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Vier alte Bauernhöfe - und ein finsteres Geheimnis. Vor 18 Jahren verschwand ein Bauer spurlos und soll nun für tot erklärt werden. Seine Erbin erhofft sich ein idyllisches Gebäude, doch aus dem Traum auf der Schwäbischen Alb wird ein Albtraum. Denn in dem einsam auf der Hochfläche stehenden Hof geschehen merkwürdige Dinge. Die Erbin erlebt dramatische Nächte und zieht den pensionierten Kriminalisten August Häberle hinzu, um herauszufinden was mit ihrem vermissten Verwandten geschehen ist.
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Seitenzahl: 434
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Manfred Bomm
Albtraumhof
Kriminalroman
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung der Fotos von: © ThePhotoFab / shutterstock.com; Tilman Ehrcke / stock.adobe.com; Rainer Halama (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Burladingen-Walzmühle_DSC1113.jpg), Collage von Lutz Eberle, https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/legalcode
ISBN 978-3-8392-7650-1
Gewidmet allen Lesern, die mir seit 20 Jahren die Treue halten oder jetzt gerade ihren ersten Häberle-Krimi in Händen halten. Mögen Sie an meinem bodenständigen Kommissar viel Freude haben und erkennen, dass es für vieles, was zunächst unglaublich erscheint, auch eine Erklärung geben kann. Und dass trotzdem die Frage erlaubt sein muss, ob eine Verkettung unglücklicher Umstände tatsächlich nur ein Zufall ist. Insofern möchte diese Geschichte zum Nachdenken anregen – und allen, die das Schicksal auf ähnliche Weise heimsucht, ein bisschen Trost vermitteln.
Es war ein eigenartiges Gefühl. Die erste Nacht ganz allein in diesem uralten Gemäuer. Modriger Geruch der vergangenen Jahrzehnte mischte sich mit den wohltuenden Düften einiger neuer Möbel. Hier im Dachgeschoss, wo sich, umgeben von Gerümpel, nur ein winziger ausgebauter Raum befand, nämlich das Schlafzimmer, knarzte das Holz, und es hörte sich so an, als sei das vergessene Bauernhaus zu neuem Leben erwacht. Als atme und seufze es und fühle sich nach einem langen Dornröschenschlaf erholt. Vielleicht hatten so alte Gebäude auch eine Seele, dachte Mary Quinbek, eine US-Amerikanerin mit deutschen Wurzeln. Sie, die eigentlich Maria hieß, war hier vor 50 Jahren auf der Schwäbischen Alb sogar geboren worden, genauer gesagt: in Heidenheim. Trotzdem tat sie sich gelegentlich mit deutscher Konversation schwer.
Seit sie als junge Frau Deutschland verlassen hatte, damals, in den frühen 90er-Jahren, war sie nur noch zweimal hier gewesen – bei Rundreisen durch den nördlichen und südlichen Teil Deutschlands, mit Besuch in Berlin, wo ihr Mann Joe bis kurz nach der politischen Wende als Soldat stationiert gewesen war.
Auf ihre konkrete familiäre Vergangenheit mütterlicherseits war Mary aber erst vor einem Jahr gestoßen. Durch ein seltsames Erbe, das ihr mit einem Brief aus Deutschland angetragen worden war und den sie wegen der bürokratischen Formulierungen nur schwer hatte verstehen können. Nie hatte sie daran gedacht, jemals noch einen Bezug zur Landschaft ihrer Vorfahren zu bekommen: auf die als karg beschriebene Hochfläche der Schwäbischen Alb. Denn sie fühlte sich mit ihrem Mann auf der gemeinsamen Farm in Arizona wohl, und auch die beiden inzwischen erwachsenen Kinder – ein Junge und ein Mädchen – standen in den USA auf eigenen Beinen. Die Tochter war in Kalifornien verheiratet, den Sohn hatte es mit einer Kanadierin beruflich nach Anchorage verschlagen, wo er als oberster Chef einen weithin angesehenen und sogar börsennotierten IT-Konzern leitete.
Für seine Mutter war das verloren geglaubte amerikanische Lebensgefühl zurückgekehrt, nachdem man vor knapp zwei Jahren den verrückten Präsidenten aus dem Amt gejagt hatte. Solange Donald Trump noch sein Unwesen im Weißen Haus getrieben hatte, waren Mary und ihr Mann Joe drauf und dran gewesen, nach Australien auszuwandern.
Nun aber war sie in Unterhöllenstein gelandet. Ein Dorf im Nirgendwo auf der Schwäbischen Alb, wo es zwar auch noch ein paar große unbewohnte Landstriche gab, aber gegen die Weite in Arizona erschien alles doch ziemlich beengt und kleinbürgerlich. Beim ersten Anblick der verlassenen landwirtschaftlichen Hofstelle, die man hier »den Eulenhof« nannte, hatte sie das Anwesen als idyllisch und ein bisschen verwunschen empfunden. Wie aus einem Märchenbuch: Ein halbes Dutzend hoch aufragender, verästelter Linden umstand das windschief wirkende, weit nach unten gezogene Dach und beschützte es vor Wind und Wetter. Am Giebel, der auf den Zugangsweg gerichtet war, ließen zwei geschlossene Fensterläden ein Obergeschoss vermuten, das sich in die Dachschräge schmiegte. Und ganz oben unterm First deutete ein kleiner, schief hängender Fensterladen auf einen schmalen Dachboden hin, den eine verbogene, altertümlich anmutende Fernsehantenne überragte.
Noch während sie aus dem Auto des örtlichen Bürgermeisters stieg, entdeckte Mary an der linken Längsseite des weit nach hinten gezogenen Gebäudekomplexes einen Querbau mit zwei großen Holztoren, an denen die Zeit nicht spurlos vorübergegangen war. Hochrankender Efeu hatte längst die verrostete Dachrinne in Beschlag genommen. Und auf dem seitlichen Zugang gediehen im Schatten der Linden wilde Gräser, dichte Stauden und mannshohe Hecken, überragt von zwei schmächtigen Birken. Marys zweiter Gedanke an diesem Nachmittag war: alles abreißen. Das naturnahe Chaos war viel zu groß.
Doch schon Augenblicke später fühlte sich alles anders an. Während der wenigen Schritte auf dem Wiesenweg, der vom Auto zu der verlassenen Hofstelle führte, war es ihr, als würde sie in ihre familiäre Vergangenheit zurückversetzt – als habe sie Verantwortung für das, was vor ihr stand. Sie bekämpfte diese aufblitzende Idee aber sofort wieder, denn nichts an diesem Haus, dessen abgebröckelter Verputz bereits großflächig die Backsteine am Giebel freigelegt hatte, erweckte den Eindruck, noch intakt zu sein und vernünftig saniert werden zu können. Also doch abreißen und das, was Generationen gehegt und gepflegt hatten, einfach vergessen? Kein guter Gedanke.
Ihre Spannung stieg, als Freudenreich, ein knorriger Älbler mit roten Wangen und dünnem Haar, vermutlich kurz vor der Rente und nur nebenberuflich als Bürgermeister tätig, das verrostete Türschloss unter Aufwendung sanfter Gewalt öffnete.
Feuchtwarme Luft schlug ihnen entgegen, dazu der herbe Geruch landwirtschaftlicher Vergangenheit. »Wie ich Ihnen bereits gesagt habe: Arg wohnlich sieht es hier nicht mehr aus«, versuchte Freudenreich, seine Begleiterin erneut auf das vorzubereiten, was sie vorfinden würden. Er unterdrückte seinen schwäbischen Dialekt so gut es ging, obwohl er wusste, dass seine Gesprächspartnerin auf der Schwäbischen Ostalb geboren worden war.
Elektrischen Strom gab es im Gebäude keinen mehr, weshalb der lange Gang nur von schummrigem Tageslicht erhellt wurde, das durch die Fenster angrenzender Räume fiel, deren Türen weit offen standen. Die üblicherweise geschlossenen Fensterläden hatte Freudenreich vor einigen Stunden geöffnet.
An einigen Kleiderhaken hingen Hosen und blaue Arbeitskittel, beim Weitergehen spürte Mary feine Spinnweben im Gesicht.
»Ich hab ab und zu nach dem Rechten geschaut«, erklärte der Bürgermeister und fügte an, dass man hier, weit weg vom Durchgangsverkehr, glücklicherweise noch nicht mit Vandalismus zu kämpfen habe. »Kein einziger Einbruch in all den Jahren. Es ist so, als wohne noch immer jemand hier«, stellte er mit seltsam veränderter Stimme fest. »Nichts wurde mutwillig zerstört. Ist ja wirklich ein Wunder heutzutage.«
Er war ihr auf dem unebenen Steinboden ein paar Schritte vorausgegangen, um ihr die bäuerliche Wohnstube zu zeigen, die so aussah, als sei sie erst vor Kurzem verlassen worden. »Wir haben natürlich alles nach Wertgegenständen durchsucht und das Gefundene sichergestellt und in einem Protokoll aufgelistet. War aber nicht viel«, erklärte Freudenreich, während Mary, die burschikos gekleidete 50-jährige Farmersfrau aus Arizona, nur einen zaghaften Schritt in die mit Holz ausgestaltete Wohnstube tat. Ein dunkler Schrank nahm die ganze Breitseite des Raumes ein. Auf Regalen lehnten einige wenige Bücher aneinander, hinter einem gläsernen Türchen waren Weingläser zu sehen. Die braune Polstergruppe wirkte speckig, bei dem Fernsehgerät handelte es sich um ein monsterhaftes, älteres Modell mit weit nach hinten ausladender Bildröhre. Als Heizung diente vermutlich ein Holzofen, vor dessen abgestrahlter Hitze ein metallener Schutzschild die nahe Polstergruppe schützen sollte. Holzscheite lagen in einem Korb bereit.
Die Vorhänge an den Fenstern waren zur Hälfte zugezogen und von Spinnen umwoben, von einer Ecke links oben blickte ein gekreuzigter Jesus herab.
»Und er ist einfach verschwunden, sagen Sie?«, fragte Mary mit zaghafter Stimme, obwohl ihr Freudenreich schon ausführlich davon berichtet hatte, dass Hans Aubele seit Ende August 2004 vermisst wurde. Wie vom Erdboden verschluckt, von einem Tag auf den anderen. Sein Auto, einen Mercedes, habe man ein paar 100 Meter entfernt an einem Waldeck verschlossen gefunden. Kein Hinweis auf ein Gewaltverbrechen. Auch dieses Haus, in dem er allein gewohnt hatte, habe keine Aufbruchspuren aufgewiesen und sei ordentlich verriegelt gewesen. Ebenso die ehemaligen Stallungen und die angebaute Scheune. Nichts, was die Polizei als verdächtig hätte einstufen können. In der Wohnung sei alles relativ ordentlich gewesen, berichtete der Bürgermeister:
»Nichts ist durchwühlt worden. Aber in der Scheune drüben sieht’s ziemlich chaotisch aus. Der Stall ist leer, denn Tiere waren zum Glück keine da.« In dem alten Computer, der noch im Nebenraum stehe, habe die Polizei damals ebenfalls keine Anhaltspunkte für Aubeles Verschwinden entdeckt. Und ein Internetanschluss sei auch nicht vorhanden. Der Mann habe ziemlich zurückgezogen gelebt, sei bis zu seiner Rente 2003 als selbstständiger Gärtnermeister tätig gewesen und nur selten im Dorf aufgetaucht. Die landwirtschaftlichen Flächen, die zum Hof gehörten, habe er vor seinem Verschwinden längst verpachtet gehabt. Nachdem die Polizei ein Verbrechen mit Sicherheit habe ausschließen können, seien keine weiteren Maßnahmen erfolgt, erklärte Freudenreich gelassen und ergänzte: »Erwachsene dürfen sich aufhalten, wo sie wollen. Herr Aubele war jedenfalls auch nicht erkennbar krank, sodass nicht befürchtet werden musste, er könnte in eine hilflose Lage geraten sein.«
»Was er an diesem Waldeck gemacht hat, weiß man aber nicht?« Mary hatte sich in den vergangenen Wochen, nachdem sie als einzige noch lebende Verwandte ausfindig gemacht worden war, stunden- und nächtelang den Kopf zerbrochen, was mit ihrem Cousin dritten Grades geschehen sein könnte. Merkwürdig auch, dass es in der bis in die 1880er-Jahre zurückverfolgten Generationenfolge niemanden außer ihr gab.
Das Schreiben des Bürgermeisters von Unterhöllenstein hatte ihr Leben von einem Tag auf den anderen verändert. Man sei, so war ihr mitgeteilt worden, bei der Suche nach weitläufigen Verwandten des letzten Hausbesitzers nun auf sie gestoßen. Hans Aubeles Urgroßvater hatte einen Bruder namens Gustav gehabt, dessen einziger Nachkomme ein Sohn gewesen war, aus dessen Ehe ihre Mutter hervorgegangen war. Sämtliche Verwandten beider Brüder waren tot, und die Kinder und Kindeskinder schienen verschollen zu sein. Nirgendwo eine Spur von Erben. In den Wirren der beiden Weltkriege waren offenbar viele Dokumente verloren gegangen. Als Einzige aus der langen Reihe war also Mary Quinbek geblieben, deren Mutter Luise eine Enkelin von Gustav gewesen war.
Nie hatte sich Mary mit ihren Ahnen auseinandergesetzt, zumal sie als knapp 19-Jährige den in Deutschland stationierten US-Soldaten Joe Quinbek aus Arizona kennengelernt hatte. Schnell war sie mit ihm in die Staaten ausgewandert, hatte ihn in Las Vegas geheiratet und nach dem frühen Tod ihrer Eltern alle Brücken nach Deutschland abgebrochen.
Und nun stand sie hier in einem desolaten Anwesen, das vor Jahrhunderten gewiss einmal der Stolz der ersten Besitzer gewesen war. Während ihr Blick durch die Räume streifte, schien der Bürgermeister ihre Ratlosigkeit zu bemerken.
»Sie können das Ganze auch verkaufen«, murmelte er und lehnte sich an einen morschen Türrahmen. »Die Immobilienpreise sind in Deutschland stark geklettert.« Mary fühlte sich jetzt nicht in der Lage, über Grundstücks- oder Gebäudepreise zu reden. »Ich könnte Ihnen beim Verkauf behilflich sein«, hörte sie die Stimme Freudenreichs wie aus weiter Ferne. »Für die Gemeinde wäre das weitläufige Areal ideal für ein Gewerbegebiet«, ließ er beiläufig durchblicken. »Und die drei Besitzer einiger Aussiedlerhöfe da drüben« – er deutete in eine Richtung, aus der Mary jedoch bei der Herfahrt nicht gekommen war – »wären auch interessiert.«
»Hat sich denn rumgesprochen, dass ich komme?«, zeigte sich Mary verwundert. Plötzlich schien es ihr so, als habe der Bürgermeister bereits konkrete Pläne, was mit dem Hof und den Grundstücken drum herum geschehen könnte.
»Man redet schon seit Jahren darüber«, blieb Freudenreich gelassen. »Wenn nicht bald etwas geschieht, holt sich die Natur alles zurück.«
»Wird sie nicht«, entschied Mary schnell und war selbst überrascht, wie locker ihr dies über die Lippen ging. Sie bat den Bürgermeister, ihr das ganze Gebäude zu zeigen. Das viele Holz, das sie in jedem Raum umgab, empfand sie zunehmend als wohltuend – obwohl alles den Charme vergangener Jahrzehnte ausstrahlte. Das Obergeschoss war gleichzeitig der Dachboden, wo im Zwielicht alte Möbel verstaubten, zuhauf Spinnweben von der Lattung waberten und ein sanfter Windzug durch die Spalten der Dachziegel strich. Nur der vordere Teil, zum Giebel hin, beherbergte ein abgetrenntes Zimmer. Zumindest deutete eine Tür darauf hin. Während sie überlegte, was sich dahinter verbarg, hörte sie Freudenreich sagen: »Sie können das alles verkaufen.«
»Und wenn ich nicht will?«, fragte Mary leicht genervt zurück.
»Das ist Ihre Sache«, brummte der Bürgermeister und ging zur Holztreppe zurück. »Aber Sie sollten sich überlegen: So ein altes Haus kann ganz schön gruslig ein.«
»Gruslig?«, entfuhr es Mary, die dieses deutsche Wort mit leicht englischem Akzent aussprach.
»Creepy«, übersetzte der Bürgermeister. Er hatte sich in Vorbereitung auf das Gespräch im Internet kundig gemacht, wie das Wort auf Englisch hieß. Das hätte es nicht gebraucht, denn Mary hatte ihre Muttersprache nicht verlernt.
Creepy. Das Wort war ihr nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Aber je länger sie sich mit dem Haus beschäftigte, desto mehr wuchs es ihr ans Herz. Nach der Besichtigung mit dem Bürgermeister war sie in Merklingen, einem der umliegenden Orte, in ein Hotel gezogen, um von dort aus eine provisorische Sanierung der Wohnung zu organisieren. Sie wollte das Haus so schnell wie möglich wohnlich machen, zumal die Küche intakt und auch Mobiliar vorhanden war. Nachdem sie ihren Mann Joe in einem langen Telefonat von ihrem Vorhaben überzeugt hatte, der umfangreiche Papierkrieg erledigt und einige bürokratische Hürden mit Stempeln und Unterschriften genommen waren, leitete Bürgermeister Freudenreich die weiteren Schritte ein – obwohl damit einige seiner Pläne zunichtegemacht wurden. Wohl oder übel musste er den seit Jahren gesperrten Abzweig von der Wasserleitung, an der einige andere Aussiedlerhöfe hingen, wieder für Marys Hof betriebsbereit machen. Gleichzeitig beauftragte er das örtliche Elektrizitätswerk, die unterbrochene Stromversorgung zu reaktivieren. Die Abwasserleitung, so hatte er erklärt, sei etwa 100 Meter entfernt an einen vorbeiführenden Kanal angeschlossen, werde aber demnächst noch auf ihre Dichtheit geprüft. »Das braucht Sie aber nicht zu stören«, beruhigte Freudenreich.
Die elektronische Infrastruktur jedoch war wenig erfreulich. Marys Vorfahre, Hans Aubele, hatte zwar einen Computer besessen, aber keinen Internetanschluss. Den gab es hier draußen ebenso wenig wie ein Festnetztelefon. Selbst das Handynetz war in dieser leichten Senke auf der Albhochfläche sehr dürftig. Dass die Digitalisierung in Deutschland weit hinter den technischen Möglichkeiten anderer Länder herhinkte, hatte Mary zwar immer mal wieder staunend in den Zeitungen gelesen. Nur dass es um die Internetversorgung derart schlecht stand, hätte sie in einem angeblich so hochtechnisierten Land nicht erwartet.
Daran musste sie in der ersten Nacht denken, während der sie sich schlaflos in ihrem Bett in der oberen Etage wälzte. Zuvor hatte sie vom Erdgeschoss aus, wo es draußen vor der Tür wenigstens ein schwaches Handynetz gab, in ihrem täglichen Telefonat mit Joe von ihrem Umzug aus dem Hotel in das alte Haus geschwärmt und ihn beiläufig gebeten, ihr noch einige 1.000 Dollar anzuweisen – um ihn aber sogleich zu beruhigen, dass das »wonderful house« sehr idyllisch gelegen sei. Fotos davon hatte sie ihm bereits zuhauf per WhatsApp geschickt.
Joe wollte, sobald es die Arbeit auf der Farm zuließ, kommen. Bei Google-Earth, so hatte er am Telefon versichert, habe er das Anwesen in seiner ganzen Ausdehnung gesehen und zufrieden festgestellt, dass es trotz der Abgeschiedenheit gar nicht mal so weit von einer Autobahn entfernt liege, die direkt am Airport Stuttgart vorbeiführe. Und eine neue Eisenbahnlinie sei wohl auch gerade erst gebaut worden.
Was sie denn mit dem alten Haus zu tun gedenke, hatte er vorsichtig gefragt, jedoch keine konkrete Antwort erhalten. Er kannte Mary gut genug, um zu wissen, dass sie nicht zu bremsen war, wenn sie sich in eine Idee verrannt hatte. Und dieses Erbe in Germany schien sie voll in ihren Bann gezogen zu haben. Statt der gestrichenen Auswanderungspläne nach Australien nun also Germany, dachte er und verdrängte erst mal den Gedanken, dass es mit der Agrarwirtschaft in Europa nicht so einfach sein würde. Aber ein idyllisches Ferienhaus in Germany konnte er sich durchaus vorstellen. Mit ihrer Farm in Arizona hatten sie schließlich bisher gute Dollars verdient. Aber am Telefon wollte er mit Mary über derlei Zukunftspläne nicht reden.
Sie war viel zu aufgewühlt, um schlafen zu können. Die erste Nacht allein in diesem Gemäuer, das so viele Geheimnisse barg. Absolute Stille. Eine Stille, die sie nicht gewohnt war, denn selbst im Hotel hatte es immer Geräusche gegeben. Hier draußen, fernab von Straßen und Menschen, wirkte diese Stille beinahe bedrohlich. Schon deshalb hatte sie das Licht ihrer schwachen, nostalgisch wirkenden Nachttischlampe nicht ausknipsen wollen. Denn die Nacht würde sie mit ihrer absoluten Schwärze genauso gnadenlos einnehmen wie die Stille mit ihrer dumpfen Geräuschlosigkeit. Und doch gab es sie, diese Geräusche: Irgendwo knarzte das viele Holz, das wie ein Skelett, wie ein lebender Organismus, das Gebäude am Leben hielt. Schon war es ihr, als würden Schritte auf der ins Dachgeschoss führenden Treppe dieses Knacken verursachen.
Nein. Sie durfte sich jetzt in nichts hineinsteigern. Sie hatte für teures Geld eine stabile Haustür und im Erdgeschoss neue Fenster anbringen lassen – und auch den Zugang zu der angebauten Scheune modernisieren lassen. Lediglich die verschlossene Außentür des ehemaligen Stalls erschien stabil genug.
Trotzdem, so jagte ein Gedanke durch ihren Kopf, konnte es gerade in der angebauten, mit Gerümpel und alten landwirtschaftlichen Maschinen vollgestopften Scheune bisher unentdeckte Zugänge geben. Eine ganze Wand war mit Heu- und Strohballen verstellt – und irgendwo musste es auch einen Zugang zu einem Keller geben. So jedenfalls hatte einer der Handwerker gemutmaßt, dem eine alte, im Fußboden verschwindende Stromleitung aufgefallen war. Mary hatte dieser Feststellung keine Bedeutung beigemessen, denn ihr erschien es wichtiger zu sein, so schnell wie möglich den Wohnbereich einigermaßen herzurichten. Dazu hatte sie sogar einen Kammerjäger engagiert, der einer Ameisenplage Herr werden und auch diverse Nager beseitigen musste. In den Jahren, während derer das Haus leer stand, hatten sich allerlei Tiere durch Ritzen und Löcher Zugang verschafft. Mäuse, Siebenschläfer, gewiss auch Waschbären und womöglich Ratten. Auf dem Dachboden, vor dieser als Schlafzimmer genutzten Kammer, fanden sich zwischen Schränken und Kommoden sogar Hinterlassenschaften von überwinternden Fledermäusen.
Von einer vollständigen Sanierung war sie natürlich noch weit entfernt, das war Mary längst klar geworden. Sie hatte einige alte Möbel beseitigen lassen und sich bei Ikea neue beschafft, aber vieles, was sich im Gebäude befand, würde sie bewahren. Denn der Charme des alten Bauernhauses sollte erhalten bleiben. Vor allem der Dachboden würde mit seinen unzähligen Schränken noch einige Geheimnisse bergen.
Ihre Gedanken kreisten um ihren Vorfahren und letzten Bewohner dieses Hauses, Hans Aubele, aber auch um die Sanierungsarbeiten der vergangenen Wochen und um den Bürgermeister, der ihr einige Handwerker vermittelt hatte und sich seit ihrem ersten Treffen sehr an ihren Zukunftsplänen interessiert zeigte. Allerdings, so schien es ihr, wäre ihm viel dran gelegen, das Haus für die Gemeinde kaufen zu können. Das jedoch hatte sie mehrfach abgelehnt. Seine dauernden Nachfragen, direkt oder indirekt, ließen vermuten, er habe fest damit gerechnet, auf diesem Areal und den angrenzenden, längst von der Natur eingenommenen Ackerflächen ein Gewerbegebiet ausweisen zu können. Aber vermutlich würden dabei auch die Naturschützer ein gewichtiges Wort mitreden wollen, denn einige der Wiesen und Felder waren nicht verpachtet und somit der Natur zurückgegeben worden. Ein Eldorado für seltene Pflanzen und Tiere. Verpachtete Äcker wurden hingegen von Landwirten der Umgebung bewirtschaftet.
Das Licht der nostalgischen Nachttischlampe, das den kleinen Raum schemenhaft erleuchtete, zuckte für den Bruchteil einer Sekunde und riss Mary aus ihren Gedanken. Gleichzeitig hatte ein Balken in der Wand geknarzt. Marys Herzschlag beschleunigte sich. Sie sprang aus dem Bett, war mit zwei Schritten an der Zimmertür und drehte den Schlüssel, um sie zu verriegeln.
Doch schon Augenblicke später ärgerte sie sich über diese plötzliche Angstattacke. Dass ein Licht mal zuckte, war doch normal. Und an knarzendes Holz musste sie sich gewöhnen. Sie setzte sich aufs Bett, griff zu ihrem Handy und machte sich mit der Taschenlampenfunktion vertraut. Man konnte schließlich nie wissen, ob die erst jüngst wieder in Betrieb genommene Stromleitung zu dem einsamen Gehöft stabil blieb.
Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, wie weit außerhalb von Unterhöllenstein sie sich befand. In Arizona stand ihre Farm zwar auch einsam in der Prärie, aber dort hatten sie einen Wachhund, und Joe, ihr Ehemann, hatte sich vor Jahren ein Gewehr und einen Revolver zugelegt. Für einen Moment dachte sie daran, sich in den nächsten Tagen eine Waffe zuzulegen. Aber legal schien dies in Deutschland gar nicht so einfach zu sein.
Sie legte sich wieder aufs Bett und lauschte. In das Knarzen des Holzes mischte sich ein anderes Geräusch. Oder war es nur die Stille, in der ihr die Ohren etwas vortäuschten? Ein Brummen oder Surren. Doch es wurde lauter. Mary erhob sich, löschte das Licht und tastete sich zum Fenster, wo sie den Vorhang beiseite zog, um das nachtschwarze Gelände draußen überblicken zu können. Ein Lichtstrahl streifte von hinten über die Felder. Dem zunehmenden Geräusch nach zu urteilen, näherte sich ein Fahrzeug.
Mary spürte, wie ihr Körper fröstelte und bebte, obwohl es gar nicht kalt war. Sie ließ den Vorhang sachte aus den Fingern gleiten, um nun vorsichtig durch einen seitlichen Spalt zwischen Wand und Vorhang das Umfeld zu beobachten. Der anfangs diffuse Schein wurde heller, tauchte den Wiesenweg in grelles LED-Licht. Ihm folgte ein von links um die Ecke biegendes Fahrzeug. Ein größerer Wagen schien es zu sein. Er verlangsamte kurz das Tempo, entfernte sich dann aber schnell auf dem Zufahrtsweg. Mary sah den roten Schlusslichtern nach, bis sie von einem Heckenstreifen verschluckt wurden. Einer der weit entfernten Nachbarn von den anderen Höfen?, dachte sie, während sie sich zum Bett zurücktastete und sich darauf sinken ließ. Um sie herum, im Abstand von ein, zwei Kilometern, gab es einige Aussiedlerhöfe, die aber ebenfalls nicht mehr landwirtschaftlich genutzt wurden. Der Bürgermeister hatte ihr davon erzählt. Während der kurzen Sanierungsphase waren einige dieser Nachbarn vorbeigefahren, ohne jedoch das Gespräch mit ihr zu suchen.
Da sie für einige Zeit hier wohnen wollte, nahm sie sich vor, die Leute in ihrer Umgebung möglichst bald näher kennenzulernen. Sie versuchte, sich in Erinnerung zu rufen, was der Bürgermeister berichtet hatte. Offenbar waren es »Aussteiger«, die diese Gehöfte gekauft hatten. Einer sei Künstler, vermutlich ein Magier, der zusammen mit seiner Frau in Kabaretts, aber auch bei Vereinsfesten als Zauberkünstler auftrete. Beruhigend empfand sie die Anwesenheit eines früheren Polizeibeamten, der seinen Job verloren habe und nun gemeinsam mit seiner Freundin eine Art Security-Dienst betreibe. Weniger angenehm empfand Mary die nachbarschaftliche Nähe zu einem Immobilienmakler, der mit einem Kompagnon vor einigen Jahren einen Aussiedlerhof erworben hatte. Immobilienmakler genossen in den USA seit der Finanzkrise vor fast 15 Jahren keinen sonderlich guten Ruf. Und nachdem der Bürgermeister angedeutet hatte, die beiden hätten Interesse am Kauf des Eulenhofs bekundet, um auf dem Areal ein Gewerbeprojekt zu entwickeln, schien ihr vornehme Zurückhaltung geboten.
Draußen war es wieder still geworden. Doch das Knarzen des Holzes blieb, manchmal leise, dann wieder so laut, dass sie erschrak. Ein Satz, den der Bürgermeister bei ihrer ersten Besichtigung gesagt hatte, war ihr nicht aus dem Kopf gegangen: »Es ist so, als wohne noch immer jemand hier.« Tatsächlich hörte sich manches so an. Was natürlich reine Einbildung war. Trotzdem spulten in ihr Geschichten über deutsche und schottische Spukschlösser ab. Nein, bändigte sie derlei Gedanken, sie war nicht in einem Schloss, sondern in einem Haus auf der Schwäbischen Alb. Zwar mochte es in diesem Landstrich Geistergeschichten geben – wie überall auf der Welt –, aber davon wollte sie sich die Freude an diesem Hof nicht nehmen lassen. Aber da war etwas, das sie beunruhigte: das seltsame Verschwinden ihres Verwandten namens Hans Aubele. Wäre er nicht seit rund 18 Jahren vermisst, würde er tatsächlich noch hier wohnen …
Bald graute der Morgen. Noch lange, bevor die Sonne über den Horizont stieg, wachte Mary auf und stellte beruhigt fest, dass die bedrohlichen Schatten und Geräusche der Nacht keine Spuren hinterlassen hatten. Sie fühlte sich aber matt und abgespannt, stand auf und zog den Vorhang beiseite. Das weite, leicht hügelige Land lag friedlich vor ihr. Duft von frisch gemähtem Gras drang durch die Ritzen der Fenster herein. Wirklich ein idyllisches Fleckchen, dachte sie und versuchte, die Ängste abzustreifen, als seien sie nicht real, sondern nur ein Albtraum gewesen. Sie durfte nicht hinter jedem Geräusch etwas Schreckliches vermuten. Schließlich war sie nicht im Wilden Westen, sondern auf der friedlichen Schwäbischen Alb.
Während sie die Holztreppe hinab ins Erdgeschoss ging, umgab sie wieder dieser Duft nach altem Holz. Drunten im Badezimmer, das sie mit modernem Ambiente und praktischen Armaturen aufgemöbelt hatte, blickte ihr im Spiegel ein blasses Gesicht entgegen. Sie betupfte es mit einem nassen Waschlappen und ging in die kleine Küche, für die der Verkäufer im Einrichtungshaus viel Geschick aufgebracht hatte, sie zeitgemäß auszustatten.
Nach dem spärlichen Frühstück überlegte sie für einen Moment, ob sie Joe anrufen sollte – aber in Arizona war es erst kurz nach Mitternacht. Sie warf einen Blick auf das Handy, das sich im Erdgeschoss zwischenzeitlich in das schwache Mobilfunknetz eingeloggt hatte. Offenbar hatte niemand versucht, sie in der Nacht zu erreichen, oder ihr eine Botschaft geschickt.
Beim Abspülen entschied sie, im nahen Ort Merklingen ihre bisher nur geringen Lebensmittelvorräte aufzustocken und ein zweites Bankkonto anzulegen, wofür es gewiss einige bürokratische Hindernisse zu überwinden geben würde. Denn dass Deutschland fest im Griff von Bürokraten war, hatte sie bereits als Jugendliche festgestellt – ganz sicher war dies inzwischen nicht weniger geworden. Eher im Gegenteil, befürchtete sie. Denn alles, was mit Geld zu tun hatte, war seit der globalen Finanzkrise ziemlich undurchsichtig. Überall grassierte die Angst vor Geldwäsche – obwohl die Korrupten und Betrüger, die Blender, Mafiosi und russischen Oligarchen damit nicht zu fassen waren.
Sie spürte die Frische des Sommermorgens im Gesicht, als sie das Haus verließ, um zu ihrem Auto zu gehen, das sie in der mit hohem Gras bewachsenen Zufahrt zur rechtwinklig angebauten Scheune abgestellt hatte. Dass die meisten Kleinwagen nur ein Schaltgetriebe aufwiesen, war ihr zunächst suspekt erschienen. In den USA gab es nahezu ausschließlich Automatikgetriebe, sodass es ihr auf den ersten Kilometern mit einem gemieteten roten VW Polo schwergefallen war, immer ans Schalten zu denken. Oft schon hatte sie beim Anhalten das Kuppeln vergessen und deshalb peinlicherweise den Motor »abgemurkst«. Jetzt konzentrierte sie sich beim rückwärtigen Herausfahren aus der Scheunenzufahrt auf Gas, Bremse und Kupplung. Doch in dem Moment, als sie rückwärts vor das Haus rangierte, war ein anderes Auto da: das schwarze Mercedes-Coupe, das ihr schon einige Male aufgefallen war. Sie trat auf die Bremse, vergaß wieder die Kupplung und würgte mit einem Ruck den Motor ab. Auch der Mercedes, der von hinten herangekommen war, stoppte abrupt. Im Rückspiegel sah sie, dass ein Mann ausstieg. Anzugträger, Krawatte. Er kam forschen Schrittes näher. Mary entschied, sofort auszusteigen. Falls der Typ da hinten sie jetzt »anmachte«, bloß weil sie das Herannahen des Mercedes nicht bemerkt hatte, dann würde sie ihm gleich mal die Meinung sagen.
Doch als sie sich gegenüberstanden, blickte sie in ein braun gebranntes, freundlich lächelndes Gesicht, das ein Alter von etwa 50 Jahren vermuten ließ. Die schwarzen Haare korrekt gekämmt. So hatte sie sich einen aalglatten Immobilienhändler immer vorgestellt, schoss es ihr durch den Kopf. Und sie sollte recht behalten.
»Guten Tag, Frau Nachbarin«, sagte er charmant. »Darf ich mich vorstellen? Ich wohne da drüben«, er deutete in eine dicht mit Stauden bewachsene Richtung. »Fletschinger, mein Name, Marius Fletschinger.« Er grinste und wurde sogleich selbstbewusst seinen Werbeslogan los, den er offenbar für ziemlich genial hielt: »Hab keine Angst und sei nicht doof – ich vermakle Haus und Hof.«
Mary sah ihn verwundert an. Also doch. Sie hatte ihn richtig eingeschätzt. Ein Schaumschläger.
»Guten Morgen«, erwiderte sie reserviert und musterte ihn von oben bis unten. »Wahrscheinlich wissen Sie schon, wer ich bin. Mary Quinbek.« Sie vermied es, ihm die Hand zu reichen. Seit Corona hatte sie sich dies abgewöhnt. »Ich bin hier vor einigen Tagen eingezogen, um dem Haus neues Leben zu geben.«
Fletschinger sah an dem maroden Giebel hoch und runzelte die Stirn.
»Da werden Sie aber nicht viel Freude haben. Das kostet Mühe und Geld. Viel Geld. Ich habe gesehen, dass Sie schon mit Sanieren begonnen und einige Möbel bekommen haben.«
»Ja, das haben Sie richtig gesehen. Innen hat sich in den letzten 18 Jahren nichts verändert. Ich hab’s ein bisschen wohnlicher gemacht.«
Fletschingers Gesicht wurde ernst.
»Der alte Aubele«, zeigte er sich mitfühlend. »Das war ein Verwandter von Ihnen?«
Für einen Augenblick staunte Mary, dass er dies wusste. Aber vermutlich sprach sich so etwas auf der Alb schnell herum.
»Ein entfernter Verwandter«, klärte sie auf, ohne allzu viel über sich verraten zu wollen.
»Ich habe ihn noch gekannt, flüchtig«, beeilte sich Fletschinger zu sagen. »Als ich den Hof da drüben gekauft hab – vor 19 Jahren –, da hat er hier im Eulenhof gewohnt.«
»Sie haben ihn gekannt?«, wiederholte Mary wesentlich interessierter.
»Ja, er war Jäger und ist manchmal, wenn er in seinen Wald raus ist, bei mir vorbeigekommen.«
»Er war Jäger?«
»Ja. Hat er Ihnen das nicht gesagt – oder hatten Sie keinen Kontakt mehr zu ihm?«
Mary ging nicht auf diese Frage ein und entschied, mehr erfahren zu wollen:
»Wie lange haben Sie schon hier gewohnt, als er verschwunden ist?«
»Nur ein paar Monate«, antwortete Fletschinger und verschränkte die Arme vor der Brust. »Mehr als ein paar kurze Worte haben wir bis dahin nicht gewechselt. Er hat auf mich – na ja, sagen wir mal – etwas gewöhnungsbedürftig gewirkt.«
»Gewöhnungsbedürftig? Also seltsam?«
»Ja, er war nicht sehr gesprächig. Wahrscheinlich hat ihm nicht gepasst, dass ich mit meinem Kollegen zusammen diesen Hof da drüben gekauft habe. Die Älbler hier«, er senkte seine Stimme, »haben’s nicht so gern, wenn Fremde alte Bauernhöfe aufkaufen. Die mögen keine ›Reig’schmeckten‹, wie man so sagt.«
»Haben Sie Ihr Büro hier?«, wollte Mary wissen.
»Ja. Wir haben die Scheune umgebaut, mein Kompagnon und ich. Da hat’s viel Platz für Wohnwagen und Wohnmobile. Sie dürfen’s gerne mal sehen, wenn Sie wollen. Sie können auch gerne jemanden mitbringen …«
Mary glaubte zu ahnen, was er wissen wollte.
»Ich überleg’s mir. Danke.« Sie wollte wieder in den Polo steigen, da griff er an die Oberkante der offenen Fahrertür und sagte in verbindlichem Ton:
»Falls Sie den Eulenhof loswerden wollen, denken Sie bitte an mich. Ich kann Ihnen Kaufinteressenten vermitteln. So alte Höfe sind bei den Städtern sehr beliebt. Gerade in den jetzigen Zeiten, wenn die Inflation galoppiert, ist es am besten, man investiert in Steine. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Mary ließ sich nicht davon abhalten, in ihr Auto zu steigen.
»Wenn es so weit kommen sollte, weiß ich ja, wo ich Sie finde«, gab sie sich schnippisch. »Aber Sie wissen hoffentlich, was in den Staaten vor 15 Jahren passiert ist.«
Er zeigte sich informiert und lächelte.
»Immobilienblase geplatzt, ich weiß. Aber wir sind hier nicht in Amerika, gnädige Frau. Wenn Sie die alte Bude versilbern, kann ich Ihnen ein lukratives Investmentangebot machen. Steuerlich günstig und absolut diskret. Die Schweiz ist nicht weit. Denn so ein alter Hof ist finanziell ein Fass ohne Boden. Außerdem …«, er grinste vielsagend, »haben so alte Häuser oftmals eine Geschichte, an die man nicht so gerne erinnert werden möchte.«
Mary reichte es. Sie nickte dem Mann freundlich zu, ließ die Fahrertür zufallen und versuchte, den Motor zu starten. Doch der Anlasser verursachte nur ein herbes Ruckeln nach hinten. Es war noch der Rückwärtsgang eingelegt, und sie hatte wieder mal vergessen, die Kupplung zu drücken. Was ihr vor den Augen des Mannes peinlich war.
Jedes Mal, wenn sie in den vergangenen Tagen in Ulm oder im nahen Merklingen war, staunte sie aufs Neue, wie sehr sich die Hochfläche der Schwäbischen Alb in all den Jahren, seit sie nicht mehr hier gewesen war, verändert hatte. Nicht zum Besten, dachte sie dann, wenn vor ihrem geistigen Auge die Weite Arizonas ablief, während sich hier ein Gewerbegebiet ans andere reihte. Es schien ihr so, als sei überall die Erkenntnis verloren gegangen, dass der Mensch sich von der Scholle ernährte. Gerade in jüngster Zeit war doch deutlich geworden, wie lebensbedrohlich es sein konnte, sowohl Nahrungsmittel als auch Medikamente oder Energie großteils vom Ausland zu beziehen – dazu von Ländern, die man inzwischen mit Fug und Recht als »Schurkenstaaten« bezeichnen konnte. Wie schnell konnte da ein einziger durchgeknallter Präsident die Welt aushungern!
Mary sah im Geist die weiten Kornfelder im mittleren Westen der Vereinigten Staaten oder, ganz besonders, von Kanada. Im krassen Gegensatz dazu dieses einst verschlafene Bauerndorf Merklingen, das direkt an einer Autobahn-Anschlussstelle lag und neuerdings sogar einen Bahnhof hatte, der demnächst in Betrieb gehen würde. Blitzartig, so schien es Mary, war an diesem Kreuzungspunkt auf einst gutem Ackerland ein Gewerbegebiet entstanden mit Tankstelle, Hotel, Rasthaus und all den üblichen »Verdächtigen«, was sie stark an eine Amerikanisierung erinnerte.
Als sie von ihrer Einkaufsfahrt zurück im Eulenhof war, empfand sie die Stille und die naturbelassene Umgebung erholsam. Sie parkte ihren Polo in die seitliche Zufahrt neben dem Haus und musste sich mit den Einkaufstaschen durch den dichten Gras- und Staudenbewuchs kämpfen. Bisher hatte sie anderes zu tun gehabt, als rund um den Hof zu mähen. Nur andeutungsweise waren Blumenbeete zu erkennen, die Aubele vermutlich mit viel Liebe gepflegt hatte.
Die Sonne brannte gnadenlos aufs Land, als sie die neue Tür aufschloss und das kühlere Innere des Gebäudes betrat. Die Natursteine des Erdgeschosses hielten die Tageshitze draußen, ganz im Gegensatz zum Dachgeschoss, wo sich jeder Raum aufheizte.
Mary hatte sich vorgenommen, endlich das ganze Anwesen genauer zu inspizieren. War sie bisher insbesondere auf die Wohnräume fixiert gewesen, so wollte sie nun endlich die landwirtschaftlichen Anbauten durchforsten, in denen alte Maschinen und verrostete Geräte in einem wilden Durcheinander lagerten. Dies alles musste noch von Aubeles Eltern oder gar Großeltern herrühren. Denn er selbst war ja kein Landwirt gewesen. Alles sah aber danach aus, als habe er sich von den Hinterlassenschaften nicht trennen können. Mary erkannte eine Egge, einen Pflug und einen Heuwender aus den Anfängen der maschinellen Landwirtschaft. Dazwischen Rasenmäher, Häcksler, Vertikutierer und jede Menge Ballen Rindenmulch. Im schummrigen Tageslicht, das durch trübes Glas der vergitterten Fenster fiel, waberten verstaubte Spinnweben in der Luft. Mehrmals schon hatte Mary einen Blick in diesen riesigen Abstellraum geworfen, dessen Inhalt einem Museum zur Ehre gereicht hätte. Vorausgesetzt, man würde eine Ordnung in dieses chaotische Durcheinander bringen. Es gab keine erkennbaren Durchgänge, und es schien so, als ob dieses Labyrinth überhaupt nicht begehbar sei. Wenn sich hier jemand verstecken wollte, so war dies hinter Kisten, Tonnen, Geräten, Strohballen und Humuspaketen kein Problem, fuhr es Mary durch den Kopf, als wieder dieses Knacken zu vernehmen war, das bei extremer Hitze oder nächtlicher Kälte das ganze Haus erfüllte, als ächze das Gebäude unter der Last von Jahrhunderten. Wenn Aubele eine Botschaft für die Nachwelt hinterlassen hatte, dann war es schier unmöglich, sie zu finden.
Was hieß »hinterlassen«?, kam es Mary in den Sinn. Wer sagte denn, dass ihr Verwandter nicht mehr lebte? Vielleicht war er einfach als »Aussteiger« freiwillig verschwunden. Aber warum dann das Auto am Waldrand? Hatte er eine falsche Spur legen wollen?
Für einen Moment blieb Mary ratlos ein paar Schritte hinter der vermoderten Tür stehen, durch die sie über den einstigen Stall vom Wohntrakt herübergekommen war. Mehr als diese paar Schritte hatte sie sich bisher nicht vorgewagt. Nur ein Elektriker, der vor einigen Tagen auf der Suche nach dem Zählerkasten im Gebäude unterwegs gewesen war, um den ziemlich laienhaft verlegten Kabeln zu folgen, hatte sich hier durchgeschlängelt und nach einer Unterkellerung gesucht. Sonst wäre ihm nämlich das im Betonboden verschwindende Kabel nicht aufgefallen. Mary hatte nur mit den Schultern gezuckt und dieser beiläufigen Beobachtung des Elektrikers keine Bedeutung beigemessen. »Da gibt’s nirgendwo eine Treppe nach unten«, hatte sie geantwortet, womit sich der Handwerker zufriedengab, der ohnehin keine große Begeisterung zeigte, hier weitere Aufträge erledigen zu müssen. Ihm war es ausreichend erschienen, den Zählerplatz zu sehen, der sich seltsamerweise in einer finsteren Nische zwischen Wohnräumen und dem direkt angrenzenden ehemaligen Stall befand.
Auch Mary, der als Farmerin landwirtschaftliche Gebäude durchaus vertraut waren, hatte in den vergangenen Tagen mehrfach gestaunt, was sich im Eulenhof alles verbarg. Wichtig war es ihr erschienen, die verschiedenen Zugänge über die rechtwinklig an den Stall angebaute Scheune sorgfältig schließen zu können. An eine große, vermoderte Flügeltür hatte sich kein Schloss mehr anbringen lassen, weshalb der hinzugerufene Schreiner sie kurzerhand mit Brettern vernagelt hatte.
Mary hatte sich nun, nachdem der Wohnbereich mühsam gereinigt und die Küche mit einigen modernen Gerätschaften ausgestattet war, über all die geräumigen Anbauten hermachen wollen. Im direkt ans Wohnhaus grenzenden Stall roch es noch immer streng nach Mist und Gülle, obwohl die landwirtschaftliche Nutzung schon viele Jahrzehnte zurücklag. Tröge und Vorrichtungen für Futter waren die einzigen Überbleibsel und deuteten darauf hin, dass Aubeles Eltern vermutlich Rinder und Schweine gehalten hatten.
Mary hatte den alten Stall bisher nur selten betreten. Ihr Interesse galt eher der Scheune, in der jetzt ihre abgewetzten Jeans an verrostetem Metall entlangstreiften – zwischen all den vielen Gerätschaften, deren Bedeutung sie nicht kannte. Sie zwängte sich zur anderen Wandseite, die auf ganzer Länge von einer hölzernen Werkbank eingenommen wurde, die mit Werkzeugen aller Art übersät war. So, als habe Aubele gerade noch daran gewerkelt und sei nur mal kurz weggegangen.
An der gesamten Stirnseite der Scheune türmten sich dicht aneinander unzählige Strohballen, die wie eine Mauer bis zur Dachschräge hochragten. Vermutlich lagerten sie bereits viele Jahre unberührt an dieser Stelle. Rechts an der Längsseite des Raumes war die Werkbank so dicht an diese Strohwand herangerückt, dass im Winkel zu ihr nur ein kleiner Spalt blieb, der sich im schwachen Licht tiefschwarz abzeichnete. Zu einem Versteck, das sich womöglich hinter dieser Strohwand verbarg?, durchzuckte es Mary, die sich dem schmalen Zwischenraum langsam näherte, dann aber stehen blieb, um sich wieder abzuwenden. Sie beschloss, sich demnächst eine starke Handlampe zu besorgen, um solche Winkel ausleuchten zu können. Für einen Moment überkam sie der Gedanke, die Strohballen stünden gar nicht direkt an der Wand, sodass es dahinter auf der ganzen Wandlänge vielleicht einen schmalen Durchgang gab, der zur Belüftung des aufgetürmten Strohs diente.
Sie tastete sich langsam über Schaufeln, Spaten, Rechen sowie Bretter und Scherben zerschlagener Blumentöpfe an der Werkbank entlang zurück, wo Holzlatten und Pfähle kreuz und quer auf dem Betonboden lagen. Über der Werkbank trug ein rustikal anmutendes Holzregal die Last von Werkzeugen, Rohren, Schläuchen und Kabeln. Dazwischen Blumentöpfe und Schalen, im Regal darüber ein großer runder Metallbehälter und kreuz und quer liegende eiserne Teile. Alles ungeordnet und nah der vorderen Regalkante, als drohten sie bei der geringsten Erschütterung herabzufallen. Ein Anblick wie im Baumarkt, nur völlig ungeordnet.
Sie wischte mit der linken Hand vorsichtig über die raue Ablage und spürte Staub zwischen den Fingern. Dann folgte sie der langen Regalfront vollends zur Tür. Noch bevor sie diese erreichte, fiel ihr im Augenwinkel etwas auf, das sie zuvor nicht wahrgenommen hatte: Am Ende der schweren Regale erhob sich ein mannshoher schmaler Kasten, der sie an das Gehäuse einer Standuhr erinnerte. Mary blieb stehen, denn an der Vorderseite war ein Türchen, das sich über die ganze Höhe erstreckte, nur angelehnt. Es war aus stabilem Metall. Vorsichtig zog sie es weiter auf, um ins Innere sehen zu können. Im Schummerlicht war eine Halterung zu erkennen, deren Bedeutung sie nicht zuzuordnen vermochte. Es waren Schnappverschlüsse, in denen sich etwas Längliches befestigen ließ. Wie Schaufel oder Pickel, aber dafür war das Gehäuse zu klein. Außerdem: Wieso sollte solches Handwerkszeug in einem massiven Metallkasten stecken? Während sie ihre Gedanken kreisen ließ, entdeckte sie eine kleine Schachtel, die unterhalb der Metallklammern lag. Drei große schwarze »G« waren aufgedruckt. Mary bückte sich und griff nach der Schachtel. Sie war schwerer, als es ihr Aussehen hätte vermuten lassen. Dann las sie: »308 W Universalpatrone mit Full Metal Jacket, hergestellt aus hochwertigen Komponenten. Hervorragende Munition für die Jagd, das Sport- oder Freizeitschießen.«
Dass Hans Aubele Jäger war, hatte der unsympathische Immobilienhändler bereits angedeutet. Es war also nichts Ungewöhnliches, wenn er einen Waffenschrank besaß, versuchte Mary sich zu beruhigen, während sie die Scheune durch den Stall und den schmalen Durchgang zum Wohnhaus verließ. Aber wo war das Gewehr? Dieser Gedanke plagte sie von Minute zu Minute mehr. Üblicherweise musste ein Waffenschrank doch abgeschlossen sein, hatte sie mal gelesen. Schließlich war man nicht in den Staaten, sondern in Deutschland. Da durfte niemand so ohne Weiteres eine Waffe besitzen – und wenn, dann nur mit Waffenbesitzkarte und Waffenschein. Jäger und Sportschützen konnten solche Dokumente beantragen, und erteilt wurden derlei Genehmigungen nur, wenn der Antragsteller unbescholten war. Mit strengen Waffengesetzen, das wusste Mary, brüstete sich Deutschland, zur inneren Sicherheit beizutragen. Aber gewiss würde wohl kein Terrorist oder Gangster eine offiziell angemeldete Waffe für einen Mord verwenden, geschweige denn sich vorher um einen Waffenschein kümmern. Wer eine »Kanone« wollte, würde sich bestimmt auch in Deutschland eine besorgen können. Illegal, versteht sich.
Trotzdem wollte Mary Klarheit. Sie setzte sich auf die morsche Holzbank, die vor dem Haus ringsum von hohen Gräsern eingewachsen war, und rief von diesem Platz aus, an dem es ein schwaches Mobilfunknetz gab, den Bürgermeister an, um ihn um einen Gesprächstermin zu bitten. Freudenreich zeigte sich über den Anruf überrascht und schlug ihr vor, gleich zu ihm zu kommen. Mary glaubte, aus dem Tonfall und der Eile herauszuhören, dass er vermutlich hoffte, den Hof für seine Pläne aufkaufen zu können.
Ein paar Minuten später, nachdem sie ihre Jeans gegen eine weiße Hose getauscht und sich eine bunte Bluse übergestreift hatte, fuhr sie die zweieinhalb Kilometer über holprigen Asphalt zu der kleinen Gemeinde, deren Bürgermeister Freudenreich war. Das Rathaus hätte längst eine Sanierung bitter nötig gehabt. Putz bröckelte, die paar Stufen zur Eingangstür waren ausgetreten. Im Innern war es kühl, und es roch nach Bürokratismus und Amtsstube: nach feuchtem Papier und vergilbten Akten. In Schaukästen hingen amtliche Bekanntmachungen, die Mary aber nur im Vorbeigehen erahnte. Der mit Natursteinen ausgelegte Boden war uneben, die Wand grau getüncht. Mary orientierte sich an einem verblassten Türschildchen mit der Aufschrift »Bürgermeister«, klopfte zaghaft und trat sogleich ein.
Freudenreich, der mit Anzug und Krawatte hinter einem dunklen Schreibtisch des vorletzten Jahrhunderts residierte, sprang auf und begrüßte sie.
»Herzlich willkommen im Rathaus.« Er bot ihr einen Platz auf einer Sitzecke mit verschlissenen Polstern an. »Leider hab ich keine Sekretärin, die uns Kaffee machen könnte«, sagte er charmant lächelnd. »Ich hoffe aber, Sie haben sich in Ihrem neuen Zuhause eingelebt. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Eingelebt hab ich mich einigermaßen. Die Umgebung ist ungewohnt«, erwiderte sie kühl.
»So alte Hofstellen haben ihren eigenen Charakter«, lächelte Freudenreich. »Man kann in Chroniken nachlesen, welche Sagen und Geschichten sich um sie ranken.«
Mary hatte keine Lust, gruslige Storys zu hören, sondern wäre am liebsten gleich auf ihr Anliegen zu sprechen gekommen, aber sie wollte die lockere Gesprächsatmosphäre nicht unnötig strapazieren. Deshalb rang sie sich zu einer Nachfrage durch:
»Um den Eulenhof ranken sich Geschichten?«
Freudenreich legte die hohe Stirn nachdenklich in Falten.
»Ist Ihnen das Sühnekreuz noch nicht aufgefallen? Schräg gegenüber. Aber es ist momentan zugewachsen.«
»Sühnekreuz?« Mary durchzuckte es wie ein Stich in die Seele.
»Ja, Sühnekreuz. Das geht aufs Mittelalter zurück. Ein Ritual, wenn man es so nennen will. Wenn Feinde wegen Mordes oder Totschlags eine Blutfehde beendeten, war das Aufstellen eines solchen Kreuzes sozusagen Bestandteil der Sühneverträge.«
Mary hatte noch nie davon gehört, überlegte aber, weshalb ihr der Bürgermeister dies gleich zu Beginn ihres Gesprächs mitteilen wollte. Sie zögerte, hakte dann aber irritiert nach:
»Und was hat das mit dem Eulenhof zu tun?«
Freudenreich lehnte sich zurück und verschränkte die Arme – eine Geste, die eine gewisse Zufriedenheit ausstrahlte. »Es heißt, einer der vielen Bewohner einer früheren Hofstelle dort habe Mitte des 14. Jahrhunderts seinen Knecht erschlagen.«
»Ach? Erschlagen?«, echote Mary und spürte einen Kloß im Hals.
»Ja, mit einer Schaufel erschlagen, weil der Knecht betrunken gewesen sei und sich über die Frau des Bauern … na ja, Sie wissen schon …« Er wollte nicht aussprechen, was er in den Chroniken dazu gelesen hatte, zumal die Aufzeichnungen aus damaliger Zeit derlei Details meist umständlich umschrieben. »Die Angehörigen des Ermordeten haben dann mit dem Täter die Blutfehde beendet – wovon das Sühnekreuz noch zeugt.«
Mary wollte sich nicht beirren lassen, sondern erwiderte energisch:
»Und jetzt werden Sie gleich behaupten, dass auf dem Eulenhof seither ein Fluch liegt.« Ihr Misstrauen war deutlich zu vernehmen. In Mary reifte der Verdacht, dass ihr der Bürgermeister Furcht einflößen wollte, um sie zum Verkauf des Anwesens zu bewegen.
Freudenreich wehrte mit erhobenen Unterarmen ab.
»Ich bitte Sie, gnädige Frau. Die älteren Leute glauben zwar manchmal an Spuk und böse Geister, aber wir beide, Sie und ich, sind doch aufgeklärt genug, um uns von solchem Humbug nicht beeindrucken zu lassen.« Er räusperte sich und lächelte wieder auf eine Art und Weise, die Vertrauen signalisieren sollte. »Aber Sie sind nicht gekommen, um von mir Schauergeschichten zu hören.«
Mary war erleichtert, dass er das Vorgeplänkel, wie sie es empfand, beendete. »Ich habe eigentlich nur ein paar Fragen zu meinem Verwandten, dem Herrn Aubele. Der Herr Fletschinger, der auch da draußen wohnt, dieser Immobilienmakler, hat mir beiläufig gesagt, Herr Aubele sei Jäger gewesen. Mich würde interessieren, ob man sein Gewehr gefunden hat.«
Wieder runzelte der Bürgermeister die Stirn und versuchte, mit einer Hand den ergrauten und spärlichen Haarwuchs glattzustreichen. »Nun ja, liebe Frau Quinbek, das ist in der Tat ein ungeklärter Punkt. Herr Aubele war offiziell und ordnungsgemäß im Besitz einer Waffenbesitzkarte und eines Waffenscheins für die Jagd. Er durfte also ein Gewehr von der Wohnung zu seinem Jagdrevier mit sich führen. Also dorthin, wo man sein Auto fand.«
»Und das Gewehr?«, hakte Mary schnell nach.
»Ist verschwunden. Man hat es weder im Auto noch irgendwo im Wald gefunden.«
»Auch nicht im Haus? Sie haben mir doch erklärt, man habe das Haus gründlich durchsucht.«
»Auch nicht im Haus«, antwortete Freudenreich schnell, als sei es ihm peinlich, eine Hausdurchsuchung einräumen zu müssen. »Hat alles die Polizei gemacht. Die haben die verschlossene Tür fachgerecht geöffnet.«
»Wann war das?«
»Na ja, das war im Sommer 2004, wann genau, das müsste ich in den Akten nachlesen. Es war jedenfalls so, dass einem Landwirt das abgestellte Auto am Waldrand aufgefallen ist. Nachdem es zwei Wochen nicht bewegt worden war, hat er die Polizei verständigt, und dann ging das übliche Programm los. Man hat schnell festgestellt, dass der Briefkasten am Eulenhof überquoll. Die Tageszeitungen vieler Wochen lagen unterm Briefkasten, und die übliche Post, meist Werbesendungen, waren überall vor der Tür verstreut und schon vom Winde verweht. Alles deutete darauf hin, dass Herr Aubele verschwunden war.«
»Aber nichts hat auf ein Verbrechen hingedeutet?«
»Nichts. Wie ich Ihnen bereits sagte: Das Haus war ordnungsgemäß verschlossen. Kein Einbruch. Nichts. Auch sein Auto war verriegelt.«
»Und Schlüssel?«
»Keine. Erst im Haus hat man dann einen Schlüsselbund gefunden.«
»Und dass er sich im Wald das Leben genommen hat?«, fragte Mary vorsichtig nach.
»Die Polizei hat das Waldgebiet durchsucht, auch mit Hunden.«
»Und das Haus?«
»Na ja«, seufzte der Bürgermeister. »Sie werden gesehen haben, welche Unordnung in der Scheune vorherrscht. Nach menschlichem Ermessen hat er sich dort nicht das Leben genommen. Ein Polizeihund hat zwar mal angeschlagen, aber die vielen landwirtschaftlichen Gerüche, die das Haus über Jahrhunderte hinweg aufgenommen hat, haben ihn wohl irritiert.«
Mary räumte ein:
»Wieso hätte Herr Aubele auch sein Auto am Waldrand abgestellt, um zu Fuß einen Kilometer zum Haus zurückzukehren und sich dort umzubringen?«
»Genau diese Frage haben wir uns alle gestellt«, bekräftigte Freudenreich. »Im Übrigen hat die Polizei die Sache nicht auf die leichte Schulter genommen. Die Spurensicherung hat im Fahrzeug und in der Wohnung DNA von Herrn Aubele sichergestellt.« Der Bürgermeister beeilte sich zu erklären, was damit gemeint war: »Sogar an einer Zahnbürste und aus einem Rasierapparat haben sie verwertbares Material gefunden. Die DNA-Ergebnisse sind bundes- oder sogar europaweit in einer Datei gespeichert. Selbst wenn man – erlauben Sie, wenn ich das so unumwunden sage – die Leiche des Herrn Aubele irgendwo verwest auffindet, wird man sie zuordnen können.«
Mary nickte. Sie hatte dieser Tage davon gelesen, dass man in den USA einen Mann festgenommen hatte, der vor 38 Jahren als Soldat in Göppingen stationiert gewesen war und dabei eine Frau vergewaltigt hatte. Seine DNA war damals sichergestellt worden. Und weil ihm nun, nach einer neuerlichen Straftat in Amerika, eine DNA-Probe entnommen worden war, gab es einen Treffer: Ihm konnte somit das Verbrechen in Göppingen nachgewiesen werden.
»Wie sicher kann man denn sein, dass Herr Aubele tot ist?«, knüpfte Mary nach ein paar Sekunden des Nachdenkens an Freudenreichs Antwort an.
»Wenn die Behörden einen Zweifel daran hätten, hätten wir Sie nicht kontaktiert, liebe Frau Quinbek«, entgegnete er und fügte amtlich hinzu: »Eine Todeserklärung ist nämlich zulässig, so heißt es in Paragraf drei des Verschollenheitsgesetzes, wenn seit dem Ende des Jahres, in dem der Verschollene nach den vorhandenen Nachrichten noch gelebt hat, zehn Jahre verstrichen sind. Das trifft auf Herrn Aubele eindeutig zu. Man kann jemanden aber auch für tot erklären lassen, wenn er zur Zeit der Todeserklärung, was in diesem Fall nun auch zuträfe, bereits 80 Jahre alt wäre und man fünf Jahre lang nichts von ihm gehört hätte.« Freudenreich fuhr in seinen Ausführungen fort: »Man muss natürlich noch jede Menge weitere Vorschriften beachten, wie sie in der …«, er las von seinen vorbereiteten Notizen ab, »… zehnten Zuständigkeitsanpassungsverordnung vom 31. August 2015 aufgelistet sind. Ich weiß, das hört sich für Laien ziemlich kompliziert an. Deshalb erspare ich Ihnen weitere Details.«
Mary nickte. Sie hatte das selbst nachgelesen, jedoch im juristischen Kauderwelsch bei unzähligen Hinweisen auf weitere Paragrafen nichts verstanden. Deshalb wollte sie Freudenreichs Darlegungen auch gar nicht kommentieren. Der war offenbar froh darüber und lenkte schnell mit einem anderen Hinweis ab: »Sie haben selbst gesehen, in welch schlechtem baulichen Zustand der Eulenhof ist. Irgendwann wird der Giebel einstürzen und eine Gefahr für den vorbeiführenden Weg darstellen. Sie werden nicht umhinkommen, die Statik prüfen zu lassen.«
Mary glaubte, daraus eine Drohung zu hören. So deutlich war Freudenreich bei ihren bisherigen Gesprächen noch nie geworden. Weil sie nichts darauf erwiderte, fuhr er fort: »Ich kann Ihnen nur raten, nicht so viel Geld in die Innenräume zu stecken. Allein die Außensanierung und Stabilisierung des Dachs wird eine Menge kosten.«
Mary sah den Augenblick gekommen, die Fronten zu klären:
»Mein Mann und ich betreiben in Arizona eine große Farm. Wir beabsichtigen, sie zu verkaufen und uns hier eine neue Existenz aufzubauen.« Das hatte sie zwar mit Joe noch nicht besprochen, aber diese Lüge würde den Bürgermeister vielleicht von den Kaufgelüsten zugunsten eines großen Gewerbegebiets abhalten. Verkaufen konnten sie noch immer, falls alles schiefging.
Freudenreich zeigte sich wenig beeindruckt.
»Übrigens: Auch Herr Aubele hat wohl vor seinem Verschwinden mit dem Gedanken gespielt, den Eulenhof zu versilbern.«
»Ach?«, staunte Mary. »Das haben Sie mir noch gar nicht gesagt.«
»Wieso sollte ich? Ich möchte Sie in Ihrer Entscheidung doch nicht beeinflussen.«
»Und woher wissen Sie, dass er verkaufen wollte?«
Freudenreichs Gesicht nahm überhebliche Züge an.
»Als Bürgermeister hat man eben so seine Kontakte. Vertrauliche natürlich. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Mary hatte sich schnell von dem Bürgermeister verabschiedet. War sie nach den ersten Kontakten mit ihm noch zuversichtlich gewesen, in ihm einen ehrlichen Berater zu haben, bröckelte diese Hoffnung jetzt. Da war einerseits der Hinweis auf das seltsame Sühnekreuz, das sie nach der Rückkehr zum Haus tatsächlich im hohen Gras des Wegesrandes entdeckt hatte und das ihr offensichtlich Furcht einflößen sollte, und andererseits war Freudenreich nicht dazu zu bewegen, ihr zu sagen, von wem die Vermutung stammte, dass Aubele den Hof habe verkaufen wollen.
Langsam ließ sie ihren Polo auf dem rissigen Asphalt des schmalen Feldwegs in die sonnige Einöde der Hochfläche hinausrollen. Doch als links, umstanden von Schatten spendenden Bäumen, der Eulenhof auftauchte, stach ihr etwas ins Auge, das in der Sonne glitzerte: Rechts neben dem Bänkchen stand ein Fahrrad. Besuch?, zuckte es ihr durch den Kopf. Sie hatte niemanden erwartet, und außerdem kannte sie hier niemanden, der Fahrrad fuhr.
Sich nach allen Seiten umschauend, um eine Person zu entdecken, parkte sie den Polo wieder in die verwachsene seitliche Hofeinfahrt, stieg verunsichert zwischen den hohen Brennnesseln aus – und erschrak. Denn im selben Moment erschien vorne an der Ecke des Scheunenanbaus eine männliche Gestalt. Noch geblendet von der Sonne, konnte sie im Schatten, den das Wohnhaus in diese verlassene Hinterhofsituation warf, noch kein Gesicht erkennen. Nur dass es ein großer Mann war, der Outdoor-Kleidung trug, als sei er ein Ranger aus einem Nationalpark.
»Nicht erschrecken«, schallte ihr eine Stimme entgegen, während der Unbekannte durch kniehohen Bewuchs stapfte, näher kam und übers ganze Gesicht grinste.
Mary blieb an der offenen Autotür stehen. Irgendwo hatte sie diesen Mann schon einmal gesehen.
»Ich bin einer Ihrer Nachbarn und wollte nur mal sehen, wie weit die Sanierung gediehen ist.«
Marys Herzschlag hatte sich beschleunigt, weshalb sie tief Luft holte. Jetzt wurde ihr bewusst, woher sie ihn kannte: Er war schon einige Male mit einem alten Bundeswehr-Jeep vorbeigefahren.
»Ich bin Leo Temme.« Er blieb in einigem Abstand stehen. »Vielleicht hat man Ihnen schon von mir erzählt. Kriminaloberkommissar a. D. Jetzt Security-Service LT, Leo Temme.«