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Der Wasserberg am Rande der Schwäbischen Alb. Nach einer privaten Sonnwendfeier einer Gruppe ehemaliger Schulkameraden findet man einen der Gäste, Werner Heidenreich, tot auf. Erstochen - mit dem Brotmesser, das den Abend über am Lagerfeuer benutzt worden war. In den Verdacht geraten sowohl die früheren Mitschüler und der alte Lehrer des Ermordeten als auch deren Angehörige. Doch Hauptkommissar August Häberle findet heraus, dass in jener Sommernacht noch viele andere Menschen im Gelände unterwegs waren, die eine gemeinsame Vergangenheit mit dem Opfer haben. Zudem hatte Heidenreich als ehemaliger Polizeibeamter und Mitarbeiter der Steuerfahndung zu Lebzeiten etliche Feinde …
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Seitenzahl: 570
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Manfred bomm
Glasklar
Der neunte Fall für August Häberle
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/Korrektorat: Susanne Tachlinski
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Ignacio Leonardi / www.sxc.hu
Gewidmet allen, die alte Freundschaften pflegen, ohne sich von Vergangenem leiten zu lassen.
Möge die Geschichte jenen Kraft geben, die mit Schrecklichem konfrontiert waren und neue Wege suchen.
Der Schuss war tödlich. Ein panischer Schrei gellte durch die spärlich beleuchtete Lagerhalle, dann sackte der Körper in sich zusammen und ein Stück Metall schlug dumpf auf Beton. Als der Nachhall des Schusses in dem leeren Gebäude verklungen war, machte sich beklemmende Stille breit. Der Mann, der geschossen hatte, blieb regungslos hinter dem Betonpfeiler stehen und blickte zu der pechschwarzen Erhebung, die sich knapp zehn Schritte vor ihm auf dem Boden abzeichnete; nur schemenhaft vor dem nachtgrauen Hintergrund einer Betonwand erkennbar. Die Bedrohung, die sich gerade noch in voller Größe vor ihm aufbaute, hatte sich in ein erbärmliches Kleiderbündel verwandelt. Er spürte, wie sich Kälte und Angst seines Körpers bemächtigten und er zu zittern begann. Er hatte Mühe, seine Waffe in die Innentasche der Lederjacke zu stecken. Er tat dies wie in Trance, und sein Atem beschleunigte sich, sein Magen rebellierte. Die Stille, die ihn umgab, schien zu dröhnen. Doch es war nur sein pochendes Blut, das seine Ohren verrücktspielen ließ – und vermutlich der Schuss, der einen Teil seines Hörvermögens vorübergehend gestört hatte. Er versuchte, sich mit allen Sinnen auf verdächtige Geräusche zu konzentrieren. Auf Geräusche oder irgendwelche Bewegungen in diesem grauschwarzen Dunkel, das ihn umgab. Nur das schwache Streulicht zweier Straßenlampen, das durch ein Milchglasband unterhalb der Decke in das Innere dieser alten Lagerhalle drang, machte eine Orientierung möglich. Inzwischen hatten sich seine Augen daran gewöhnt, sodass er durchaus eine Bewegung hätte wahrnehmen können. Er blieb zwei, drei Minuten stehen und stellte beruhigt fest, dass da nichts Verdächtiges war und auch von draußen keine Motorengeräusche hereindrangen. Deshalb beschloss er, das Gebäude zu verlassen – und zwar durch jene Hintertür, die er aufgebrochen vorgefunden hatte. Vorsichtshalber zog er seine Waffe wieder aus der Jacke, um sich dann langsam zu entfernen, noch immer darauf bedacht, die nachtschwarze Umgebung ringsherum im Auge zu behalten. Nach einigen Schritten, bei denen er spürte, wie weich seine Knie geworden waren, blieb er wieder stehen. Er lauschte erneut. Doch mehr als ein Dröhnen und Pfeifen, das der eigene Blutdruck und der Schuss in seinem Gehör verursacht hatten, konnte er nicht registrieren. Er strebte der offen stehenden Tür zu, deren Öffnung sich vor dem schwachen Umgebungslicht der freien Landschaft abzeichnete. Als er den Ausgang erreichte, um jetzt so schnell wie möglich die alte Halle in diesem abgelegenen Gewerbegebiet von Esslingen zu verlassen, wurde er in seiner Bewegung gestoppt. Festgehalten, als ob ihn jemand gepackt hätte. Augenblicklich überfielen ihn Todesangst, Panik, Entsetzen – denn irgendetwas zerrte an seinem Lederjackett. So heftig, dass er nicht mehr unterscheiden konnte, ob er es mit seinen ungestümen Bewegungen war, der dieses Zerren verursachte, oder ob da jemand nach ihm gefasst hatte. Er versuchte, sich zu befreien, und spürte, dass etwas an seiner Kleidung riss.
Die junge Frau atmete schwer. Sie war in dieser Juninacht mit letzter Kraft in ihre Wohnung geeilt, um ihre Freundin anzurufen. »Sie haben ihn erschossen!«, flüsterte sie, als habe sie Angst, jemand könnte sie belauschen. Doch die 26-jährige Frau war allein. Seit sie nach ihrem Studium nach Esslingen gezogen war, weil sie in einer kleinen Gemeinde der Umgebung einen Job gefunden hatte, lebte sie in einem Apartment in einem dieser anonymen Wohnblöcke. »Sie haben ihn erschossen«, wiederholte sie und kämpfte mit den Tränen. Sie hielt den beigefarbenen Wählscheibenapparat in der Hand und hatte sich auf das Bett gesetzt, obwohl ihre Jeans von den Ereignissen der vergangenen Stunden verschmutzt waren.
»Was sagst du da – erschossen?«, fragte eine ebenso entsetzte Frauenstimme zurück.
»Ja, erschossen.« Sie begann, hemmungslos zu schluchzen und legte ihre Brille auf ein Tischchen. »Abgeschlachtet, einfach ermordet.«
»Wo ist das passiert?«, fragte die Stimme sachlich zurück.
»Im Lagerhaus«, schluchzte die junge Frau und ließ sich vollends auf das zugedeckte Bett fallen. »Ohne Vorwarnung, einfach geschossen.«
»Und die anderen?«, kam es emotionslos zurück.
»Waren im Bunker«, versuchte die junge Frau sich zu fassen. Sie wusste, dass die andere solche Emotionsausbrüche nicht schätzte. Schon gar nicht in kritischen Momenten. »Flippi hat oben Geräusche gehört und ist rauf. Wir hatten doch keine Ahnung …« Wieder wurde sie von einem Weinkrampf übermannt.
»Und dann?« Die Angerufene wurde ungeduldig. »Was ist dann passiert?«
»Ein Schuss ist gefallen.« Sie war nicht in der Lage, die Situation ausführlich zu schildern. Flippi war tot. Flippi, ihr Freund, mit dem sie im letzten halben Jahr durch dick und dünn gegangen war. Mit dem sie nächtelang über Gott und die Welt diskutiert hatte, vor allem aber über dieses kapitalistische System, das es zu bekämpfen galt. Daran hatten sie beide keinen Zweifel gehegt. Und sie waren bereit, den Kampf mit den Bonzen aufzunehmen, mit den Kapitalisten und den reaktionären Säcken. Dass es blutig werden würde, hatten sie in Kauf genommen. Und seit drei Wochen bereits war der ›Point of no Return‹, wie es einer von ihnen gerade heute Abend formuliert hatte, überschritten. Der Punkt ohne Wiederkehr. Ein Punkt, ab dem es kein Zurück mehr gab, weil dies den sicheren Tod bedeuten würde.
Wer mochte heute noch an jene Nacht im September denken? 31 Jahre war dies jetzt her, 31 Jahre. Eine weitere Generation war herangewachsen, die das nur noch aus Dokumentarfilmen oder vom Hörensagen her kannte. 1977, in jener Zeit, die man heute den ›Deutschen Herbst‹ nennt. Jene, die heute 50 und älter waren, konnten sich hingegen noch lebhaft an diese Tage entsinnen, als Deutschland zu brennen schien: Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer entführt, drei Wochen später auch noch eine Lufthansa-Maschine, deren Pilot kaltblütig erschossen wurde. Und dann die Nacht zum 18. Oktober. Wenn Georg Sander, Journalist einer kleinen Tageszeitung, heute darauf angesprochen wurde, erwachten in ihm immer wieder aufs Neue die Erinnerungen an die dramatischen Geschehnisse. Er hatte damals in der Redaktion Spätdienst gehabt und noch eine Meldung für die erste Seite schreiben müssen, als die Lufthansa-Maschine auf dem Flughafen von Mogadischu gestürmt worden war und die Spezialeinheit des Bundesgrenzschutzes, die GSG 9, die Passagiere gerettet hatte.
Sander grübelte ab und zu, auch wenn keiner davon sprach. Meist kamen vergangene Zeiten in ihm hoch, wenn er Menschen traf, die – wie er – Zeitzeugen solcher Ereignisse waren. Dann konnte in seinem Kopf ein ganzer Film ablaufen – wie einer dieser Rückblicke, die immer zum Jahreswechsel gesendet werden.
Wenn sie an den Lagerfeuern sangen, diskutierten, den klaren Sternenhimmel über sich sahen, dann waren es solche Augenblicke, die ihn zurückversetzten und spüren ließen, wie die Zeit vergangen war.
Auch dieser Juniabend war so ein Moment. Wie ein unsichtbarer Schleier kroch der Rauch von Lagerfeuern durch die laue Sommernacht. Im rötlichen Schein der knisternden Flammen zeichneten sich die Silhouetten von Menschen ab, die auf diesen Höhenrücken gekommen waren, um im privaten Kreis die Sommersonnenwende zu feiern. Es war die kürzeste Nacht des Jahres, und weit im Westen verlor sich das Dunkel des sternenklaren Himmels in einem bläulichen Schimmer, während im Süden bereits der abnehmende Mond durch das dichte Blätterdach der Bäume schien und dunkle Schatten warf. Drüben vor dem Wasserberghaus, wie sich die Hütte des Schwäbischen Albvereins hier nannte, saßen die Menschen dicht gedrängt an Biertischen. Die ›Wilden Gesellen‹, eine stimmgewaltige Gesangsgruppe aus den nahen Ortschaften, schmetterten ein Wander- und Fahrtenlied nach dem anderen. »Es klippert und klappert der Nagelschuh, und ich schlag froh den Takt dazu«, schallte es jetzt über die Hangkante hinweg, von der aus der Blick tief hinab ins Voralbgebiet fiel, wo sich die Lichter von Ortschaften und Autos aneinanderreihten. Der Hohenstaufen hob sich als markanter Kegel vom helleren Hintergrund ab, und am Himmel blinkten die grünen und roten Positionslichter eines auf Stuttgart zufliegenden Flugzeugs. Seine Landescheinwerfer pflügten sich durch die mondhelle Luft.
Wie viele Menschen in so einer ungewöhnlich lauen Mittsommernacht auf den Wasserberg strömten, vermochte niemand zu sagen. Fest stand nur, dass sie alle zu Fuß kommen mussten, denn der einzige Fahrweg, den es gab, war dem Wirt des Albvereinshauses vorbehalten. Wege hier herauf gab es viele: steile und bequeme, über Treppenstufen oder schmale Pfade.
Inzwischen war es weit nach Mitternacht, und an den rauchenden und Funken sprühenden Feuerstellen, wo die Menschen auf Steinen oder Baumstämmen dicht beieinandersaßen, erklangen Gitarren und Lieder, die von Sehnsüchten, Liebe und verlorenem Glück erzählten. Je weiter die Zeit fortschritt und je mehr Alkohol im Spiel war, desto lauter wurden die Stimmen in den Lichtungen und drüben am Haus. Einzelne Personen machten sich auf den Heimweg, pinkelten noch schnell irgendwo ins nachtschwarze Gebüsch und suchten sich im Mondlicht den Pfad hinab ins Tal.
»Wir bleiben, bis die Sonne aufgeht«, erhob sich im Kreise seiner Freunde ein Mittfünfziger, um noch einmal seinen Krug mit Bier zu füllen und damit zu demonstrieren, dass er noch lange nicht nach Hause gehen wollte. Um das lodernde Feuer saßen mehr als 30 Personen, allesamt einstige Schulfreunde, die sich immer zur Sommerzeit hier oben auf dieser Lichtung trafen, mit oder ohne Partner, um immer wieder aufs Neue alte Streiche aufleben zu lassen. Auch zwei ihrer ehemaligen Lehrer feierten regelmäßig mit, waren aber bereits nach Hause gegangen.
›Mammutfest‹ nannten die einstigen Schulfreunde ihr Treffen, seit sie anlässlich ihrer gemeinsamen Feier zum 50. Geburtstag unweit des Wasserberghauses einen Mammutbaum gepflanzt hatten. Ein Zeichen für die halbe Ewigkeit sollte er sein. Und sie malten sich aus, wie dieser ›Mammut‹, der unter günstigen Bedingungen durchaus 2.000 Jahre alt werden konnte, einst hoch und mächtig aufragen würde, selbst wenn die Erosion die Albkante schon bedrohlich näher gerückt haben würde.
Dann jedoch hatten damals, vor inzwischen sieben Jahren, Unbekannte das zarte Pflänzchen aus dem Boden gerissen und gestohlen. Vielleicht war es ein gezielter Anschlag gewesen, weil der junge Baum als standortfremd galt. Selbst eine gravierte Metallplatte, in einen Stein zementiert, hatte die Übeltäter nicht abgehalten. Darauf stand ein Zitat von Eugen Roth zu lesen: ›Zu pflanzen einen schönen Baum, braucht’s eine halbe Stunde kaum. Zu wachsen, bis man ihn bewundert, braucht er – bedenk es – ein Jahrhundert.‹
Die Klassenfreunde waren nicht bereit gewesen, diesen Frevel hinzunehmen. Einer von ihnen, der Gustav, dem dieses Waldstück gehörte, hatte in einer dunklen Oktobernacht einen Teil der Kameraden auf den Anhänger seines Traktors geladen und sie zu einer neuerlichen Mammutbaumpflanzung auf den Berg hinaufgefahren. Um weitere Attacken zumindest zu erschweren, umgaben sie damals das neue Pflänzchen mit einem stabilen Holzgerüst samt Maschendrahtzaun. Die ungewollte Folge war jedoch, dass fortan jeder, der den steilen Weg von der Landstraße zum Wasserberghaus hinaufging, einen Abstecher zu dem Käfig machte, und sich auf diese Weise ein Trampelpfad entwickelte, der zwangsläufig immer mehr Neugierige anlockte.
Später hatte das Bäumchen sogar noch einen Angriff ganz anderer Art überstehen müssen: Als Naturschützer auf den ›Mammut‹ aufmerksam wurden, bekam Gustav eine behördliche Verfügung, den standortfremden Baum unverzüglich zu beseitigen. Irgendwann allerdings verlief der gegenseitige Schriftverkehr dann im Sande. Doch obwohl der Baum inzwischen größer gewachsen war, blieb die Ungewissheit, ob er jemals das erhoffte Alter erreichen würde. Erst im vergangenen Jahr hatte ein Unbekannter durch den Maschendraht hindurch seine Spitze abgebrochen, worauf der ›Mammut‹ unverdrossen eine zweite austrieb, jetzt aber ein bisschen verkrüppelt aussah.
Auch an diesem Abend am Lagerfeuer war das Schicksal des Bäumchens wieder ein Thema. »Es symbolisiert den Zustand unserer Gesellschaft«, sinnierte der Mittfünfziger und setzte sich auf den rauen Holzstamm. »Alles wird zerstört, und das Schöne und Gute muss sich in einer feindlichen Umwelt behaupten.« Im Lichtschein des Feuers, das unablässig Funken in den Himmel sprühte, erkannte er, dass ihm seine Freunde bestätigend zunickten.
»Und das Schlimme ist, Georg«, bekräftigte ihn ein Mann von der anderen Seite des Feuers, »dass der Vandalismus zunimmt und jeder machtlos danebensteht. Sogar die Polizei.«
»So ist es«, mischte sich ein anderer ein. »Georg hat absolut recht.« Er nahm einen kräftigen Schluck.
Georg blickte nachdenklich in die Höllenglut vor seinen Füßen. Er war Lokaljournalist der örtlichen Zeitung und fragte sich immer wieder, wohin die Laschheit der Gerichte und die schwindende Autorität der Polizei eines Tages noch führten. Irgendwann in den 80er-Jahren, da war er sich ganz sicher, hatte es in der Gesellschaft einen Knick gegeben, der zur Folge hatte, dass mittlerweile alle Werte über Bord geworfen wurden. Seine Freunde schwiegen. Nur das Knacken des glühenden Holzes durchbrach die nächtliche Stille. Drüben am Wasserberghaus stimmten die ›Wilden Gesellen‹ ein neues Wanderlied an.
Georg hob den Kopf und sah, wie der Flammenschein auf den nachdenklich gewordenen Gesichtern tanzte. Joachim, den er nur als dunklen Umriss ganz außen wahrnahm, stocherte mit einem langen Stock in der Glut. »Kaum haben wir so einen Randalierer geschnappt«, berichtete er aus seiner langjährigen Berufserfahrung als Polizist, »da lässt ihn der Richter auch schon wieder laufen. Und dann vergehen bis zur Gerichtsverhandlung viele Monate – Zeit genug, um neue Straftaten zu verüben. Obwohl der Staatsanwalt immer behauptet, es werde so schnell wie möglich angeklagt. Soll ich euch sagen, wie man sich da als Polizist vorkommt?« Er schlug mit dem Stock kräftig ins Feuer, sodass explosionsartig eine Wolke aus wild sprühenden Funken in die Höhe schoss, so schnell, dass sie nicht als winzige Punkte wahrzunehmen waren, sondern als dünne orangefarbene Fäden, die von der Dunkelheit gelöscht wurden.
Die Menschen am Lagerfeuer wurden melancholisch. Alkohol und aufkommende Müdigkeit, aber auch der Wunsch, endlich Fragen auf die ewig ungeklärten Probleme der Menschheit zu finden, führten zu Diskussionen über Gott und die Welt und über alles, wofür es seit Jahrtausenden keine Antworten gab. »The answer, my friend, is blowing in the wind«, stimmte Angelika an, die Frau des Klassenkameraden Uli, die in Nächten wie heute gerne Gitarre spielte. Heidelinde, die neben ihr saß, hatte sich die Mühe gemacht und am Computer ein Liederbuch zusammengestellt, das die wichtigsten Texte enthielt. Angelika entschied sich anschließend für ›Fliege mit mir in die Heimat‹. Es war eines von Georgs Lieblingsliedern, weil es vom Fliegen und vom Fernweh erzählte und er doch für alles, was flog und Flügel hatte, schwärmte. Er nahm noch einen Schluck aus seinem Bierkrug und erntete dafür einen gestrengen Blick von seiner Partnerin Doris.
Als Angelika ihre Gitarre neben sich ins Gras legte, erhob sich Uli, ihr Mann, der jedem Ranger zur Ehre gereicht hätte. Sein breitkrempiger Lederhut warf einen finsteren Schatten auf sein Gesicht, als er die paar Schritte zu einem Biertisch ging, den sie vom Wirt der Albvereinshütte ausgeliehen hatten, um ihre mitgebrachte Vesper und ihre Rucksäcke darauf zu deponieren. Uli, ein pragmatischer Mann, der überhaupt nicht dem Klischee eines Lehrers entsprach, griff sich das spitze Küchenmesser, in dessen langer Klinge sich der Mond spiegelte, und schnitt mit geübter Fingerfertigkeit einen Rettich in Scheiben.
»Bringst du mir auch was mit, Uli?«, hörte er hinter sich die Stimme von Katrin, einer stillen Kollegin, die jedoch nicht an seiner Schule, sondern an einer anderen tätig war. Sie trafen sich meist nur beim ›Mammutfest‹, konnten dann aber ausgiebig über Lehrermangel und ihre Machtlosigkeit im Unterricht klagen – oder sich gegenseitig trösten. Katrin war geschieden und psychisch angeschlagen, wie es ihm schien. Er hatte sich vorgenommen, sie in den nächsten Wochen zum Kaffee einzuladen.
Er legte das Messer zurück, nahm die Rettichstückchen in seine kräftigen Hände, die er zu einem Halbrund geformt hatte, und hielt sie Katrin vor. »Nimm, was du willst«, forderte er sie auf und sah, wie die stobenden Funken in ihrer randlosen Brille blitzten.
»Singen wir noch was?«, rief Werner in die Runde, der den ganzen Abend über nicht viel gesprochen hatte. Er hielt sich meist diskret zurück, so wie er dies auch in seinem Job bei der Steuerfahndung gewohnt war. Nur wenn er richtig in Fahrt war, was nach ein paar Bierchen der Fall sein konnte, begann es, aus ihm herauszusprudeln. Anfangs noch hatte er die Einladungen zu solchen Treffen ignoriert. Nicht einmal zu der gemeinsamen 50er-Feier war er gekommen. Erst voriges Jahr, nachdem er sich von seiner Frau getrennt hatte, war er beim ›Mammutfest‹ aufgetaucht – und kaum einer seiner ehemaligen Schulkameraden hatte ihn erkannt. Ein seltsames Gefühl war das schon gewesen – nach all den Jahren. Doch diesmal fühlte er sich schon besser, zumal er mit einigen aus der Runde seither hin und wieder Mails ausgetauscht hatte. Seine neue, wesentlich jüngere Partnerin Sabine schien sich in diesem Kreis ohnehin wohlzufühlen. Sie gab sich weitaus redseliger als er, ließ sich über die aktuelle Politik aus und bemängelte das ihrer Ansicht nach geringe Verantwortungsbewusstsein ›der Kapitalisten‹ gegenüber dem ›werktätigen Volk‹, wie sie sich ausdrückte. Dass es nicht der richtige Zeitpunkt war, um solche Themen zu diskutieren, dafür schien ihr das Gespür zu fehlen. Angelika würdigte sie keines Blickes, sondern lächelte nur Werner zu und griff wieder zu ihrer Gitarre.
Georg, der Journalist, sprang auf, ohne seinen Bierkrug loszulassen: »O ja, spiel noch was.« Er überlegte. »›Wenn die Sonne erwacht in den Bergen‹«, schlug er vor und erntete Zustimmung all der anderen, die bisher den Gesprächen wortlos gefolgt waren. Jedes dieser Lieder, das sie sangen, war mit ganz persönlichen Erinnerungen verknüpft. So, wie es auch die Schlager waren, zu denen sie während ihrer frühen Jugendzeit getanzt hatten, damals in den ersten Diskotheken, die hier in der Provinz eine Sensation waren. Den ›Today-Club‹ in Geislingen hatten sie alle noch in lebhafter Erinnerung – oder das ›Pflugfelder‹ in Göppingen. Mein Gott, wie war die Zeit schnell vergangen.
»Leute, ich glaub, wir werden älter, wir reden nur noch von gestern«, durchbrach Erich das Schweigen, das sich eingestellt hatte, noch ehe Angelika das Lied anstimmen konnte. »Ich hab mich jedenfalls furchtbar geärgert, wenn meine Eltern immer von früher gesprochen haben«, fuhr er fort und sah übers Feuer hinweg zu Katrin, deren Gesicht die lodernden Flammen in ein rötliches Licht hüllten. »Ich hasse es, von der Vergangenheit zu reden«, bemerkte sie mit monotoner Stimme, als fühle sie sich angesprochen. Ihr Blick war auf die Glut gerichtet.
»Erich hat recht«, meinte Joachim. »Ich kann mich noch lebhaft erinnern, wie meine Eltern über die Beatles gewettert haben. Lange Haare und Gammler und so. Und dann diese schreckliche Musik!«
»Na ja«, erwiderte Georg, »im Vergleich zu dem, was heute in den Hitparaden drin ist – man sagt ja jetzt wohl ›Charts‹ –, war das noch melodiöse Musik.«
Angelika hatte die Gitarre an sich genommen und suchte eine Gelegenheit, die Gespräche zu unterbrechen. Werner ließ sich aber nicht davon abbringen, eine Bemerkung zu machen: »Ich finde auch, wir sollten nicht in der Vergangenheit rumstochern, sondern uns um die Probleme kümmern, die uns alle heute beschäftigen.«
»Komm jetzt bitte nicht mit deiner Eisenbahn daher«, fuhr ihm Georg unwirsch über den Mund und nahm wieder einen Schluck aus seinem Krug. Jeder wusste, was gemeint war: Werner schien ein erbitterter Gegner der Schnellbahntrasse zu sein, die in den nächsten Jahren Stuttgart mit Ulm verbinden sollte. ›Stuttgart 21‹, so nannte man das Projekt, das auch die Tieferlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofs vorsah. Im Tunnel sollte die Trasse aus dem Talkessel heraus bis hinauf zu der Hochfläche der Fildern führen, wo der Flughafen und die sogenannte Neue Messe ans internationale Eisenbahnnetz angeschlossen sein würden. Ab da ging’s entlang der Autobahn bis zu der natürlichen Barriere der Schwäbischen Alb, die den Planern aufgrund ihrer Topografie und ihrer sensiblen Landschaft einiges Kopfzerbrechen bereitet hatte. Doch inzwischen waren die rechtlichen Hürden überwunden und das Projekt allenfalls noch durch die Finanzierung gefährdet. Auch Werner hatte dies zur Kenntnis nehmen müssen, doch wollten er und die anderen Gegner alles daransetzen, die Realisierung des Vorhabens zumindest zu erschweren. Denn das große Viadukt, das zwischen zwei Tunnel das idyllische Tal der Fils überspannen würde, war ihnen nach wie vor ein Dorn im Auge. Hinzu kam, dass während der langen Bauzeit jede Menge Abraummaterial abtransportiert werden musste, was Lärm und Staub verursachte.
Angelika schlug die Saiten ihrer Gitarre energisch an und erstickte damit die drohende Diskussion im Keim. »Wenn die Sonne erwacht in den Bergen …« Zögernd stimmte auch Werner mit ein. Während der Gesang die Lichtung erfüllte, strebten auf dem nahen Wanderweg wieder einige Schatten dem abwärts führenden Pfad zu. Georg konnte sie von seinem Platz aus durch den Hochwald sehen und vermutete, dass es vier oder fünf Personen waren.
Angelika leitete jetzt ohne Unterbrechung zu ihrem Abschiedslied über. »Nehmt Abschied, Brüder, ungewiss ist alle Wiederkehr. Die Zukunft liegt in Finsternis und macht das Herz uns schwer«, begann sie und erhielt sogleich vielstimmige Unterstützung. Dieses Lied von Robert Burns, das Claus Ludwig Laue 1951 ins Deutsche übersetzt hatte, hatten sie schon viele Male an den Lagerfeuern zum Abschied gesungen. »Der Himmel wölbt sich übers Land, ade, auf Wiedersehn! Wir ruhen all in Gottes Hand, lebt wohl, auf Wiedersehn.« In Momenten wie diesen überfiel sie alle eine gewisse Schwermut. Wie Lichtblitze zuckten Erinnerungen durch ihre Gedanken. Vor einer halben Ewigkeit hatte sie das Schicksal zusammengeführt. Nur weil sie auf die Mittelschule übergewechselt waren, die später in Realschule umbenannt wurde, hatten sie sich kennengelernt. Nur einige von ihnen stammten aus dem kleinen Städtchen Geislingen am Rande der Schwäbischen Alb. Die meisten waren aus umliegenden Dörfern gekommen. Und nach der Schule hatte sie entweder die weitere Ausbildung oder die Liebe in alle Winde zerstreut. Erst viel später war in einigen von ihnen der Wunsch aufgekeimt, die alten Schulkameraden wieder einmal zu sehen.
»Die Sonne sinkt, es steigt die Nacht, vergangen ist der Tag …«, sangen sie weiter. Georg musste an das erste Treffen nach 20 Jahren denken, als er manche seiner Schulkameraden nur noch an der Stimme erkannte. Er war damals verstohlen zur Toilette gegangen, um sich selbst im Spiegel zu betrachten und zu überlegen, ob er sich wohl auch so stark verändert hatte wie die anderen. Mein Gott, was war aus ihnen geworden. Der Junge, der Testpilot hatte werden wollen, hatte sich zu einem erfolgreichen Geschäftsmann entwickelt. Er verkaufte angeblich in großem Stil Orchideen in München. Ein anderer, der gerne Astronaut geworden wäre, besaß einen Zeitungskiosk und verkaufte dort jetzt Science-Fiction-Literatur. Polizisten hatten sie in ihren Reihen, Lehrer, Beamte in verschiedenen Ämtern und Positionen, natürlich auch Hausfrauen. Einige waren nicht mehr aufzufinden, andere hatte es nach Übersee verschlagen, wie etwa die Isolde, die mit einem Hotelmanager durch die Welt zog. Und Ulla töpferte irgendwo in Frankreich am Atlantik.
Jedenfalls hatten sie sich bei dem ersten Treffen damals geschworen, regelmäßig in Kontakt zu bleiben. Anfangs entwickelte sich dies mühsam, doch als die segensreiche Erfindung des Mailings aufkam, wurden die Bande enger geknüpft.
»So ist in jedem Anbeginn das Ende nicht mehr weit …« Georg hatte den Faden verloren und versuchte, sich wieder in den Text einzudenken, den seine Partnerin auswendig kannte.
Auch Werner und seine neue Freundin schienen tief in die Botschaft des Liedes versunken zu sein und in der Glut des Feuers Halt zu suchen.
»Wir kommen her und gehen hin, und mit uns geht die Zeit«, sangen sie gemeinsam weiter. Katrin sah in die Runde. Irgendwie hilflos, dachte Uli, der sie gerade unauffällig von der Seite gemustert hatte. Er nahm sich fest vor, sie in den nächsten Tagen anzurufen. Als erfahrener Pädagoge und gläubiger Christ hatte er einen geübten Blick für die Sorgen seiner Mitmenschen. Unauffällig wie immer, sah er in die Gesichter der Schulfreunde und ihrer Partner. Einige hatten den ganzen Abend über kaum etwas geredet, zumindest nicht an der allgemeinen Konversation teilgenommen und sich nur auf die unmittelbaren Sitznachbarn konzentriert. Das hatte Uli schon oft bedauert, zumal es vorkommen konnte, dass er mit einigen zwar stundenlang ums Lagerfeuer saß, aber kein Wort mit ihnen wechselte.
»Nehmt Abschied, Brüder, schließt den Kreis«, Ulis Frau Angelika kam zum letzten Vers. »Das Leben ist kein Spiel. Nur wer es recht zu Leben weiß, gelangt ans große Ziel.« Laue hatte gewiss jedes Wort mit Bedacht gewählt und nur wenige gebraucht, um viel auszudrücken.
»Der Himmel wölbt sich übers Land, ade, auf Wiedersehn! Wir ruhen all in Gottes Hand, lebt wohl, auf Wiedersehn.« Schweigen. Angelika legte ihre Gitarre beiseite.
Das Feuer knisterte. Ein sanfter Wind war aufgekommen und trieb den Rauch, der bisher mit den Funken senkrecht aufgestiegen war, direkt Werner und seiner Freundin ins Gesicht. Beide wandten sich ab und stiegen nach hinten über den Baumstamm hinweg, um sich dem beißenden Qualm zu entziehen. »Wir wollten eh gehen«, sagte Werner und deutete in Richtung des Albvereinshauses. »Wir schau’n da drüben noch vorbei.« Seine Begleiterin sagte nichts, während sie beide mit einem »Tschüss« aus dem Flammenschein verschwanden und nach ein paar Schritten zu einem grau-schwarzen Schattenumriss verschmolzen, der sich bald in der dunklen Ferne verlor.
»Ich geh mit«, meinte Heidelinde und erhob sich.
Zurück blieb eine nachdenkliche Stille. Katrin hatte sich umgedreht und den dreien nachgesehen. »Ungewiss ist alle Wiederkehr«, zitierte sie aus dem Lied.
Niemand erwiderte etwas.
Das Holz in den Feuerstellen war zu grauer Asche verfallen. Stundenlang noch hatte es geglüht, doch jetzt, an diesem frischen Sommermorgen, als die Sonne schon über den Horizont der Albberge gestiegen war, hatte sich der Rauch der Lagerfeuer verzogen. Das Konzert der Vögel hing in der Luft, an den prächtigen Stauden entlang des Wanderwegs schwirrten die Insekten und Schmetterlinge. Millionen von Tautropfen glitzerten und funkelten wie Diamanten. Die Sonne war längst erwacht in den Bergen, dachte sich der Mann, der mit seinem Schäferhund auf dem Weg zum Frühschoppen ins Wasserberghaus war. Noch bevor der sonntägliche Ansturm losging, traf sich regelmäßig ein kleiner Kreis von Stammtischlern, um hier oben Karten zu spielen oder auch nur die politischen Ereignisse der vergangenen Woche zu kommentieren, bisweilen polemisch, immer aber aus der Sicht des sogenannten kleinen Mannes, der – wie sie es oft genug schon kritisiert hatten – in Berlin kein Gehör fand. Am liebsten hätten sie mal einen der beiden örtlichen Bundestagskandidaten eingeladen, um ihm kräftig die Meinung zu sagen. Doch keiner von ihnen war bisher bereit gewesen, auf den Berg heraufzukommen. Vielleicht, so dachte der Mann, würde sich die Gelegenheit vor der nächsten Bundestagswahl ergeben. Dann entdeckten die Abgeordneten, wie man wusste, plötzlich auch wieder das Volk, für dessen Wohl sie arbeiten sollten.
Arco, der Schäferhund, hatte eine Fährte aufgenommen. Sein Herrchen wusste zwar, dass es die Naturschützer nicht gerne sahen, wenn hier oben Hunde frei herumliefen. Doch Arco brauchte Bewegung und war überdies, daran bestand für den Mann gar kein Zweifel, folgsam wie kaum ein anderer. »Der tut nix«, hatte er oft schon verängstigten Spaziergängern entgegengerufen, die beim Anblick des vorauseilenden Schäferhunds in panische Starre verfallen waren.
Arco und sein Herrchen hatten jetzt jene Stelle erreicht, an der der steil von der Landstraße heraufführende Pfad den breiteren Forstweg erreichte. Der Hund rannte übermütig voraus, was den Mann jedoch irritierte und mit einem scharfen Pfiff durch die Finger von ihm quittiert wurde. Doch Arco dachte nicht daran, zu seinem Besitzer zurückzukehren. »Arco!«, rief der Mann hinterher, der solcherlei Verhalten seines dressierten Vierbeiners nicht gewohnt war. Noch ein Pfiff durch die Finger. Vergeblich.
Der Hundebesitzer, der beim Anstieg ins Schwitzen gekommen war, beschleunigte seine Schritte und erreichte jene Lichtung, in deren Mitte ein käfigartiges Gebilde stand, in dem ein Mammutbäumchen heranwuchs. Arco war dem Trampelpfad gefolgt, der sich dorthin im hohen Gras der Waldwiese abzeichnete. Dann aber hatte er sich links abgewandt, um sichtlich aufgeregt über zertrampeltes Gras dem dichten Unterholz am Rande des Fichtenbestands zuzustreben – die Rufe seines Herrchens weiterhin ignorierend. Der Mann eilte verärgert hinterher, denn inzwischen hatte er keinen Zweifel mehr, dass Arcos Verhalten auf etwas Ungewöhnliches schließen ließ. Von einem Wild, davon war er überzeugt, hätte sich sein wohlerzogener Schäferhund nicht derart ablenken lassen. Arco war vor dem Gebüsch stehen geblieben, bellte dreimal und drehte den Kopf zu seinem herannahenden Herrchen, als wolle er ihm etwas zeigen. Der Mann erreichte schwer atmend den Vierbeiner und versuchte, durch das dichte Laub der Sträucher etwas zu erkennen. Doch seine Augen hatten Mühe, sich auf den Schatten hinter dem grünen Blätterwerk einzustellen. Arco machte unterdessen noch ein paar Schritte nach vorne, ganz dicht an das Gebüsch heran. Erst jetzt fielen dem Mann die abgebrochenen Spitzen der dünnen Ästchen auf. Er folgte zögernd seinem Hund und versuchte mit verengten Augen, im Unterholz etwas zu erkennen. Tatsächlich, da war etwas. Ein Kleiderbündel, dachte er. Jemand hatte Kleider weggeworfen. Der Wald als Müllhalde. Doch sein aufkommender Zorn über solch vermeintliche Umweltsünder mündete übergangslos in blankes Entsetzen. An den taufeuchten Blättern der Hecke, deren Äste sich in Augenhöhe vor ihm ausbreiteten, klebte eine rote Flüssigkeit. Für einen kurzen Moment war sein Gehirn nicht in der Lage, diese Beobachtung einzuschätzen. Er fokussierte die rot verschmierten Blätter, sah zu seinem aufgeregten Hund, der offenbar auf ein Kommando wartete, und nahm erneut das Kleiderbündel ins Visier, das zwei, drei Meter entfernt auf dem dicht bewachsenen Waldboden lag. Dann erst wurde ihm bewusst, was die rote Flüssigkeit nur sein konnte: Blut.
Sabine war beunruhigt. Sie hatte bis 9 Uhr geschlafen und sich auf einen Sommertag mit Werner gefreut. Nun rief sie ihn schon zum fünften Mal an, und er meldete sich weder auf dem Festnetz noch an seinem Handy. Dabei hatten sie heute Nacht, als sie auf dem Wasserberg getrennte Wege gegangen waren, fest ausgemacht, dass sie sich am Vormittag wieder treffen wollten. Die Enddreißigerin mit den schulterlangen schwarzen Haaren war in ihr kurzes Hauskleidchen geschlüpft und zum Fenster gegangen, von dem aus sie die ganze Albkette überblicken konnte. Von dort schien ihr die heiße Sonne entgegen. Irgendwo auf einem dieser bewaldeten Hänge war sie bis spät in die Nacht hinein geblieben, dann aber mit einer von Werners Schulfreundinnen zum Parkplatz gegangen, um heimzufahren. Sie war ein wenig enttäuscht gewesen, dass Werner noch bleiben wollte. Aber genau so hatten sie es bereits am frühen Abend ausgemacht. Werner konnte durchaus ein geselliger Typ sein und war nach der Scheidung von seiner Frau in seinem Freiheitsdrang kaum noch zu zügeln. »Ich lebe jetzt und nicht morgen«, pflegte er zu sagen, und Sabine wollte ihm gar nicht widersprechen. Auch sie hatte eine gescheiterte Ehe hinter sich und wusste, dass es keinen Sinn machte, sich gegenseitig einzuengen. Denn nur, wer sich frei fühlte, war wirklich glücklich und konnte den anderen daran teilhaben lassen. Vorausgesetzt natürlich, man bewegte sich auf der gleichen Wellenlänge. Sabine versuchte, diese Gedanken zu verdrängen. Nächtelang hatten Werner und sie darüber diskutiert – und das Schönste war, dass sie in diesen Dingen übereinstimmten.
Sie drückte auf dem drahtlosen Telefon noch einmal seine Festnetznummer. Wenn sie um 12 Uhr, wie vereinbart, an einem Baggersee im Donauried sein sollten, dann musste er doch längst wach sein. Außerdem hatte sie insgeheim gehofft, er würde zu ihr zum Frühstück kommen. Sie überlegte krampfhaft, wen er vergangene Nacht noch beim Wasserberghaus hatte treffen wollen. Irgendeinen von den ›Wilden Gesellen‹, das wusste sie. Aber an dessen Namen konnte sie sich beim besten Willen nicht mehr entsinnen. Vielleicht war es Gustav gewesen, einer seiner Schulfreunde, der nicht am Lagerfeuer gewesen war, sondern bei der Gesangsgruppe. Sabine überlegte, ob sie diesen Gustav anrufen sollte, doch dann fiel ihr ein, dass sie weder seine Telefonnummer noch seinen Nachnamen kannte, unter dem sie ihn im Telefonbuch würde finden können.
Sie unterbrach das Rufzeichen und legte das Telefon beiseite. Wirre Gedanken schossen ihr durch den Kopf. War er noch zu einer anderen gegangen? War sein Wunsch, noch bei den ›Wilden Gesellen‹ zu bleiben, nur ein Vorwand gewesen, um sie heimzuschicken? Es wäre nicht das erste Mal, dass sie von einem Mann betrogen wurde. Und so etwas wollte sie nie mehr erleben. Nie mehr. Das hatte sie sich geschworen. Aber Werner war anders, daran bestand kein Zweifel. Das hatte sie gleich bemerkt, nachdem sie sich bei dieser Protestveranstaltung gegen die Eisenbahntrasse begegnet waren. Ein einziger Blick hatte gereicht. Ach, was hatten sie in den Tagen danach E-Mails geschrieben! Inzwischen betrachtete sie ihr Zusammentreffen an jenem Abend in Weilheim als einen Wink des Schicksals. Beide hatten sie eine Beziehung gesucht und genaue Vorstellungen davon, wie es unter keinen Umständen mehr werden durfte. Es war wohl die berühmte Liebe auf den ersten Blick. Wenn sie daran dachte, spürte sie noch immer dieses Herzklopfen. Sie hatte sich so sehr auf den Sommernachmittag an einem der Baggerseen gefreut. Vielleicht würden sie noch einen Platz bei den vielen Sträuchern kriegen, wo es Nischen gab, in denen man ungestört war. Vor zwei Wochen waren sie schon einmal dort gewesen und bis zur Dämmerung geblieben. Wie verrückte Teenager hatten sie sich gefühlt, als um sie herum der See stiller wurde und eine mondlose Sommernacht aufzog mit tausend Sternen über ihnen.
Wieder griff sie zum Telefon. Jetzt wollte sie es noch einmal mit der Handynummer versuchen. Fünf-, sechsmal erklang das Freizeichen. Dann endlich ein Klicken in der Leitung. »Hallo«, hörte sie eine Männerstimme, die ihr überhaupt nicht vertraut erschien. Sie stutzte und überlegte, ob sie sich verwählt hatte.
»Wer ist denn da?«, fragte sie zögernd zurück.
Der Mann am anderen Ende brauchte zwei Sekunden, bis er mit einer Gegenfrage antwortete: »Darf ich fragen, wen Sie sprechen wollten?«
»Wahrscheinlich bin ich falsch verbunden«, erwiderte Sabine, während ihr Puls zu rasen begann.
»Bleiben Sie bitte dran«, beeilte sich der Mann zu sagen. »Wen wollten Sie denn?«
Sie schluckte und sah zu den Bergen hinüber, deren Hänge im Gegenlicht der Sonne Schatten warfen. »Ich wollte …« Wieder zögerte sie. »Ich wollte Werner sprechen, Werner Heidenreich.«
Natürlich war sie falsch verbunden. Wer sonst würde Werners Handy haben und sogar noch mit ihr reden wollen.
»Werner Heidenreich«, wiederholte die Stimme im Hörer sachlich, um nach kurzer Pause hinzuzufügen: »Sie haben richtig gewählt. Es ist sein Handy.«
Sabine erschrak. »Und …« Sie spürte einen Kloß im Hals. »Und wer sind dann Sie?«
»Kriminalpolizei«, kam es zurück, und schnell wurde ergänzt: »Wir müssen dringend mit Ihnen sprechen.«
Sabine bekam weiche Knie. Sie war nicht mehr in der Lage, den Worten des Mannes zu folgen.
August Häberle, Erster Kriminalhauptkommissar bei der Kriminalpolizei in Göppingen, hatte sich von dem diensthabenden Kollegen Specki daheim abholen lassen. Die beiden Männer kannten sich seit Jahren und wussten, dass die ersten Stunden nach einem Verbrechen die wichtigsten waren. Häberle ärgerte sich zwar insgeheim, dass der schöne Sommersonntag, den er mit seiner Ehefrau Susanne im heimischen Garten verbringen wollte, nun verdorben war. Aber die Gewissheit, dass Susanne schon sein ganzes Berufsleben lang Verständnis für solche unvorhergesehenen Einsätze aufbrachte, beruhigte ihn. Er hatte zwar keinen Bereitschaftsdienst, doch war es für ihn Ehrensache, die Kollegen bei großen Einsätzen zu unterstützen – auch wenn er jetzt noch gerne geschlafen hätte. Sein dünnes Hemd spannte, als er seinen voluminösen Körper auf dem Beifahrersitz zurücklehnte. »Du weißt, wo’s raufgeht?«, fragte er knapp, während der weiße Dienst-Audi auf der Bundesstraße 10 in Richtung Ulm rollte, wo bereits viele Ausflügler aus dem Großraum Stuttgart zur Hochfläche der Alb unterwegs waren.
Der Kriminalist, der eigentlich Speckinger hieß, den sie aber alle Specki nannten, nickte und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Die Sonne knallte gnadenlos gegen die Windschutzscheibe. »Es gibt nur diese eine Zufahrt. Den Fahrweg über den Hexensattel«, bemerkte er gelassen.
Häberle blinzelte und klappte den Blendschutz herunter. Hexensattel, klar. Specki kannte Land und Leute genauso wie er. Man musste in seinem eigenen Zuständigkeitsbereich Bescheid wissen – über die Menschen und ihre Mentalität, aber auch über geografische und topografische Verhältnisse. Häberle war deshalb nach seiner langjährigen Tätigkeit als Sonderermittler beim Landeskriminalamt wieder gerne in die heimische Provinz zurückgekehrt. Nicht nur in dem Ballungszentrum, das wusste er, führten die Abgründe menschlicher Seelen zu tragischen und dramatischen Ereignissen. Und seit aus der Welt ein vernetztes Dorf geworden war, das von global agierenden Banden ebenso in die Zange genommen wurde wie von skrupellosen Geschäftemachern, die man neuerdings verharmlosend ›Global Player‹ nannte, konnte von jeder Ecke des Planeten aus ein Verbrechen eingefädelt werden.
Die beiden Männer schwiegen und waren in Gedanken versunken. Wie immer, wenn sie auf der Anfahrt zu einem Tatort waren, versuchte jeder, sich auf seine Art vorzustellen, womit sie konfrontiert würden. Der Polizeiführer vom Dienst, der die Notrufe entgegennahm, hatte von einem Tötungsdelikt beim Wasserberghaus gesprochen. Specki und Häberle brauchten keine weitere Ortsbeschreibung. Beide waren sie begeisterte Wanderer und kannten sich aus. Specki bog deshalb in Gingen an der Fils nach rechts auf die kleine Verbindungsstraße ab, die in Serpentinen den Höhenrücken abkürzte, der hier an den nördlichen Ausläufern der Schwäbischen Alb ins nächste Seitental hinüberführte. Die schmale Fahrbahn schlängelte sich aus dem Wald heraus, vorbei an einer Pferdekoppel und durch den kleinen Weiler ›Grünenberg‹, wo es eine Wirtschaft gab, die für ihr dunkles Bier weithin bekannt war.
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