, kommt noch dazu. So viele Oberbürgermeisterinnen gibt es ja nicht in Deutschland. Und deshalb«, sie sah mich scharf an, »deshalb will ich von dir jetzt wissen, warum sie hier war. Was hat sie? Steckt sie in Schwierigkeiten?«
»Nö. Nicht direkt.«
»Ist es etwas Politisches? Wird sie bedroht?«
»Christine, mach mal halblang. Vielleicht geht es gar nicht um sie persönlich.«
»Sondern?«
Genervt drückte ich mich vom Tisch weg. »Du weißt doch, dass ich nicht gern über Aufträge rede. Schon gar nicht, wenn es sich …«
»Du nimmst wieder Aufträge an?«, unterbrach sie mich. »Du ermittelst wieder? Max, das ist ja …«
»Was?«
Sie starrte mich an. Dann sagte sie ohne jede Ironie: »Herzlichen Glückwunsch!«
»Wie jetzt? Glückwunsch wozu?«
»Weil ich es gut finde. Sehr gut finde ich das. Ich glaube, es hat dir gefehlt. Schon die ganze letzte Zeit dachte ich, du solltest wieder …« Sie nickte versonnen vor sich hin. »Ja, genau das war’s. Back to the roots.«
»Ach nee. Sonst sagtest du immer, es sei zu gefährlich.«
»Das habe ich nie gesagt. Nicht die Fälle sind gefährlich, sondern das, was du daraus machst. Außerdem: Gefährlicher, als mit 40 Stundenkilometern freihändig über die Römerstraße zu rasen, wird es schon nicht sein.«
»56«, korrigierte ich. »Sonst hätten sie mich ja nicht geblitzt.«
»Aufschneider. So, und jetzt raus mit der Sprache: Was hat Amelie Berendsen für ein Problem?«
Ich sah zur Uhr. »Christine, ich muss los.«
»Was für eines?«
Ich seufzte. »Ganz harmlos. Ein Flüchtling, um den sie sich kümmert, ist verschwunden, und sie macht sich Sorgen. Anhaltspunkte für ein Verbrechen gibt es nicht, wahrscheinlich löst sich das Ganze in Wohlgefallen auf.«
»Siehst du«, strahlte meine Ex, »so ist sie.«
»Wie?«
»Kümmert sich. Um Flüchtlinge. So eine Frau muss man doch wählen! Und«, fuhr sie fort, als ich nicht reagierte, »übernimmst du den Fall?«
»Könnte sein. Ja, ich denke schon.«
»Freut mich«, nickte meine Ex. Aber dann wurde sie ernst, runzelte sogar die Stirn. Freude sah anders aus, fand ich. »Max … darf ich dich etwas fragen?«
Wieder blickte ich demonstrativ zur Uhr.
»Eine ganz einfache Frage nur: warum?«
»Warum was?«
»Warum nimmst du den Auftrag an? Du hattest in den letzten Jahren jede Menge Anfragen, aber du hast alle abgelehnt. Warum jetzt diesen hier?«
»Keine Ahnung. Warum, warum nicht? Ich hatte das Gefühl, es wäre mal wieder an der Zeit.« Ich stand auf und stopfte mir das Hemd in die Hose. »Werde auf jeden Fall noch drüber schlafen.«
Christine nickte. Sie nickte so bedeutungsschwanger, dass ich mitten in der Bewegung innehielt.
»Verstehe«, sagte sie langsam. »Du magst sie.«
»Wen? Die Berendsen?«
»Natürlich. Du kannst es nicht zugeben, aber du magst sie. Genau wie ich. Ist ja auch kein Wunder.«
»Moment!« Sofort nahm ich wieder Platz, da konnte das blöde Hemd so viel aus der Hose rutschen, wie es wollte. »Was ist denn das für eine dämliche Küchenpsychologie? Traust du mir überhaupt keine professionelle Distanz zu? Ob ich die Berendsen gut finde oder nicht, hat doch mit dem Auftrag nichts zu tun. Wenn du es genau wissen willst: Ich mache es wegen der Kohle. Nur deswegen. Fahrradkurier ist ein saustressiger Job, aber so was von obersaustressig, und zwar nicht nur weil man so hetzen muss, sondern wegen der Kunden und weil einem der Chef im Nacken sitzt, und solange die Bezahlung stimmt, meinetwegen, aber erstens stimmt sie nicht, und zweitens sieht es für die Branche verdammt düster aus, jetzt, da die Leute wieder selbst einkaufen und essen gehen dürfen. Die nächste Entlassungswelle ist nur noch eine Frage der Zeit, und ich bin auch nicht mehr der Jüngste; vorgestern hat mir so ein Milchgesicht von der Konkurrenz in der Steubenstraße 50 Meter abgenommen, 50 Meter!« Ich holte Luft. »Verstehst du, ich muss an die Zukunft denken!«
So. Hatte sie’s? Eher nicht. Meine Exgattin schaute mich mit einem spöttischen Lächeln an, das mich mindestens so rasend machte wie die Niederlage in der Steubenstraße. »Getroffene Hunde bellen«, sagte sie mit einem Augenzwinkern.
Okay, sie wollte mich provozieren. Immer die gleiche Falle. Aber in die würde ich nicht tappen. Ich nicht, verdammt! Noch einmal tief Luft holend, erhob ich mich, brachte die Sache mit dem Hemd in Ordnung und sagte: »Diese Vermisstengeschichte ist lachhaft. Null Nährwert. Aber wenn ich den Fall so lang wie möglich am Köcheln halten kann, lohnt er sich wenigstens. Darum geht’s. Nur darum.«
»Natürlich«, nickte meine Ex. »Nur darum.«