Fjordmusik - Marcus Imbsweiler - E-Book

Fjordmusik E-Book

Marcus Imbsweiler

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Beschreibung

Unverhofft erhält Ole die Einladung zur Orchesterfahrt nach Norwegen. Akuter Geigenmangel ist ein Anlass; noch dringender aber werden Freiwillige für das Fußballspiel gegen die "Wikinger" gesucht. Für Ole wiederum gibt es einen konkreten Grund, seine sportlichen und musikalischen Defizite zu verheimlichen, und dieser Grund hat einen Namen: Ann. Aber auch der Paukist des Orchesters interessiert sich für die Geigerin. Auf ihrer Reise ins Land der Mitternachtssonne erle­ben die jungen Musiker weit mehr als musikalische Tief- und Höhenflüge. Sie begegnen herzlichen Menschen und eigenwilligen Tieren, feiern ihre Jugend und entfesseln die unvergleichliche Kraft der Musik.

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Inhalt
Cover
Marcus Imbsweiler – Fjordmusik
Eins – Ole
Zwei – Gernot
Drei – Ann
Vier – Leo
Der Autor

Eins · Ole

Sie steht vor der Mensa, einen Packen Flyer in der Hand. Blondes Strubbelhaar, spitze Nase, ärmelloses Top. Um sie herum flutet Sonnenlicht. So kurz vor den Ferien stehen dauernd Leute vor der Mensa und verteilen Flyer. Aber niemals Leute wie sie.

»Hey.« Leo rammt mir seinen Ellbogen in die Rippen. »Schau dir das an!«

Ich blinzele. Zwischen uns und ihr liegen fünfzig Meter Luftlinie, circa. Zu viel, um Einzelheiten zu erkennen. Trotzdem sehe ich alles ganz deutlich. Das goldene Leuchten, mittendrin sie, ihre Flyer, sogar ihre Augen. Besonders aber ihr Lächeln. Ein Lächeln wie eine Flutwelle. Ich könnte schwören, dass dieses Lächeln mir gilt. Auch wenn das komplett ausgeschlossen ist. Da sind so viele Menschen, und alle wollen sie zur Mensa. Ein paar aus meiner Vorlesung, Rucksackträger, Fahrradfahrer, kichernde Blondinen, ein Rastatyp auf seinem Hoverboard, Professoren. Und natürlich Leo. Das Lächeln rollt an, brandet über alles und jeden hinweg, wird groß und größer – und schlägt über mir zusammen. Raubt mir den Atem. Ich, Ole Jacobsen, bin derjenige, dem die Blonde ihren nächsten Flyer in die Hand drücken wird.

»Du, die meint mich«, raune ich Leo zu.

»Handy-Werbung. Wetten?«

Ich schüttele den Kopf, schüttele ihr Lächeln aus meinem Haar.

»Oder ein neuer Döner-Laden.«

»Nie!«

»Krankenversicherung für Studenten. RCDS. Historikerfete.«

Leo hat einen Blick für Leute, aber hier liegt er völlig daneben. Als wir endlich an der Mensa und damit am Ausgangspunkt des Lächelns ankommen, gibt es eine Duftwolke obendrauf, die perfekt dazu passt.

Und eine Frage: »Spielst du Geige?«

»Ich?«, sage ich.

Sie hat Sommersprossen, überall im Gesicht. Auch auf den Schultern.

»Das Uniorchester fährt kommende Woche nach Norwegen. Wir brauchen Geigen, und zwar dringend.«

Sie hält mir einen ihrer Zettel unter die Nase. Irgendetwas mit Musik steht darauf, mit Fjorden, Konzerten und Edvard Grieg. Es ist nicht viel Text, aber zu viel für mich in diesem Moment. Dieser Duft, was ist das überhaupt? Orange? Pfirsich? Sanddorn?

»Wir könnten versuchen, ihre Sommersprossen zu zählen«, höre ich Leo flüstern, »aber bis nächste Woche würden wir nicht fertig.«

»Wieso glaubst du, ich könnte Geige spielen?«, sage ich.

Sie zeigt auf meinen Hals. Lächelnd. »Na, deswegen.«

»Nicht rot werden!«, zischt Leo. »Nicht, verdammt!«

»Ach, das«, sage ich und werde rot.

»Das« ist mein Geigenfleck. Eine Art Stempel. Als ich mit dem Instrument anfing, so vor zehn, zwölf Jahren, reagierte meine Haut irgendwie beleidigt. Ihr passte es nicht, wie dieses lackierte Stück Holz an meinem Hals schubberte, und weil es ihr nicht passte, protestierte sie. Nach einem halben Jahr hatte ich im Knick zum Kinn eine rote Stelle, die nicht mehr wegging. Auch nicht, als ich auf Bratsche umstieg. Ich versuchte es mit Salben, mit Fettcreme, legte Pausen ein, einen Lappen drunter – nichts. Es wurde nur noch schlimmer. Der Fleck gewöhnte sich an mich, aber ich mich nicht an ihn. Und da bin ich nicht der Einzige. Wenn ich mal zum Arzt muss, wegen Grippe oder so, inspiziert der zuerst meinen Hals. Saugt sich regelrecht fest mit seinem Medizinerblick. Ist vom Geigen, sage ich und werde rot, jaja, murmelt der Arzt, weiß schon. Aber so groß! Und so entzündet! So profiliert! Respekt, junger Mann.

Stimmt ja auch. Das Teil wäre was fürs Museum. Oder den Pschyrembel. Breit, wulstig, dunkelviolett. Sichtbar aus fünfzig Metern Entfernung. Im Erdkundeabi, kein Witz jetzt, hat mir das Scheißding eine Vier eingebrockt. Fragt mich der Prüfer doch plötzlich nach der Entstehung der Mittelgebirge, völlig am Thema vorbei. Ärzte sind da professioneller, wollen aber gleich mit dem ganz großen Besteck ran, und wenn ich dann knallrot dasitze, glauben sie mir meine Grippe nicht mehr.

»Ach, das«, sage ich und werde rot. Leo verdreht die Augen.

»Uns sind fast alle Geigen abgesprungen. Wenn wir nicht wenigstens eine Handvoll zusammenkriegen, brauchen wir gar nicht erst zu fliegen. Wäre toll, wenn du zum Vorspiel kämst. Wirklich.«

»Das ist kein Geigenfleck.«

»Nein?«

»Ich spiele Bratsche.« Noch ein Grund, rot zu werden. Weniger wegen der Bratschen, die ja als Deppen des Orchesters gelten, sondern weil ich so schlecht spiele. Nicht rasend schlecht, also ich weiß schon, wie rum man das Gerät hält, aber viel schlechter, als es mein Geigenfleck vermuten lässt. Nach meinem Geigenfleck zu urteilen, müsste ich David Garrett sein, mindestens. Oder gleich ein komplettes Streichorchester. Bin ich aber nicht. Bloß ein unterdurchschnittlicher Hobbybratscher, der nie auch nur auf den Gedanken gekommen wäre, sich so was wie dem Uniorchester anzudienen.

»Bratschen haben wir genug, tut mir leid. Aber wenn du Bratsche spielst, kannst du auch Geige, oder?«

»Logo«, ruft Leo. »Norwegen, überleg mal!«

Ich starre auf den Flyer. Wann habe ich zum letzten Mal eine Geige in der Hand gehalten? Zu Konfirmationszeiten?

Leo rempelt mich mit der Schulter an. »Was gibt es da zu zögern? Norwegen! Lachse angeln, Elche gucken. Mitternachtssonne und Polarlichter!«

»Ihr braucht wirklich keine Bratschen?«, sage ich.

»Probier’s einfach. Unter uns: Das Vorspiel ist eher pro forma. Flug, Übernachtungen, wir bekommen alles bezahlt. Und Norwegen im Sommer – ein Traum, sage ich dir.«

»Ich habe aber keine Geige«, sage ich. Leo rauft sich die Haare.

»Wir organisieren dir ein Leihinstrument. Daran soll es nicht scheitern.«

»Okay, dann.« Ich sage es tatsächlich: Okay, dann.

»Supi.« Sie tippt auf den Flyer und erklärt mir, bei wem ich mich zu melden habe. Reisedaten, Konzertorte und Programm stehen ebenfalls auf dem Zettel. Ihr Name leider nicht. Als ich den Wisch einstecke, bin ich hoffentlich nicht mehr ganz so rot wie vorher. Nur mein Geigenfleck glüht. Der weiß, was ihm jetzt droht.

»Dann bis dann«, sage ich.

»Freut mich«, strahlt sie und fixiert bereits den Nächsten, dem sie einen Zettel unterjubeln kann.

Leo schüttelt den Kopf. »Diese Augen!«

Und das stimmt. Wir sind schon ein paar Schritte gegangen, als mir etwas einfällt. Ich drehe mich um. »Was spielst du eigentlich?«

»Geige«, lächelt sie.

Geige. Ich starre auf die linke Seite ihres Halses. Da ist nichts, überhaupt nichts. Nicht einmal die kleinste Erhebung oder Unebenheit oder Rötung. Nichts.

Nur eine einsame Sommersprosse, die sich wohl in den Koordinaten vertan hat.

»Dann am Donnerstag. Aber das ist wirklich die letzte Möglichkeit.«

»Okay, danke.«

Und sonst? Üben. Wobei in meinem Fall »üben« das falsche Wort ist. Straflager trifft es eher. Schuften im Steinbruch der Violinliteratur. Wenn ich nicht gerade esse oder schlafe, spiele ich. Zuerst auf meiner Bratsche, die regelrecht verstört klingt, dann auf dem Leihinstrument. Tonleitern rauf und runter. Saubere Striche. Intonation. Bogenhaltung. Die komplette Grundausbildung, wie bei der Bundeswehr. Dienst am Vaterland.

»Scheiß Hilfslinien!« Fast hätte ich das Instrument gegen die Wand gekeult. Leo, der auf dem Sofa ein Nickerchen gemacht hat, tippt sich an die Stirn.

Die Geige gehört dem Vater eines der Orchestermitglieder, und es ist der wertvollste Gegenstand, den ich je in der Hand gehalten habe. Natürlich ist das Ding versichert, doppelt und dreifach sogar, trotzdem ist es ein schlechter Witz, mir so etwas anzuvertrauen. Mir. Einem Bratschenversager.

Das Instrument gibt sich alle Mühe, es ähnelt einem Premium-Leihwagen, der sich einfach nicht abwürgen lässt, auch wenn man sich noch so trottelig anstellt, ich aber schaffe es. Ja, ich schaffe es, diese verdammt teure, verdammt genial klingende Stradivari mitten in der Melodie abzumurksen. Erst sing-sing, dann krächz. Saite verfehlt, Bogen verrutscht, Ton verreckt. Bestimmt merkt der Besitzer sofort, wie ich seinen Liebling misshandelt habe.

Ich meine, es ist natürlich keine Stradivari. Höchstens im Vergleich zu meinen unterirdischen Fähigkeiten. Wir passen einfach nicht zusammen, sie und ich. Was unter Normalbedingungen ja auch kein Beinbruch wäre. In diesem Leben wird aus mir kein Virtuose mehr werden, nicht einmal ein brauchbarer Laienorchestergeiger. Das Problem ist, dass ich bei Madame Strubbelhaar im Wort stehe und am Donnerstag einen Vorspieltermin habe. Das ist die Lage.

Also: weiterüben. Scheiße.

»Wusste gar nicht, dass du so ein Jammerlappen bist«, gähnt Leo vom Sofa her.

»Dich hat keiner gefragt.«

Meinen Vater hat auch keiner gefragt, trotzdem ruft er an. Ob ich noch Literatur bräuchte, für die Fallbearbeitung. Wenn ich welche bräuchte, solle ich mich nur an ihn wenden. Vertrauensvoll sozusagen. Er habe ja alles an Literatur, fast alles, nicht wahr.

»Ja«, sage ich. In der einen Hand halte ich das Telefon, in der anderen Geige und Bogen.

»Also brauchst du noch Bücher?«

»Nein.«

»Welche? Du musst es nur sagen, Junge.«

»Schon okay, Papa.«

»Du weißt, ich stehe jederzeit zur Verfügung. Auch bei der Gliederung. Die Gliederung ist schwer, vielleicht sogar das Schwerste. Hast du schon mit der Gliederung angefangen?«

»Nein.«

»Dann solltest du morgen oder spätestens übermorgen …«

»Papa, ich fahre nach Norwegen. Also vielleicht.«

Stille am anderen Ende der Leitung.

»Eventuell«, sage ich.

»Wohin?«

»Nach Norwegen. Aber nur, wenn ich das Vorspiel bestehe. Deshalb muss ich üben. Morgen. Übermorgen auch. Um die Hausarbeit kümmere ich mich anschließend.«

»Wieso Norwegen?« Mein Vater klingt verwirrt, wie plötzlich gealtert. »Wozu denn das?«

»Das Uniorchester fährt dorthin. Sie brauchen mich.«

»Aber du musst doch deine Fallbearbeitung schreiben. Du kannst nicht fahren, Ole!«

»Mache ich alles hinterher, Papa. Wird schon.«

»Du hast einen Abgabetermin. Wie soll das …?«

»Kriege ich hin, wirklich. Und jetzt muss ich üben. Tschüss, Papa.«

Er ruft noch drei- oder viermal an, aber ich lasse es klingeln, was mir ein anerkennendes Schulterklopfen von Leo einbringt. Später am Tag meldet sich meine Mutter.

»Du fliegst nach Norwegen?«

»Vielleicht. Wenn sie mich nehmen.«

»Weißt du, ich bin so glücklich, dass du endlich Anschluss gefunden hast, mein Lieber. Es wird dir gefallen in Skandinavien, es ist wunderbar dort. Und ich freue mich ganz besonders, dass du wieder zur Bratsche gegriffen hast, Ole, das habe ich so vermisst, ich glaube, du brauchst die Musik einfach als Ausgleich zum Studium.«

»Geige, Mama, nicht Bratsche.«

»Das Leben besteht aus mehr als Paragrafen, nicht wahr, auch wenn dein Vater da anderer Ansicht ist.«

»Ich weiß.«

»Brauchst du denn noch etwas? Ein Visum oder den Impfpass? Du weißt, dein Vater kann jederzeit …«

»Wieso Visum? Norwegen liegt in Europa.«

»Aber zur EU gehört es nicht, ich habe mich erkundigt. Vater lässt dir ausrichten, dass er deinen Professor anruft, wenn du eine Verlängerung für deine Arbeit brauchst. Er sagt, das sei kein Problem.«

»Brauche ich nicht.«

»Nein?«

»Wenn man eine Fallbearbeitung in vier Wochen schreiben kann, kann man es auch in drei.«

»Bestimmt kann man das.« Sie klingt unglücklich. »Du kannst das, Ole. Du wirst ein guter Jurist, ein sehr guter. Das steckt in dir drin.«

Ich lege auf und setze das Instrument wieder an. Tonleitern, Intonation, Bogenhaltung. Die Musik steckt jedenfalls nicht in mir drin. Sie ist pure Plackerei.

»Fertig?«, fragt einer der Zuhörer schließlich.

Ich nicke.

»Ah. Schön.«

»Okay, dann.« Das ist die Frau neben ihm. Sie hat mir ihren Namen genannt, aber ich habe ihn vergessen. Caroline? Katharina?

»Wir melden uns.« Der Dirigent stemmt sich aus seinem Sitz hoch und reißt eines der Fenster auf, die sie nach meinen ersten Tönen geschlossen haben.

»Alles klar«, sage ich. »Danke. Und wann?«

»Wann was?«

»Wann Sie sich melden?«

»Bald.« Er wirft den anderen einen ungnädigen Blick zu. »Muss ja schnell gehen. Muss ja.«

Ich packe das Instrument ein. So etwas dauert, ob die Finger nun zittern oder nicht. Bogen entspannen, Kinnstütze abnehmen, Kolophonium verstauen. Die Noten segeln vom Ständer, als ich nach ihnen greife. Geigenkasten schließen, Hülle ebenfalls, Reißverschluss hakt. Reißverschluss wieder aufzerren, noch einmal zu, hakt. Egal. Halb verschlossenen Geigenkasten über die Schulter hängen, Blick durchs Zimmer schweifen lassen: Hab ich was vergessen?

Während all dieser Zeit stecken die vier Anwesenden – der Dirigent, der Konzertmeister, die Stimmführerin der zweiten Geigen und noch eine – ihre Köpfe zusammen und tuscheln. Wobei tuscheln das falsche Wort ist. Hauptsächlich verständigen sich die vier über Gesten: rollen mit den Augen, zucken die Schulter, kratzen sich am Ohr. Tja. Kurze Frage, keine Antwort. Zurücklehnen, Hände hinter den Kopf, zur Decke starren, ganz viel Luft aus den Lungen lassen. Der Dirigent geht wieder zum Fenster und schaut hinaus. Die aus der zweiten Geige zückt ein Handy.

Ich bin schon an der Tür, als ich ein Fingerschnippen höre.

»Sag mal …« Das ist der Konzertmeister, Kaugummi im Mund.

Ich drehe mich um. Was gibt es noch?

»Du weißt schon, dass dein Vorspiel nicht berauschend war.«

»Ja, weiß ich. Bin ein bisschen aus der Übung. Und dann das neue Instrument.«

»Ehrlich gesagt, warst du der Schlechteste, den wir bisher hatten. Und die anderen waren auch nicht gut.«

Jetzt zucke ich mit den Schultern. Was soll’s, er hat ja recht. Er hat so recht, dass es sich nicht einmal lohnt, rot zu werden.

»Nun mach ihn nicht so fertig, Niklas«, sagt die aus der Zweiten. »Ich fand’s im Rahmen. Kann ja nicht jeder ein Naturwunder sein.«

Niklas hebt beide Hände. »Sorry, ich sag, wie’s ist. Beziehungsweise wie ich es empfinde. Aber okay, vielleicht bist du heute einfach scheiße drauf. Kann passieren. Und ein paar Tage hast du ja noch zum Üben.«

Ich kneife die Augen zusammen. Täusche ich mich, oder ist das wirklich Leo gewesen, der durch das äußere, noch geschlossene Fenster hereingelinst hat? Er hat mir versprochen, draußen zu warten, der Idiot. Ohne Sperenzchen.

»Anderes Thema.« Der Konzertmeister schaut auf seine Finger. »Spielst du Fußball?«

»Fußball?«

»Ja, Fußball.«

»Äh, schon«, sage ich. »Klar.« Keine Ahnung, warum ich das sage. Ich hasse Fußball. Ich hasse jede Art von Sport. Außer Fechten und Schach. In Fechten war ich mal eine Zeit lang richtig gut, zu Hause stehen meine Pokale. Ein paar. Neben den vielen meines Vaters. Schach, zwei minus. Aber Fußball! Dann lieber Geige üben bis ans Ende meiner Tage.

Und während mir das noch als Gedankenfetzen durch den Schädel rast, entspannen sich die vier vor mir. Sogar der Dirigent.

»Cool«, sagt die eine Frau. »Fahrt gerettet«, ergänzt die andere.

Niklas setzt sich gerade hin. »Stürmer?«

»Ja«, sage ich. »Also nee, nicht unbedingt.« Am Fenster taucht Leos Gesicht auf, nun ist er es wirklich. Seine Lippen formen ein unhörbares »Mittelstürmer«.

»Ich bin eher so die Allzweckwaffe«, sage ich. »Stürmer auch irgendwie. Nur Dings, also Elfmeter schieße ich nicht so gern.«

Der Konzertmeister hebt eine Hand und klatscht seine Geigenkollegen ab.

»Passt!«, ruft er. »Man kann nicht alles können, Fußball und Musik. Also, pack deine Kickstiefel ein, Kollege, Schienbeinschoner auch. In Oslo steigt das ultimative Duell gegen die Wikinger. Wir haben einen Ruf zu verlieren. Und deshalb brauchen wir jeden Mann.«

»Welchen Ruf?«, fragt die Stimmführerin mit ganz spitzem Mund.

»Auswärtssieg!«, brüllt Niklas.

Ich räuspere mich. »Heißt das … heißt das, ich bin … also ihr nehmt mich?«

»Die anderen haben wir auch genommen«, knurrt der Dirigent. »Lauter Frauen. Heutzutage lernt kein junger Mann mehr Geige, es ist eine Schande. Wir haben keine Wahl. Aber du nutzt die verbleibenden Tage und tust was, ist das klar?«

Durch das Fenster sehe ich zwei in die Höhe gereckte Daumen.

»Okay«, sage ich. »Ich tue was, versprochen. Kicken oder Geigen?«

»Yep«, sagt der Konzertmeister und schaut richtig zufrieden drein.

Mist.

Als ich schon drauf und dran bin, mich zu verdrücken, kommt Niklas, der Konzertmeister, auf mich zu und zeigt mir meinen Platz: zweite Geigen, letztes Pult.

»Aber keine Sorge, wir wechseln durch. Nach dem Konzert in Trondheim sitzt ihr weiter vorn.«

»Das ist schon okay so. Mach dir wegen mir keinen Kopf.«

Letztes Pult. Kann mir etwas Besseres passieren? Ich nehme Platz, stelle meine Noten auf den Ständer, spiele ein paar Töne. Um mich herum großes Suche-und-Finde-Chaos. Stühle werden gerückt, Neulinge eingewiesen. Ich blicke zu Leo hinüber, der ganz hinten im Saal sitzt und mir aufmunternd zunickt.

»Hi, ich bin Veronika.« Eine kleine Stämmige mit Pferdeschwanz streckt mir ihre Hand hin. »Sieht aus, als wären wir zusammen am Pult.«

»Ole. Freut mich.«

Veronika hat einen kräftigen Händedruck, und genau so spielt sie auch. Sie strunzt über die Saiten, stimmt pro forma nach, fertig. Zufrieden sieht sie auf.

»Na, auch neu hier?«

Ich nicke. »Vor der Mensa hat jemand Flyer verteilt. Millionen von Flyern. Irgendwann konnte ich nicht mehr ausweichen.«

»Das war Ann. Mich hat sie in der Vorlesung angesprochen.«

»Studiert ihr zusammen?«

»Ja, Medizin.«

»Und warum fehlt sie heute?«

»Krank, hieß es.«

»Aber mitfahren wird sie doch? Ich meine, wo sie sich derart ins Zeug gelegt hat?«

»Keine Ahnung.«

»Ah.« Ich streiche ein Eselsohr aus den Noten. Plötzlich habe ich keine Lust mehr auf Norwegen. Was soll ich am Polarkreis, außer mir eine Erkältung zu holen? Elche gibt es in jedem Zoo. Wenn ich weiter so übe, wird sich mein Geigenfleck entzünden und als Geschwür nach innen wachsen. Fußball ist eh Mist.

Vorne nimmt der Dirigent auf seinem Hocker Platz. Es wird still im Saal. Eine vom Vorstand begrüßt alle Neuen, die es ermöglicht haben, dass die Norwegen-Fahrt doch noch stattfinden kann. Dabei schaut sie in unsere Richtung. Und hey, sie sieht regelrecht dankbar dabei aus. Dankbar, dass ich hier hinten sitze und einen Orchestergeiger mime. Großer Beifall, Getrampel.

Na und?

»Wir fangen mit Grieg an«, ruft der Dirigent. »Nach der Pause Sibelius. Wer es noch nicht mitbekommen hat: Die Solistin stößt erst in Norwegen zu uns. Alles bereit?«

Veronika drückt ihr kurzes Kreuz durch.

Geigen-Oles Uniorchesterlaufbahn beginnt mit einem Schrumm. A-Dur, gleich so ein fieser Doppelgriff, dass das Kolophonium stäubt. Danach wird es übersichtlicher. Holzbläser und erste Geigen haben die Arbeit und die hübschen Melodien, wir zweiten die Nachschläge. Bloß dass mich das nicht interessiert. Hauptrolle oder Begleitung – egal. Das Orchester ist unvollständig, nur das zählt. Lustlos liefere ich meine Noten ab. Überlege sogar, absichtlich falsch zu spielen, damit sie mich gleich wieder rausschmeißen. Dann bliebe mir wenigstens das Gekicke auf Schnee und Eis erspart. Da vorne lauert eine Generalpause, die nur darauf wartet, dass einer in sie hineinrasselt. Soll ich? So richtig mit Karacho? Soll ich?

Und zack!

Der Dirigent winkt ab und blinzelt zu uns herüber.

Sofort werde ich rot. Obwohl ich gar nicht gespielt habe.

»Upsi«, macht es neben mir. Veronika, meine Pultnachbarin! Ich sage ja, die Frau hat was Zupackendes. Wenn schon in die Pause semmeln, dann aber richtig.

»Das war wohl ich.« Mit bewundernswerter Ruhe zückt sie einen Bleistift und umkringelt die Stelle.

Wir spielen die Passage noch einmal, und jetzt geht alles glatt. Kurz danach nimmt der Dirigent die Holzbläser aufs Korn. Intonationsprobleme oder so was. Ich setze mein Instrument ab und schaue ins Leere.

»Mit dem Zählen habe ich es nicht so«, flüstert Veronika.

»Wird schon.«

Eigentlich müsste ich ihr dankbar sein. Sie spielt selbstbewusst und ziemlich laut, bietet also perfekten Windschatten. Windschatten kann man immer gebrauchen. Vor allem wenn man Ole Jacobsen heißt. Dank der Überei im Vorfeld haben sich meine geigerischen Fähigkeiten exponentiell verbessert, aber das ist auch keine Kunst, wenn man knapp über null startet. Außer einer ausgereiften Pausenvermeidungsstrategie habe ich nicht viel zu bieten. Die in meiner Umgebung allerdings auch nicht. Da wird krampfhaft gezählt und mit den Vorzeichen gekämpft. Ich sehe schon: lauter Nachrücker. Einwechselspieler, Panikeinkäufe. Was musikalisch über dem Durchschnitt liegt, tummelt sich in der ersten Geige. Teambuilding sieht anders aus, finde ich. Und klanglich überzeugt es mich auch nicht, von Konzertreife sind wir noch Lichtjahre entfernt. Selbst nach norwegischen Maßstäben.

Wobei das nicht für das gesamte Orchester gilt. Drüben die Bratschen zum Beispiel, wenn die sich ins Zeug legen, klingt es echt nach Schokolade. Mal Zartbitter, mal Vollmilch. Ein eingespielter Haufen, jede Bewegung synchron. Da würde einer wie ich bloß stören.

Und sonst? Celli und Bässe fallen nicht weiter auf. Die Bläser – blasen halt. Wenn das mal nicht von »blasiert« kommt. Ich meine, schaut sie euch doch an, wie sie gelangweilt auf dem Stuhl rumhängen, bis ihr Einsatz droht, und zack, hauen sie ein Solo raus, ohne mit der Wimper zu zucken. Die Klarinettisten winden sich wie Schlangenbeschwörer. Flöten werden nur mit spitzen Fingern angefasst. Im Blech haben sie jede Menge Zeit zum Chatten. An der ersten Oboe sitzt die vom Vorstand, die vorhin die Ansage gemacht hat. Einmal fange ich ihren Blick auf. Sie lächelt mir zu. Ähnlich wie Ann damals vor der Mensa, bloß über die Kurzstrecke. Aber hübsch ist sie auch. Wer mir so zulächelt, ist per definitionem hübsch. Vom Typ her könnte sie Juristin sein, mit ihren langen Haaren und den Perlenohrsteckern. Trotzdem andere Liga, Ole.

»Hängt euch an Claire dran«, kommt es von vorne. »Die Oboe führt, ihr begleitet.«

Claire also, auch hübsch. Der Dirigent heißt Christian, soweit ich weiß, aber irgendwann fällt ein Name, den ich überhaupt nicht einordnen kann.

»Wie nennt ihr den?«, flüstere ich Veronika zu.

»Puppe.«

»Den Dirigenten?«

»Ja. Christian Poupas, die Eltern sind Griechen, glaube ich. Deshalb Puppe.«

»Ach so.«

Sie grinst. Man sollte vielleicht noch erwähnen, dass Puppe an die zwei Meter groß ist. Muskulös, durchtrainiert, Kreuz wie ein Möbelpacker, und ganz oben auf diesem Athletenkörper thront eine Glatze, die rot anläuft, wenn er sich durch die Partitur wuchtet.

Okay. Das also ist es. Das berühmte Orchester der Universität, das dem Publikum halbjährlich eine Bruckner-Sinfonie serviert oder ein fettes Brahms-Konzert. Klingende Dekoration, wenn der Rektor den Bundespräsidenten empfängt. Das Orchester der Auserwählten. Und mittendrin ich.

»Ich fahre nicht mit«, sage ich in der Pause zu Leo.

»Spinnst du?«, fährt er auf. »Wenn du das tust, ist es aus mit uns beiden.«

»Hi«, sage ich. »Hat geklappt mit dem Vorspiel.«

»Sieht man. Schön.«

Sie erkennt mich nicht. Sie hat völlig vergessen, dass sie mir den Flyer gegeben, dass sie mich persönlich angesprochen hat. Okay, ich bin einer von Tausenden gewesen. Von Zehntausenden. Ich habe nichts Einprägsames. Wer mein Gesicht zum ersten Mal sieht, vergisst es sofort wieder.

Ja, mein Gesicht schon. Dafür aber …

Ich drehe meinen Kopf so zur Seite, dass mein Geigenfleck in ihr Blickfeld gerät.

»Schön«, sagt sie noch mal. »Hau rein.«

Jetzt hat sie mich erkannt.

Sie sitzt am zweiten Pult der ersten Geigen, direkt hinter Niklas, dem Konzertmeister, der eine supercoole Lederjacke trägt und spielt wie ein junger Gott. Er sieht auch ein bisschen so aus, südländischer Typ, Dreitagebart, wie ein unrasierter junger Gott gewissermaßen. In der Sinfonie gibt es ein Solo für ihn, das auch einem Profi schlaflose Nächte bereiten würde. Er legt dafür nicht mal seine Jacke ab. Klar ist es kühl in dem Probenraum, von irgendwoher zieht es, aber das gehört wahrscheinlich zur Vorbereitung auf Skandinavien.

Ann hängt wie ein Schluck Wasser in ihrem Stuhl. Wenn Puppe den Taktstock hebt, gibt sie sich einen Ruck und nimmt Haltung ein. Sie sitzt dann ganz vorne auf der Stuhlkante, neigt den Kopf ein wenig nach links, als horche sie in ihre Geige hinein. Unter ihrem dünnen Pulli zeichnen sich die Schulterblätter ab. Ich fange einen verschwörerischen Blick Leos auf, der mir signalisiert: Hast du ihre Schulterblätter gesehen? Hast du gesehen, wie sie sich bewegen, wenn sie spielt? Ist das eine Augenweide oder ist das keine?

»Noch mal ab Buchstabe F«, ruft Puppe.

Ich linse zu Ann hinüber. Klar ist das eine Augenweide. Aber noch mehr gefällt mir, dass oben, zwischen Kragen und Haar, das Wäscheschildchen rausspitzt, das mit Baumwolle und vierzig Grad.

Leo hat es natürlich auch bemerkt.

Kaum winkt Puppe ab, fällt Ann wieder in sich zusammen. Neben mir klopft Veronika mit der Bogenspitze auf die Noten.

»Fünf b«, murmelt sie. »Muss das jetzt sein? Die Feinde werden übermächtig.«

Schon verstanden. Fünf b sind mindestens drei zu viel, wenn man sich gerade auf zwei Schulterblätter in der ersten Geige konzentriert. Ich gehe mal davon aus, dass Veronika es gut mit mir meint, und deshalb sage ich auch nichts, als sie kurz darauf wieder in ihre Lieblingspause platzt.

Kopfschüttelnd malt sie einen noch dickeren Kringel um den Takt.

Aber das ist alles nichts gegen die Fallstricke, die in der Sinfonie auf uns warten. Russische Fallstricke, ausgelegt von einem Fallensteller namens Schostakowitsch. Für meinen Vater gehören Typen wie der nicht in klassische Konzertprogramme. Kommunisten! Im Zweiten Weltkrieg, erzählte er mir, wurden Noten von dem Kerl um den halben Erdball geschmuggelt. Damals brauchte die Welt den Bolschewismus ja noch, um die Nazis zu bekämpfen. Aber heute? Da könne man ja gleich die alten Stalin-Statuen wieder aufrichten.

An Stalin und den Krieg muss ich denken, als wir uns in die Sinfonie stürzen. Die schnellen Sätze, ein Minenfeld. Hinter jeder Ecke eine neue Tonart, ein Taktwechsel, eine rhythmische Finte. Das Ganze im Höchsttempo, Tachonadel auf Rot. Durchkommen als einziges Ziel – aber wie? Vielleicht mit Staatsdoping. Ich stelle mir sowjetische Elitemusiker vor, gedrillte Wunderkinder, die vor Doppelgriffen in der dreigestrichenen Oktave weniger Schiss haben als vor dem Klassenfeind aus dem Westen.

»Ihr sollt nicht schön spielen!« Puppe bricht mitten in der Phrase ab. »Versteht ihr: nicht schön!«

»Also was mich angeht«, raune ich Veronika zu, »ich habe gar nicht gespielt.«

»Dann war es wenigstens nicht falsch.«

»Es soll hässlich klingen, Leute!« Puppe wird heiser. »Klar? Bissig, biestig, kratzig, Grimasse im Gesicht. Immer Zunge raus! Könnt ihr das überhaupt? Zeigt mal eure Zunge! Na los, alle Mann.«

Bevor ich mich entschieden habe, ob ich das lächerlich finden soll oder nicht, sehe ich, wie das komplette Orchester die Zunge rausstreckt. Wirklich alle! Im Zuschauerraum springt Leo auf und macht ebenfalls mit.

Ich also auch.

»Genau so spielen wir das jetzt«, sagt Puppe zufrieden und hebt den Taktstock.

Und schon geht es wieder los. Formel 1 ist Sandkasten dagegen. Einmal versteuert, und du tuckerst dem Feld hinterher. Dauernd Taktwechsel, Sprünge, Synkopen, quere Rhythmen. Für saubere Töne bleibt da keine Zeit. Mein Instrument quietscht, aber solange es quietscht, bin ich noch dabei. Vor mir werden die Segel gestrichen. Links und rechts rauschen sie in die Generalpausen rein, Veronika natürlich immer dabei. Zielgerade, Schlusstakt – angekommen!

»Heftig.« Veronika lässt die Geige sinken. »Echt heftig. Sag mal, können wir uns nicht zusammentun? Ich sorge für die korrekten Töne, du bringst sie an der richtigen Stelle unter.«

»Ich kann dir auch die Einsätze geben. Übertrieben deutlich. Und du spielst dann.«

»Du nicht?«

»Nö. Nur Einsätze.«

»Dann muss ich doppelt so laut spielen. Für dich mit.«

»Genau.«

Ich überlege, wie weit ich mit dieser Strategie wohl komme. Irgendwann wird es auffallen, wenn einer nur die große Luftnummer fabriziert. Andererseits spricht nichts dagegen, ein paar von den hohen Tönen wegzulassen, während ich so tue, als langte ich ordentlich hin. Wenn es dann rechts von mir korrekt klingt, hat unser Pult alles richtig gemacht.

So kämpfen wir uns durch die Probe. Not und Elend. Möglicherweise bin ich der Schlechteste des gesamten Orchesters, aber es gibt noch andere Schlechte. Ich bin nicht allein. Was sich bei uns hinten in der zweiten Geige so rumtreibt, hat was von B-Sortierung. Von Typen, die für einen Gratisurlaub in Norwegen mal eben ihre Schrabbel vom Dachboden gekratzt haben. Scheiße, verschimmelt! – der alte Bratschenwitz. Dabei sind es hier die Bratschen, die das Rückgrat des Orchesters bilden.

Als ich auch die Samstagsprobe überstehe, ohne vor versammelter Mannschaft rundgemacht zu werden, kommt mir ein Verdacht. Ein ziemlich ungeheurer Verdacht. Der Verdacht nämlich, dass ich hier womöglich sogar fußballerisch mithalten kann. Zur Not als Torpfosten. Im Uniorchester sind die Männer klar in der Unterzahl. Der Dirigent, der Konzertmeister, eine Handvoll Streicher, ein paar Bläser. Fünfprozenthürde mit Mühe geschafft. Eine Fußballmannschaft kriegt man da nur zusammen, wenn man die zu Alten mitzählt, die zu Dicken und die, die Angst vor dem Ball haben. Und natürlich die Frauen.

Ich sehe mich schon die Ehre meines Landes am Polarkreis verteidigen.

Ob ich mich darüber freuen soll, weiß ich allerdings nicht.

Und den hätten wir beinahe vergessen.

Am Flughafen das übliche Chaos. Vergessene Noten, vergessene Zahnbürsten, vergessene Kuscheltiere. Es ist so früh am Morgen. Eines von siebzig Tickets geht verloren und wird wiedergefunden. Puppe, der ohne Unterlass telefoniert, muss schließlich zum Gate geschoben werden. Durchzählen. Alle da. Noch mal durchzählen. Unsere fünf oder sechs Nicht-EU-Mitglieder werden vom Rest abgesondert. Und dann – wir haben gerade das Ende des Duty-Free-Bereichs erreicht – bleibt Niklas abrupt stehen: »Scheiße!«

Den Geigenkasten hält er in der Hand, die Lederjacke hat er an. Wo also ist das Problem?

»Scheiße, Leute! Wir haben keinen Fußball!«

Ringsum Gestöhne. »Nein!«

Sogar Puppe hört für einen Moment auf zu telefonieren.

»Das darf doch nicht wahr sein!«

»Ohne Fußball? Ich glaub, ich spinne!«

»So was geht gar nicht.«

»Gibt es in Norwegen keine Fußbälle?«, wirft Veronika ein.

»Und wann sollen wir trainieren?« Niklas tippt sich an die Stirn. »Wir brauchen jetzt einen. Jetzt sofort.«

Er drückt der Nächststehenden seinen Geigenkasten in die Hand und flitzt davon. Kurzes Zögern. Das ist so eine Situation, in der sich zeigt, wer im Orchester wie viel für König Fußball zu opfern bereit ist. Da, einer folgt ihm. Dann noch einer und noch einmal zwei. War’s das? Das war’s. Sorry, Jungs, aber so zwingen wir die Nordmänner nie in die Knie. Die vom Vorstand schauen bereits zur Uhr.

Während die Ersten Richtung Gate pilgern, tröpfeln die Fußballer zurück. Der eine hat nichts, der nächste zuckt bloß mit den Achseln. Ein Hornist bringt eine Schachtel Schokofußbälle, immerhin. Niklas kommt als Letzter. Seine Ausbeute ist ein Kissen. Ein rundes Kissen mit Fußballbezug.

»Mehr ist nicht«, keucht er. »Und Geld wollten sie für den Mist auch noch.«

Sein Pulti drückt ihm den Geigenkasten in die Hand. »Können wir?«

Ich räuspere mich. »Und warum fragt ihr nicht bei dem Sportladen dort, ob sie euch die Deko überlassen?«

»Was für ein Sportladen?«

Ich zeige auf das Geschäft, neben dem Leo schon eine Weile steht. Die Arme verschränkt und über das ganze Gesicht grinsend. Sportladen ist eigentlich der falsche Begriff. Richtiger wäre Designerklitsche. Ein Shop für alles und nichts, der seine Gesichtslosigkeit durch ein paar Sportaccessoires im Schaufenster übertüncht. Durch eine Hantel, einen Tennisschläger und einen Mini-Fußball. Etwas größer als eine Faust. Kirschrot mit rosa Kussmund, auch das noch. Aber zehnmal besser als ein Kissen in Soccer-Optik.

»Stark«, meint der Konzertmeister. »Affenstark. Das quatsche ich denen ab.«

Er will schon los, als er sich noch einmal zu mir umdreht. »Stürmer?«

»Allrounder«, sage ich.

»Echt stark, wirklich.«

Zwei Minuten später gehört der Fußball ihm.

»Hey.« Sie lächelt, aber es ist ein Schau-woandershin-Lächeln.

»Man sieht jetzt Norwegen.«

»Ah.«

Ich schweige. Mehr als diesen einen Satz habe ich nicht auf Lager. Dachte, es könnte sich etwas daraus ergeben. Man – also wir – sieht Norwegen. Du und ich. Aber es geht nicht weiter. Ihr »Ah« ist das Stoppschild. Ich will eben den Rückzug antreten, als sich der Typ neben ihr einmischt.

»Zum Glück«, nickt er.

»Warum?«

»Hätte ja auch Finnland sein können.«

»Wieso Finnland?«

»Weil wir uns dann verflogen hätten. Oder Bulgarien. Kann jemand Bulgarisch?«

Ich schweige erneut. Scheint ein Spiel zu sein, das ich noch nicht kenne.

»Bei meiner letzten Orchesterfahrt«, erzählt er, und schon diese Einleitung macht ihn mir extrem unsympathisch, »bei meiner letzten Orchesterfahrt sollten wir in Neustadt auftreten. Neustadt irgendwo. Aber der Busfahrer hatte seinem Navi das falsche Neustadt eingeflüstert. Wir brettern also ewig über die Autobahn, finden den Konzertsaal nicht, und als es der Busfahrer kapiert, ist es zu spät. Navi – naiv.«

»Echt wahr?«, sagt Ann.

Er nickt.

»Das muss euch doch aufgefallen sein«, sage ich. »Man fährt nicht stundenlang über die Autobahn, ohne dass …«

»Ja, schon. Das Problem war, wir hatten keine Lust auf das Konzert. Und der Busfahrer war ein Idiot. Sollte der sich ruhig in die Scheiße reinreiten.«

»Und was dann?«, fragt Ann.

»Wir haben spontan auf dem Marktplatz Musik gemacht. Mit anderen Stücken. Im falschen Neustadt. Aber die Leute waren begeistert.« Er fährt sich durch die Locken und schaut aus dem Fenster. »Deshalb, man muss mit allem rechnen. Es braucht bloß einer den Autopiloten falsch zu programmieren, und schon landen wir in den Karpaten. Könnt ihr euch nicht vorstellen, klar. Aber nur, weil euch so eine Neustadt-Geschichte noch nicht passiert ist.«

»Liegen die Karpaten in Bulgarien?«, frage ich. »Ich dachte, Rumänien.«

»Stimmt«, sagt Ann und wirft ihm einen herausfordernden Seitenblick zu. »Rumänien, nicht Bulgarien.«

»Das war ein Beispiel. Karpaten halt.« Er blickt genauso herausfordernd zurück. »Es geht um die Vorstellung. Nicht immer nur geradeaus denken. Stell dir vor, du steigst aus, willst deine Angel in den Fjord hängen – und plötzlich steht da ein Schild: Sofia, fünfzig Kilometer.«

»Auf Kyrillisch«, sage ich, weil Ann schweigt.

»Exakt.«

Dann zuckt er zusammen, weil ein Ball gegen seinen Hinterkopf gedotzt ist. Nicht irgendein Ball, sondern der weinrote aus dem Duty-Free-Shop. Niklas steht im Mittelgang und feixt. Gernot wirft sofort zurück, trifft ein Fenster, jemand flucht, weinrot kommt es zurückgeflogen, und gerade sich als eine Art Stadionatmosphäre im Flieger ausbreitet – »You’ll never walk alone«, singt Niklas –, schreitet eine der Stewardessen ein und konfisziert das Spielgerät. Über den Piloten lässt sie ausrichten, dass sportliche Aktivitäten in 3000 Fuß Höhe verboten seien. Der Pilot hat einen weichen skandinavischen Akzent, weshalb sein Verbot überhaupt nicht wie ein Verbot klingt. Aber der Ball ist weg.

Als wieder Ruhe eingekehrt ist, schaue ich zu dem Fenster hinüber, gegen das der Ball geprallt ist. Dessen Scheibe er küssen wollte mit seinem albernen rosa Kussmund. Aber das Fenster hat gar keine Scheibe gehabt, deshalb konnte die Stewardess uns den Ball auch nicht wegnehmen. Er ist hinausgeflogen, aus 3000 Fuß Höhe. Da fliegt er immer noch, fliegt und fliegt und rauscht am Ende in irgendeinen Busch. So. Und wenn jetzt die Bulgaren kommen, du elender Besserwisser, die Bulgaren oder wer sich auch immer dort unten herumtreibt, dann entdecken die natürlich sofort die nichtkyrillischen Buchstaben auf dem Ball. Logisch. Und fragen sich, woher der jetzt kommt. Denn dass er direkt aus einem Flugzeug mit kreischenden deutschen Orchesterfußballern in die Karpaten geplumpst ist, das kann sich ja keiner vorstellen. Dazu fehlt einem Bulgaren die Fantasie.

Solche Sachen denke ich, während ich aus dem Fenster in den Himmel starre, und während ich es denke, fühle ich eine kleine Zufriedenheit in mir. Die kommt daher, dass ich nun wieder weiß, wie Anns Augen aussehen. Grün, braun, blau – als mir Veronika vorhin Norwegen zeigte, fiel mir auf, dass ich ihre Farbe und all das vergessen hatte. Oder gar nicht erst bemerkt, nicht bewusst jedenfalls. Die Farbe, mein Gott.

Aber jetzt weiß ich es wieder.

»Und?«, meint Leo. »Blau? Blonde Haare, blaue Augen?«

»Eher grün als blau. Mit einem Stich Grau darin.«

»Also Meer. Meer bei bewölktem Himmel.«

»Genau.«

»Was ist?«, rempelt mich Leo an. »Du hältst den ganzen Verkehr auf!«

Einmal tief durchatmen. Meine Lungen füllen sich mit frischer, klarer Luft. Einzelne Wolken ziehen über den Himmel. Es ist warm und ein bisschen windig. Ich steige ein paar Stufen der Gangway hinab. Dann schaue ich über die Schulter zurück.

Ganz oben steht Leo. Er dreht den Kopf von einer Seite zur anderen. Anschließend kratzt er sich im Nacken.

»Okay«, sagt er. »Okay.«

Niemand beachtet ihn. Leo beachtet ohnehin nie einer. Veronika kommt hinter ihm die Gangway hinab. Unten auf dem Asphalt warte ich auf sie, und als sie neben mir steht, sage ich: »Warst du schon mal in Norwegen?«

Sie schüttelt den Kopf. »Nur in Schweden. Mein Onkel hat dort ein Ferienhaus. Du?«

»Nee.«

»Was ist? Fliegst du nicht gern?«

»Kopfweh.«

»Oh.«

»Nicht schlimm. Wird schon besser.«

Um die Wahrheit zu sagen: Ich habe keine Kopfschmerzen mehr. Es ist etwas anderes. Etwas Wichtigeres als Kopfschmerzen und Flugangst und das nervtötende Motorengeräusch um uns herum.

Während wir weitergehen, sehe ich mich um. Der Flughafen liegt in einer breiten Senke am Ende eines Fjords. Über uns schreien die Möwen. Dort, wo der Flughafen zu Ende ist, jenseits der Asphaltbänder und der Umzäunung, steigt das Gelände an. Es ballt sich zu Hügeln und Hügelketten, zu einer Gebirgslandschaft in kräftigen Grüntönen. Dazwischen Hangstraßen und Terrassenhäuser und schräge Wiesenflächen mit Traktoren. Und immer wieder Wald. Grün, wohin man blickt. Leuchtend in der Sonne, dunkel, wenn Wolkenschatten darüberziehen. Zwischen den Bäumen blitzt es rot. Ochsenblutrot. Holzhäuschen wie aus der Werbung. Wie aus dem IKEA-Katalog. Aber hier sind sie echt. Man sieht sie so deutlich, als hätte sie einer mit dem Stempel in die grüne Welt gedrückt. Es gibt auch gelbe und weiße Häuschen. Die meisten aber sind dunkelrot.

»Hölle«, murmelt Leo neben mir.

»Sag mal«, halte ich Veronika auf, als wir die Ankunftshalle eben erreichen. »Kann es sein, dass hier irgendetwas anders ist?«

»Anders?«

»Als in Deutschland.«

»Na ja, sicher. Jede Menge sogar.«

»Nein, etwas Bestimmtes. Das, was man hier so sieht. Ich glaube, es liegt am Licht.«

»Und ob das anders ist. Im Winter haben sie hier praktisch keine Sonne. Da müssen sie doch im Sommer entschädigt werden, findest du nicht?«

»Du meinst, mit Extralicht?«

»So ungefähr.«

Das erscheint mir logisch. Eine Extraportion Licht, genau das ist es. Alles um uns herum wirkt markanter, kräftiger, intensiver. Wie aufgeladen mit Sommer.

Die Karpaten kann ich ja mit meinem nächsten Orchester besuchen.

Unterwegs haben wir immer wieder freie Sicht auf den Fjord. Es ist keiner von der spektakulären Sorte wie auf diesen Kreuzfahrtfotos, wo sich ein Schiff zwischen senkrechten Felswänden hindurch ins Landesinnere schlängelt und man sich fragt, ob es da jemals wieder rauskommt. Der Trondheim-Fjord hat Buchten und Strände, und er ist so breit, dass sich das gegenüberliegende Ufer dem Blick entzieht. Wo das offene Meer beginnt, kann man nur erahnen. Nein, nicht einmal das; als wir die Stadt erreichen, schieben sich im Westen neue Hügelketten ins Blickfeld, Halbinseln und Landzungen, die immer blasser werden, je weiter sie entfernt sind. Mitten im Land liegt Trondheim am Meer.

»Hübsch«, meint Veronika. Unser Bus passiert eben die ersten Vororte. Von oben schauen wir auf die Stadt. Hinter uns spielt eine Cellistin Reiseführer: 180.000 Einwohner, drittgrößte Stadt Norwegens, an der Mündung der Nidelv gelegen, Universität, Kathedrale, Altstadt.

»Fußballmannschaft«, ergänze ich. So laut, dass Niklas es fünf Reihen weiter vorn hört, sich umdreht und den Daumen hebt. Was soll das, Leute, Wikipedia zitieren kann jeder.

»Fußball?« Veronika bohrt gedankenverloren in der Nase. »Ich dachte, in Norwegen können sie nur Wintersport.«

»Ein Orchester haben sie auch«, sagt jemand. »Sogar ein richtig gutes.«

Wir werden einmal quer durch die Stadt kutschiert. Nachdem wir das Zentrum hinter uns gelassen haben, hält der Bus auf einen Berg im Westen zu, der von einer Radarstation gekrönt wird. Die Straße steigt steil an, macht dann einen Bogen nach links, anschließend geht es durch Wohnsiedlungen. Wir halten vor einem mehrstöckigen Gebäude, einer Art Wohnheim für Studenten oder Schüler. Es gibt Einzelzimmer und Zweierzimmer, und weil ich zu den Nachrückern gehöre, bekomme ich ein Zweier. Natürlich nicht allein, auch wenn ich kurz diese Hoffnung hege. Schließlich bin ich unter sämtlichen Nachrückern der einzige männliche. Am Ende aber bleibt doch einer übrig, und zwar der Typ, der im Flugzeug neben Ann gesessen hat. Die Spaltlippe, ausgerechnet.

»Schnarchst du?«, fragt er und hält mir eine Packung Ohrstöpsel hin.

»Nee. Ehrlich nicht, hab ich noch nie.«

»Aber ich. Kindheit im Sägewerk. Nimm ruhig die ganze Packung. Du bist Geiger?«

»Eigentlich Bratscher. Und du? Blechbläser?«

»Pauke. Gernot heiße ich.«

Pauke, wie passend. Nachts die singende Säge. Gernot gehört zu den wenigen, die ohne eigenes Instrument reisen. Ich bekomme einen kurzen Hitzeflash wegen des Geigenflecks, an dem er mich erkannt hat, schnappe mir die Schlüssel und gehe voran. In meinem Rücken mosert Leo: Nun hätten wir nicht nur keine Geigerin im Zimmer, sondern noch nicht einmal einen Geiger oder einen anderen Streicherkollegen. Stattdessen einen Pauker, der schnarcht. Der Ann mit seinem Bulgarien-Müll zugetextet hat. Das sei ja ein toller Start in Norwegen.

»Hast du was gesagt?«, fragt mein Zimmernachbar.

Ich schüttele den Kopf.

»Komisch, ich dachte …«

»Manchmal führe ich Selbstgespräche.«

»Ach so. Auch nicht schlimmer als Schnarchen.«

Ich schließe das Zimmer auf. Es ist einfach und sauber. Rechts ein Bett, links ein Bett. An der Badtür die norwegische Fahne.

»Und, was sagst du?«

»Für bulgarische Verhältnisse nicht übel«, meine ich.

Anerkennend schlägt mir der Pauker auf die Schulter.

Und genau so geht es auch los. Katrin, unsere Stimmführerin, die ich schon vom Vorspiel her kenne, beschwört erst einmal das große Ganze. Klar seien wir ein zusammengewürfelter Haufen, der seine Eingewöhnungszeit brauche, für die meisten sei das Programm ja auch neu, und es sei ein schweres Programm, keine Frage – »aber«, sagt sie und holt tief Luft.

»Aber?« Leo verschränkt die Hände hinter dem Kopf.

»Aber«, wiederholt Katrin, »wir sind doch hier, um Spaß zu haben, oder? Und ein Riesenspaß wäre es, den Pfeifen von den ersten Geigen eins reinzuwürgen. Die denken, sie sind die Stars, aber da haben sie nicht mit uns gerechnet. Die unterschätzen uns, voll. Ich habe mit Niklas eine Wette laufen: dass Puppe uns am Ende dieser Fahrt zu den Aufsteigern des Jahres erklärt. Und ihr wollt doch nicht, dass ich diese Wette verliere, oder?«

Das wollen wir natürlich nicht, was für eine Frage, und Katrin bekommt ihre Zustimmung in Form von Gejohle und Pfiffen. Leo zwinkert mir zu. Es ist immer die gleiche Geschichte. Du brauchst nur einen äußeren Feind, schon sammeln sich deine Leute hinter dir. Zur Not schnitzt du dir einen. Schlag nach bei Cäsar und Bismarck.

»Denen zeigen wir’s«, ruft Veronika gut gelaunt. »Die werden sich noch wundern, die Ersten!«

Jemand schlägt vor, sich die Übernahme der kompletten Stimmgruppe als Ziel zu setzen, also gemeinsam so perfekt zu spielen, dass Puppe gar nicht umhinkönne, als uns zu ersten Geigen zu machen und die ersten zu zweiten, aber das wird abgelehnt, weil a) zu kompliziert und b) nur scheinattraktiv, denn so von Arroganz und Ehrgeiz zerfressen wie die ersten Geigen wolle man nicht enden.

Ich melde mich. »Was passiert, wenn du die Wette verlierst, Katrin?«

»Dann muss ich beim Fußballspiel mitmachen. Und das willst du nicht sehen. Also ran an die Buletten. Schostakowitsch!«

Stöhnend werden die Notenhefte aufgeschlagen. Ich überlege ernsthaft, ob ich den Antrag stellen soll, die Stimmprobe durch gemeinsames Fußballtraining zu ersetzen. Das brächte dem Orchester möglicherweise mehr. Andererseits habe ich als einziger Mann unter den zweiten Geigen ohnehin schon eine seltsame Rolle, dem muss man nicht noch zuarbeiten. Lieber im Hintergrund bleiben.

Und das bleibe ich. Immer schön unauffällig, dezentes Mezzoforte, keine groben Fehler – musikalische Mimikry vom Feinsten. Katrin gibt sich Mühe mit uns, legt Wert auf Zusammenspiel, lässt schnelle Passagen Ton für Ton üben, was zur Folge hat, dass wir nicht wirklich weit kommen. Ganz zum Schluss spielen wir das Finale der Sinfonie einmal komplett durch. Das geht natürlich schief, so ganz ohne Dirigent. Katrin gibt Kommandos und Einsätze, zählt jede Pause laut mit und kann doch nicht verhindern, dass wir beim Schlusston nur noch zu zweit sind. Sie und ich. Alle anderen sind unterwegs über Bord gegangen.

»Krasse Kiste, Ole«, ruft sie. »Wenigstens einer!«

»Der ist ein Zählmonster«, meint Veronika zerknirscht. »Kriegt jeden Einsatz!«

»Sorry«, sage ich und werde rot. Mir ist das peinlich. Echt!

Zum Glück war es das mit der Stimmprobe. Als ich zusammenpacke, kommt Katrin und zieht mich in eine Ecke.

»Ich muss dich mal was fragen, Ole.«

»Ja?«

»Kann es sein, dass du deine Stimme auswendig gelernt hast?«

»Wie kommst du darauf?«

»Ich habe dich beobachtet. Du hast teilweise überhaupt nicht mehr in die Noten geschaut. Deshalb bist du auch als Einziger durch den letzten Satz gekommen. Weil du nur zu mir rübergeguckt hast. Als wolltest du mir alles nachmachen. Jede Bewegung, die totale Doublette.«

»Kann sein.« Ich tue, als wäre der Gedanke völlig neu für mich. »Weißt du, ich bin halt nicht so der Crack, da muss man mit dem wuchern, was man hat.«

»Coole Einstellung. Richtig cool.« Sie fummelt an ihrer Nase herum. Die Frau ist mir sympathisch, nur ihre kräftigen Augenbrauen irritieren mich.

»Findest du?«

»Ja, absolut.« Sie senkt die Stimme noch ein wenig. »Glaub mir, ich bin gottfroh, wenn da jemand ist, auf den ich mich verlassen kann. Was Einsätze angeht und so. Andererseits …«

Sie zögert. Leo ist auf Zehenspitzen zu uns getreten und lauscht ebenfalls.

»Versteh mich nicht falsch, Ole, aber irgendwann solltest du versuchen loszulassen. Auswendig gelernte Noten und Einsätze sind das eine. Jetzt wäre der Zeitpunkt gekommen, mal richtig Musik zu machen. Was meinst du?«

»Musik?«

Sie nickt.

»Du meinst, ich soll Musik machen?«

»Ja.«

»Okay. Ich arbeite dran.«

Leo nickt. »Habe ich gehört.«

»Loslassen soll ich! Kapierst du das?«

»Du nicht?«

»Nee. Ist doch albern. Da lernt man das Zeug auswendig, bereitet sich vor, schafft es als Einziger unfallfrei durch den Satz – und dann kommt die mit Sonderwünschen! Soll ich es machen wie alle anderen? Musik schön, aber nach zehn Takten aussteigen? Falsch zählen, Töne weglassen?«

»Ich glaube nicht, dass sie das meint.«

»Sondern?«

»Tja.« Leo macht sich ganz dünn, um ein paar Blechbläser vorbeizulassen. Für die Gesamtprobe mit der Solistin sind wir in den Gemeinschaftsraum gewechselt. Es ist der größte Raum des Wohnheims, aber definitiv zu klein für ein Sinfonieorchester. Die Instrumentenkästen liegen auf Tischen an der Wand, zwischen aufgestapelten Tellern und Gläsern. Nach der Probe soll es hier Abendessen geben.

»Tja«, wiederholt Leo und zieht gleich mehrere Grimassen hintereinander. Keine Ahnung, was er damit ausdrücken will.

»Musik machen«, ätze ich weiter. »Sehe ich so aus, als würde ich Schach spielen?«

»Ehrlich gesagt: ja. Aber schau dir mal die da an.«

Ich folge seinem Blick. Eine kleine, kompakte Frau stürmt auf Puppe zu und schließt ihn in ihre Arme. Man kann sich das vielleicht schlecht vorstellen, dass jemand von unterdurchschnittlicher Größe einen Zweimetermann wie unseren Dirigenten in die Arme nimmt – und nicht umgekehrt. Aber genau so ist es. Die Wucht, mit der Puppe umfasst, gedrückt und abgeknutscht wird, lässt ihn regelrecht in die Knie gehen. Plötzlich wirkt er nur noch halb so athletisch.

»Christian!«, ruft die Frau. »Mein Püppchen! Ist das eine Freude!«

»Irina!«

»Lass dich umarmen!«

Und schon beginnt das Spiel von vorn. Die Frau, die Irina heißt, drückt unseren Chef an ihre Brust, von der sie so viel hat, dass da zur Not auch noch ein zweiter Dirigent dranpassen würde. Ihre Wallemähne wird von einer breiten Klammer zusammengehalten, und selbst beim Sprechen geht sie spendabel mit den Konsonanten um: Ist das eine Frrreude! Lass dich umarmen!

»Weißt du, wer das ist?«, raunt Leo.

»Ich ahne es.«

Nach dem Dirigenten werden Ausgewählte aus dem Orchester geherzt: Vorstandsleute und die vorderen Geigenpulte, die Irina offenbar kennt. Als Ann an die Reihe kommt, kann Leo nicht mehr an sich halten und prustet los. Ich trete ihm auf den Fuß, aber im Grunde hat er recht. Es sieht einfach irre aus, wenn die beiden nebeneinanderstehen.

Dann packt Irina ihre Geige aus.

»Den Sibelius einmal komplett.« Puppe zückt den Taktstock. »Und bitte volle Konzentration. Heute muss es sitzen.«

Irina fällt ihm in den Arm. »Ich habe eine Bitte«, ruft sie. »Nur eine Bitte. Es ist der Anfang, meine Lieben. Der Anfang ist so wichtig, so wichtig für das Konzert. Wenn er gut ist, ist alles gut. Beim Anfang«, sie macht sich ganz klein, »müsst ihr an etwas Zartes denken. An etwas Weiches. An eine Pusteblume, ja? Bitte!«

Ein paar lachen. Ich sehe in meine Stimme. Nur so zur Sicherheit, ich kenne das Zeug ja auswendig. Mit Achtelnoten geht es los, dreißig Takte lang nur Achtelnoten, ganz regelmäßig, eine nach der anderen, wie ein Tapetenmuster. Von Pusteblumen steht da nichts.

»Ist es vielleicht das, was Katrin meint?«, flüstert Leo.

Achtung jetzt. Ich blicke nach vorn, sehe aus dem Augenwinkel, wie sich Katrins Schulter hebt, setze den Bogen leicht auf die Saite – und bekomme einen Schreck. Weil ich mich spielen höre. Trotz Dämpfer und Pianissimo. Aber wenn ich mich selbst höre, kann das nur heißen, dass alle anderen so leise spielen wie noch nie. Praktisch unhörbar. Das hat Irina nun von ihrer Pusteblumenansage. Sofort nehme ich den Bogen von der Saite. Tue bloß so, als würde ich spielen. Ein Bogenhaar, mehr bekommt ihr nicht. Um mich herum ein Flirren und Rauschen. 25 Leute produzieren Achtelnoten, Massen von Achtelnoten – aber herauskommt nur ein Geflirre.

Und jetzt Irina. Sie beginnt mit einem G, einem einzelnen langen Ton. Niemand sonst hat ein G. Man kann nicht sagen, dass sie laut spielt, dafür glasklar und deutlich, und deshalb fährt dieser eine ausgehaltene Ton durch unser Gesäusel wie durch Butter. Es klingt verrückt, aber in dem Moment sehe ich es genau vor mir: ein Messer, das langsam und genüsslich durch ein zimmerwarmes Stück Butter gezogen wird.

Kurz danach haben wir ein paar Takte Pause. Ich nutze sie, um meine Stimme gleich noch einmal zu kontrollieren. Da sind bloß Achtelnoten. Keine Butter, keine Pusteblume. Ich suche Blickkontakt mit Leo. Aber der weicht mir aus, kratzt sich am Kopf und grinst dämlich vor sich hin. Veronika schnappt sich den Stift und kritzelt eine Blume in unsere Stimme. Als sie mein Stirnrunzeln sieht, wispert sie: »Mir hilft’s.«

Ich könnte ein Messer danebenmalen. Aber ich lasse es.

Irina hat noch weitere Bilder auf Lager, mit denen sie die Musik beschreibt. Beziehungsweise, mit denen sie ihre Vorstellungen beschreibt, die sie hat, wenn sie Musik macht. Oder die wir haben sollen, so ganz kapiere ich es nicht. Bald ist unsere Stimme vollgekritzelt mit Zeichnungen Veronikas. Auch Ann macht sich Notizen; ob Bildchen oder etwas anderes, kann ich nicht erkennen.

Manchmal braucht es aber auch keine Anweisungen, dann reicht ein Blick in Irinas Gesicht. Ich meine, sie ist keine klassische Schönheit, und wenn sie die Geige anlegt, werden aus ihrem einen Kinn plötzlich zwei. Damit, wie sie spielt, hat das allerdings nichts zu tun. Spielen tut sie völlig anders, es ist wie eine Verwandlung. Wenn man wegguckt, könnte man Irina für eine Leistungssportlerin halten. Für ein durchtrainiertes Model, das vor Energie platzt. Und so schaut sie dann auch. Sie wirft uns Blicke zu, dass man meint, gleich schnappt sie sich den Nächstbesten und scheuert ihm eine. Nur so, weil es zum Stück gehört. Wo Pusteblumen in der Partitur stehen, können auch Ohrfeigen stehen.

In solchen Momenten bin ich froh, hinten zu sitzen.

Und dann? Dann setzt sie die Geige ab, greift sich an die Stelle, wo ihr Herz sitzt, und ruft: »Wunderbar! Ihr seid toll, alle! So ein wunderbares Orchester!«

Über Veronikas Gesicht läuft ein Strahlen. Katrin strahlt, Ann auch, jeder strahlt. Sogar Leo. Nur mir geht das alles ein bisschen zu schnell. Irgendwie überfallartig. Nichts gegen Bildchen – aber sortiert wollen sie sein. Und dann die ständigen Stimmungswechsel. Okay, okay, wenn alle anderen zufrieden sind, bin ich es auch. Irina hat derweil schon die nächste Kehrtwendung gemacht und erklärt dem wunder-wunderbaren Orchester, was es alles falsch gemacht hat. Diese Stelle und hier und da vor allem und das bitte noch einmal.

Ob es eine gute Probe ist, weiß ich nicht, es ist auf jeden Fall eine ereignisreiche. Irgendwann will Puppe noch mal eine Stelle aus dem ersten Satz hören, den Übergang von der langen Solopassage zum folgenden Abschnitt. Irina stürzt sich also in ihre halsbrecherischen Läufe, es knirscht und schrillt – und auf dem Höhepunkt meldet sich das Fagott zu Wort. Ganz samtig und schön tief. Als wenn einem ein Kumpel die Hand auf die Schulter legte: Nun fahr mal wieder runter, Brüderchen. Wie die Irina den Fagottisten da anschmachtet! Kusshand und alles. Der Fagottist kommt nämlich ebenfalls aus Russland und heißt Oleg. Glatt die Familienzusammenführung.

»Russen!«, seufzt Leo und rollt das R wie Irina. »Große Gefühle, Wodka satt. Nachher trinken sie Brüderschaft, du wirst sehen.«

Na ja, zur Sauferei kommt es nicht, aber Irina und Oleg stehen hinterher tatsächlich noch lange zusammen und quatschen. Irina legt beim Lachen den Kopf in den Nacken, Oleg grinst ein schmieriges Grinsen. Sein Instrument ist mit Abstand das ungepflegteste des gesamten Orchesters, so ein richtiger Tatarenprügel ist das. Aber was aus dem Ding rauskommt – alle Achtung.

Als Katrin neben mir ihre Geige einpackt, vermeide ich Blickkontakt.

»Irgendwie ist das komisch«, meint eine aus der ersten Geige.

»Was?«

»Das mit der Tageszeit. Da kommt man doch völlig durcheinander.«

Ich sehe auf mein Handy. Es ist nach acht, aber die Sonne steht hoch am Himmel.

»Meint ihr, die geht heute Nacht überhaupt nicht unter?«, wird weitergefragt.

»Doch, tut sie«, sagt Veronika. »Wir sind ja nicht am Polarkreis. Nicht ganz jedenfalls. Und die richtig langen Nächte sind auch schon vorbei.«

Leo tippt mir auf die Schulter. An einer Bushaltestelle hat er ein Konzertplakat entdeckt. Freitag, 19.30 Uhr, Olavshalle Trondheim. Werke von Grieg, Sibelius, Schostakowitsch. Es dauert ein paar Sekunden, bis ich kapiere, dass damit unser Orchester gemeint ist. Also auch ich. Und das im Ausland.