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Im beschaulichen Geislingen am Rande der Schwäbischen Alb wird ein Mann nach einem Autounfall schwer verletzt in die Klinik eingeliefert. Kurz darauf stirbt er. Als es in derselben Nacht zu einem weiteren Todesfall kommt - eine Röntgen-Assistentin wird leblos zwischen ihren Apparaten entdeckt –, wird die Polizei verständigt. Kommissar Häberle, der die Ermittlungen leitet, findet heraus, dass das Unfallopfer ein Arzt war, der an einer dubiosen Forschungsgesellschaft für Stammzellen beteiligt war …
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Seitenzahl: 561
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Manfred Bomm
Blutsauger
Der elfte Fall für August Häberle
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2011–Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2011
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/Korrektorat: Julia Franze / Sven Lang
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung des Fotos »Blut 01« von: © Bernd Boscolo /
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ISBN 978-3-8392-3596-6
Gewidmet allen, die mit der Kraft ihres Wissens die Schöpfung bewahren und sich der großen Verantwortung bewusst sind, dass jeder noch so kleine Eingriff das sensible Gleichgewicht des Lebens zerstört. Denn der Pfad, der in die Zukunft führt, ist schmal und voller Gefahren. Wer besessen ist von skrupellosen Gedanken an Profit und Macht, vermag die Irrwege nicht zu erkennen, die tief in den Abgrund führen.
Sorgen wir gemeinsam dafür, dass finstere Mächte keine Chance haben und wir im Einklang mit den Wundern der Schöpfung den Weg in die Zukunft finden.
Meine allergrößte Hochachtung gebührt den Menschen, die große Verantwortung auf sich laden und als Ärzte in den Operationssälen das Geheimnis des Lebens vor Augen haben. Denn ihr Tun und all ihr Engagement ist mehr wert als das Profitdenken aller Manager dieser Welt.
Versuchen wir deshalb bei allem, was wir persönlich für wichtig erachten, die Prioritäten im Sinne der Menschlichkeit zu setzen.
Sand, so weit seine Augen blickten. Sand, nichts als Sand. Immer, wenn Elmar Brugger im knöcheltiefen Sand den Markierungspfosten folgte, fühlte er sich in die Sahara versetzt. Doch diese Wüste war weit entfernt, etwa 300 Kilometer weiter ostwärts, drüben auf dem afrikanischen Kontinent. Die Dünen, die den braun gebrannten Doktor der Medizin teilweise haushoch umgaben, galten hingegen als kleines Naturwunder. Hier, im Süden Gran Canarias, ging die kleine Sandwüste nahtlos in den traumhaften Strand über – gerade so, als gehöre beides zusammen. Als seien die Dünen nichts weiter als ein kilometerbreiter Strand.
Brugger hielt seine Badeschuhe in der linken Hand und genoss die behagliche Wärme des weichen Sandes, in den seine bloßen Füße bei jedem Schritt versanken. Jetzt, Mitte Februar, labte er sich besonders an den wohltuenden Sonnenstrahlen. Bei seinem Abflug in Stuttgart hatte es vorgestern noch kräftig geschneit. Wie traumhaft war es doch, das mitteleuropäische Sudelwetter einfach hinter sich lassen und der Sonne entgegenfliegen zu können. Brugger hatte von seinem Fensterplatz aus freudig darauf gewartet, bis der Silbervogel endlich diese grau-weiße Masse durchstach, unter der das Land seit Monaten lag. Als helle Sonnenstrahlen durch die Wolkenschicht zuckten, war jener Moment erreicht, in dem die Tragfläche den Airliner aus der bedrückenden Tristheit des irdischen Daseins ins endlose Blau des Himmels hob.
Brugger empfand es jedes Mal als Erlösung, wenn die Wolken wie ein erstarrtes Meer unter ihm blieben. Dann fühlte er sich so frei, als habe er all die Probleme, die ihn seit Monaten beschäftigten, einfach zurückgelassen, sie zugedeckt und dem Vergessen preisgegeben. Als fliege er einem neuen Morgen entgegen.
Daran musste er denken, als er in den blauen Himmel hinaufsah, wo ein Flugzeug dünne Kondensstreifen hinterließ, die sich sofort auflösten. Wahrscheinlich verlief hier die Route nach Südamerika, dachte er, während seine Augen an den filigranen Wellenlinien hängen blieben, die der Wind in den Dünensand gezeichnet hatte.
Brugger, 43 Jahre alt und Anästhesist an einer kleinen deutschen Klinik, war so tief in Gedanken versunken, dass er die wenigen Personen, die ihm auf dem sandigen Pfad entgegenkamen, gar nicht zur Kenntnis nahm. Er gab sich den Formen der Dünen hin, die mal steil aufragten, um wieder abzufallen oder mit mattgrünen Sträuchern bewachsen waren, die bei Sturm den Sand etwas zurückhalten sollten. Es gab Stellen, an denen der harte Untergrund vollständig freigeweht war und man besser in die Badeschuhe schlüpfte, um nicht mit den nackten Fußsohlen schmerzhaft die fest getrocknete Erdkruste zu spüren. Auch Brugger entschied sich dazu.
Ein kurzes Stück führte der Pfad durch tief eingeschnittene Dünentäler, die sich wie ein Wadi durch die Sandlandschaft zogen. Vermutlich spülte hier die stürmische See das Wasser weit in die Sandberge hinein.
Brugger kam an ein paar Männern vorbei, die ihre sonnengebräunten Körper textillos zur Schau stellten. Nacktheit war hier schon seit Langem zur Normalität geworden, ohne dass es zwischen Entblößten und Angezogenen zu Berührungsängsten kam. Bei manchen Menschen, so stellte er insgeheim fest, drängte die Begeisterung am textillosen Sonnenbaden die Ästhetik in den Hintergrund. Und das bezog sich nicht nur auf Männer, die an manchen Stellen offenbar bevorzugt in trauter Zweisamkeit beieinander lagen, sondern auch auf Frauen, die gleichermaßen ungehemmt hüllenlos unterwegs waren oder sich an den Sandhügeln in heißer Sonne die Haut verbrennen ließen. Brugger erblickte lieber die weibliche Freizügigkeit, sah meist dezent und ein bisschen verlegen zur Seite, wenn ein entblößter Vertreter des männlichen Geschlechts auf dem höchsten Sandhügel wie ein Feldherr Ausschau hielt. Dafür aber bescherte ihm jeder Anblick unverhüllter weiblicher Schönheit ein prickelndes Gefühl, das mit dem Gedanken an die kommende Woche einherging. Denn dass er hierher geflogen war, sich von Frau und Familie eine Auszeit nahm, hatte mehr als geschäftliche Gründe. Auf geschickte Weise hatte er das Nützliche mit dem Lustvollen verbinden können. Und hier gab es im Februar kaum jemanden, der ihn kennen würde. Und wenn schon – dass er sich hier aufhielt, war kein Geheimnis.
Er verdrängte den Gedanken an die aufregenden Tage, die ihm bevorstehen würden. Doch die nackte Haut, die ihn hier in den Dünen umgab, hatte seine Hormone durcheinandergewirbelt – so sehr sogar, dass er inzwischen unbewusst eine Anhöhe erklommen hatte, auf der sich der Horizont weitete und nicht mehr von Sandmassen eingeengt war. Er zog seine Schuhe wieder aus und ließ seinen Blick dorthin schweifen, wo weit in der Ferne die schneeweiße Fassade eines lang gezogenen, fünfstöckigen Hotelkomplexes die Sandfläche begrenzte – fast so, als stünde es in einer palmenbewachsenen Oase, die auch eine Fata Morgana hätte sein können. Brugger versuchte, mit zusammengekniffenen Augen die dritte Etage ausfindig zu machen, in deren Mitte er sein Zimmer hatte. Das RIU Palace Maspalomas hatte er seit seinem ersten Besuch ins Herz geschlossen. Es war nicht vom lauten Tourismus verrummelt, bot eine gediegene Atmosphäre und grenzte direkt an die Einöde, die er so sehr schätzte.
Dieser Pfad durch die Dünen führte westwärts hinüber nach Costa Meloneras mit seinem Leuchtturm. Entlang des weitläufigen Strandes, der den Ort bogenförmig entlang der Dünenlandschaft drüben mit San Agustin verband, war die nie enden wollende Prozession jener unterwegs, die stundenlang am Meer schlenderten und gelegentlich auf dem feucht-festen Sand ein paar Meter dem Wasser entgegengingen, bis ihnen die nächste hereinbrechende Welle bis zu den Knien schlug.
Im Winterhalbjahr gab es hier jede Menge Touristen, die nur der Sonne wegen kamen, die ausgedehnte Spaziergänge unternahmen und allenfalls in den Poolanlagen der Hotels ins Wasser stiegen. Viele andere, so auch Brugger, fuhren mit gemieteten Autos rauf in die Berge, um auf langen Wanderungen die Stille und Beschaulichkeit zu genießen, die mancher, der Gran Canaria lediglich mit den Bettenburgen an den Küstenstrichen in Verbindung brachte, hier nicht vermuten würde. Aber das war ja mit jeder dieser Kanarischen Inseln so – und sogar für Mallorca galt Gleiches: Von dem Halligalli der zubetonierten Küstenmeile war schon fünf, sechs Kilometer landeinwärts nichts mehr zu sehen.
Elmar Brugger sog die Meeresluft tief in sich ein. Für einen Moment musste er daran denken, dass heute Faschingssamstag war und daheim die Narretei ihrem Höhepunkt entgegenstrebte. Er selbst konnte derlei organisiertem Treiben nichts mehr abgewinnen, obwohl er in seiner Jugendzeit kaum einen Ball oder Schwof ausgelassen hatte. Mittlerweile jedoch waren aus den einst seriösen Veranstaltungen reine Sauffeste geworden, die nicht selten in den frühen Morgenstunden mit üblen Prügeleien endeten. Er musste an seinen Kollegen Salbaisi denken, der kommende Nacht in der Ambulanz der Klinik all die Alkoholleichen und sonstigen Suffopfer verarzten musste. Der Arzt, der aus dem Irak stammte und am Rande der Schwäbischen Alb heimisch geworden war, verfügte über ein natürliches Talent, das ihn dazu befähigte, sowohl auf verletzte als auch auf plötzlich erkrankte Patienten beruhigend einzuwirken. Brugger beneidete den Kollegen für dieses Talent. Auch er selbst war eine Weile in diesen Schichtbetrieb eingeteilt gewesen, hatte aber nach einem halben Jahr alles darangesetzt, wieder davon wegzukommen. Er war nicht nur mit allem konfrontiert worden, was die Medizin an Schrecklichem hergab, sondern hatte es auch mit Randalierern und Hypochondern zu tun gehabt, die nichts Besseres wussten, als nachts um drei die Ambulanz zu behelligen.
Was sich in den täglichen Medienberichten der Zeitungen so locker las, wie etwa, dass das Unfallopfer in die Ambulanz eingeliefert worden sei, beschrieb nur unvollständig, welche menschliche Anstrengung sich dahinter verbarg. Zehn Stunden und länger, in Nächten wie der kommenden meist ohne Pause, mussten im Viertelstundentakt Entscheidungen getroffen, Diagnosen erstellt und Behandlungen eingeleitet werden. Und wenn man Pech hatte, dann kotzten einem die Sturzbesoffenen die Bude voll. Brugger war selbst erschrocken, dass sein Gehirn solche Formulierungen zuwege brachte. Allerdings hatte er es damals wirklich so empfunden. In manchen Nächten war es ihm gewesen, als sei die Ambulanz so etwas wie eine Reparaturwerkstatt für lädierte Körper, in denen eine geschundene Seele steckte.
Brugger hatte seinen Blick längst wieder von dem weißen Hotel gewandt, das gut zwei Kilometer entfernt im gleißenden Sonnenlicht strahlte. Er ließ seine Augen nach links wandern, hinüber zu dem dichten Palmenhain, in den sich ein Golfplatz schmiegte. Etwas weiter links fraß sich die Bebauung von Costa Meloneras unablässig und gnadenlos das sanft ansteigende Gelände nach Maspalomas hinauf.
Brugger ging weiter. Er versuchte, sich in solchen Momenten vorzustellen, wie das wohl alles ausgesehen haben mochte, bevor in den 50er-Jahren der Tourismus über dieses Eiland im Atlantik hergefallen war. Ein paar Fischerhütten vielleicht, davor einige im Meer dümpelnde Boote. Doch schließlich waren die Geschäftemacher aufgetaucht, zuerst ein paar wenige, dann immer mehr. Vermutlich wurden die verlassenen Strände oder felsigen Abschnitte den Fischern für einen Bruchteil dessen abgeschwatzt, was die Grundstücke später wert wurden. Oder, was wahrscheinlicher erschien, man hatte die armen Leute gewissenlos übern Tisch gezogen, eventuell sogar im hehren Interesse des Allgemeinwohles enteignet. Möglich auch, dass sich mancher Tourismusraffke wertlos erscheinendes Ödland einfach still und heimlich unter den Nagel gerissen hatte. Es gab ja nichts – außer Salzwasser und Sonne. Wem sollte so etwas jemals nützen?
Dass hier im südlichen Landstrich der Insel meist die Sonne schien, wenn alles andere in Nebel oder Regenwolken gehüllt war, dürften clevere Tourismusmanager bald erkannt haben. Dieses schöne Wetter, so hatte es Brugger schon viele Male bestätigt gefunden, war – wie übrigens auch drüben auf Teneriffa – der Topografie zu verdanken: Die meist von Nordosten anströmende feuchte Meeresluft, ein Ausläufer der Passatwinde, wird von den Bergen der Inselmitte in die Höhe gezwungen, kühlt auf diese Weise ab, bildet Wolken und regnet sich ab. Südlich der Berge gibt es gewisse Bereiche, die von all diesen Niederschlägen nichts abbekommen. Bereits 15 Kilometer davon entfernt können die Temperaturen deutlich niedriger und die Witterungsverhältnisse richtig ruppig sein. Oft schon hatte dies Brugger mit eigenen Augen gesehen, wenn er zum östlich gelegenen Flughafen gefahren war und dort der Himmel bereits einen Vorgeschmack auf das gab, womit nach einem vierstündigen Flug Mitteleuropa üblicherweise aufwartete.
Doch auch wenn weithin gutes Wetter zu sein schien, konnte sich ziemlich schnell vom Insel-Hochgebirge aus ein breites Wolkenfeld in südöstliche Richtung auf das Meer hinausziehen – die sogenannte Passatwolke, die sich an manchen Tagen bisweilen hartnäckig hielt.
Für Brugger waren diese Wetterphänomene ein kleines Wunder – vor allem zeigten sie, welche Urgewalten in der Atmosphäre herrschten. Für ihn ein Zeichen dafür, wie auf diesem Planeten jede Kraft und jedes Element seine Bedeutung hatte. Nichts war dem Zufall überlassen, nichts geschah nur deshalb, weil es halt gerade so passte. Nein, Brugger mochte nicht an diese modernen Theorien glauben, die keinen Platz mehr für das Wunderbare und Geheimnisvolle ließen. Mochte auch die Medizin noch so große Fortschritte erzielt haben – bisher hatte ihm keiner plausibel erklären können, weshalb irgendwann, halbe Ewigkeiten nach dem allseits propagierten Urknall, tote Materie plötzlich lebendig geworden sein sollte – und zwar so wunderbar, dass daraus ein komplizierter menschlicher Körper werden konnte, der ihn während seines Medizinstudiums zunehmend fasziniert hatte.
Der Leuchtturm war inzwischen ein gutes Stück herangerückt. Zumindest hatte Brugger dies so empfunden, als er wieder seinen Gedanken entrückt war. Der mit rot markierten Pfosten gekennzeichnete Pfad führte jetzt an einer feuchten Fläche entlang, die aus Gründen des Naturschutzes gesperrt war. Brugger überlegte, ob er drüben bei den Straßencafés, die den Sandstrand zur Bebauung von Costa Meloneras hin begrenzten, einen Cappuccino trinken sollte. Noch bevor er eine Entscheidung treffen konnte, spürte er das Vibrieren seines Handys in der Tasche seiner bunten Bermudashorts. Er blieb stehen, fingerte das kleine Gerät heraus, erkannte auf dem Display eine vertraute Nummer in Spanien und meldete sich mit einem knappen »Ja, hallo«.
»Nur kurz, zur Information«, hörte er die Männerstimme, während er zum Meer hinübersah, vor dem sich die Prozession der Strandgänger unablässig in beide Richtungen bewegte. »Wir müssen uns treffen, dringend.«
»Treffen?«, fragte Brugger ungläubig nach. Er hatte seinen Freund erst vorgestern gleich nach der Ankunft angerufen und mit ihm vereinbart, am Sonntagvormittag, also morgen, zu ihm zu kommen. Die ersten Tage wollte er entspannen, vor allem sich aber auf Montag freuen – und auf die folgende Woche.
»Möglichst noch heute!«, fuhr die Stimme fort, ohne ihn zu Wort kommen zu lassen. »Ich schlage vor: 20 Uhr bei mir.«
»So schnell?« Bruggers Einwand klang unsicher. Auf seiner Stirn, die vom Winde zerzausten strohblonden Haar bedeckt wurde, traten tiefe Falten hervor.
»Nimm am besten ein Taxi. Hörst du …« Seinem Freund war die Dringlichkeit seines Anliegens anzuhören. »Ein Taxi, hab ich gesagt. Nicht deinen Mietwagen, falls du schon einen hast.«
»Kannst du mir wenigstens verraten, was passiert ist?«
»Nicht jetzt – nicht am Telefon«, kam es zurück. »Punkt 20 Uhr, okay?«
»Okay«, bestätigte Brugger widerwillig und steckte das Handy wieder weg. Mit einem Mal war die schöne Stimmung verflogen. Es durfte nichts dazwischenkommen. Auf gar keinen Fall.
Höllenbar. Was so furchterregend klang, zog die bunt gekleidete Menge geradezu magisch an. Die Megafaschingsparty, wie sich die Veranstaltung in der Festhalle des kleinen Ortes am Rande der Schwäbischen Alb nannte, hatte in dieser Samstagnacht zu einem wahren Besucheransturm geführt. Es herrschte drangvolle Enge und die Kapelle Slow Motion, die abseits der Bühne positioniert war, heizte die Stimmung mächtig an, während hinter den Musikern die dazu passenden Originalvideos der berühmten Interpreten auf die Leinwand projiziert wurden.
Droben auf der Bühne galt das Interesse der Höllenbar. Orange-gelb ausgeschmückt und farblich dem Höllenfeuer nachempfunden, war sie in Fünferreihen belagert. Unterdessen wuselte es drunten auf der Tanzfläche, die zwischen Kapelle und Tischreihen eingezwängt war. In der Menge hatten die Paare allergrößte Mühe, sich den nötigen Freiraum zu verschaffen. Längst waren die mitternächtlichen Allerwelthits wie Deutschers ›Marmor, Stein und Eisen bricht‹ oder ›Satisfaction‹ von den Stones gespielt worden. Soeben versuchten sich die Tänzer mit schwimmenden und fliegerischen Armbewegungen, wie sie üblicherweise beim Singen von Tim Toupets Faschingsohrwurm ›Heut ist so ein schöner Tag‹ erfolgten.
Quer durch die Festhalle waren Girlanden in allen Farben des Regenbogens gespannt. Und draußen im Foyer gab’s für die Freunde einer eher paradiesischen Atmosphäre die Südseebar. Die Musik, mochte sie noch so sehr zum Singen und Tanzen animieren, bügelte aufgrund ihrer Lautstärke rücksichtslos über jedes gesprochene Wort.
Früher hatten sie hier in Bad Überkingen am Rande der Schwäbischen Alb eine Prunksitzung veranstaltet, in der das lokale Geschehen auf die närrische Schippe genommen worden war. Doch obwohl es diesmal mit der im Herbst erfolgten plötzlichen Abwahl des Dorfschultheißen jede Menge aktueller Themen gegeben hätte, waren die Organisatoren nicht in der Lage gewesen, genügend Programmpunkte auf die Beine zu bringen. So blieb es bei einer Tanzveranstaltung. Damit jedoch zeichnete sich auch hier ein Trend ab, wie er landauf, landab zu beobachten war: Nicht mehr geschliffene Wortbeiträge waren gefragt, sondern das ausgelassene Treiben, bei dem verbale Kontakte, angesichts wummernder Bässe und offensichtlich bereits tauber Musiker oder Discjockeys, auf einzelne Wortfetzen oder vorsteinzeitliche Mimik und Gestik reduziert wurden. Möglicherweise würden die Büttenreden, wie sie früher noch gefragt waren, auch inhaltlich gar nicht mehr verstanden, zumal sich das Volk mit Grausen von jenen gewandt hatte, die darin im Mittelpunkt standen – die großen Politiker in Land und Bund, aber auch jene in den Rathäusern, denen ohnehin angesichts permanenter Finanzmisere jegliche Gestaltungsmöglichkeit genommen war. Oder sie brüteten Entscheidungen aus, die dem Bürger nur ratloses Kopfschütteln bescherten.
Wie einfach war es deshalb, sich mit Musik zudröhnen zu lassen. Eigentlich entsprach dies nicht den Vorstellungen der beiden jungen Frauen, die sich ins närrische Samstagnachtfieber gestürzt hatten. Ein paar Mal waren sie auf der Tanzfläche, allerdings fühlten sie sich jetzt an der langen Höllenbar ziemlich beengt. Einige Typen, so schien es ihnen, hatten es eindeutig auf sie abgesehen. Doch erstens waren die als Piraten verkleideten Kerle zu jung, zweitens betrunken und drittens sicher nur mit dem einen Ziel hier, die Nacht anderweitig ausklingen zu lassen – falls dies aufgrund ihres alkoholisierten Zustands überhaupt wunschgemäß ablaufen würde.
Melanie Winkler versuchte, den Blicken der Männer auszuweichen, die weiter entfernt an der Bar lümmelten und sich unflätig benahmen, wie sie aus ihrem Gehabe schloss. Sie hatte es insgeheim bereits bereut, dass sie in diesem luftigen und abenteuerlich kurzen Strandkleidchen gekommen war. Aber nachdem ihr ihre jüngere Kollegin Caroline Sauer vorgeschwärmt hatte, dass es wieder, wie voriges Jahr, eine Südseebar geben würde, waren sie beide der Idee verfallen, sich angemessen zu kleiden – obwohl dies bei Weitem nicht alle Besucher getan hatten. Unterm närrischen Volk war so ziemlich alles zu finden, was zu jeder beliebigen Faschingsveranstaltung gepasst hätte: Matrosen und Cowboys, Samba-Tänzerinnen oder in allerlei Tierkostüme gewandete Gäste, je nachdem, was einschlägige Supermarkt-Ketten in dieser Saison im Angebot hatten. Dazu zählte offenbar auch ein katzenfellartiges Oberteil, wie es Caroline an diesem Abend schon einige Male aufgefallen war. Sie selbst hingegen hatte sich für kurze, ausgefranste Jeans und ein buntes T-Shirt entschieden. Dass sie damit ebenso auffallen würde wie ihre Kollegin, war ihr natürlich klar gewesen, zumal sie beide auf einen netten Flirt gehofft hatten. Doch die Nacht verlief bisher eher enttäuschend. Zwar hatten sie ein paar Mal getanzt, aber keiner der Männer war ihr Typ gewesen. Andere, die ihnen mehr zugesagt hätten, waren meist in Begleitung.
Melanie, inzwischen 30 und nach einer Beziehung, die nach sechs Jahren zerbrochen war, ziemlich frustriert, fühlte sich angesäuselt und kicherte ihrer Arbeitskollegin ins Ohr: »Du kennst ja den Spruch: Männer sind wie Toiletten. Entweder besetzt oder beschissen.« Ihr lautes Lachen wurde von der Musik geschluckt. Melanie warf ihre schulterlangen braunen Haare zum wiederholten Male schwungvoll nach hinten, wobei sie an den Arm eines nebenstehenden Mannes stieß, den sie nicht beachtete. »Vergessen wir die Typen einfach«, grinste sie, nahm ihr Sektglas zur Hand und prostete Caroline zu. »Auf Gran Canaria.«
Caroline lächelte zurück. »Auf Elmar.«
Melanie verschluckte sich und prustete. »Wir werden ihm ganz schön einheizen.«
Ihre Kollegin stellte das Glas zurück und zog ein spitzbübisches Gesicht. »Ich hab mir extra ein paar heiße Höschen gekauft.«
Melanie überlegte einen Moment und spürte so etwas wie Zweifel, ob es richtig gewesen war, sich zu zweit von Elmar einladen zu lassen. Sie mochte ihre junge Kollegin. Seit fünf Jahren arbeiteten sie als Krankenschwestern in der Helfenstein-Klinik. Doch wenn es nun in diesen wenigen Urlaubstagen, die ihnen bevorstanden, zu Eifersüchteleien kam, dann konnte anschließend das Betriebsklima erheblich darunter leiden. Diesen Gedanken hatten sie in der anfänglichen Euphorie verdrängt. Und inzwischen wollten sie nicht offen aussprechen, dass es zu einem verhängnisvollen Konkurrenzkampf kommen könnte. Ganz abgesehen davon, dass Elmar verheiratet war.
Die Samstagnacht am Faschingswochenende war gefürchtet. Wer in der Ambulanz arbeitete, studierte bereits Monate zuvor den Schichtplan – in der Hoffnung, in dieser Nacht nicht arbeiten zu müssen. Es gab wenige Nächte, die derart unbeliebt waren. Nur im Sommer, wenn bei Stadt- und Bierzeltfesten reichlich Alkohol floss, hatte man mit ähnlich vielen unangenehmen Zeitgenossen zu rechnen.
Shakir Salbaisi, ein kleiner, wuseliger Mann mit einem fast kahlen Kopf, nahm hingegen solche Nächte gelassen und mit Humor. Zusammen mit der Ambulanzschwester Brigitte hatte er schon manches erlebt, was ein Außenstehender kaum nachzuvollziehen vermochte. Blutige Nasen oder aufgeplatzte Lippen nach Schlägereien waren das Geringste. Viel schlimmer waren betrunkene Ehemänner, die ihre verprügelten Frauen heranschleppten und behaupteten, es handle sich um einen häuslichen Unfall – weil die Frau angeblich zu mitternächtlicher Stunde beim Putzen von einer Leiter gefallen sei. Oder es kamen Jugendliche, die an Händen und Armen blutende Stichwunden aufwiesen und erklärten, sie hätten versehentlich in die Klinge eines Taschenmessers gegriffen. Bei Verdacht auf eine Straftat war Salbaisi natürlich gezwungen, die Polizei zu verständigen. Kürzlich hatte ein Randalierer sogar die halbe Einrichtung kurz und klein geschlagen.
Weil es in der Klinik kein Wartezimmer gab, mussten die Patienten knapp 50 Schritte entfernt, zwischen dem Untersuchungsraum und einigen Büroräumen, geduldig auf harten Stühlen im Flur sitzen. Bei starkem Andrang konnte dies durchaus eine Stunde und länger dauern. Hier ging es nach Dringlichkeit: Wer augenscheinlich schwerer verletzt war als die Wartenden, wurde vorgezogen. Zwar war die gläserne Pförtnerloge im Eingangsbereich der Klinik rund um die Uhr besetzt, doch mussten sich die Patienten selbst in der Ambulanz anmelden, die nur zwei Flurwindungen entfernt untergebracht war. Nachts jedoch, wenn dort hinter der großen Glasscheibe niemand saß, verwies ein Zettel auf einen Klingelknopf, der im Behandlungszimmer ein akustisches Signal auslöste. Dann eilte Ambulanzschwester Brigitte nach vorn, um die Personalien neuer Patienten aufzunehmen – soweit diese überhaupt in der Lage waren, sie ordnungsgemäß anzugeben. Hin und wieder kam es vor, dass manch einer weder seine Krankenversicherung noch die Anschrift korrekt nennen konnte.
Zum nächtlichen Ambulanzteam gehörte eine Röntgenassistentin, die ein Stück hinter Salbaisis Behandlungszimmer, schräg überm Flur, ihr eigenes Reich hatte. In Nächten wie diesen war sie pausenlos im Einsatz. Denn wann immer jemand über Knochenschmerzen klagte, sei es im Brustbereich oder an den Armen oder Beinen, ordnete Salbaisi eine Röntgenaufnahme an. Er tat dies auch dann, wenn eine Knochenverletzung eher unwahrscheinlich erschien. Sicher war sicher. Er wollte sich später nicht dem Vorwurf ausgesetzt sehen, einen Patienten allzu nachlässig untersucht zu haben. Dass er manchmal Zweifel an den geschilderten Schmerzen hegte, lag an den Simulanten, die aus reiner Wichtigtuerei nachts in der Ambulanz auftauchten. In jüngster Zeit war häufig ein junges Mädchen in Begleitung der Eltern erschienen, zuletzt sogar im Rollstuhl, in den sie angesichts ihrer angeblichen Schmerzen an der Pforte gesetzt worden war. Nachdem Salbaisi wieder einmal keine ernste Verletzung diagnostizieren konnte, hatte er die junge Dame in einer seiner seltenen energischen Momente angeherrscht: »Sie stehen jetzt auf!« Nach kurzem Zögern war die Angesprochene aufgestanden und hatte, völlig eingeschüchtert, auf eigenen Beinen den Behandlungsraum verlassen. Wenn Salbaisi diese Szene mit der wundersamen Heilung im Bekanntenkreis schilderte, fühlten sich die Zuhörer meist an biblische Geschehnisse erinnert.
Jetzt stand eine Dame mittleren Alters vor ihm, gestützt auf zwei Krücken, die sie an der Pforte erhalten hatte. Salbaisi blickte in ein schmerzverzerrtes Gesicht, in dem üppige Schminkfarbe mit Schweiß und Wasser verlaufen war.
»Helau«, lächelte der sympathische Ambulanzarzt und spielte auf das Kostüm der Patientin an: Sie trug ein dunkelblaues, knielanges und mit goldenen Verzierungen ausgeschmücktes Engelsgewand, hatte in den regennassen Haaren eine Art Heiligenschein stecken und war mit Konfetti behaftet.
Der Arzt griff zur Begrüßung symbolisch nach ihrer rechten Hand, die eine Krücke umklammert hielt. »Helau in der Ambulanz«, sagte er, »oder soll ich lieber Halleluja sagen?«
Schon war das Eis gebrochen. Sie ließ ein gequältes Lächeln erkennen. Ihr männlicher Begleiter, der hinter ihr ins Zimmer gekommen war, verzog keine Miene und schwieg verlegen. Er schien sich in seiner Verkleidung als Teufel nicht sonderlich wohl zu fühlen: Schwarzes T-Shirt mit weißem Totenkopf auf der Brust, schwarze Hose mit rosarotem Besatz züngelnder Flammen.
Salbaisi und seine Ambulanzschwester halfen der Frau auf die Untersuchungsliege, während der Mann unschlüssig daneben stand und die Krücken hielt. Im grellen, hellen Licht der Leuchtstoffröhren wirkte sein Gesicht blass. Der Arzt schätzte das Paar auf Ende 30. Er entfernte sich zu seinem kleinen Schreibtisch und griff sich den Computerausdruck, der die persönlichen Daten enthielt, die Schwester Brigitte zuvor bei der Anmeldung aufgenommen hatte. Beim Blick auf das Geburtsdatum der Frau fühlte sich Salbaisi bestätigt. Sie war 38, wohnte im benachbarten Bad Überkingen und war bei der Betriebskrankenkasse der WMF versichert. »Wo tut’s denn genau weh?«, fragte er, als er wieder zu ihr herüberkam.
»Da.« Die Frau deutete auf ihren rechten Fußknöchel und zog sich vorsichtig den Schuh aus.
Salbaisi bückte sich, strich über das angeschwollene Sprunggelenk und drückte sanft, um den Grad der Schmerzhaftigkeit zu testen. Die Frau hielt für einen Augenblick die Luft an.
»Wir machen eine Aufnahme«, entschied er, um gleich beruhigend hinzuzufügen: »Ich glaube aber nicht, dass es sich um eine Fraktur handelt.«
»Knochenbruch«, ergänzte Schwester Brigitte, die aus ihrer langjährigen Berufspraxis wusste, dass sich Patienten mit ärztlichen Fachbegriffen oftmals schwertaten und nicht wagten, vor dem Herrn Doktor nachzufragen. »Es ist wahrscheinlich nichts gebrochen.«
»Wie ist’s denn passiert?«, wollte Salbaisi eher beiläufig wissen, während er den Schein fürs Röntgen ausfüllte.
»Beim Tanzen«, antwortete der Mann schnell, der bis jetzt geschwiegen hatte. »Sie hat einfach getanzt wie der Teufel«, fügte er leicht grinsend an.
Salbaisi hob den Kopf zu ihm. »Wie der Teufel?«, fragte er grinsend. »Sie meinen wohl: Mit dem Teufel?« Und an die Frau gewandt, der die Schwester einen Rollstuhl neben die Liege schob, ergänzte der Doktor: »So kann’s gehen, wenn ein Engel mit dem Teufel tanzt.«
Beim vorsichtigen Umsteigen von der Liege in den Rollstuhl verging ihr das Lachen, obwohl die Ambulanzschwester ihr unter die Arme griff, um ihr weitere Schmerzen möglichst zu ersparen.
Der Mann, der sich in einem Wandspiegel betrachtete und sein Totenkopf-T-Shirt in dieser Umgebung für völlig unpassend hielt, unternahm den krampfhaften Versuch, locker zu wirken: »Sind wir eigentlich die einzigen Faschingsverrückten, die heut Nacht zu Ihnen kommen?« Die digitale Uhr auf Salbaisis Schreibtisch zeigte kurz vor halb zwei.
Salbaisi druckte das Formular fürs Röntgen aus und wandte sich dem Mann zu: »Wenn’s nur Faschingsverrückte wären, wären wir zufrieden.«
Weil er bei seinem Gegenüber Ratlosigkeit erntete, wurde er deutlicher. »Manchmal ist hier wirklich die Hölle los – mit den Betrunkenen und Gewalttätigen.«
Der als Teufel verkleidete Mann nickte, um sogleich humorvoll anzumerken: »Und wenn heut Nacht einer im Arztkittel hier auftaucht, wissen Sie womöglich nicht mal, ob es ein echter Kollege ist?«
Salbaisi runzelte die glatte Stirn und zögerte. Die anfängliche Zurückhaltung des Mannes mochte nicht zu dieser eher saloppen Äußerung passen. »Auch Ärzte sind nur Menschen«, erwiderte er deshalb und musste sich insgeheim eingestehen, dass es keine sonderlich originelle Antwort war. Er reichte dem Mann den Röntgenschein und deutete zur Tür: »Einfach rechts und dort warten, bis Ihre Frau aufgerufen wird. Anschließend sehen wir uns wieder.«
Der Angesprochene umfasste die Griffe des Rollstuhls, in dem seine Frau saß, und ließ sich von der Ambulanzschwester die Tür öffnen. Im Hinausgehen drehte er sich noch mal zu Salbaisi: »Dann passen Sie mal auf, dass Sie nicht noch einen echten Kollegen treffen, heut Nacht.«
Der Arzt und die Schwester sahen sich für einen Moment verwundert an.
»Ich hol den Nächsten«, wurde Brigitte sofort wieder geschäftig.
Während sie sich auf den Weg durch zwei angrenzende Büros zum Anmeldebereich der Ambulanz machte, wo noch immer ein halbes Dutzend Patienten saß und lustlos in abgegriffenen Illustrierten blätterte, tippte Salbaisi seine vorläufige Diagnose zum schmerzenden Fuß der Patientin in die Tastatur seines Computers. Seit die Bürokratie im Gesundheitssystem geradezu gigantische Ausmaße angenommen hatte, konnte es vorkommen, dass der Schreibkram länger dauerte als die Untersuchung. Salbaisi empfand dies als eine geradezu fahrlässige Verschwendung wertvoller Zeit, die sinnvoller für Gespräche mit Patienten genutzt werden sollte. Als er vor über 20 Jahren nach Deutschland gekommen war, hatte er geglaubt, seine ganze Schaffenskraft zum Wohle kranker Menschen einsetzen zu können. Inzwischen fühlte er sich eingeengt und ausgebremst – und es schien ihm, als stünden in diesem Lande nicht mehr die Patienten, sondern Formulare und neuartige, vor allem aber komplizierte Abrechnungsmodelle, wie man sie aus Australien importiert und mit deutscher Gründlichkeit verfeinert hatte, im Mittelpunkt seiner Arbeit.
Er versuchte, sich auf den Monitor zu konzentrieren, und bemerkte deshalb auch nicht, dass jemand die Tür leise geöffnet hatte.
»Und, Herr Kollege«, nahm er eine sonore und vertraute Stimme wahr. Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass Dr. Volker Moschin vorbeischaute – wie er dies immer tat, wenn sie beide Nachtdienst hatten. Diesmal war er sogar spät dran, wie Salbaisi bemerkte.
»Was soll ich sagen?«, erwiderte Salbaisi, ohne aufzusehen. »Der übliche Wahnsinn.« Er tippte noch einige Worte, während Moschin näher kam. Sie beide verstanden sich gut. Meist fand sich in solchen gemeinsamen Nächten eine Gelegenheit zu einem kleinen Plausch. Moschin, leitender Oberarzt in der Anästhesie, hatte heute Nacht Bereitschaftsdienst. Wurde in irgendeiner Abteilung ein Arzt gebraucht, musste er erreichbar sein.
»Bei mir ist’s noch erstaunlich ruhig«, sagte der kräftige Mann, der gut einen Kopf größer war als der eher schmächtige Salbaisi. Er verschränkte seine Arme vor der breiten Brust und blickte seinem Kollegen über die Schulter. »Wieder mal Röntgen«, stellte er beim Überfliegen des Textes auf dem Monitor fest.
Salbaisi drehte seinen Stuhl zu dem Kollegen. »Es bleibt nichts anderes übrig. Wenn du’s nicht machst, zerren sie dich womöglich später vor den Kadi.« Salbaisi beherrschte die deutsche Sprache, als sei er hier geboren. Er sprach ein nahezu astreines Hochdeutsch.
Moschin lächelte gequält. Sein schneeweißer Arztkittel bildete einen scharfen Kontrast zu seinem tiefschwarzen, vollen Haar. »Was machen unsere Faschingsnarren?«, wechselte er das Thema. Seine kräftige Stimme entsprach der hünenhaften Gestalt.
»Verschon mich bitte damit. Zwei waren bereits da. Ich befürchte, dass die Suffköppe erst gegen Morgen hier auftauchen.«
Moschin nickte. Er wollte noch etwas sagen, doch sein Piepser hielt ihn davon ab. »Ich muss weg«, äußerte er, obwohl diese Erklärung unter Kollegen überflüssig gewesen wäre. Unter der Tür traf er auf Brigitte, die einen älteren Herrn im Schlepptau hatte, der ziemlich mürrisch dreinblickte und die beiden Weißkittel misstrauisch betrachtete. Im Hinausgehen grinste Moschin seinem Kollegen zu: »Immer die Ruhe behalten, egal, was geschieht.«
Salbaisi schüttelte bereits dem Missmutigen die Hand. Sie fühlte sich rau und feucht an.
Es war eine jener finsteren Nächte, wie sie nur das winterliche Mitteleuropa hervorzubringen vermag: Ein böiger Wind trieb den feinen Schnee durch die Straßen. Der nasse Asphalt spiegelte das wenige Licht wider, das durch den Schnee den Weg zum Boden fand. Wer jetzt, lange nach Mitternacht, sein Haus nicht verlassen musste, kuschelte sich in eine warme Decke und genoss die behagliche Wärme – oder er hatte sich an diesem Samstag vor Rosensonntag ins närrische Treiben gestürzt, das am Nordrand der Schwäbischen Alb mancherorts eine seltsame Mischung aus rheinischem Karneval und oberschwäbischer Maskerade war. Beides war nichts für den Mann, der gerade den erleuchteten Haupteingang der Helfenstein-Klinik hinter sich gelassen hatte, um über einige Seitenstraßen zu dem abgelegenen Angestellten-Parkplatz zu gehen. Er sehnte sich jetzt nach Ruhe. Der Dienst hatte länger gedauert als erwartet, weil eine Geburt äußerst problematisch verlaufen war. Beinahe hätte er sogar den Chefarzt der Gynäkologie aus dem Schlaf geklingelt, bis sich herausgestellt hatte, dass die Komplikationen glücklicherweise kleiner gewesen waren als ursprünglich befürchtet.
Er wünschte sich, weit weg zu sein. Irgendwo unter Palmen, in lauer Nacht, mit Freunden. Er dachte an seinen letzten Aufenthalt auf den Kanaren, an die Abende auf der Hotel-Terrasse, an das Schwimmen im Meer. Doch durch den langen, kalten Winter waren diese herrlichen Tage, die er im November dort verbracht hatte, bereits wieder in endlos weite Ferne gerückt. Der Mann, Mitte 30 und von sportlicher Gestalt, beschleunigte seine Schritte. Er war noch keine 100 Meter gegangen, vorbei an der langen Reihe der am Straßenrand abgestellten Autos, da verschwammen die Lichter der Lampen vor seinen Augen zu einem funkelnden Prisma, das sich auf den Brillengläsern gebildet hatte.
Seine Hände tief in den Taschen seines dunklen Trenchcoats vergraben, wechselte er zwischen zwei geparkten Autos hindurch die Straßenseite und eilte weiter. Während all der Jahre, seit er Oberarzt an der Klinik war, nahm er nach dem Spätdienst immer denselben Weg durch dieses ruhige Wohngebiet weit abseits des Stadtkerns. Er sog die frische Luft tief in sich ein und versuchte, sich von den Gedanken an Patienten und deren Schicksale zu lösen. Er hatte ohnehin genügend eigene Sorgen. Noch vor Ostern, da war er sich ganz sicher, würde er eine Entscheidung herbeiführen, egal wie. Und wenn sie ihn dazu zwangen, würde er bis zum Äußersten gehen. Selbst auf die Gefahr hin, tief mit hineingezogen zu werden. Aber mit seinem Gewissen konnte er dies alles nicht mehr länger vereinbaren.
In Gedanken versunken, erreichte er eine innerstädtische Hauptverkehrsstraße, die ihn an ein Trauerband erinnerte, das sich in beide Richtungen dahinzog. Leblos und trist. Auf dem nassen Asphalt spiegelte sich das fahle Licht der Straßenlampen und die Umgebung hob sich in allen Schwarz- und Grauschattierungen aus der Finsternis hervor. An den mehrstöckigen Wohngebäuden, die den Straßenverlauf säumten, waren nur wenige Fenster beleuchtet.
Wenn er zu dieser späten Stunde zum Parkplatz ging, nahm er jede Möglichkeit wahr, den Weg abzukürzen. Weil sich weit und breit kein Fahrzeug näherte, benutzte er nicht den Zebrastreifen, der sich etwa 50 Meter entfernt an der nächsten Einmündung befand, sondern zwängte sich erneut durch eine Reihe geparkter Autos, um die Straße im schrägen Winkel zu überqueren. Bei einem flüchtigen Blick nach links glaubte er für einen kleinen Moment, jemand säße hinterm Steuer des übernächsten Wagens, der zur Reihe der geparkten Fahrzeuge gehörte. Es war eine kurze, beiläufige Beobachtung, der er keine Bedeutung beimaß. Seine Gedanken ließen ihm dafür auch keinen Spielraum. Sie hafteten wie ein böser Geist an ihm, der sich nicht abschütteln ließ. Zu keiner Zeit, zu keiner Sekunde. Sogar als er die Geburt eingeleitet hatte, war er nicht voll konzentriert gewesen. Eine gefährliche Situation, die ihn den Job kosten konnte. Noch jetzt überfiel ihn das schale Gefühl, leichtfertig etwas vermasselt haben zu können. Er musste aufpassen, verdammt aufpassen. Und zwar in jeder Beziehung.
Gerade hatte er zwei Schritte auf der Fahrbahn getan, um sie im stumpfen Winkel hinüber zu jener Einmündung zu überqueren, wo sich der Parkplatz für die Klinikbediensteten befand, da wurde hinter ihm ein Motor gestartet. Also doch, durchzuckte es ihn, er war nicht allein unterwegs. Schon bemächtigten sich seiner wieder finstere Gedanken, die sich in einer wilden Spirale abwechslungsweise und völlig ungeordnet sowohl um die komplizierte Geburt als auch um die bevorstehenden Entscheidungen drehten und in ihm ein Gefühl der Leere und Hilflosigkeit aufsteigen ließen. Dies alles überfiel ihn im Bruchteil von Sekunden. Es schien, als sei das Erlebte der vergangenen Stunden und Tage in seinem Kopf zum Stillstand gekommen, wie ein Computer, auf dessen Festplatte alle schrecklichen Bilder vereint waren und sich nicht mehr entfernen ließen. Als sei alles gleichzeitig geschehen und eingefroren worden.
Er versuchte, sich dagegen zu wehren, sich zu befreien, sich endlich aus dieser Dunkelheit zu retten. Doch seine Zukunft schien genauso finster und trostlos vor ihm zu liegen wie diese dunkle Straße, die sich weit vorn in einer Kurve verlor.
Nur wenige Schritte war er vorwärts gekommen, wohingegen seine Gedanken Zeit und Raum durchquert hatten. Ein einziges Geräusch genügte, um ihn wieder in die Wirklichkeit zu befördern. Es war so laut und aufheulend, bedrohend und anschwellend, dass er für den winzigen Moment, eine Schrecksekunde, gar nicht in der Lage war zu reagieren. Und als ihm bewusst wurde, dass er mitten auf der Straße ging und soeben ein Auto auf ihn zukam, hatte er keine Chance mehr. Und obwohl er, in Panik geraten, vieles gleichzeitig versuchte, sich reflexartig umdrehte und flüchten wollte, konnte er den Scheinwerfern nicht entkommen. Gleich würde das Fahrzeug, das hinter ihm stark beschleunigt hatte, mit voller Wucht gegen seinen Körper prallen.
Es war nicht nur die geradezu mediterrane Schwüle, die ihm den Schlaf raubte. Elmar Brugger hatte sich im Bett von einer Seite zur anderen gewälzt und war schließlich auf den Balkon gegangen. Über die Palmen, die sanft im Nachtwind rauschten, sah er zum Meer hinaus, in dem sich das kalte Licht des Mondes spiegelte. Zwischen der schwarzen Wasserfläche und dem Hotelgarten war die Dünenlandschaft in ein tiefes Dunkel gehüllt. Und ganz weit draußen ging das Meer nahtlos in den Sternenhimmel über.
Drei Stockwerke unter Brugger funkelte das Wasser in den beleuchteten Poolbecken; am rechten strahlten die aufdringlich roten Zahlen einer digitalen Uhr. Es war kurz nach eins, Ortszeit – sie hinkte eine Stunde der mitteleuropäischen Zeit hinterher.
Brugger, der in T-Shirt und Boxershorts an der Balustrade lehnte und sich dank der seitlich hochgezogenen Mauern von anderen Zimmern aus unbeobachtet fühlen konnte, war nach dem Gespräch mit seinem Freund viel zu aufgewühlt gewesen, um schlafen zu können. Wenn es stimmte, was er erfahren hatte, dann stand sehr viel auf dem Spiel – nicht nur ihre gemeinsame Firma, deren Hauptsitz sie erst vor Kurzem in dem neuen Gewerbegebiet beim Flughafen von Gran Canaria eingerichtet hatten, sondern ihre gesamte Existenz sowie die einiger anderer Personen. Außerdem könnte es einen Skandal geben, der weit über die heimische Provinz hinausreichen würde. Schließlich experimentierten sie nicht mit irgendwelchen elektronischen Gerätschaften, sondern mit einem Stoff, der ein Höchstmaß an Verantwortung erforderte – und der überdies einen sensiblen Bereich betraf, auf den weite Bevölkerungskreise besonders neuralgisch reagierten. Wie so oft, wenn sich Halbwahrheiten, Unkenntnis und pseudowissenschaftliche Veröffentlichungen vermischten, kam es zu diffusen Ängsten, die von den jeweiligen Interessengruppen und deren Gegnern bewusst geschürt wurden. Aber wie, so drehten sich die Gedanken in Bruggers Kopf im Kreise, wie sollten auch komplexe wissenschaftliche Vorgänge den Millionen von Laien erklärt werden, die es längst gewohnt waren, ihre Informationen aus einminütigen Videoclips zu beziehen, in denen ihnen die elektronischen Medien kaum mehr als schlagwortartige Häppchen zum Fraß vorwarfen? Und diese Menge der Ahnungslosen und Verdummten war es letztlich, die bei Wahlen über die Regierungen entschied, die wiederum nur aus Kleingeistern bestand, insbesondere von Habgierigen und Machtbesessenen. Brugger und sein Freund hatten sich schon oft über dieses Dilemma unterhalten, das von Wahl zu Wahl augenscheinlicher wurde. Letztlich ging es lediglich um Geld und Einfluss – und nicht wirklich darum, die Menschheit voranzubringen. Seit gewissenlose Banker und sonstige kapitalgierige Schwachköpfe diese Welt in eine Krise gestürzt hatten, war immer weniger Finanzkraft für innovative Entwicklungen vorhanden. Nicht einmal für die wichtigsten sozialen Bereiche konnte die angeblich so hochzivilisierte Menschheit noch ausreichend aufkommen. Die Armen wurden immer mehr gegängelt und ausgenommen, während die Reichen in ihrer ach so großen Güte behaupteten, sie würden für mehr soziale Gerechtigkeit kämpfen. Wenn diese Gruppierungen davon laberten, dann meinten sie eigentlich, dass ihnen selbstverständlich ein bisschen mehr zustehen müsste als jenen, die keinen Job hätten. Dabei taten sie so, als sei die wirtschaftliche Lage gottgegeben, als sei der Absturz wie eine Naturkatastrophe übers Land gekommen. In Wirklichkeit, davon war Brugger zutiefst überzeugt, gab es jede Menge Kriminelle, die die Wirtschaft bewusst an die Wand gefahren hatten, um sich damit zu bereichern.
Und in einer Welt, die mancherorts ums bloße finanzielle Überleben kämpfte, war kein Platz mehr für Forschung und Wissenschaft. Zwar wurden gelegentlich irgendwelche Projekte tatsächlich gefördert – und dies medial meist mächtig gefeiert –, doch um alle Möglichkeiten auszuschöpfen, die mit heutigen Methoden realisierbar wären, bräuchte es viel größerer Summen und vor allem auch einer besseren globalen Vernetzung der Wissenschaftler, die oftmals viel zu sehr einem Konkurrenzdenken verfallen waren. Brugger sog die kühler werdende Meeresluft tief in sich ein, als wolle er die Kräfte des Universums in sich aufnehmen. Gewiss, so dachte er, es hatte in den vergangenen Jahrzehnten große Fortschritte in der Medizin gegeben. Dennoch fehlte das Geld, um sie den Menschen möglichst schnell zugänglich zu machen. Als ob es für Menschen irgendetwas Wichtigeres gäbe als die Gesundheit. Brugger vermochte den Irrsinn nicht nachzuvollziehen, dass immense Geldbeträge in irgendwelche schwachsinnigen Prestigeobjekte gesteckt wurden, oder – noch schlimmer – in Militärmaschinerien, die dem einen Zweck dienten, andere Menschen ins Leid zu stürzen, anstatt das Gesundheitswesen nachhaltig zu sanieren. Aber kein einziger Politiker hatte bisher den Mut gefunden, ein ganz neues System zur Finanzierung der Krankenversicherungen aufzubauen. Brugger argwöhnte im Kollegenkreis so oft es ging, dass dies alles nicht ernsthaft gewollt war. Pharmaindustrie und korrupte Strukturen, mafiöse Verbindungen und geschlossene Kapitalsysteme machte er dafür verantwortlich. Sein Gehirn war auf Hochtouren gekommen – wie immer, wenn er über diese Ungerechtigkeiten nachdachte.
Er und seine Geschäftsfreunde, so appellierte eine innere Stimme, waren natürlich auch nicht aus reiner Menschenliebe an ihr Projekt herangegangen. Immerhin zockten sie weder staatliche Subventionen ab, noch schädigten sie jemanden – zumindest nicht direkt. Und wenn, dann nur im Interesse der Forschung.
Es gab weitaus Schlimmeres. Schlagartig musste er an die üblen Geschäftemacher denken, die in den späten 80er-Jahren auf skrupellose Weise versucht hatten, diese herrliche Dünenlandschaft mit einem großen Hotelkomplex zu zerstören. Bis zum Rohbau war das illegale Projekt bereits vorangetrieben worden, ehe die Inselregierung den Mut aufbrachte, es kurzerhand sprengen zu lassen. Medienwirksam sei dies am Umwelttag des Jahres 1989 geschehen, hatte Brugger einmal irgendwo gelesen. Vom Hotel Les Dunes zeugten im westlichen Dünenbereich nur noch ein paar Fundamentreste.
Bruggers Blick wanderte wieder zur roten Digitaluhr. Daheim war’s schon nach zwei. Er überlegte, ob er noch einmal den Versuch unternehmen sollte, seine Frau anzurufen. Seit er wieder mit dem Taxi ins Hotel gekommen war, hatte er mehrfach versucht, sie zu erreichen. Doch weder auf dem Festnetz noch am Handy hatte sich jemand gemeldet. Wahrscheinlich, so redete er sich ein, hatte seine Frau die Gelegenheit wahrgenommen, mit einer ihrer Freundinnen auszugehen, schließlich waren die Kinder während der Faschingsferien bei Onkel und Tante.
Es nützte nichts, gegen die innere Unruhe anzukämpfen, die ihm die Müdigkeit geraubt hatte. Er entschied sich, das kleine Fläschchen Rotwein aus der Minibar als Schlummertrunk zu verwenden. Mit dem eingeschenkten Glas kehrte er wieder auf den Balkon zurück und ließ sich in den gepolsterten Gartenstuhl sinken. Er nahm einen kräftigen Schluck, stellte das Glas neben sich auf den Boden und schloss die Augen. Er versuchte, an die kommenden Tage zu denken und sich in den schönsten Fantasien auszumalen, wie sie ablaufen würden.
Aber so sehr er sie auch herbeisehnte, es fiel ihm zunehmend schwerer, sich darauf zu konzentrieren. Warum, verdammt noch mal, war seine Frau nicht ans Telefon gegangen? Sogar die vier SMS, die er bereits versendet hatte, waren unbeantwortet geblieben.
Mit einem Schlag herrschte Hektik. Notarzt, Rettungssanitäter, Vorbereitung für eine Operation. Salbaisi blieb in dieser Situation ausgesprochen ruhig und gelassen. Er entschuldigte sich bei dem jungen Mann, dessen klaffende Fingerwunde er gerade mit zwei Stichen genäht hatte, und übergab ihn in die Obhut der Ambulanzschwester.
»Ich werd gebraucht«, sagte der Arzt und verschwand im Flur. Dort wurde gerade eine fahrbare Liege in den Nebenraum gerollt. Salbaisi sah auf den regungslosen Körper, der mit dem Rettungswagen gebracht worden war. Am Kopf hatten die Sanitäter eine offenbar stark blutende Wunde versorgt. Ein Intubationsschlauch, mit dem die Atemwege in Mund und Rachen freigehalten wurden, war mit einem kleinen Beatmungsgerät verbunden. Der Patient war bewusstlos, schien jedoch in stabiler Verfassung zu sein, was die Vitalwerte betraf.
»Es ist Fallheimer«, informierte der Notarzt im Vorbeigehen. Seine Stimme war schwach und verriet Aufregung.
»Fallheimer?«, wiederholte Salbaisi irritiert und folgte der Liege in den sogenannten Schockraum, in dem die Erstversorgung von Schwerverletzten erfolgte. Einen kurzen Blick konnte er auf den bewusstlosen Mann werfen, was allerdings genügte, um Gewissheit zu bekommen. Es war tatsächlich Fallheimer. Oberarzt aus der Gynäkologie und, soweit Salbaisi sich entsinnen konnte, am Abend für den Spätdienst eingeteilt gewesen.
»Unfall?«, fragte Salbaisi, als sie in dem Raum angekommen waren, in dem der Notarzt eine Spritze aufzog. Seine orangefarbene Schutzweste hing ihm regennass über die schmalen Schultern, mit denen er ratlos zuckte. »Drüben in der Heidenheimer Straße, war wohl auf dem Weg zum Parkplatz.« Während er dem Schwerverletzten den Inhalt einer Spritze über einen Zugang am Unterarm verabreichte, fügte er an: »Schädelhirntrauma. Verdacht auf innere Verletzungen.«
Salbaisi entschied: »CT und Sono.« Mithilfe des Computertomografen, der den Körper innerhalb kürzester Zeit schichtweise in kleinste Röntgenbilder zerlegte, blieb keine Verletzung verborgen – und die Sonografie warf mittels Ultraschallwellen ein Bild vom Zustand der inneren Organe auf den Monitor. Nach einem Verkehrsunfall reine Routine. Doch Salbaisi spürte, wie ihm etwas den Hals zuschnürte. Er hatte bereits viele Opfer gesehen, die weitaus schlimmer zugerichtet waren, nur hatte er keines davon persönlich gekannt. Hier jedoch lag ein Kollege, den er ob seiner offenen und aufrichtigen Art schätzte, ein Mann, der überaus beliebt war, der dem Klischee des sympathischen Arztes entsprach, von dem jede Krankenschwester träumte. Dass er verheiratet war, hielt die Verehrerinnen in den seltensten Fällen davon ab, ihm ihre Zuneigung mehr oder weniger aufdringlich zu zeigen. Und plötzlich musste Salbaisi an eine Bemerkung denken, die Ambulanzschwester Brigitte erst kürzlich gemacht hatte: »Mit dem wird’s noch mal ein schlimmes Ende nehmen.« Salbaisi versuchte, diese Erinnerung zu verdrängen, stülpte sich frische Gummihandschuhe über und merkte, wie er für ein paar Sekunden nicht mehr dem Geschehen um sich herum folgen konnte. »Schlimmes Ende nehmen«, hämmerte die innere Stimme immer wieder. Die Ambulanzschwester, die mit dem Notarzt einige Worte wechselte, dachte bestimmt nicht an ihre damalige Äußerung, durchzuckte es Salbaisi. Aber er würde sie fragen. Noch heute Nacht. Sobald Fallheimer versorgt war.
Und wenn es nun doch ein »schlimmes Ende« nahm?, pochte es in Salbaisis Gehirn weiter.
Melanie und Caroline fühlten sich unwohl. Die Stimmung an der Höllenbar drohte langsam im überbordenden Alkoholkonsum zu kippen. Die Gesprächsfetzen, die in der Menschenmenge den wummernden Musikattacken aus den Lautsprechern widerstanden, hörten sich zunehmend aggressiver an. Einige Gläser waren schon auf dem Boden zerborsten, zwei streitsüchtige Halbwüchsige wurden von besonnenen Männern getrennt. Ein schlaksiger Typ, der bereits Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten, war auf Tuchfühlung zu Melanie gegangen, was diese sofort abzuwehren versuchte und dafür unflätige Beschimpfungen erntete. »He, du Schnepfe!«, tobte er los, worauf sich das Interesse der Umstehenden sofort auf ihn richtete. »Rumhopsen wie ein geiles Huhn, die Männer scharf machen und dann zickig werden, was?«, brüllte der Jüngling, den jetzt von hinten zwei Hände an der Schulter zurückhielten, wogegen er sich mit einer energischen Bewegung wehrte. Melanie und Caroline zwängten sich seitlich weg, um dieser brodelnden Menge zu entkommen. Sie verschafften sich energisch Platz, bekamen empörte Worte zu hören und waren schließlich froh, mit heiler Haut und ihren Handtaschen den Rand der Bühne erreicht zu haben. Melanie hätte den pubertierenden und besoffenen Milchbubis am liebsten etwas Beleidigendes zugerufen, ließ sich aber von ihrer weisen Voraussicht davon abhalten. Wenn Musik, Alkohol und möglicherweise noch Drogen das menschliche Hirn narkotisierten, war mit logischen Argumenten nichts mehr auszurichten. Außerdem fühlte sie sich selbst ein bisschen beschwipst, als sie Caroline über die paar Treppenstufen hinab in den Saal folgte. So wie sie beide mit ihren hohen Schuhen und viel nacktem Bein an der Tanzfläche entlangstöckelten, waren sie erneut Objekt der Begierde – und mochten die Blicke, die an ihnen hafteten, noch so alkoholvernebelt sein.
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