Himmelsfelsen - Manfred Bomm - E-Book

Himmelsfelsen E-Book

Manfred Bomm

4,5

Beschreibung

Der Himmelsfelsen hoch über Eybach: Eines Morgens tönt ein grausamer Schrei durch den friedlichen Ort und nichts ist mehr so, wie es einmal war. Ein Mann ist vom Felsen gestürzt. Selbstmord oder Mord? Wer könnte Interesse am Tod des Ulmer Diskothekenbesitzers haben? Seine zwielichtigen Geschäftspartner oder gar eine eifersüchtige Frau? Und weshalb muss der Bruder des Toten, eine stadtbekannte Persönlichkeit, noch mit einem weiteren Todesfall fertig werden? Fragen über Fragen - und ein verzwickter Fall für den sympathischen Hauptkommissar Häberle und sein Team.

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Manfred Bomm

Himmelsfelsen

Kriminalroman

Zum Buch

TIEFER FALL Der Himmelsfelsen hoch über Eybach: Eines Morgens tönt ein grausamer Schrei durch den friedlichen Ort und nichts ist mehr so, wie es einmal war. Ein Mann ist vom Felsen gestürzt. Selbstmord oder Mord? Wer könnte Interesse am Tod des Ulmer Diskothekenbesitzers haben? Seine zwielichtigen Geschäftspartner oder gar eine eifersüchtige Frau? Und weshalb muss der Bruder des Toten, eine stadtbekannte Persönlichkeit, noch mit einem weiteren Todesfall fertig werden? Fragen über Fragen – und ein verzwickter Fall für den sympathischen Hauptkommissar Häberle und sein Team.

Manfred Bomm wohnt am Rande der Schwäbischen Alb. Als Lokaljournalist hat er Freud und Leid der Menschen hautnah erlebt und darüber berichtet. Vieles, was er in seinen Romanen verarbeitet, hat sich so oder in ähnlicher Weise zugetragen. 2004 hat der Autor mit dem Krimischreiben begonnen und die Figur des August Häberle nach einem realen Vorbild bei der Kriminalpolizei Göppingen entworfen. Ursprünglich hatte er – einem Jugendtraum folgend – nur einen einzigen Roman schreiben wollen, doch die steigende Zahl der „Häberle“-Fans spornte ihn zu „weiteren Untaten“ an. Manfred Bomm fühlt sich eng mit Land und Leuten verbunden, liebt die Natur, das Wandern, Reisen und Radeln. Wichtig ist ihm, so gut wie alle beschriebenen Schauplätze selbst aufgesucht zu haben.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Blumenrausch (2019)

Nebelbrücke (2018)

Traufgänger (2017)

Todesstollen (2016)

Lauschkommando (2015)

Machtkampf (2014)

Grauzone (2013)

Mundtot (2012)

Blutsauger (2011)

Kurzschluss (2010)

Glasklar (2009)

Notbremse (2008)

Schattennetz (2007)

Beweislast (2007)

Schusslinie (2006)

Mordloch (2005)

Trugschluss (2005)

Irrflug (2004)

Himmelsfelsen (2004)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

11. Auflage 2019

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-3140-1

Widmung

Allen gewidmet, die mich schon zu Zeiten meines jugendlichen Pseudonyms »George Sanders« zu schriftstellerischen Taten angespornt haben – insbesondere aber meiner lieben Doris, die viel Verständnis für meine Arbeit am Laptop aufgebracht hat.

All jenen, die sich in diesem Roman erkennen werden, möchte ich für die jahrelange Freundschaft und Zusammenarbeit danken. Sie haben mich zu dieser Geschichte inspiriert, die in unserer schönen schwäbischen Heimat spielt.

In Memoriam

In Memoriam zweier Menschen, die viel zu früh von uns gegangen sind:

Gottfried Graf von Degenfeld, der Freude daran hatte, das Vorbild für den Graf von Ackerstein zu sein, sowie Ferdl, der Wirt der Helfen­stein-Schenke, der seinen Gästen stets viel Freude bereitet hat.

1

Ein Sommermorgen, wie es nur wenige gibt. Tau glitzerte wie Perlen an den Gräsern, in der klaren Luft das Konzert der Vögel. Noch stand die Sonne jenseits des Horizonts, doch der Himmel war bereits hell. Der einsame Jogger, der auf dem Waldweg dahintrabte, genoss die Frische des heraufziehenden Tages. Seit einer Dreiviertelstunde war er bereits unterwegs. Es gehörte schon einige Überwindung dazu, noch bei Dunkelheit aufzustehen und sich auf den Weg zu machen. Doch inzwischen hielt er es bereits seit zwei Jahren durch: Immer den schmalen Trampelpfad am Rande der Schwäbischen Alb auf die Hochfläche hinauf, dort drei Kilometer auf der Ebene am Steilhang entlang, danach hinab ins Tal und dort wieder heimwärts. Ein Rundkurs von knapp acht Kilometern. Seine Freunde, denen er von diesem selbst auferlegten Trainingsprogramm erzählte, reagierten entweder mit Anerkennung oder mit Unverständnis. Ein Diskotheken-Besitzer, der morgens durch den Wald rennt! Eine geradezu absurde Vorstellung. Doch er wusste, dass der Job nicht nur an den Nerven, sondern auch an der Gesundheit zehrte. Für sportliche Betätigungen blieb dem 35-Jährigen sonst kaum Zeit. Sein Lokal war stets bis um vier Uhr morgens geöffnet, den helllichten Tag brauchte er, um auszuschlafen oder um sich ums Geschäft zu kümmern. Nur der Dienstagmorgen bot ihm Gelegenheit zum Durchatmen, denn montags war seine Diskothek geschlossen. Montags, das hatte sich ziemlich rasch gezeigt, nachdem er den Betrieb vor fünf Jahren eröffnet hatte, war der schwächste Tag. Deshalb bot sich nur der Dienstagmorgen für sein persönliches Fitness-Programm.

Es war ein traumhafter Morgen. Der Jogger hatte den Anstieg auf dem schmalen Pfad bereits hinter sich. Erste Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Nun trabte er locker dahin, um sich herum das vielstimmige Zwitschern der Vögel. Vor ihm lag jetzt der ebene Bereich, direkt am Rande des bewaldeten Hangs, der hier rechts des Wegs steil ins Tal hinabfiel. Inzwischen hatte der Morgen die kurze Sommernacht verdrängt. Der hell gewordene Himmel ließ einen strahlenden Tag erwarten. Schon bald würden sich die Nebelschwaden verflüchtigen, die jetzt noch vom feuchten Talgrund aufstiegen.

Der Mann genoss diese Frische, die er nach all den langen Disco-Nächten im Dunst von Zigaretten und im flackernden Laser-Licht dringend benötigte. Hier fühlte er sich von allen Zwängen befreit und war ein anderer Mensch. Da hatte er nichts mehr von dem energischen Auftreten eines Chefs an sich. Der trügerische Glanz der Nacht war eine Sache, doch im Grunde seines Herzens liebte er die Natur über alles. Mit der Übernahme der Diskothek in Ulm hatte er sich zwar tief verschuldet, aber auch einen Traum erfüllt. Lange genug war er in der Gastronomie tätig gewesen, hatte bedient und schließlich den Service an der Theke gemanagt. Doch eine Lebensaufgabe hatte er darin nie gesehen. Jetzt kam freilich die Freizeit viel zu kurz und er musste sich mit vielfältigen Problemen herumschlagen.

Das alles ging ihm auch an diesem Morgen wieder durch den Kopf. Jogging, das hatte er erkannt, war die beste Art, die Seele baumeln und den Gedanken freien Lauf zu lassen. Gerade so ein Sommermorgen war dazu angetan, ihn auch abzulenken. Wenn ein Häschen im hohen Gras einer Tannenschonung aufschreckte und weghoppelte, wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Allerdings wunderte er sich, wie wenig Wild ihm begegnete. Ganz selten auch hatte er bisher andere Frühaufsteher getroffen. Eigentlich schade, dachte er sich. Wer die Natur um diese Zeit nicht erlebt, versäumt etwas. Einmal, daran erinnerte er sich noch genau, war ihm ein Jäger begegnet. Sie hatten miteinander geplaudert und sich über die Zunahme der Wildschweine unterhalten.

Seitdem blickte der Jogger immer wieder auf die Hochsitze hinauf, die in großer Zahl entlang seiner Route an den Bäumen lehnten. Doch den Jäger von damals hatte er nie wieder getroffen.

Manchmal war es ihm jedoch so, als seien auf entfernteren Pfaden ebenfalls Menschen unterwegs, wenn es im Unterholz knackte oder das Laub raschelte. Auch an diesem Morgen glaubte er, nicht allein zu sein. Jetzt, im Juni, war jedoch die Natur voller Leben. Zu keiner anderen Jahreszeit, das hat ihm der Jäger damals auch erzählt, entwickelt die Tier- und Pflanzenwelt so heftige Aktivitäten wie im Frühsommer. Nur einmal blieb er kurz stehen, um in den Morgen hineinzulauschen. Aber der Hochwald um ihn herum gab sein Geheimnis nicht preis. Irgendwo würden die Rehe stehen, reglos und still. Drüben, wo sich christbaumhohe Fichten eng aneinander schmiegten, gab es finstren Unterschlupf für das Kleingetier.

Hier war niemand, stellte der Mann fest und joggte weiter. Er spürte die weiche Walderde unter den Füßen und er sah durch die Baumwipfel des Steilhangs, wie vor ihm der Osthimmel immer heller wurde. Gleich würde er seinen Umkehrpunkt erreichen, jenen gewaltigen Felskoloss, der sich hier an den Steilhang zu klammern schien. Tagsüber war dieses Felsplateau ein beliebtes Wanderziel, weil es eine grandiose Aussicht auf das 160 Meter tiefer gelegene enge Tal bot. Obwohl der Weg hinter dem Felsen vorbeiführte, ließ sich der Frühsportler diesen Blick nie entgehen. Er stieg über einen schmalen Pfad auf das Felsplateau hinauf, das im Mittelalter sogar von einer Burg gekrönt gewesen sein soll. Er war jedes Mal von der Tiefe angetan, die sich vor ihm auftat. Besonders beeindruckend empfand er es, diese Hänge ringsherum im Wandel der Jahreszeiten zu erleben. Die Felswand, das wusste er, ragte 60 Meter senkrecht aus dem bewaldeten Berg empor.

Himmelsfelsen nannten die Einheimischen dieses Kalkstein-Monster seit jeher. Denen im Tal war es Wahrzeichen und Heimat. Der Mann, in der benachbarten Kleinstadt Geislingen an der Steige aufgewachsen, kannte sich in der näheren Umgebung aus. Seine Eltern hatten ihn, damals noch zu seinem Leidwesen, zu Wanderungen mitgenommen. Die Liebe zur Natur entwickelte sich erst später.

Von dem Ausblick auf das kleine Örtchen Eybach da unten schwärmte er all jenen vor, die ihn ob seiner wöchentlichen Jogging-Tour belächelten. Oft schon hatte er auch in Ulm von diesem Felsen erzählt, der ihn so sehr faszinierte.

Nun stand er wieder da, ganz vorne, nur ein, zwei Schritte vom Abgrund entfernt. Ein erhebendes Gefühl, stellte er immer wieder fest, als ob er sich jeden Augenblick selbst in die Lüfte schwingen könnte, wie die Turmfalken oder Raben es taten, die den Felsen umkreisten.

Es war wirklich ein ungewöhnlich schöner Sommermorgen. Noch allerdings reichten die Sonnenstrahlen nicht bis nach Eybach hinab. Das Örtchen lag in einem engen Tal, das sich in nordöstliche Richtung durch das Mittelgebirge der Schwäbischen Alb schlängelte, eingegraben in Jahrmillionen durch das Flüsschen Eyb, das dem Dorf seinen Namen gab. In den Wintermonaten, wenn die Sonne tief am Horizont stand, blieben manche Bereiche jedoch ständig im Schatten. Das Wahrzeichen des Örtchens, der Himmelsfelsen, war jetzt noch trist und grau, aber er konnte auch schneeweiß strahlen, wenn die Sonne ihn erhellte. Außerhalb der Vogelschutz-Zeiten zog er Kletterer zuhauf an. Derzeit jedoch durfte die Felswand wegen der brütenden Turmfalken nicht erklommen werden.

Plötzlich zerriss ein markerschütternder Schrei die Idylle des Tales. Nur kurz, aber so heftig und laut, wie er nur von einem Menschen in Todesangst stammen konnte. Augenblicke später war es wieder beängstigend still.

Das Örtchen Eybach, so verschlafen es zu dieser frühen Morgenstunde noch war, schien aufgeschreckt worden zu sein. An einigen Häusern wurden Fenster geöffnet, Menschen blickten irritiert nach draußen. Eine Zeitungsfrau hielt auf dem Weg zwischen zwei Häusern inne.

Kaum eine Minute später erfuhr der ›Polizeiführer vom Dienst‹ in der Kreisstadt Göppingen von dem Schrei. Mehrere Anrufer brachten über den Notruf ihre Sorge darüber zum Ausdruck, dass wohl etwas Schreckliches geschehen sein müsse. Der Beamte, der das Ende seines Nachtdienstes herbeisehnte, verständigte routinemäßig über Funk eine Streifenwagen-Besatzung: »Dora zwölf-vierzehn«, sagte er, »fahren Sie nach Eybach, dort wurde im Ort ein Hilferuf gehört.«

Die Streifenwagen-Besatzung, die sich gerade zehn Kilometer entfernt aufhielt, bestätigte, schaltete Martinshorn und Blaulicht ein und raste los.

Es dauerte nur wenige Minuten, bis die Polizeistreife am Ort eintraf. Die beiden Beamten, Harald Missler und Jürgen Köhler, stiegen in der Ortsmitte vor dem Rathaus aus. Auf der Durchgangsstraße herrschte nur mäßiger Verkehr. Drüben auf dem Parkplatz des Gasthauses ›Ochsen‹ stand ein halbes Dutzend Autos. Kein Mensch weit und breit und nichts, was auf ein Verbrechen hindeuten würde. Auch der Himmelsfelsen, diese hoch aufragende Wand, die hier vom Ortskern aus besonders drohend wirkte, wies keine Besonderheit auf.

Gerade, als die beiden Beamten wieder in ihren Streifenwagen einsteigen wollten, hörten sie eine Männerstimme: »Hallo.« Sie drehten sich um und sahen im ersten Stockwerk des Gasthauses ›Ochsen‹ einen Mann am Fenster stehen. »Kommat Sie wega dem Schrei?«, rief er zu ihnen herab.

Polizeihauptkommissar Harald Missler ging ein paar Schritte auf das Haus zu. »Ja, haben Sie denn etwas gehört?«

»Es war, als ob jemand vom Himmelsfelsen g’falla sei.«

Die beiden Beamten blickten wortlos zu der Felswand hinauf.

Wenn da jemand herabgestürzt war, dann lag er im bewaldeten Steilhang, im unwegsamen Gelände.

Missler zögerte keinen Augenblick. Er wusste, was jetzt in Gang kommen würde.

Der Beamte in der Leitstelle der Polizei nahm die Situationsschilderung seines Kollegen aus Eybach entgegen. Verstärkung war gefragt, weitere Streifenwagen, dazu das Rote Kreuz, die Bergwacht, vorsorglich auch die örtliche Feuerwehr, um technischen Beistand leisten zu können.

Der Streifenwagen und das Krächzen des Funks hatten inzwischen ein paar Schaulustige angelockt. Einige waren selbst Ohrenzeugen des Todesschreis gewesen und gaben ihre Personalien zu Protokoll. In der Ferne heulten bereits die Martinshörner der Einsatzfahrzeuge. Gleichzeitig begann auf dem Rathaus-Dach die Luftschutz-Sirene zu heulen. Trotz der längst üblichen Funkalarmgeber, die jeder Feuerwehrmann mit sich trug, war es in topografisch schwierigem Gelände noch immer üblich, die Feuerwehr zusätzlich auf diese Weise zu alarmieren. Die Funkwellen, das hatte die Erfahrung gezeigt, reichten nicht in jeden Winkel eines solchen Tal-Ortes hinein. Allerdings hatte der Sirenen-Alarm auch zur Folge, dass nicht nur die Einsatzkräfte, sondern die gesamten Bewohner aufgeschreckt wurden.

Schaurig lag das Heulen des dreimal auf- und abschwellenden Sirenentons in der Luft. Jetzt, das befürchteten die Polizeibeamten, würde der ganze Ort zusammenrennen.

Der Mann, der noch lange vor dem Morgengrauen in den Wald gegangen war und seither auf einem Hochsitz am Rande einer großen Fichtenschonung verharrt hatte, ärgerte sich über den Lärm, der vom Tal heraufschallte. Keine Chance mehr, auch nur ein Stück Wild zu sehen, stellte der Waidmann resigniert fest. Er hatte zwar nicht jagen oder schießen wollen, aber an einem so schönen Sommermorgen erfreute es ihn jedes Mal, äsende Rehe oder auch mal ein paar Wildschweine zu sehen. Der Mann, weit in den Siebzigern, aber noch immer Jäger mit Leib und Seele, war deshalb ohne Gewehr in den Wald gegangen. Eigentlich ungewöhnlich, aber er liebte die Natur und dazu bedurfte es keiner Büchse.

Er war kurz vor vier mit seinem Geländewagen von Eybach herauf zur Hochfläche gefahren. Das Fahrzeug hatte er auf einem Feldweg am Waldrand abgestellt und war dann zu Fuß zu seinem ca. 500 Meter entfernten Lieblingshochsitz spaziert. Diese Sommernächte, das liebte er, waren ohnehin nie ganz dunkel, auch wenn der zunehmende Halbmond bereits um zwei Uhr untergegangen war. Die Landschaft hob sich vom helleren Firmament ab, jeder Baum, jede Hecke war zu erkennen. Nicht selten sah der Waidmann bei seinen frühmorgendlichen Pirschgängen auch Autos an lauschigen Plätzchen stehen. Dann lächelte er milde und nahm es hin, dass die Fahrer verbotene Wege benutzt hatten, um zusammen mit ihrer Freundin diese herrlichen Nächte zu genießen. Auch als er heute früh zu seinem Hochsitz gegangen war, hatte er weit entfernt, an einem anderen Waldeck, schemenhaft ein Fahrzeug stehen sehen. Nichts Besonderes, schon gar nicht an einem solchen Tag.

Mit einsetzendem Morgengrauen, auch das wusste der Waidmann aus jahrzehntelanger Erfahrung, tuckerten gelegentlich Landwirte mit ihren Traktoren hinaus. Die Landschaft war bei Weitem nicht so tot, wie manche Städter glaubten. Manchmal gar kamen Jogger vorbei, Frühaufsteher, die noch vor der Arbeit etwas für die Gesundheit tun wollten. Der Waidmann schaute ihnen dann von seinem rundum geschlossenen Hochsitz reglos zu.

Heute allerdings, das wurde ihm immer deutlicher, war es mit der Ruhe vorbei. Er kletterte langsam die steile Holzleiter hinab. Nun ging er quer durch die hohe Fichtenschonung zu einem Waldweg, der ihn wieder auf die Felder der Hochfläche hinausbringen würde. Dort schien inzwischen die Sonne.

2

Die Sonne strahlte auch im ganzen Lande. Als Daniel Fronbauer, ein Mittvierziger, die Baustelle in Aalen betrat, war die aufkommende Schwüle bereits zu spüren, obwohl es gerade erst sieben Uhr war. Er pflegte seine Termine auf die frühen Morgenstunden zu legen, um nacheinander möglichst viele Aufgaben erledigen zu können. Außerdem machte es natürlich Sinn, Baustellen am Beginn eines Arbeitstages zu besuchen, um etwaige Änderungen sofort ausführen zu lassen. Daniel Fronbauer hatte sich als Immobilienmakler selbstständig gemacht. Er bot seiner Kundschaft die Finanzierung von Häusern und Grundstücken an, vermittelte jede Art von Immobilien und stand auch mit Rat und Tat bei Neubauten zur Seite. Obwohl seine Branche eher in den Großstädten gefragt war, hatte er nie ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, seine Heimatstadt, das kleine Geislingen an der Steige, zu verlassen. Dort war er verwurzelt, hier wohnten seine Freunde. Seit zehn Jahren bereits engagierte er sich auch kommunalpolitisch, war als Parteiloser in den Gemeinderat gewählt worden. Böse Zungen sagten ihm zwar nach, dieses Ehrenamt nur angestrebt zu haben, um an Immobiliengeschäfte zu gelangen. Doch er wollte wirklich uneigennützig seiner Heimatstadt dienen. Er kam viel herum, sah städtebaulich bemerkenswerte Projekte und versuchte dann, ein bisschen davon auch in Geislingen anzuregen. Heute Morgen in Aalen freilich ging es nur um ein paar Reihenhäuser, die an einer sonnigen Hanglage hochgezogen wurden und die er vermarkten wollte. Einer der Käufer hatte Sonderwünsche geäußert, die er jetzt mit dem Architekten besprechen wollte.

»Ganz schön früh dran«, begrüßte ihn Architekt Sven Haubensack, ein forscher Mann, den Fronbauer in die Kategorie »jung, dynamisch, erfolglos« einzustufen pflegte. Vielleicht knapp dreißig, aber mit ungeheurem Selbstvertrauen. Kurze schwarze Haare, pomadig zur Seite gekämmt. Cool, wie man wohl sagen würde, dachte sich der Immobilienmakler. Die Aktentasche trug der junge Mann locker unterm Arm.

Er schüttelte dem Architekten die Hand. Auch Fronbauer zog sich bei seinen Baustellen-Terminen meist betont sportlich an. Jeanshose, festes Schuhwerk und heute ein kurzärmliges Jeanshemd, das den Bauchansatz dezent kaschierte.

»Sie sind also auch Frühaufsteher?«, fragte der Architekt und ging über ein schmales Brett, das über einen Graben gelegt war, in den Rohbau hinein. Fronbauer bestätigte und fragte zurück: »Sie auch?«

»Klar, ich war heute sogar schon Joggen, traumhaft.«

Fronbauer zog eine Augenbraue hoch, als er seinem Gesprächspartner durch das Erdgeschoss zur Treppe folgte. »Heute schon Joggen?«, wiederholte er fragend, »richtig raus, in aller Frühe. Wo denn?«

»Immer im Wald, in der Einsamkeit, wo um diese Zeit keine Menschenseele ist«, erwiderte der junge Architekt. Fronbauer blickte ihm für einen Moment wortlos hinterher, um dann endlich zur Sache zu kommen: »Ich hab’s Ihnen ja bereits am Telefon angedeutet, der Käufer möchte zwischen Esszimmer und Wohnzimmer keine Wand haben.«

Die beiden Männer diskutierten, wie dieses Problem zu lösen wäre. Nach einer halben Stunde war man sich einig und verabschiedete sich voneinander.

Der Immobilienmakler stieg in seinen schwarzen Daimler. Jetzt würde er pünktlich seinen zweiten Baustellen-Termin in Heidenheim erreichen.

Es schien so, als sei ganz Eybach auf den Beinen. Katastrophenstimmung im Ortskern. Hauptkommissar Missler wunderte sich, wie viele Menschen an einem ganz normalen Dienstagmorgen Zeit hatten, diesem ›Tatort‹-Szenario beizuwohnen. Schon mussten zwei Beamte die beiden einzigen Wanderwege absperren, die vom Ortsrand zum Himmelsfelsen hinaufführten.

Es war für die Männer der Rettungsdienste eine schweißtreibende Aufgabe, sich quer über den Hang zur Felswand vorzuarbeiten. Die Gruppe der Eybacher Feuerwehrmänner hatte das Ziel als Erste erreicht. Vor ihnen die Felswand, 60 Meter nahezu senkrecht aufragend und gut 20 Meter breit, direkt angrenzend der alte Buchen-Hochwald. Auf dem steil abfallenden Hanggelände viele lose Steine. Während sich bereits die Rettungssanitäter und der Notarzt näherten, gefolgt von Polizisten und der Bergwacht-Mannschaft, gingen die Feuerwehrmänner in ihren schwarz-blauen Uniformen am Fuße des Felsens entlang. Augenblicke später blieb der vorderste abrupt stehen: »Hier«, sagte er mit erschrockener Stimme. Die anderen hielten inne und gruppierten sich um ihn. Was sie sahen, ließ sie für einen Moment entsetzt verstummen. Ein Körper lag blutüberströmt vor ihnen, die Gliedmaßen auf ungewöhnliche Weise verdreht und abgewinkelt. Es war ein Mann in Jogging-Kleidung.

Der Notarzt, völlig außer Atem und schweißgebadet, kniete sich zu ihm nieder. Er brauchte nicht lange, um den Tod zu diagnostizieren.

Inzwischen war bereits die Kriminalpolizei in Göppingen verständigt. Mittlerweile hatte sich in der Ortsmitte auch ein Journalist den Weg durch die Menge gebahnt und war über das Absperrband gestiegen. Die Beamten kannten ihn. Seit Jahren schon war Georg Sander Redakteur der ›Geislinger Zeitung‹ und für Polizei und Gericht zuständig. Missler hatte sich ohnehin bereits gewundert, wo dieser solang blieb. Schließlich wohnte der Journalist doch sogar in Eybach und musste das Sirenengeheul mitgekriegt haben.

Sander grüßte freundlich und ging schnurstracks auf Uli Stock zu, den Pressesprecher, der trotz der morgendlichen Stunde schon nach Eybach geeilt war. Die beiden Männer schüttelten sich freundschaftlich die Hände.

Sander stellte fragend fest: »Da ist einer vom Felsen gefallen?«

»Der Kandidat hat hundert Punkte«, versetzte Stock theatralisch und blickte zu der Felswand hinauf.

»Absturz um diese Zeit schon?«

»Ja, das verwundert ein bisschen. Ein Jogger sei’s. Vielleicht im Eifer des Gefechts ein bisschen zu weit nach vorne gerannt und zu spät gebremst.« Stock verzog das Gesicht zu einem Grinsen.

Sander blickte ebenfalls nach oben, wo jetzt die ersten Sonnenstrahlen die Oberkante des Felsens trafen. »Weiß man denn schon, wer es ist?«

»Keine Ahnung. Das sollen die Spezialisten von der Kripo feststellen.«

»Wer ist der ›Glückliche‹, der heut’ schon in die Provinz muss?«, erkundigte sich Sander.

Stock lächelte vielsagend: »Der Häberle hat heut’ Nacht Bereitschaftsdienst gehabt, ich denk’, dass er um diese Zeit noch dran ist. Wird sich freuen.«

Der Häberle also, dachte Sander zufrieden. Ein erfahrener Beamter, ein Gemütsmensch, ein Praktiker, einer, der wusste, worauf es ankam. Mit Häberle hatte Sander schon viele große Fälle gehabt und spannende Storys darüber schreiben können. Er freute sich deshalb, den fähigen Kriminalisten heute wieder zu treffen.

Sander wollte sich selbst ein Bild vom Unglücksort verschaffen. »Packen wir’s?«, fragte er Stock. Der schluckte, blickte zur Felswand hinauf und zögerte einen kurzen Moment, ehe er sagte: »Okay, wenn Sie meinen.«

Auf der Autobahn war an diesem Dienstagmorgen nur mäßiger Verkehr. Die A8, die von München nach Karlsruhe führt, an Ulm und Stuttgart vorbei, hatte jedoch wieder ihre übliche starke Lkw-Belastung aufzuweisen. Zum Leidwesen von Harry Saalfelder, der seinen silbernen Porsche somit nicht voll ausfahren konnte. Immer nur zwischen 100 und 150 km/h, bedauerte er im Stillen. Dabei hätte der Motor noch sehr viel Leistung zu bieten gehabt. Seine Mitfahrerin, die 23-jährige Susann Stahlecker, die ›wenn sie gefragt wurde‹ als Beruf ›Service-Dame‹ in der Ulmer Diskothek ›High-Noon‹ angab, saß schon seit geraumer Zeit stumm neben ihm. Obwohl sie in Ulm bereits kurz vor dem Morgengrauen losgefahren waren, hatte sich die junge Frau mit den langen blonden Haaren sommerlich gekleidet. Ein Miniröckchen in orangefarbenen Tönen und weiße Schuhe vermittelten ein bisschen Urlaubsstimmung. Saalfelder, drahtig und knapp 30, hatte sich dagegen für einen ockergelben Freizeit-Look entschieden.

»Schläfst du?«, fragte er die junge Frau und drehte das Radio leiser, in dem die Popmusik irgendeines Privatsenders spielte.

Die junge Frau blicke nach links zu ihm herüber. »Nur ein bisschen«, meinte sie und lächelte, während gerade die blauen Hinweisschilder aufs Autobahnkreuz Frankfurt vorbeihuschten.

»Wir haben’s ja gleich geschafft«, sagte Saalfelder.

»Weißt du denn, wo das genau ist?«, fragte seine Begleiterin.

»Aber klar doch. Ich war ja schließlich schon ein paar Mal dort«, grinste er. »Kann nur sein, dass jetzt im morgendlichen Berufsverkehr ein bisschen Hektik herrscht.«

»Und die Jungs sind um diese Zeit schon ansprechbar?«

»Was heißt ›schon‹? Das sind Nachtvögel, die haben durchgearbeitet.« Saalfelder grinste.

Der Porsche zog jetzt kräftig an einer Kolonne von Lastzügen vorbei.

»Aber dann geh’n wir irgendwo frühstücken?«

»Klar, mein Mäuschen, wir werden es uns anschließend so richtig gemütlich machen.«

Zufrieden lächelnd lehnte sie sich zurück. Sie konnte sicher sein, dass ihr Beifahrer alles im Griff hatte.

In Eybachs Ortsmitte war inzwischen der weiße Zivilwagen der Kriminalpolizei eingetroffen. August Häberle, rund 20 Kilometer entfernt wohnhaft, war in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett geklingelt worden. Dumm gelaufen. Kurz vor Ende des Bereitschaftsdienstes ein Einsatz. Und so wie es aussah, auch noch ein Selbstmord, was er hasste, weil das stets mit großem Aufwand verbunden war. Und diese Geschichte hier in Eybach, davon war er bereits nach den ersten Schilderungen am Telefon überzeugt gewesen, sah ziemlich eindeutig nach einer Selbsttötung aus. Wer würde auch schon in aller Herrgottsfrühe einem Jogger auf dem Himmelsfelsen auflauern, um ihn dann in die Tiefe zu stürzen? Schwachsinnige Vermutung, hatte sich Häberle schon auf der Anfahrt gesagt. Jegliche Lebenserfahrung sprach dagegen. Und er hatte eine ganze Menge davon.

Dass der Tote keine Ausweispapiere bei sich trug, würde zusätzlichen Schreib- und Ermittlungskram nach sich ziehen.

Häberle, ein bisschen jenseits der 50 und ob seiner Leibesfülle oftmals unterschätzt, wenn’s um die Anwendung körperlicher Gewalt ging, ließ sich nichts von seiner Unlust anmerken, als er in Eybach aus dem Dienst-Audi stieg und die uniformierten Kollegen begrüßte.

»Obduktion ist ja klar«, stellte Häberle fest und unterdrückte ein Gähnen. Sein legeres, leichtes Freizeit-Jackett flatterte um den fülligen Oberkörper.

Missler nickte. Er hatte das bereits angeordnet, wie immer, wenn in freier Landschaft ein Selbstmord verübt wurde. Die Staatsanwaltschaft wollte Gewissheit.

Häberle erkannte, dass es nicht zu vermeiden war, sich selbst die Fundstelle des Toten anzusehen und den Frühsport auf sich zu nehmen.

Häberle war bei seinen Kollegen überaus beliebt, weil er kein Schwätzer war und zudem die Ärmel hochkrempeln und selbst zulangen konnte.

Als gebürtiger Göppinger war er lange Zeit beim Stuttgarter Landeskriminalamt gewesen und hatte dort die kniffligsten Fälle gelöst. Nur einen einzigen musste er ungelöst zurücklassen.

»Übrigens, der Chef kommt auch«, hörte er hinter sich die Stimme Misslers.

»Wer, der Bruhn?« Der Kripo-Mann drehte sich im Weggehen erstaunt um.

»Ja, mit dem Hubschrauber der Landespolizeidirektion. Die wollten eh’ einen Übungsflug machen und haben den Chef gefragt, ob sie ihn in Göppingen aufnehmen sollen, damit er sich Eybach mal aus der Luft ansehen kann.«

»Ich denk’, es wär’ wichtiger, Spuren zu sichern, als ein ›Lustflügle‹ zu machen«, murmelte Häberle unmutig. Dann ging er weiter in Richtung des beschriebenen Wanderwegs. Der Bruhn also, dachte er dabei, der ewig cholerische Chef, der keinen Widerspruch duldete, der jeden Paragrafen in- und auswendig kannte, aber im Umgang mit den Menschen oftmals die falschen Töne anschlug.

Während Häberle bereits außer Sichtweite war, hielt auf der Ortsdurchfahrt ein weißer Ford der Mittelklasse an, unbeeindruckt von den Zeichen eines Polizeibeamten, doch weiterzufahren. Der schwarzhaarige und bärtige Mann hinterm Steuer ließ das Seitenfenster nach unten gleiten und rief zu einem der Beamten hinüber: »Was ist denn hier los?«

Der Uniformierte erkannte sofort, wen er da vor sich hatte, und begrüßte den Oberbürgermeister namens Hartmut Schönmann.

»Guten Morgen, Herr Oberbürgermeister. Wir haben es vermutlich mit einem Selbstmord zu tun.«

»Um diese Zeit?« Schönmann verengte die Augenbrauen, ohne jedoch den optimistischen Gesichtsausdruck zu verlieren, den ihm die Bevölkerung stets nachsagte. Der junge Beamte winkte Missler herbei, der das Stadtoberhaupt ebenfalls begrüßte und sich über dessen frühes Auftauchen erstaunt zeigte.

Der Oberbürgermeister erklärte daraufhin, gerade von einer Dienstreise nach Berlin zurückzukommen. Als leidenschaftlichem Autofahrer habe es ihm Spaß gemacht, selbst stundenlang am Steuer zu sitzen.

In dem kleinen Örtchen Stötten, auf der kargen Hochfläche der Schwäbischen Alb gelegen und nur knapp einen Kilometer von dem Steilhang entfernt, der ins Tal von Eybach hinabfiel, hatte die Arbeit der Landwirte schon mit dem Morgengrauen begonnen. In den Ställen brummten die Melkmaschinen, Schweine grunzten und machten sich über ihr Fressen her. Ein strenger Geruch nach Mist und Stall hing in der Luft. Katzen huschten über die leere Straße, Vögel zwitscherten aufgeregt.

Die Landschaft um Stötten herum war von ausgedehnten Wiesen und Äckern geprägt, die hinterm Ort noch weiter anstiegen. Seit geraumer Zeit bereits hatten sich die Landwirte auf Raps-Anbau konzentriert. Jetzt, im Juni, waren die strahlend-gelben Blüten fast schon verblüht.

Der Anstieg hinterm Ort reichte bis auf 734 Meter Höhe hinauf, dem weit und breit höchsten Punkt. Dort hatten sich im Laufe der Zeit verschiedene Institutionen angesiedelt: die Telekom mit einem hohen Funkturm, der Deutsche Wetterdienst mit einer Wetterstation sowie ein Energie-Versorgungsunternehmen, das hier seit Langem Versuche mit Windkraft-Rotoren machte. Inzwischen hatten private Investoren ein halbes Dutzend riesige Windräder errichtet. Hier oben versprachen sie sich eine gute Rendite, da der Wind kalt und beständig blies.

Die Wetterstation befand sich im Obergeschoss eines Gebäudes, das dem Energie-Versorgungsunternehmen sporadisch für Schulungs- und Informationszwecke diente. Meist jedoch waren die Wetterdiensttechniker allein. Dass trotz automatischer Messgeräte noch immer ein Schichtdienst vor Ort notwendig war, hatten die Bediensteten dem nahen Flughafen Stuttgart zu verdanken, der die Daten der Alb-Wetterstation benötigte. Sechs Mann teilten sich den Dienst rund um die Uhr ein. Der Schichtwechsel war der einzige Moment, wo sich jeweils zwei Kollegen trafen. Es war eine ziemlich einsame Angelegenheit hier oben. Einzige Abwechslung bot das Wetter, das hier mit aller Macht toben konnte. Der verheerende Orkan ›Lothar‹ hatte am zweiten Weihnachtsfeiertag des Jahres 1999 den nahegelegenen Fichtenwald vollständig zerstört.

Martin Kälberer, ein Mann mittleren Alters, war müde, als er an diesem Junimorgen auf die Hochfläche hinausblickte, die gerade von den ersten Sonnenstrahlen getroffen wurde. Es war zehn nach sechs. Eigentlich hätte ihn sein Kollege Max Autenrieter längst ablösen sollen. Kälberer wunderte sich, wo er blieb. Wenn etwas dazwischen kam, das hatten die sechs Männer miteinander vereinbart, würden sie rechtzeitig Bescheid sagen. Doch Autenrieter hatte sich nicht gemeldet.

Kälberer setzte sich noch einmal an den Computer, um statistische Daten der vergangenen Junitage aufzurufen. Die Temperatur-Kurve zeigte nach oben. Und auch die vergangene Nacht war ungewöhnlich mild gewesen. Allerdings hatten die Tiefstwerte ausgereicht, dass sich zumindest auf der Hochfläche Tau bilden konnte.

Noch während sich der Wetterexperte mit den kurz geschnittenen Haaren und den beiden silbernen Ringen im linken Ohr in seine Daten vertiefte, hörte er, wie drunten die Haupteingangstür aufgeschlossen wurde. Er stand auf, packte eilig einige Utensilien in seine Aktentasche und ging seinem Kollegen ein Stück entgegen. Er hörte die Holztreppen knarren und hatte gerade die Tür zum Flur erreicht, als diese geöffnet wurde.

»Hey«, sagte Autenrieter, ein junger schlaksiger Kollege, der nun auch schon das dritte Jahr zur Mannschaft der Wetterstation gehörte.

»Hallo«, erwiderte Kälberer einsilbig. »Ich lass’ dich gleich allein. »Schönes Schaffen.«

»Entschuldige, ich hab’ mich ein bisschen verspätet.«

»Schon gut, macht ja nichts«, sagte der Nachtdienstler und ging an ihm vorbei die Treppe hinab.

Drunten im Tal lagen die Temperaturen bereits ein paar Grad höher. Der Leichenbestatter war inzwischen mit seinem schwarz-grauen Daimler-Kombi eingetroffen. Der diensthabende Kriminalist, August Häberle, kam gerade schweißnass vom Steilhang zurück, um seinem uniformierten Kollegen Missler die neuesten Erkenntnisse zu berichten: »Papiere hat der Tote keine dabei, nimmt ja auch kein Mensch zum Joggen mit. Aber die Rotkreuzler und die Feuerwehrleute meinen, ihn zu kennen.«

Missler staunte. »Und?«

»Wenn sich die Jungs nicht täuschen, dann handelt es sich um den Bruder von Stadtrat Fronbauer.«

»Ach?« Missler kannte den Stadtrat, ein angesehener Mann in der Stadt, wenn auch nicht ganz unumstritten. Die Polizisten und einige Schaulustige hatten zugehört und es entstand sofort ein Murmeln. Man witterte eine Sensation.

»Und was macht die Kollegen so sicher?«, fragte Missler nach.

»Der Mann soll in Ulm eine Diskothek betreiben, offenbar einen beliebten Schuppen.« Häberle wischte sich den Schweiß von der Stirn und spürte, wie Hemd und Jackett am Körper klebten.

»Angehörige? Verheiratet?«, fragte Missler nach.

»Nein, der Mann war Single.«

»Das heißt, wir müssen seinen Bruder ausfindig machen?«

»Sieht ganz danach aus«, erwiderte der Kriminalist. Er hasste diese Aufgabe. Nichts war ihm in all den Jahren seiner Tätigkeit unangenehmer, als Angehörige von Verstorbenen zu verständigen. »Haben Sie eine Ahnung, wo wir den Bruder finden?«

»Ja, ich denke schon«, sagte Missler. »Der ist Immobilien- und Finanzmakler, wohnt droben im Stadtbezirk Weiler, hat sein Büro in der Stadtmitte, in der Karl­straße.«

»Na super, wenn Sie das so gut wissen, dann übernehmen Sie das«, atmete Häberle auf und verzog das Gesicht zu einem leichten Grinsen. Man konnte ihm dann einfach nicht böse sein.

Inzwischen waren auch der Lokaljournalist Georg Sander und Polizei-Pressesprecher Uli Stock wieder vom Steilhang zurückgekehrt. Sie hatten bereits erfahren, um wen es sich handelte, aber Sander witterte keine große Story.

Als der Geländewagen durch den gemauerten Torbogen in den Hof des Eybacher Schlosses einbog, stutzte der Mann am Steuer nur kurz. Er war durch das wild romantische Roggental gekommen, so hieß die Landschaft hinter dem Ort. Wenn man am Ortseingang von der Durchgangsstraße abbog, führte sie direkt am historischen Schloss vorbei, das sich hier unterm Himmelsfelsen an den Steilhang schmiegte. Mehr als 200 Jahre war es inzwischen alt, denkmalgeschützt und noch immer von einem Grafengeschlecht bewohnt, das sich rühmte, direkter Nachfahre der Schloss-Erbauer zu sein. Außerdem gab es in der Familie einige bedeutende Kämpfer und Krieger, die seit Jahr und Tag, in Öl gemalt, die hohen Wände der Säle und Korridore zierten. Das Bauwerk, zwei Stockwerke hoch und in L-Form einen Innenhof umschließend, umfasste gut und gerne 50 Zimmer. Bewohnt waren jedoch nur wenige, pflegte Gotthilf Graf von Ackerstein, der 75-jährige Senior des Hauses, immer zu betonen, wenn er danach gefragt wurde. Die meisten Zimmer nämlich waren überhaupt nicht an eine Zentralheizung angeschlossen und deshalb äußerst ungemütlich. Denn selbst an Tagen wie dem heutigen sorgte das altehrwürdige Gemäuer dafür, dass keine Hitze eindringen konnte. Investieren wollte die gräfliche Familie, der äußerste Sparsamkeit nachgesagt wurde, ohnehin nur, was unbedingt notwendig war.

Der alte Graf hatte beim Einfahren in den Schlosshof drüben vor dem Rathaus mehrere Einsatzfahrzeuge mit zuckenden Blaulichtern gesehen. Zudem hatten ungewöhnlich viele Menschen den Platz in der Dorfmitte bevölkert. Der Graf gab noch einmal Gas und ließ seinen Wagen über den Kies des Innenhofs rollen.

Sander fuhr noch einmal kurz nach Hause. Er hatte, als die vielen Sirenen durchs Tal gehallt waren, Hals über Kopf die Wohnung verlassen.

Jetzt wollte er noch rasch einen Schluck Kaffee trinken.

Kurz nach neun betrat er dann die Redaktionsräume der ›Geislinger Zeitung‹. Von seinem Schreibtisch aus hatte er einen herrlichen Blick über die Fußgängerzone, die aus dieser Perspektive vom historischen Alten Rathaus und dessen Türmchen dominiert wurde. Sander war um diese Zeit der Einzige in der Redaktion. Seine Kollegen pflegten in der Regel erst später zu kommen. Dafür saßen sie am Abend noch vor ihren Bildschirmen, während er dann bereits durch die Wälder streifte oder sich mit dem Fahrrad über eine der vielen Steigen auf die Hochfläche schindete.

Er liebte die Frische eines Sommermorgens genauso wie die abendliche Dämmerung, wenn die Sonne tief stand und die Landschaft in ein sanftes Licht eintauchte.

Er schaltete seinen Computer ein und sortierte unzählige handbeschriebene Blätter. ›Altlasten‹, wie er zu sagen pflegte, wenn Notizen herumlagen, aus denen irgendwann ein Artikel werden sollte. Die jüngst erfolgte Schließung der städtischen Grünmasse-Sammelplätze hatte kommunalpolitische Wogen geschlagen. Während die Mehrheit des Gemeinderats diese Maßnahme aus Kostengründen befürwortete, hatte sich Stadtrat Daniel Fronbauer immer wieder ganz energisch dagegen ausgesprochen. Aber der, dachte sich Sander, würde am heutigen Tag wohl andere Probleme haben.

Daniel Fronbauer hatte die Klima-Anlage seines Daimlers eingeschaltet. Obwohl es erst kurz vor zehn war, lag eine gewaltige Schwüle über dem Land. Den Termin auf der Heidenheimer Baustelle hatte er inzwischen auch bewältigt. Es war allerdings schwierig gewesen, den dortigen Bauherrn von einer Kostensteigerung zu überzeugen.

Nun war der Immobilien- und Finanzmakler auf dem Weg nach Ulm. Dort wartete ein Kunde, dem er am Telefon einen Vorschlag zu einer lukrativen Geldanlage unterbreitet hatte. Der Mann wohnte im Stadtteil Böfingen, einem Baugebiet aus den späten 60er-Jahren, hoch über der Donau. Die Adresse führte Fronbauer in eine kleine Wohnstraße mit Reihenhaus-Bebauung und blühenden Vorgärten. Gerade als der Immobilien- und Finanzmakler seinen Daimler einparken wollte, spielte sein Handy am Armaturenbrett die ihm wohlbekannte Melodie. Fronbauer drückte eine Taste. »Ja?«

»Entschuldigen Sie, Herr Fronbauer.« Es war die deutlich aufgeregte Stimme seiner Sekretärin, »aber die Polizei möchte Sie sprechen. Sie sollen dringend zum Polizeirevier nach Geislingen kommen.«

»Wieso das denn?« Fronbauer versuchte, energisch und geschäftlich zu wirken, wie man dies von ihm gewohnt war.

»Sie haben es mir nicht gesagt. Es sei aber äußerst wichtig.«

Er überlegte einen kurzen Moment. »Wie wichtig?«

»Tut mir leid, man hat es mir nicht gesagt.«

»Okay.« Er drückte die rote Aus-Taste und blieb mit verengten Augenbrauen sitzen. Unter diesen Bedingungen konnte er sich nicht auf das Kundengespräch konzentrieren. Er stieg aus, ging zur Haustür, klingelte und bat den jungen Mann, der öffnete, um Verständnis, dass die Besprechung verschoben werden müsse. Er versprach, sich bald zu melden.

3

Harry Saalfelder und Susann Stahlecker hatten ihr Ziel in der Frankfurter Innenstadt längst erreicht. Die Sonne brannte unbarmherzig vom Himmel und ließ den Asphalt bereits weich werden. Den Porsche hatte Saalfelder kurzerhand ins Halteverbot gestellt, damit sie beide nicht so weit bis zu der kleinen ›Orion‹-Bar zu gehen brauchten. Das Lokal, eingezwängt zwischen zwei kleinen Boutiquen, war noch geschlossen. Saalfelder wusste jedoch, wo sich die versteckte Klingel befand. Augenblicke später wurden von innen mehrere Schlösser entriegelt, ehe ein 1,90-Meter-Mann die Tür öffnete.

»Hi, Bomber«, sagte Harry Saalfelder. Der so Angesprochene grinste erfreut. Auf seinem kahlgeschorenen Kopf glänzte der Schweiß.

»Hi, Leute«, sagte der Kleiderschrank, der als Türsteher oder Bodyguard sein Geld verdienen konnte.

»Das ist Susann, unser bestes Pferdchen«, sagte Harry und deutete grinsend auf das miniberockte Mädchen, das ebenfalls die Mundwinkel zu einem Lächeln verzog.

»Hi«, sagte sie knapp.

»Freut mich«, grinste der Kleiderschrank und bat die beiden Besucher ins Innere der finsteren Kneipe. Die Luft war stickig-feucht und es roch nach Zigarettenqualm. Hinterm Tresen kam ein zweiter Mann hervor, ebenfalls jung, jedoch deutlich schlanker als der Türöffner und die schwarzen Haare zu einem Zopf gebunden.

»Hi«, rief er den Ankömmlingen zu und ging ihnen entgegen.

»Hi, Jack«, sagte Harry Saalfelder und stellte seine Begleiterin vor, die neckisch ihr kurzes Röckchen glatt strich.

»Ihr seid früh dran«, meinte Jack und führte seine Gäste in eine noch dunklere Ecke, wo um einen runden Tisch vier Stühle gruppiert waren. Der Kleiderschrank knipste ein Licht an, das den Raum nur notdürftig erhellte.

»Wollt ihr was trinken, ’ne Cola oder so bei dieser Hitze?«, fragte Jack, um, grinsend an Harry gewandt, hinzuzufügen: »Deine Begleiterin ist ja wenigstens luftig angezogen.« Susann grinste vielsagend.

»Ja, ’ne Cola, zwei«, orderte Harry knapp. Der Gastgeber gab den Auftrag an den Kleiderschrank weiter, der die Getränke herbeischaffte.

»Ihr seid also heut’ schon von Ulm hergedüst, dann seid ihr ja verdammt bald aus den Federn gekrochen, was?«, sagte Jack und zündete sich eine Zigarette an.

»Was tun wir nicht alles fürs Geschäft«, entgegnete Saalfelder.

»Mit dieser Begleiterin könnte ich mir das auch vorstellen.«

Susann lächelte wieder.

»Zur Sache, Jack, du weißt, wie es zu laufen hat?«, fragte Saalfelder kühl.

»Der Chef hat’s ja lang und breit vorgebetet«, sagte Jack und zog genüsslich an seiner Zigarette.

»Und?«

»Na klar, wie besprochen. Her mit der Kohle, dann die Ware.« Jack lachte laut.

»Diesmal ist’s verdammt viel Kohle. Deshalb geh’n wir auch auf Nummer sicher. Kein Misstrauen, Jack, nur reine Vorsicht.«

»Sag’ deinem Chef, dass er ein alter Hosenscheißer ist«, brauste Jack plötzlich ungehalten auf, »hab’ ich euch blöde Schwabenheinis jemals über’n Tisch gezogen, verdammt noch mal?«

»Nein, Jack, versteh’ uns bitte nicht falsch …«, versuchte Saalfelder sein Gegenüber zu besänftigen.

»Quatsch«, wiegelte Jack ab und wurde wieder ruhiger, »wir können die Sache ja nochmals durchgehen, wenn du drauf bestehst.« Er griff sich mit der linken Hand nervös an den Zopf. Unterdessen beäugte der Kleiderschrank von der dunklen Theke aus die Szenerie.

»Wär’ mir recht, Jack«, versetzte Saalfelder und nahm einen Schluck aus seinem Glas.

»Also, pass auf«, fuhr Jack fort, »wir machen das wie immer. Wenn die Kohle hier auf dem Tisch liegt, cash und bis zum letzten Cent, ich nehm doch an, du hast sie dabei, dann läuft das übliche Programm ab: Kleinbus in der Tiefgarage und ab geht die Post zur Donau. Und zwar heute Abend, im Schutze einer Sommernacht.« Jack betonte den letzten Satz, als verlese er eine romantische Geschichte.

»Nicht hier drin«, entgegnete Saalfelder, »das ist mir zu heiß. Drunten in der Tiefgarage.«

Jack überlegte, blickte zum Kleiderschrank hinüber und willigte zögernd ein.

Saalfelder war zufrieden, fügte dann aber hinzu: »Der Chef will, dass ich den Transport begleite.«

Jack runzelte die Stirn, was Saalfelder trotz des fahlen Lichts erkennen konnte. »Wie? Du willst bis heute Abend bleiben?«

»Ja. Stört dich das? Wir haben in Frankfurt noch was zu erledigen und außerdem«, das fügte er grinsend hinzu »werden wir uns schon die Zeit vertreiben.«

»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Jack und sah, wie die Schöne wieder lächelte. Sie schien ohnehin nur zu lächeln. Gesagt hatte sie noch kein einziges Wort.

Jack fuhr fort: »Ich weiß zwar nicht, was dieses komische Gehabe von deinem Boss jetzt soll, aber wenn er drauf besteht, hab’ ich da kein Problem damit. Nur die Knete muss stimmen, hast du das kapiert?«

»Keine Sorge«, sagte Saalfelder, »ich will auch gar nicht sehen, wer die anderen sind, verstehst du? Ist uns scheißegal. Ich will nur sehen, dass der Transport klar geht, und Susann und ich zuckeln dann mit unserem Porsche hinterher, immer schön mit Abstand, damit nichts auffällt.«

»Ihr könnt mit dem Fahrer in Handy-Kontakt bleiben, meinetwegen, hab’ da kein Problem, glaub’ mir.«

»Na also, dann sind wir uns ja einig.«

»Und die Kohle?«

»Heut’ Abend, wenn’s losgeht, cash auf die Hand, wie mit dem Chef vereinbart.«

»Okay, sagen wir um neun hier?«

»Okay, Jack, wir kommen als Gäste rein, dezent unauffällig, und wir erledigen die Sache unten.«

»Geht klar.«

»Hat die Dame eigentlich auch eine Stimme?«, fragte Jack.

Susann lächelte. »Klar doch, was hast du denn gedacht?«

»Dir zuliebe würde ich grad mal nach Ulm kommen«, meinte der und ließ seinen Blick anzüglich über ihre Schenkel wandern.

»Tu’s doch, ich würd’ mich freuen«, hauchte die.

»Freu dich nicht zu früh, Mädchen, unsereiner hat nämlich seine eigenen Vorstellungen …«

Sie standen auf und verabschiedeten sich. Auch der Kleiderschrank, der noch immer hinterm Tresen gewerkelt hatte, schüttelte ihnen die Hände. Er entriegelte wieder die Eingangstür und entließ die beiden Gäste in die Hitze des Vormittags.

»Noch’n schönen Tag in Frankfurt«, rief Jack ihnen nach.

»Werden wir haben«, erwiderte Harry.

»Und denkt dran: Es ist ganz schön heiß, heut«, hörten sie Jacks Stimme, die dann in ein breites Lachen überging.

August Häberle, der Kripo-Beamte, den nichts so schnell erschüttern konnte, war von Eybach aus zu seinen Außenstellen-Kollegen nach Geislingen gefahren. Die hatten inzwischen auch ihre Arbeit aufgenommen und ließen sich von dem nächtlichen Bereitschaftsdienstler, der den ganzen Kreis Göppingen abdecken musste, über die Vorkommnisse in Eybach informieren. Die Beamten staunten zunächst über den mutmaßlichen Namen des Opfers. Sie alle kannten schließlich den Bruder, den Stadtrat, für den der Selbstmord, wie sie allesamt meinten, ein schwerer Schlag sein musste.

Häberle machte deutlich, was er von diesem erwartete: »Er muss ihn identifizieren. Möglichst schnell. Allerdings ist er unterwegs. Seine Sekretärin versucht ihn zu erreichen. Ich hab’ ihr gesagt, er solle sich bei uns melden.«

Vier Kripo-Kollegen hörten aufmerksam zu. Darunter auch Franz Walda, der Leiter der Kriminal-Außenstelle.

Walda, ein stattlicher Mann mit spärlichem blonden Haarwuchs und durchtrainiertem Körper, war stets erfreut, wenn er auf die hohe Aufklärungsquote in seinem Zuständigkeitsbereich verweisen konnte. Kollegen aus den Großstädten hielten ihm allerdings vor, dass die Qualität der Kriminalfälle auch keinesfalls mit jener von Frankfurt oder Berlin zu vergleichen sei. Wenn man den Beamten ärgern wollte, dann brauchte man ihm nur zu bedenken zu geben, dass ›die paar Hasendiebstähle‹ locker aufzuklären seien.

»Und, wie sieht’s aus, Kollege Häberle. Kommt da was auf uns zu?«, wollte er wissen.

»Glaub’ ich nicht, sieht alles ganz klar aus. Ich werd’ mich bald wieder auf die Socken talabwärts machen.«

»Dir ist aber bewusst, dass wir es, wenn es wirklich dieser Fronbauer wäre, mit keinem ganz normalen Fall zu tun hätten.«

»Selbstmord ist Selbstmord, lieber Franz.« Häberle zeigte Gelassenheit.

»Schon, aber Gerüchte entstehen manchmal schneller als uns lieb ist.«

Jetzt schaltete sich ein jüngerer Kollege ein: »Der Disco-Heini ist bei den jungen Leuten bekannt wie ein bunter Hund, außerdem ist er von hier.«

Ein weiterer Kripo-Mann fügte hinzu: »Und das feinste Milieu soll’s ja auch nicht gerade sein, so eine Disco, oder?«

»Kollegen«, sagte Häberle mit der Erfahrung und Klugheit eines langjährigen Kriminalisten, »wenn er vom Felsen springt, ist das seine Sache. Und ob der dann ein Disco-Guru ist oder der Kaiser von China, das kann uns ziemlich wurscht sein.«

Walda überlegte kurz und fragte: »Habt ihr denn mal auf den Felsen raufgeschaut, ich meine, war jemand auf dem Plateau oben?«

Häberle stutzte für einen Augenblick. Er war, um ehrlich zu sein, schon froh gewesen, in dieser Schwüle bis an den Fuß der Felswand gekommen zu sein. »Nein, wir haben uns nur bis zum Toten vorgekämpft«, erklärte Häberle, der spürte, dass sein Hemd noch immer schweißnass war

»Im Übrigen ist der Chef drübergeflogen.«

»Der Bruhn?« Walda verengte die Augenbrauen.

»Ja, mit der LPD, hat wohl ein Ausflügle gemacht, im wahrsten Sinne des Wortes …« Häberle grinste übers ganze Gesicht.

»Ich bin mir nicht so sicher, ob man vom Hubschrauber aus wichtige Spuren sehen würde«, meinte Walda und verzog das Gesicht zu einem dezenten Grinsen.

Häberle überlegte kurz. Warum eigentlich nicht mal rauffahren? Von der Hochfläche her, das wusste er von seinen ausgedehnten Wanderungen, gab es Feldwege und Holzabfuhrwege. »Meiner Ansicht nach ist die Situation eindeutig: Der Jogger ist runtergehüpft oder er ist ausgerutscht, ich denke, dass wir keine Täterspuren suchen müssen«, sagte er, um dann hinzuzufügen: »Aber es kann ja nichts schaden, an so einem traumhaften Sommermorgen mal da hochzufahren.«

»Fahren?«, entfuhr es einem der anderen Kollegen, »Herr Häberle, das ist ein Wandergebiet, da braucht man einen Traktor oder einen Jeep.«

»Kollege, ich kenn’ mich in unserem Gelände aus. Da gibt’s genügend Feldwege von der Hochfläche, von Stötten her. Natürlich muss man noch einen halben Kilometer zu Fuß gehen, aber das werden wir doch wohl packen, oder? Ist doch ein wunderschöner Tag heute.«

»Okay, Herr Häberle«, sagte der Kriminal-Kollege und zeigte sich wenig interessiert daran, jetzt irgendwo im Wald irgendwelche nicht vorhandene Spuren sichern zu müssen, »ich werd’ dann mal hier den Papierkram erledigen und hoffen, dass dieser Fronbauer-Bruder bald auftaucht.«

»Und wer kommt mit mir?«, fragte Häberle in die Runde der restlichen Kollegen. Kurzes Zögern, dann meldete sich der jüngste, Mike Linkohr, seit zwei Jahren erst bei der Kripo und voller Tatendrang. Schon als er noch bei der Schutzpolizei war, hatte er sich auf nächtliche Einsätze in Stuttgart-Mitte gefreut. Jetzt, in der äußersten Provinz, erschien ihm die Arbeit ziemlich eintönig. Endlich mal wieder raus ins Gelände, dachte er sich.

Im Geislinger Rathaus trafen sich an diesem Spätvormittag die Vorsitzenden der Gemeinderatsfraktionen. Wann immer ein schwieriges Problem anstand, bat der Oberbürgermeister diese Runde zu einem Gespräch, außerhalb der offiziell anberaumten Sitzungen, um die Fronten abzustecken. Die Bürgerlichen und die Konservativen waren bereits vertreten, die Fraktions-Chefs der Linken und der Umweltschützer-Partei trafen mit ein paar Minuten Verspätung ein. Oberbürgermeister Hartmut Schönmann hatte an diesem Morgen gerade mal drei Stunden Zeit gefunden, sich frisch zu machen und sich ein bisschen aufs Ohr zu legen. Er war es gewohnt, hart zu arbeiten. Seit die Sparmaßnahmen in den öffentlichen Verwaltungen immer heftiger wurden, hatte man die Stelle eines engen Mitarbeiters nach dessen Kündigung nicht mehr besetzt. Seither blieb mehr und mehr an dem Oberbürgermeister selbst hängen. Noch machte ihm, der erst vor vier Jahren gewählt worden war, der Job Spaß. Auch wenn er sich oftmals über das parteipolitische Gezänk auf kommunaler Ebene maßlos ärgerte.

Er begrüßte die vier Fraktionsvertreter. Daniel Fronbauer durfte als parteiloser Einzelstadtrat an diesen Besprechungen nicht teilnehmen, was diesem regelmäßig die Zornesröte ins Gesicht trieb.

»Meine Herren«, begann der jugendlich wirkende Oberbürgermeister sein Statement, »ich bedanke mich, dass Sie die Zeit gefunden haben, kurz vorbeizuschauen. Es geht, wie ich Ihnen bereits am Telefon angedeutet hatte, um die Sanierung unserer so genannten Oberen Stadt.« Er holte mehrere DIN-A4-Kopien von Lageplänen aus einer Klarsichthülle heraus und fuhr fort: »Wir haben da ein kleines Problem.«

Die vier Männer hörten aufmerksam zu: Volker Träuble von den Konservativen, Reinhold Bund von den Bürgerlichen, Hansjörg Völs von den Linken und, der Jüngste in der Runde und betont lässig-leger gekleidet, Bernd Stähle von den Umweltschützern. Sie wussten: Wenn der Oberbürgermeister einmal das Wort »Problem« in den Mund nahm, dann galt es wirklich, eine schwere Nuss zu knacken. »Ich möchte Sie auch nur informieren«, fuhr Schönmann fort, »wir können nichts beschließen und auch nichts in die Wege leiten. Sie sollen lediglich über den ›Stand der Dinge‹ informiert werden.«

In der historischen, sogenannten Oberen Stadt rund um die Kirche bemühte sich die Verwaltung seit Langem, die vom Verfall bedrohten Gebäude zu sanieren. Auch das Landesdenkmalamt hatte bereits mehrfach Sanierungsmaßnahmen angemahnt und die Besitzer teilweise aufgefordert, dringend notwendige Reparaturen vornehmen zu lassen, um die Substanz der mittelalterlichen Häuser zu retten.

Schönmann zog aus einem großen Kuvert ein Schreiben heraus, das mit einem goldenen Briefkopf versehen war.