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Die einst so lebensfrohe Bäuerin Bianca Sarnauer ist nicht mehr wiederzuerkennen. Doch wenn man sie nach dem Grund für ihr schlechtes Aussehen und die tiefe Traurigkeit in ihren Augen fragt, schweigt sie beharrlich. Nicht einmal Severin, ihrem Ehemann, vertraut sie an, was sie von einem Tag auf den anderen so verstört hat. Im Gegenteil, sie lehnt nicht nur seinen Trost an, sondern sie lässt sich auch nicht mehr von ihm in die Arme nehmen. Seine Zärtlichkeiten scheinen ihr sogar zuwider zu sein.
So zieht er sich hilflos von ihr zurück, und schleichend tritt eine Entfremdung zwischen dem einst so harmonischen Paar ein. Was ist bloß geschehen?
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Seitenzahl: 133
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Eine bittere Erkenntnis
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Impressum
Eine bittere Erkenntnis
In ihrer Ehe denkt sie an einen anderen Mann
Von Rosi Wallner
Die einst so lebensfrohe Bäuerin Bianca Sarnauer ist nicht mehr wiederzuerkennen. Doch wenn man sie nach dem Grund für ihr schlechtes Aussehen und die tiefe Traurigkeit in ihren Augen fragt, schweigt sie beharrlich. Nicht einmal Severin, ihrem Ehemann, vertraut sie an, was sie von einem Tag auf den anderen so verstört hat. Im Gegenteil, sie lehnt nicht nur seinen Trost ab, sondern sie lässt sich auch nicht mehr von ihm in die Arme nehmen. Seine Zärtlichkeiten scheinen ihr sogar zuwider zu sein.
So zieht er sich hilflos von ihr zurück, und schleichend tritt eine Entfremdung zwischen dem einst so harmonischen Paar ein. Was ist bloß geschehen?
»Was, du willst morgen net mitkommen zum Tanz in den Mai?«, rief Anneli Hofner aus und starrte ihre Freundin Bianca fassungslos an. »Du warst doch sonst immer dabei, und wir hatten eine rechte Freud'.«
»Ja, ich tät ja auch gern wieder mit euch feiern, aber es geht halt net ...«
Bianca warf einen bezeichnenden Blick in Richtung Stube, und Anneli verstand sofort. Es ging der Bäuerin, Biancas geliebter Mutter, also wieder schlechter, und die Tochter wollte für sie da sein.
Doch die Tür der gemütlichen Küche, in der sich die Freundinnen aufhielten, stand offen, sodass die Bäuerin wohl jedes Wort verstanden hatte.
»Bianca«, rief sie mit schwacher Stimme.
Das Mädchen eilte sofort zu ihr.
»Soll ich dir etwas zu trinken bringen?«, fragte sie besorgt.
Die Bäuerin richtete sich halb auf, was sie einige Anstrengung kostete. Seitdem eine heimtückische Krankheit von ihr Besitz ergriffen hatte, war sie auf ein Sofa in der Stube gebettet worden, sodass sie weiterhin an allem Anteil nehmen konnte. Nachts lauschte sie den gewohnten Geräuschen des alten Hauses, dem Knarzen und Knacken des Holzes und dem Aufrauschen des Hausbaums, wenn der Wind durch die Krone fuhr.
Wie immer durchfuhr Bianca ein heftiger Schmerz, als sie sah, wie sehr ihre Mutter innerhalb kürzester Zeit gealtert war. Sie war gerade Anfang vierzig gewesen, eine blühende, schöne Frau, als sie die ersten Anzeichen der Krankheit verspürte, einer Krankheit, die nun unbarmherzig fortschritt und ihr jede Kraft geraubt hatte.
»Nein, ich hab alles, was ich brauche. Aber ich hab gehört, dass du net mit der Anneli tanzen gehen willst.«
»Ja, weil der Vaterl auf der Tagung des Bauernverbands ist. Ich kann dich doch net allein lassen«, fiel ihr Bianca ins Wort.
»Die Staller-Marie kann zu mir kommen, damit du beruhigt bist. Ich will net, dass du die schönsten Jahre deines Lebens an meinem Krankenbett verbringst. Diese Zeit geht so schnell vorbei ...«
Die Bäuerin sank wieder in die Kissen zurück, das Sprechen hatte sie sehr angestrengt, und ihr Atem ging röchelnd.
Bianca griff nach ihrer Hand, die sich kalt anfühlte. Ein Schauer lief über ihren Körper, als ob sie schon den nahenden Tod ihrer Mutter fühlte. Sie kehrte zu ihrer Freundin in die Küche zurück und versprach ihr, auch dieses Mal wieder am Maitanz teilzunehmen.
Anneli umarmte die Freundin.
»Die Ablenkung wird dir gut tun«, meinte sie.
»Aber ich werd' net lang bleiben. Die Staller-Marie will schließlich auch net so spät nach Hause kommen«, erwiderte Bianca.
Anneli betrat die Stube und verabschiedete sich von der Bäuerin, wobei sie mühsam ihr Erschrecken über den Anblick, den diese bot, verbarg.
»Pass gut auf meine Bianca auf, Anneli«, sagte sie mit brüchiger Stimme.
»Ich schlag' doch einen jeden in die Flucht«, lachte Anneli. »Denk nur dran, wie ich es dem Stettner-Engelbert heimgezahlt hab, als er die Bianca so geplagt hat.«
Der schwache Abglanz eines Lächelns erschien auf dem Gesicht der Bäuerin. Engelbert Stettner, meistens höhnisch »Engerl« genannt, war schon als Grundschüler ein richtiger kleiner Schulhofschläger gewesen. Besonders auf die schüchterne Bianca hatte er es abgesehen. Oft hatte er ihr aufgelauert, sie erschreckt und an den Haaren gezogen. Einmal hatte er ihr sogar einen ihrer Zöpfe abgeschnitten.
Als Anneli, die ein sehr kräftiges Mädchen war, ihn dabei ertappt hatte, hatte sie sich über ihn geworfen und ihm ein paar ordentliche Watschen verpasst. Und damit nicht genug, sie hatte ihn auch noch unter dem Hohngeschrei der anderen Kinder an einem Bein quer über den Hof gezogen. Erst dann hatte sie von ihm abgelassen, nachdem sie ihm noch ein paar Drohungen ins Ohr geflüstert hatte.
Anneli küsste die Bäuerin auf die Wange, lief aus dem Haus und stieg in ihren roten Kleinwagen, auf den sie sehr stolz war.
»Die Anneli ist immer noch so ein Wirbelwind«, sagte die Bäuerin flüsternd zu ihrer Tochter.
»Da hast du recht. Anneli ist die beste Freundin, die man haben kann – eine Freundin fürs Leben.«
Nachdem Bianca ihre Mutter versorgt hatte, hielt sie ihre Hand und wartete, bis die Leidende endlich in einen tiefen Schlaf gesunken war.
***
»Anneli! Könntest du ein bisserl langsamer fahren? Du bist über die Kreuzung gerauscht und hast net nach rechts oder links gesehen. Du kannst doch net allen die Vorfahrt nehmen«, rief Bianca aus.
»Ach, die sehen mich doch alle mit meinem feuerwehrroten Wagerl«, gab Anneli zurück und lachte übermütig.
»Du meinst, die weichen dir alle aus.«
Auch das beeindruckte Anneli nicht, auf gerader Strecke erhöhte sie sogar noch ihre Geschwindigkeit. Es war eine Prüfung, mit Anneli zu fahren, die bis jetzt anscheinend immer einen Schutzengel gehabt hatte.
»Ich hab gehört, irgendetwas soll mit dem Maibaum net stimmen, aber Genaues weiß ich net. Wir werden ja sehen«, bemerkte Anneli beiläufig und schnitt einen entgegenkommenden Wagen, als sie die Abzweigung nahm.
Der Fahrer drohte ihr mit der Faust und beschimpfte sie lautstark.
»Lern erst mal fahren, du bleede Bixen!«, schrie er zuletzt.
»Ich steig gleich aus und bring dir Manieren bei!«, erwiderte Anneli nicht weniger lautstark.
Daraufhin gab ihr Kontrahent Gas und war mit aufheulendem Motor so schnell verschwunden, als wäre er auf der Flucht.
»So muss man mit den Mannsleuten umgehen«, sagte Anneli befriedigt.
Bianca seufzte nur.
Aber wenigstens erreichten sie den kleinen Gebirgsort Richthausen ohne weitere Zwischenfälle, und Anneli parkte den Wagen in einer Seitengasse. Dann schlenderten die Freundinnen zum Ort des Geschehens, dem Marktplatz, wo einmal in der Woche die Bauern und Bäuerinnen ihre Erzeugnisse an Ständen anboten.
Heute sollte dort allerdings der Maitanz stattfinden, der besonders bei den jungen Leuten beliebt war. Eine Trachtenkapelle hatte schon am Rand Aufstellung genommen, und die Burschen und Madln scharten sich um den Maibaum.
Ein Maibaum, mit dem offensichtlich etwas nicht stimmte.
»Jesses!«, stieß Bianca hervor.
»Die Hundlinge aus dem Nachbardorf sind auf den Betriebshof geschlichen und haben den Maibaum mit der Säge ein gutes Stückerl kürzer gemacht. Das ist nun eher ein Zwergenbaum.«
Anneli war sehr erbost über diesen hinterhältigen Anschlag.
»Das werden aber schwierige Verhandlungen«, meinte Bianca und betrachtete voller Bedauern den einst so prächtigen Stamm.
Zwischen den Burschen der benachbarten Orte Siebeneichen und Richthausen war es ein langer Brauch, herauszubringen, wo der jeweilige Maibaum untergebracht war und ihn dann zu stehlen. Allerdings blieb er unversehrt und nach einer »Rückerstattungsgebühr« von etlichen Kästen Bier wieder feierlich übergeben. Zu Streitigkeiten oder sogar Handgreiflichkeiten war es dabei noch nie gekommen; meistens wurden die Burschen, die sich an der ganzen Aktion beteiligt hatten, noch zu einem Umtrunk eingeladen.
Doch dieses Mal war es ganz anders. Die Stimmung war bereits sehr aufgeheizt, und einige Burschen schworen Rache. Der verkürzte Maibaum war zwar aufgestellt und mit den Zunftschildern geschmückt worden, aber er wirkte irgendwie kümmerlich und fast ein wenig lachhaft.
»Drüben in Seehofen ist der Maibaum völlig verschwunden, wahrscheinlich hat man ihn ins Wasser geworfen. Nun haben sie ein halbverdorrtes Birkenstämmchen mitten im Ort aufgestellt, aber niemand hat Lust, dort zu tanzen«, berichtete Anneli.
»Die haben aber ein Pech! Letztes Jahr wurde der Stamm von Insekten befallen, sodass man ihn net hat aufstellen können. Da müssen wir mit unserem Zwergerl noch zufrieden sein«, meinte Bianca.
Plötzlich erspähte Anneli aus den Augenwinkeln ihren Erzfeind, den Stettner-Engelbert, der mit ein paar seiner gleichgesinnten Spezln zusammenstand und offensichtlich wieder einmal am Mauscheln war.
»Grüß dich, Engerl«, rief Anneli ihm zuckersüß zu.
Engelbert schrak zusammen, wandte sich ihr dann aber zu. Sein Blick wanderte neugierig über ihre Gestalt, und Anneli ahnte schon, was als Nächstes kam.
»Jessas! Du wirst fei nie einen Mann abbekommen, denn wenn er dich über die Schwelle trägt, dann bricht er tot zusammen.«
»Ach, Engerl«, flötete Anneli, »ich möchte' dich so gern heiraten. Nichts tät mir besser gefallen, als deine Witwe zu sein.«
Engelberts Spezln brachen in lautes Gelächter aus.
Engelbert verfärbte sich, dann schweiften seine Blicke zu Bianca. Alle nannten sie »die schöne Bianca«, denn aus dem schüchternen Mädchen mit den Rattenzöpfen war eine bezaubernde junge Frau geworden, die alle in ihren Bann zog. Auch Engelbert, der sie früher so verspottet hatte, starrte sie nun hingebungsvoll an. Warum hatte er sich damals immer so aufgeführt? Frauen waren nachtragend, und das hatte sie ihm bestimmt nicht verziehen.
»Die will dich ganz bestimmt net haben«, kam es höhnisch von Annelis Lippen, »die Bianca hat etwas Besseres als dich verdient.«
»Seid's stad«, sagte Bianca und zog ihre Freundin von Engelbert und seinen Spezln weg. »Warum musst du dich immer wieder mit ihm anlegen? Du weißt doch, dass der Stettner-Engelbert unbelehrbar ist.«
»Ach, es macht mir halt Spaß«, gab Anneli zurück.
»Ist es wirklich nur das?«, fragte Bianca zweifelnd.
Darauf gab Anneli keine Antwort, sondern sie zog ihre Freundin weiter zu dem Maibaum, damit sie das ganze Ausmaß des Schreckens in Augenschein nehmen konnten. Allerdings nahmen die meisten jungen Leute es inzwischen von der heiteren Seite. Man würde sich den Tanz in den Mai nicht dadurch vergällen lassen!
Die Musikanten stimmten ihre Instrumente, die Paare fanden sich, soweit sie nicht schon zusammen gekommen waren.
Engelbert steuerte beherzt auf Bianca zu, doch als er sie zum Tanz aufforderte, schob sie ihn in Richtung ihrer Freundin unter dem Vorwand, sie habe schon einem anderen den ersten Tanz versprochen.
Es blieb ihm nichts anderes übrig, als den Arm um Anneli zu legen, denn es wurde ein langsamer Walzer angestimmt. Um sie wieder einmal in Zorn zu versetzen, zog er sie eng an sich, und zu seiner Überraschung strebte sie nicht von ihm weg. Und eigentlich fühlte sie sich sehr gut an, nicht wie so ein Hungerhaken ...
Er entschied, dass es am besten war, nicht mit ihr zu sprechen, sondern sich nur seinen überraschenden Empfindungen hinzugeben.
Anneli schien den gleichen Entschluss gefasst zu haben, sie schloss sogar halb die Augen, während sie hingebungsvoll mit ihm tanzte. Dann folgte eine bairische Polka, und sie rannten quer über die Tanzfläche, sehr zum Erstaunen seiner Spezln.
Wie geschmeidig sie sich bewegte!
Doch noch bevor der Tanz vorüber war, riss Anneli sich los und lief hinüber zu den Zuschauern, wo sich auch Bianca befand. Auch Engerl kehrte zu seinen Spezln zurück, die sichtlich aus der Fassung gebracht waren.
»Was ist denn in dich gefahren? Alle haben gedacht, du könntest die Anneli net ausstehen! Krass, wie du mit der getanzt hast«, schallte es durcheinander.
»Natürlich kann ich die Anneli, diesen Besen, net ausstehen! Das Ganze sollt' eine Abstrafung sein. Habt ihr net gesehen, wie ich sie herumgezerrt hab? Zuletzt ist sie mir ausgekommen und davongelaufen«, rechtfertigte Engerl sich sofort. Er war ja schließlich nicht auf den Mund gefallen.
Auch Bianca war erstaunt über das Verhalten ihrer Freundin. Man hätte ja fast glauben können, dass sie den Tanz mit dem verhassten Engerl genossen hätte. Aber sie zog es vor, kein Wort darüber zu verlieren.
Überhaupt verlief das Fest ganz anders, als die beiden Freundinnen es sich vorgestellt hatten. Anneli war eigenartig gedankenverloren, manchmal sah sie zu Engerl hinüber, der schweigend bei seinen Spezln stand. Ein wirklich fesches Mannsbild war ja aus ihm geworden mit seiner kraftvollen Gestalt, den regelmäßigen Zügen und der dunkelblonden Lockenpracht. Und gut angefühlt hatte er sich auch, ging es ihr durch den Sinn. Ein Glück, dass sie und der Engelbert den Mund gehalten hatten.
Was er wohl gerade dachte? Wahrscheinlich machte er sich später wieder lustig über sie, nannte sie »fette Giftnocken« oder »Besen«. Daran war sie gewöhnt, doch jetzt, stellte sie fest, machte es ihr etwas aus.
Auch Bianca war sehr wortkarg. Letztes Jahr war es eine rechte Gaudi gewesen, sie hatte mit einem jungen Studenten getanzt, der auf Verwandtenbesuch im Nachbardorf war. Er war witzig und ausgelassen gewesen, nahm sich aber nichts heraus. Und auch Anneli war mit ihm auf ihre Kosten gekommen, er hatte ihr lachend die Führung überlassen.
Doch an diesem Abend gab es niemanden, mit dem sie gerne getanzt hätte. Zwei Spezis von Engelbert hatte sie schon abgewiesen, was die sehr übel genommen hatten. Einer behauptete sogar, dass das davon käme, dass sie in schlechter Gesellschaft wäre.
»Mit dir wär' ich in noch schlechterer Gesellschaft, schleich di«, erwiderte Bianca unerwartet giftig.
Und so sah sie dem Tanzvergnügen nur zu. Am liebsten wäre sie schon vorzeitig nach Hause zurückgekehrt, weil sie sich Sorgen um ihre Mutter machte. Anneli hatte eine alte Schulfreundin wiedergetroffen und unterhielt sich angeregt mit ihr, offensichtlich zogen sie über einen ihrer ehemaligen Lehrer her.
Doch dann veränderte sich mit einem Mal alles. Jemand tippte ihr auf die Schulter und fragte: »Darf ich um den nächsten Tanz bitten?« Dabei lächelte er sie gewinnend mit seinen tiefblauen Augen an.
So höflich war Bianca noch nie zum Tanz aufgefordert worden, und sie nickte stumm.
Er zog sie an sich, jedoch nicht zu eng, und sie fanden sich sofort in den Rhythmus ein. Ein herber, zitroniger Geruch ging von ihm aus, der ihr gefiel, genauso wie die Wärme, die sein Körper ausstrahlte.
»Darf ich wissen, wie du heißt?«, fragte er leise an ihrem Ohr.
»Ich bin die Bianca, die Sarnauer-Bianca.«
»Die schöne Bianca«, flüsterte er, und es klang wie ein Kosewort.
»So nennen mich alle. Aber das gefällt mir net, ich will net immer nur nach meinem Äußeren beurteilt werden«, gab sie zurück.
Er sah sie überrascht an. »Das ist ungewöhnlich.«
Darauf ging sie nicht ein, stattdessen wollte sie seinen Namen wissen.
»Ich heiße Nico Bertini. Und eh du mich fragst – mein Vater war Italiener und kam als Gastarbeiter hierher. Doch er ist bald wieder zurück in seine Heimat gegangen und dort früh gestorben. Meine Mutter stammt von einem Nachbardorf, wo ich aufgewachsen bin. Dass mein Vater sie verlassen hat, das hat ihr das Herz gebrochen und sie hat nimmer leben wollen. Meine Großeltern haben mich aufgezogen, bei ihnen ist es mir gut gegangen. Sie haben mir ihr Häuserl vererbt, und in dem wohne ich. So, jetzt weißt alles über mich«, schloss er.
»Man weiß niemals alles über einen anderen Menschen«, erwiderte Bianca und legte den Kopf schief.
»Das kann auch ein Glück sein.«
Nico lächelte auf seine unwiderstehliche Art, und Bianca spürte, wie sie plötzlich von Empfindungen, die sie noch nie verspürt hatte, durchströmt wurde. Und sie wusste auch, dass er ein Mensch war, der sie gelten ließ. Auch wenn sie oft Dinge sagte, die niemand verstand oder verstehen wollte.
Dann versiegte das Gespräch, und sie tanzten schwungvoll. Anschließend gab es wieder einen langsamen Walzer, damit auch die Älteren ihre Freude hatten. Nico zog sie enger an sich, und sie genoss seine Nähe, schmiegte sich sogar an ihn. Einmal seufzte Nico leise auf, und Bianca senkte den Kopf.
»Ich möcht' die ganze Nacht mit dir tanzen, Bianca. Es gibt nichts, was ich lieber will«, flüsterte er drängend.
»Ich auch. Aber ich muss früher gehen, die Mutter ist krank«, kam es von ihr.
»Das versteh' ich. Dann kosten wir die Zeit aus, die uns bleibt.«
Und das taten sie.
Sie spürte den warmen Hauch seines Atems in ihrem Nacken, wenn sie sich drehte, und seine Hände fuhren wie zufällig über ihre Hüften, wenn er sie wieder in die Arme nahm. Es war ihr, als würde er sie am ganzen Körper liebkosen und schon jetzt Besitz von ihr ergreifen.
Dann gab es eine Tanzpause, und Nico wollte für sie beide ein Getränk besorgen. Kaum jedoch war er ihren Blicken entschwunden, überkam Bianca eine jähe Furcht. Die Wucht dieser Begegnung hatte sie bis in ihr tiefstes Wesen erschüttert, und als einzigen Ausweg sah sie die Flucht.