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Seit Jahrzehnten erfreut sich das Genre des Heimat-Bergromans sehr großer Beliebtheit. Je hektischer unser Alltag ist, umso größer wird unsere Sehnsucht nach dem einfachen Leben, wo nur das Plätschern des Brunnens und der Gesang der Amsel die Feierabendstille unterbrechen.
Zwischenmenschliche Konflikte sind ebenso Thema wie Tradition, Bauernstolz und romantische heimliche Abenteuer. Ob es die schöne Magd ist oder der erfolgreiche Großbauer - die Liebe dieser Menschen wird von unseren beliebtesten und erfolgreichsten Autoren mit Gefühl und viel dramatischem Empfinden in Szene gesetzt.
Alle Geschichten werden mit solcher Intensität erzählt, dass sie niemanden unberührt lassen. Reisen Sie mit unseren Helden und Heldinnen in eine herrliche Bergwelt, die sich ihren Zauber bewahrt hat.
Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:
Alpengold 216: Es war die Liebe, die ihn zähmte
Bergkristall 297: Das Madel, das sein Glücksstern wurde
Der Bergdoktor 1789: Der falsche Erbe
Der Bergdoktor 1790: Liebeszweifel
Das Berghotel 153: Sorge um die Jodelkönigin
Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 320 Taschenbuchseiten.
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Seitenzahl: 598
BASTEI LÜBBE AG
Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben
Für die Originalausgaben:
Copyright © 2015/2016/2017 by
Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Für diese Ausgabe:
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Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Covermotiv: © Nikaletto / Shutterstock
ISBN: 978-3-7517-6438-4
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Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Alpengold 216
Es war Liebe, die ihn zähmte
Bergkristall - Folge 297
Das Madel, das sein Glücksstern wurde
Der Bergdoktor 1789
Der falsche Erbe
Der Bergdoktor 1790
Liebeszweifel
Das Berghotel 153
Sorge um die Jodelkönigin
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Contents
Es war die Liebe, die ihn zähmte
Wie ein Mann lernt, an das Glück zu glauben
Von Rosi Wallner
Es sieht schlecht aus auf dem Altenbacherhof – und genauso schlecht auf dem Anwesen des Josef Murner. Die einst stattlichen Höfe beginnen zu verfallen, es fehlt an allen Ecken und Enden, denn Gustl Altenbacher und Josef Murner setzen ihr ganzes Geld und ihre Kraft dafür ein, einander durch Verleumdungen, Beleidigungen und teure Prozesse zugrunde zu richten. Kein Wunder, dass Stefan, der Hofsohn vom Murnerhof, es daheim nicht mehr aushält und sich abends ins Wirtshaus flüchtet, um hier seine drückenden Sorgen zu vergessen.
Durch einen Zufall lernt er dort Bert Leitner, den neuen Lehrer, kennen, und aus einem plötzlichen Gefühl der Freundschaft und des Vertrauens heraus, schüttet Stefan ihm sein Herz aus. Und Bert macht ihm einen Vorschlag, der dem jungen Bauern den Atem raubt …
»So, dann willst du also bei uns im Dorf als Lehrer anfangen, nachdem unser alter Grindlhuber in Pension gegangen ist«, sagte der Sonnenwirt und setzte das schaumgekrönte Bierglas vor dem jungen Mann auf den Tisch. Dann ließ er sich dem Gast gegenüber nieder. »Was hat dich denn hierher verschlagen? Die jungen Leut haben doch eher den Wunsch von hier wegzukommen, als in so ein kleines abgelegenes Nest zu ziehen. Und die Bauern hier, die sind ein besonderer Schlag – verstockt und dickschädelig«, fügte der Wirt hinzu und grinste.
»Weißt du, ich wollt hierher, weil ich grad in so einem Dorf aufgewachsen bin! Und mit den Bauern kenn ich mich schon aus«, erklärte der junge Fremde, und ein Lächeln huschte über sein gut geschnittenes Gesicht, das jungenhaft und sympathisch wirkte.
Dem Sonnenwirt gefiel, was er sah.
»Schadet nichts, wenn junges Blut ins Schulhaus kommt«, meinte er. »Der alte Grindlhuber ist mit der Zeit immer ärger geworden und hat seinen Stock nur zu gern tanzen lassen.« Er verzog das Gesicht, als verspürte er jetzt noch die Schmerzen, die Grindlhubers willkürlich ausgeteilten Hiebe ihm während seiner Schulzeit zugefügt hatten.
Bert Leitners Augenbrauen zogen sich missbilligend zusammen, und er setzte das Glas hart ab.
»Das gibt’s bei mir net! Das geht auch anders, es dauert nur länger, wenn sie von daheim eher Hiebe als Liebe gewöhnt sind!«
Bert wollte sich noch ausführlich über seine Vorstellungen von Kindererziehung auslassen, als sich plötzlich laute, streitende Stimmen erhoben.
»Dass du dich traust, dich hier unten überhaupt noch blicken zu lassen, du Haderlump!« Unflätige Schimpfworte folgten, die nicht weniger ausfallend zurückgegeben wurden.
»Das Gleiche könnt ich dich fragen, du elendiger Lügner und Betrüger!« Auf diese Weise ging die Auseinandersetzung weiter, von den Anwesenden mit Interesse verfolgt und teilweise sogar durch anfeuernde Zurufe unterstützt.
»Da, schau her, Sonnenwirt! Langweilig geht’s hier aber net zu!«, sagte Leitner spöttisch und beobachtete die zwei Männer, die sich wütend gegenüberstanden.
Sie waren mittleren Alters, hager und sehnig, und ihre Kleidung verriet, dass sie einstmals wohlhabend gewesen sein mussten. Sie glichen sich nicht nur in ihrem Äußeren, sondern auch in der Art des Auftretens – ein tiefer, unversöhnlicher Groll schien sie zu erfüllen, dem sie jetzt freien Lauf ließen.
»Ich werd net eher ruhen, bis du dein Geraffel verkaufen musst und zum Teufel gehst! Du und deine Sippschaft!«, schrie der eine, was mit höhnischem Gelächter quittiert wurde.
»Da kannst du lange warten! Schau lieber zu, dass du mit deinen Hypotheken zurechtkommst! Es pfeifen doch die Spatzen vom Dach, dass du nur noch Schulden hast! Deine Frau lässt sogar bei der Krämerin anschreiben, sonst wärt ihr längst verhungert …«
Als sie drohend die Bierseidel hoben und aufeinander losgingen, wuchtete sich der Sonnenwirt wütend auf.
»Sind’s wieder so weit, die zwei Deppen! Es ist doch net zu fassen!« Erstaunlich flink für seine Fülle bewegte er sich auf die beiden zu. »Hört sofort auf! Bei uns hier wird net gerauft! Und wenn ihr euch net daran haltet, lass ich euch hier nimmer rein. Schämt ihr euch net? Ihr seid gestandene Mannsbilder und benehmt euch wie die Kinder!«
Die Tirade des Sonnenwirts blieb nicht ohne Wirkung auf die Streithähne. Nachdem sie noch hasserfüllte Blicke und halblaute Beleidigungen ausgetauscht hatten, zog sich jeder an einen Tisch zurück, der von dem anderen möglichst weit entfernt war.
Vor sich hin schimpfend, nahm der behäbige Wirt wieder seinen Platz ein, nicht ohne sich vorher noch ein Bier gezapft zu haben.
»Sind wohl net gut aufeinander zu sprechen, die beiden«, meinte Bert mit kaum verhohlener Neugier und nahm einen tiefen Zug aus seinem Glas.
Die Augen des Sonnenwirts leuchteten auf, nichts liebte er mehr, als dass man ihn dazu aufforderte, aus seinem reichen Schatz an Klatschgeschichten zu schöpfen.
»Das kannst du laut sagen! Der Altenbacher und der Murner sind seit ewigen Zeiten miteinander verfeindet – ihre Großeltern waren es schon. Sie sind Nachbarn und hatten früher die größten Höfe im Tal, aber das viele Prozessieren hat sie ganz heruntergebracht.«
»Man soll’s net glauben.« Bert Leitner schüttelte nur den Kopf. »Aber es muss doch einen vernünftigen Grund dafür geben.«
»Einen Grund gibt’s schon, aber ob der vernünftig ist, steht auf einem anderen Blatt. Wie so oft geht’s dabei um einen Grenzstein, der angeblich um ein paar Meter versetzt worden ist. Einer beschuldigt den anderen, weil jeder heimlich versucht hat, etwas zu seinem Vorteil zurechtzurücken, sodass man am Ende gar nimmer genau Bescheid gewusst hat, noch net mal auf dem Katasteramt. Dabei geht das Gerücht, dass damals ein paar betrunkene Spaßvögel den Stein versetzt hatten, um denen einen Streich zu spielen. Wer hätte denn voraussehen können, was für Folgen das hat. Inzwischen geht’s denen gar nimmer um den vermaledeiten Grenzstein.«
»Aber warum redet denn keiner den beiden ins Gewissen und bereitet dem ganzen Streit ein Ende?«, fragte Bert Leitner.
»Da kennst du die zwei schlecht! Verbohrt und starrsinnig bis dorthinaus. Eher würden sie alles durchbringen als nachzugeben. Und demnächst findet ein neuer Prozess statt, obwohl es sich keiner von beiden leisten kann. Außerdem gibt es so manche hier, die die zwei in ihrer Dummheit auch noch anstacheln. Um die Kosten zu tragen, muss nämlich hier ein Acker, dort ein Stückerl Wald verkauft werden, da lauern doch die anderen nur drauf, um spottbillig dranzukommen. Wenn zwei sich streiten, dann profitieren alle übrigen.«
»Das klingt ja ganz übel! Und die Familien – machen die denn das mit?«
»Das hat sich sozusagen vererbt«, erklärte der Wirt. »Der Altenbacher und der Murner haben sich schon geprügelt, kaum, dass sie aus den Windeln heraus waren. Ihre Alten haben sie richtig dazu aufgehetzt. Einmal hat der Altenbacher den Murner fast mit einem Stein totgeschlagen, da war er zwölf. Und als Burschen lagen sie sich auch dauernd in den Haaren. Erst als der Altenbacher die Riedberger-Rosel geheiratet hat, ist es besser geworden. Aber dann hat er sie ins Grab gebracht. Ewig hat er ihr vorgehalten, dass sie nur eine Tochter haben, während der Murner einen Sohn und Erben hat. Die dauernden Vorwürfe und der ganze Unfrieden haben sie krank gemacht, und sie ist jung gestorben. Eine gute Frau war sie, die Rosel! Mir wird’s ewig leidtun um sie!«
Der Sonnenwirt seufzte und bekreuzigte sich.
»Leider kann man das von der Murnerin net sagen – das ist eine richtige Giftwurzen, die dauernd hetzt und stichelt. Nach dem Tod von der Rosel wurde dann alles noch schlimmer, der Altenbacher kannte jetzt kein Halten mehr. Ich kann dir nur sagen, das wird alles noch böse enden!«
»Ludwig!«
Der Sonnenwirt zuckte schuldbewusst zusammen und zog das Genick ein.
»Mein Weiberl ruft mich!« Hastig, wobei er beinahe sein Glas umstieß, stand er auf und begab sich hinter die Theke.
Bert Leitner verbiss sich mühsam ein Grinsen, die Sonnenwirtin, die mit in die Hüften gestemmten Armen in der Küchentür stand und ihren Mann strafend anblickte, Weiberl zu nennen, war doch sehr kühn.
Bert lächelte sie freundlich an, und der strenge Ausdruck auf ihren Zügen milderte sich.
»Dein Zimmer ist gerichtet! Und zum Abendessen kann ich dir die Schweinsrippen mit Kraut empfehlen«, sagte sie näherkommend.
»Dank dir, Sonnenwirtin. Ich hätte nichts gegen eine ordentliche Vesper. Und wenn ich noch ein Bier haben könnt«, gab Leitner zur Antwort, und die Wirtin nickte.
Nach dem Essen ging Bert Leitner bald zu Bett. Er wohnte vorerst in einem der behaglichen Gästezimmer im Obergeschoss des Wirtshauses. Sobald der alte Grindlhuber zu seiner Schwester übersiedelt war, würde er ins obere Stockwerk des Schulhauses ziehen, wie es hier im Dorf üblich war.
Bevor er einschlief, musste er noch an die beiden verfeindeten Bauern denken. Ihre hasserfüllten Mienen wollten nicht aus seinem Gedächtnis weichen.
***
Josef Murner kehrte noch vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause zurück. Mit weit ausholenden Schritten, die seine innere Erregung verrieten, stieg er bergan. Manchmal blieb er stehen und murmelte unverständliche Worte vor sich hin, und sein Gesicht verzerrte sich vor Wut.
Als der Murnerhof vor ihm lag, musterte er, erneut innehaltend, das Anwesen lange. In der Abenddämmerung sah der einst so stattliche Hof noch trostloser aus. Das Wohnhaus und die Stallungen mussten dringend neu gekalkt werden, vereinzelt waren die Dachschindeln schadhaft oder übermoost. Zwischen den Steinplatten vor der Tür wuchs das Unkraut, und aus einem Riss in der Umrandung des Hofbrunnens war Wasser gerieselt und bildete dunkle Pfützen.
Alles zeigte Spuren der Vernachlässigung, denn die Hofleute waren längst gegangen, da Murner den ohnehin kärglichen Lohn nicht mehr bezahlen konnte.
So bewirtschaftete er mit seinem Sohn den Hof, was immer schwieriger wurde, weil er inzwischen schon einige der landwirtschaftlichen Maschinen veräußert hatte. Seine Frau kümmerte sich lustlos um das Hauswesen, und wie bei ihrem Mann war die Feindschaft mit dem Nachbarn der Mittelpunkt in ihrem sonst so ereignisarmen, eingeschränkten Leben.
»Da dran ist nur der vermaledeite Altenbacher schuld, dass es hier so ausschaut«, murmelte Murner verbissen vor sich hin und ging auf das Wohnhaus zu.
Im Flur, in dem es muffig roch, schleuderte er achtlos die Stiefel von sich, sodass sich die Stubentür öffnete und Gertrud Murner herausschoss.
»Bist du endlich da? Musst du das Geld ins Wirtshaus tragen, wo wir jetzt jeden Cent so dringend brauchen?«, nörgelte sie.
Murner knurrte etwas Unbestimmtes und schob sich an ihr vorbei in die Stube, wo sein Sohn von der landwirtschaftlichen Zeitung aufblickte, in der er gerade gelesen hatte.
Gertrud eilte zur Kredenz und goss einen Obstler ein, den sie ihrem Mann anbot, um seine Mitteilsamkeit zu fördern. Obwohl man ihr ansah, dass sie früher einmal hübsch gewesen sein musste, wirkte sie durch den gehässigen Zug in ihrem Gesicht fast abstoßend. Sie war mager geworden, als zehre etwas an ihr, ihre nachlässige Kleidung und das straff nach hinten gekämmte braungraue Haar taten ein Übriges.
»Hast du wenigstens unten etwas Neues gehört?«, fragte sie begierig und zupfte nervös an ihrer Schürze herum.
»Getroffen hab ich ihn sogar, den Halunken!« Der Murner lachte freudlos auf.
»Du hast dich doch hoffentlich net wieder mit ihm geprügelt?«, unterbrach ihn sein Sohn.
Murner, durch den Tonfall irritiert, sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an.
Stefan hatte große Ähnlichkeit mit seinem Vater, der, bevor seine Züge hart und verkniffen geworden waren, einmal ein sehr gut aussehender Mann gewesen sein musste. Er hatte dunkle wache Augen, denen nichts zu entgehen schien, sein Mund verriet eine Empfindsamkeit, die er jedoch schon vor Langem zu verbergen gelernt hatte.
Stefan trug das volle, dunkle Haar nicht so kurz geschnitten, wie es bei den Dorfburschen üblich war, was eine Quelle ständiger Reibereien zwischen ihm und seinem Vater war.
Was seine Tüchtigkeit anbelangte, so war Stefan ein Sohn, wie ihn sich ein Hofbauer nur wünschen konnte, er arbeitete unermüdlich und versuchte das Wenige, das noch vorhanden war, zusammenzuhalten. Darüber hinaus verzichtete er auf alle Vergnügungen, denen die Männer seines Alters gern nachgingen.
Dennoch lag wenig väterlicher Stolz in Murners Blick, und er erwiderte heftig: »Was geht denn dich das an? Willst du deinem Vater auch noch Vorschriften machen?«
»Das geht mich sehr wohl was an! Schließlich ist es unsere gemeinsame Existenz, die durch die ganzen Streitereien und Prozesse ruiniert wird. Wenn das kein End nimmt, gehört uns bald kein Stein mehr von dem Hof. Hast du darüber schon mal nachgedacht?«
»Das verstehst du net! Du hast ja keine Ahnung!«
»Wie kannst du uns nur so in den Rücken fallen!«, fuhr die Mutter dazwischen. »Hast du überhaupt keine Ehr im Leib?«
»Ehr nennt ihr das? Ich nenn es schlicht und einfach Dummheit! Wie kann man sich wegen alten Sachen zugrundrichten, statt sich zusammenzusetzen, um ein für alle Mal zu einem Vergleich zu kommen! Merkt ihr denn net, dass alle über euch lachen und sich die Hände reiben, wenn du und der Altenbacher wieder mal ein Stück von eurem Grund und Boden verkaufen müsst – und zwar weit unter dem Wert! Die bereichern sich ja nur an euch, und zum Schaden habt ihr noch den Spott!«
Jetzt wandte Stefan sich seiner Mutter zu, die ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte.
»Und du hättest dem Ganzen auch schon längst ein Ende setzen können, wenn du nur einen Funken Vernunft hättest. Aber nein – du musst immer weiter hetzen und Unfrieden stiften und damit zu dem Unglück beitragen!«
»Wie sprichst du denn mit deinen Eltern?«, schrie Gertrud Murner aufgebracht.
»So, wie ihr es verdient«, gab Stefan zur Antwort und stand auf. »Nach dem Prozess wirst du dir wohl einen anderen Knecht suchen müssen, Vater, ich mag nimmer.«
Er schlug die Tür hinter sich zu und ließ seine Eltern in fassungslosem Schweigen zurück.
»Das hab ich dem Altenbacher jetzt auch noch zu verdanken, dass sich mein eigen Fleisch und Blut gegen mich stellt!«, stieß der Murner schließlich ergrimmt hervor und brach in die wildesten Verwünschungen aus.
»Das kommt nur davon, dass der Stefan in der Stadtschul war! Dort bringen sie den Kindern nur neumodische Ideen bei!«, setzte Gertrud giftig hinzu, obwohl sie damals sehr stolz auf den Sohn gewesen war. »Aber das redet der alles nur so daher, der kommt schon wieder zu sich!«, schloss sie, denn Gertrud hatte es sich zu eigen gemacht, unliebsame Tatsachen rasch zu verdrängen.
Bald darauf kreiste das Gespräch der Murners wieder um die Vorbereitungen zu dem nächsten Prozess, der ihr ganzes Denken und Handeln bestimmte.
***
Jutta Altenbacher eilte mit klopfendem Herzen auf die halb verfallene Sennhütte zu, wo sie sich immer heimlich mit ihrem Liebsten traf. Heute hatte sie sich beträchtlich verspätet, und sie befürchtete, dass Hubert Lindacher nicht mehr auf sie wartete, er verlor schnell die Geduld.
Sie atmete auf, als sie seine hochgewachsene Gestalt erblickte, die lässig gegen einen Pfosten lehnte.
»Es tut mir so leid, Hubert! Aber dem Vater geht’s net gut, da konnt ich net so einfach weg«, entschuldigte sie sich überhastet.
Er machte einen Schritt auf sie zu und sah sie an, etwas wie Bedauern lag in seinem Blick, was ihr aber entging. Jutta Altenbacher hätte man noch bis vor Kurzem als »herziges Madl« bezeichnen können, doch seitdem sie liebte, war sie zu einer schönen jungen Frau erblüht.
Braune Locken umschmeichelten ihr ebenmäßiges Gesicht mit den großen braunen Augen und dem verlockend geschwungenen Mund. Ihr Dirndl war zwar alt und abgetragen, verbarg jedoch nicht, wie gut gewachsen das Mädchen war.
Verliebt sah sie zu Hubert auf und hängte sich bei ihm ein. Hubert Lindacher gehörte zu jenen jungen Männern, die sich ihres ansprechenden Äußeren und des damit verbundenen Erfolges bei Frauen durchaus bewusst sind. Er war auf eine beinahe weibische Art hübsch, sein lockiges Haar war modisch geschnitten, und sein blaues Hemd harmonierte mit seiner Augenfarbe.
Wenn er sich jedoch unbeobachtet glaubte, legte sich häufig ein gelangweilter, verdrießlicher Zug um seinen Mund, was die ersten Anzeichen der Verlebtheit hervorhob. Hubert war offensichtlich nicht mit dem zufrieden, was das Schicksal bisher für ihn bereitgehalten hatte, auch wenn er sehr überzeugt die Rolle des unbeschwerten jungen Mannes spielte.
»Hab aber nimmer viel Zeit heut, Jutta«, sagte er beiläufig, als sie eng umschlungen einen versteckten Waldpfad einschlugen. Hin und wieder blieben sie stehen, und Hubert küsste das Mädchen, Küsse, die von Jutta mit wesentlich mehr Leidenschaft erwidert wurden.
»Ach, ich wär so froh, wenn wir uns nimmer verstecken müssten! Die Heimlichtuerei bedrückt mich so«, sagte Jutta sehnsüchtig.
»Mir geht’s doch genauso, Schatzerl! Aber du weißt ja, was das für Klatsch und Tratsch geben würd, solang wir net miteinander versprochen sind. Und du weißt ja, wie die Dinge liegen. Ohne Geld kann man keinen Hausstand gründen. Ich hab zwar Ersparnisse, aber die reichen vorn und hinten net«, erwiderte er, und das junge Mädchen senkte niedergeschlagen den Kopf.
»Hast du schon mal mit deinem Vater gesprochen, wie das bei dir so ausschaut? Schließlich musst du ja wissen, was du mal zu erwarten hast, wenn du heiratest«, setzte Lindacher unvermittelt hinzu.
Jutta schluchzte auf, und Hubert zog eher verärgert als besorgt die Brauen zusammen.
»Was hast du denn?«
»Ach, du weißt net, wie der Vater ist! Er hat nur noch den Prozess im Kopf, und ich fürcht, dass ihn das ruiniert. Mein Vater schert sich eh net viel um mich, er war immer enttäuscht, dass ich net der erwünschte Sohn war. Was hat sich meine arme Mutter deswegen alles anhören müssen!«, brach es aus Jutta heraus.
Hubert presste unmutig die vollen Lippen zusammen, was ihn nicht sehr einnehmend erscheinen ließ.
»Trotzdem solltest du ihn an seine Pflichten erinnern. Er kann doch net wollen, dass du als alte Jungfer endest, bloß, weil er alles Geld zum Fenster hinauswirft.«
»Wie meinst du denn das?« Jutta löste sich von ihm, und etwas wie Argwohn trat in ihren Blick.
Hubert blieb das nicht verborgen, und er lachte gekünstelt auf.
»Damit sollst du ihm natürlich nur drohen! Keinem Vater gefällt die Aussicht, dass seine Tochter sitzen bleibt. Dann wird er schon mit der Wahrheit herausrücken.«
Er zog das Mädchen mit vorgetäuschter Zärtlichkeit an sich, und Juttas Misstrauen verflog sofort.
»Und stell dir vor, wie uns der Priester vor dem Altar zusammentut und wir endlich Mann und Frau sind. Dann kann uns nichts mehr trennen«, flüsterte er an ihrem Ohr.
Tränen stiegen in Juttas Augen, und ihre Stimme wollte ihr kaum gehorchen.
»Es gibt nichts, was ich mir mehr wünsch. Ich werd so bald wie möglich mit dem Vater reden!«
»Aber überwirf dich net gleich mit ihm, er ist schließlich dein Vater«, riet Hubert eilig. Dann beschleunigte er nach einem flüchtigen Blick auf die Uhr seine Schritte. »Ich muss nach Haus, dort wird man schon auf mich warten«, behauptete er.
Sie nahmen eine Abkürzung, die zum Altenbacherhof führte, und er küsste sie nicht wie üblich, als sie sich trennten. Er blieb zurück, als sie aus dem Wald heraustraten, um quer über die Wiesen zu dem Anwesen zu laufen.
Ohne ihr nachzublicken, machte er kehrt – allerdings nicht, um nach Hause zu gehen, sondern um sich mit seinem Freund Loisl Ederer zu treffen.
Ederer, einziger Sohn eines reichen Großbauern und Viehhändlers, war im Besitz eines Wagens, was ihnen ermöglichte, Ausflüge in die Kreisstadt zu unternehmen, wann immer ihnen der Sinn danach stand. Beide waren sich einig in dem Wunsch, das »öde Bauernkaff« wenigstens zeitweise hinter sich zu lassen und »ein wenig über die Stränge zu schlagen«, wie sie es bezeichneten.
***
»Haben sie’s endlich geschafft«, sagte der Sonnenwirt und ließ sich, nachdem Priska in der Küche verschwunden war, ächzend auf einen Stuhl an Bert Leitners Tisch niederfallen.
Der junge Lehrer, der immer noch im Gasthaus wohnte, aß mit gutem Appetit Knödel und Geselchtes. Priska, hinter deren Barschheit sich Fürsorglichkeit verbarg, hatte den jungen Mann in ihr Herz geschlossen und gab sich mit seinen Mahlzeiten besondere Mühe.
»Du meinst sicher die zwei Streithähne, der Altenbacher und der Murner. Haben sie heut net ihren Prozess gehabt?«, fragte der Leitner.
»Ha! Prozess – dass ich net lach! Damit ist Schluss für alle Zeit! Die Sach ist niedergeschlagen worden, und der Richter hat gesagt, die beiden sollten endlich ihren Streit begraben und sich wieder vertragen. Jetzt müssen die Sturköpfe für die ganzen Anwaltskosten aufkommen, und das ist wahrscheinlich ihr Untergang.«
Bert hatte das Besteck sinken lassen und schüttelte bedauernd den Kopf.
»Irgendwie tut’s mir leid um die beiden. Sie machen doch den Eindruck von rechtschaffenen, tüchtigen Männern. Nur weil sie von Kind an verhetzt worden sind, haben sie sich ihr Leben verpfuscht.«
»Mir tut’s leid um die Kinder. Der Murner-Stefan ist ein vernünftiger Bursch, und jetzt gibt’s wohl nichts zu erben, obwohl er die ganzen letzten Jahre auf dem Hof geschafft hat. Immer hat er versucht, den Karren aus dem Dreck zu ziehen, aber seine Eltern lassen sich ja nichts von ihm sagen. Dabei hätt er ganz andere Möglichkeiten gehabt, denn er hat die Stadtschul besucht! Und die Altenbacher-Jutta ist auch übel dran. Sie ist ein liebes Madl und fesch dazu. Aber was soll aus ihr werden, wenn der Alte den Hof aufgeben muss? Hier schaut man eben drauf, was ein Madl mitbringt! Und eine, die Hoftochter war, tut sich schwer damit, irgendwo in Dienst zu gehen.«
»Ja, oft sind die Kinder die eigentlichen Opfer bei solchen Sachen«, stimmte Bert zu.
»Na ja, wir werden ja sehen, wies mit den beiden weitergeht«, sagte der Wirt und erhob sich. Er hatte Priskas Stimme gehört, was ihn bewog, seinen Platz hinter der Theke wieder einzunehmen.
***
»Vater?« Jutta näherte sich zaghaft dem Mann, der zusammengesunken dasaß und seine Umgebung nicht mehr wahrzunehmen schien.
»Vater!«, wiederholte sie mit etwas mehr Nachdruck, und er schreckte aus seinen finsteren Grübeleien auf, um sich widerwillig seiner Tochter zuzuwenden.
»Was ist?«, fragte er barsch und vermied es, ihr in die Augen zu blicken. »Wenn du wissen willst, was aus uns werden soll – nun gut! In den nächsten Tagen wird das Vieh abgeholt, und wie ich die Schuldzinsen bezahlen soll, das weiß ich trotzdem net! Noch eins – wenn dich der Lindacher fragt, was du mitbringen könntest, dann kannst ihm sagen, dass er nimmer seine Zeit mit dir zu verschwenden braucht.«
Jutta, die bei der Erwähnung von Hubert zunächst tief errötet war, erschrak so, dass tödliche Blässe ihr Gesicht überzog.
»Oder hast du gemeint, ich wüsst net, dass du dich heimlich mit ihm triffst? Ich mag ein Narr sein, aber ich bin net mit Blindheit geschlagen! An dem Lindacher hast aber net viel verloren, der taugt nichts!«
»Woher willst du das wissen?«
»Weil er sich mit dem Ederer, diesem Nichtsnutz, herumtreibt! Und da es hier noch ein paar gibt, die grad keine Engel sind, sind sie schon ein paarmal ertappt worden. Und das spricht sich herum! Wein, Weib und Schlimmeres das ist alles, was die im Kopf haben! Und während er so seine Gspusis in der Stadt hat, sucht der Lindacher nach einer reichen Frau, auf deren Kosten er sein Lotterleben führen will, wenn der Ederer mal nimmer zahlt. Mit dem Arbeiten hat der net viel im Sinn, der rührt daheim keine Hand!«
»Das glaub ich net, Vater! Ich kenn ihn besser!«, flüsterte Jutta, und ein Zittern überlief sie.
Gustl Altenbacher, der noch nie viel für seine Tochter empfunden hatte, blickte sie mitleidlos an, und seine Mundwinkel zogen sich verächtlich nach unten.
»Ich weiß net, wie gut du den Lindacher kennst, will es auch gar net wissen, aber ich kann dich nur warnen. Wirst schon sehen, wie er reagiert, wenn er erfährt, dass hier nichts mehr zu holen ist«, sagte er hart.
Auch als er längst die Stube verlassen hatte, saß Jutta immer noch wie erstarrt am Tisch. Jemand musste bösartige Lügen über Hubert verbreitet haben, das war die einzige Erklärung. Sie durfte nicht an dem Geliebten zweifeln, war er doch der einzige Mensch, der ihr Trost und Halt bot.
Vielleicht hatte der Vater auch versucht, sie Hubert zu entfremden, weil er eine vorteilhaftere Heirat für sie im Sinn hatte. Aus solchen Erwägungen heraus konnte ihm Hubert nicht als Schwiegersohn willkommen sein, denn Hubert war der jüngste von mehreren Brüdern, würde also niemals Hofbauer werden.
Was sollte überhaupt aus ihr werden, wenn der Vater den Hof verkaufen musste und an eine Eheschließung nicht zu denken war?
Sie nahm sich vor, alles mit Hubert zu besprechen und Klarheit zu schaffen. Doch eigenartigerweise tröstete sie der Gedanke an das nächste Treffen mit dem Geliebten nicht, sondern ließ sie nur noch unruhiger werden. Schließlich stand sie auf und ging in die Küche, wo genug Arbeit auf sie wartete.
***
»Hab gehört, dass es net zum Besten steht mit deinem Vater.« Mit diesen Worten empfing Hubert Lindacher das junge Mädchen, ohne dass er sie richtig begrüßt hatte. Ein lauernder Ausdruck war in sein Gesicht getreten, und ungeduldig drängte er Jutta, ihm Näheres zu berichten.
Jutta brach in Tränen aus und tastete Hilfe suchend nach seiner Hand.
»Der Vater sitzt den ganzen Tag nur da«, stammelte sie. »Er starrt vor sich hin und trinkt einen Enzian nach dem anderen. Seit sie das Vieh abgeholt haben, tut er keinen Handschlag mehr. Zu mir hat er gesagt, ich soll woanders arbeiten gehen, auf dem Hof wär kein Platz mehr für mich, dabei ist er doch mein Zuhause …«
Ihre Stimme brach, und hätte sie in diesem Moment zu Hubert aufgeblickt, so wäre sie über seine abschätzige Miene entsetzt gewesen.
»Es tut mir so leid um dich«, sagte er heuchlerisch. »Jedenfalls sollten wir jetzt keinen voreiligen Entschluss fassen, wie auch immer die Dinge stehen.«
Eine jähe Angst, denn instinktiv empfand sie seine Kälte, presste Jutta die Kehle zusammen.
»Du hältst doch zu mir? Hubert, versprich mir, dass du mich nie verlassen wirst!«
»So schnell geb ich doch net auf«, erwiderte er leichthin. »So, und jetzt lass mich aus! Wir sehen uns ja dann wieder.«
Jutta umschlang den jungen Mann leidenschaftlich und stammelte beschwörend: »Du bist alles, was ich hab, und jetzt brauch ich dich mehr denn je!«
Sie sah ihm nach, bis er ihren Blicken entschwunden war, und sie fragte sich, weshalb sie es nicht gewagt hatte, ihn auf die Anschuldigungen, die ihr Vater gegen ihn erhoben hatte, anzusprechen.
***
Nur der Gedanke an Hubert hielt Jutta aufrecht, denn die Situation auf dem Hof wurde immer unhaltbarer. Ihr Vater suchte zunehmend Trost im Alkohol, eine tiefe Gleichgültigkeit hatte sich seiner bemächtigt und drohte seine Persönlichkeit zu zerstören.
Seiner Tochter schenkte er keine Beachtung mehr, gab ihr keine Antwort, wenn sie ihn ansprach, sodass sich Jutta in dem großen Bauernhaus immer verlassener und auf gespenstische Art vereinsamt fühlte.
Sie fieberte dem nächsten Treffen mit Hubert entgegen, doch als der Zeitpunkt herangerückt war, und sie sich an der alten Sennhütte eingefunden hatte, wartete sie vergebens. Sie blieb dort, bis es dunkelte, und versuchte Gründe dafür zu finden, warum Hubert die Verabredung nicht eingehalten hatte. Sicher gab es eine ganz einfache Erklärung, tröstete sie sich, als sie den Heimweg antrat. Dennoch hatte eine dumpfe Angst von ihr Besitz ergriffen, die nicht mehr weichen wollte.
Als Hubert sich an den folgenden Tagen weder mit ihr in Verbindung setzte, noch an ihrem üblichen Treffpunkt erschien, war sie der Verzweiflung nahe. Nachts fand sie keinen Schlaf mehr, immer wieder stellte sie sich die Frage, ob Hubert sie verraten hatte und ob das harte Urteil, das ihr Vater über ihn gefällt hatte, doch zutreffend war. War sie wie ein törichtes Mädchen einem Mitgiftjäger zum Opfer gefallen?
Jutta hatte schon genug unter den zerrütteten häuslichen Verhältnissen gelitten, doch das Scheitern ihrer ersten Liebe traf sie noch mehr, zerstörte etwas in ihr.
***
An einem Sonntag fasste Jutta den Entschluss, sich wieder unter Menschen zu wagen und den Gottesdienst zu besuchen. Sie erhoffte sich davon Trost und inneren Frieden, gleichzeitig wollte sie sich Gewissheit verschaffen.
Ihre Freundin Barbara Umminger ließ keinen Gottesdienst aus, und mit ihr wollte sie sprechen, denn Barbara war über das Dorfgeschehen immer aufs Beste informiert und pflegte sich auch freimütig dazu zu äußern.
Als Jutta die kleine Dorfkirche betrat, erspähte sie sofort ihre Freundin, die ihr mit einem Wink zu verstehen gab, dass sie den Platz neben sich für Jutta freigehalten hatte.
Wenn Barbara über Juttas Anblick erschrocken war, so zeigte sie es nicht. Jutta war sichtlich abgemagert und blass, die schönen grauen Augen wirkten wie erloschen.
»Ich freu mich, dass du gekommen bist«, flüsterte Barbara der Freundin zu, dann verstummten sie jedoch, weil der Gottesdienst begann.
Die Freundschaft der beiden Mädchen bestand schon seit frühester Kindheit, sie waren miteinander zur Schule gegangen, und die Verbindung war auch danach nicht abgerissen. Sie hätten nicht unterschiedlicher sein können, die bildhübsche Barbara mit den rötlich-blonden kurzen Haaren, die mit beiden Beinen fest auf der Erde stand, und die empfindsame, oft verträumte Jutta. Doch vielleicht war gerade das der Grund, warum sie sich so gut verstanden und sich auch ergänzten.
Barbara war die einzige Tochter eines verwitweten Ratsschreibers, der sich gar nicht erklären konnte, wie er zu einer so temperamentvollen und tatkräftigen Tochter gekommen war. Jeden Tag nahm sie die lange und umständliche Fahrt in die Kreisstadt in Kauf, um sich dort als Erzieherin ausbilden zu lassen. Das war einer der Gründe, warum sich die Freundinnen nicht mehr so häufig sahen, auch wenn keine Entfremdung zwischen ihnen eingetreten war.
Verspätet nahm noch ein junger Mann auf der Kirchbank gegenüber, wo nach alter Sitte die Männer saßen, Platz, und Jutta erstarrte, als sie in ihm Hubert Lindacher erkannte. Fast übertrieben modisch gekleidet saß er selbstgefällig da und blätterte scheinbar vertieft in seinem Gesangbuch, ohne auch nur einmal verstohlen in ihre Richtung zu blicken, wie er es früher immer getan hatte.
Sie versuchte der Predigt zu folgen, doch es gelang ihr nicht.
Mühsam bewahrte sie Ruhe, Barbara sollte nicht merken, was vor sich ging.
Gegen Ende des Gottesdienstes erfolgten gewöhnlich die allgemeinen Ankündigungen, und Jutta hörte zunächst nicht richtig hin, bis sie zusammenzuckte, als der Priester mit tönender Stimme Hubert Lindachers Namen verlas.
»Hast du gehört?« Barbara stieß sie an. »Der Lindacher und die Wiesner-Lena haben das Aufgebot bestellt! Da hat er aber nichts anbrennen lassen. Die Wiesnerin ist noch net mal ein Jahr verwitwet! Sie ist zwar älter als der Hubert, dafür bringt sie aber auch ordentlich was mit.«
Alles verschwamm vor Juttas Augen, eine furchtbare Schwäche befiel sie und das schwarze, zerlesene Gesangsbuch entglitt ihrer kraftlosen Hand.
»Was hast du denn, Jutta?« Barbara erschrak. »Jesses, Maria und Josef, du schaust ja aus wie ein Gespenst!«
»Lass mich grad in Ruh ein bisserl hier sitzen. Mir ist net gut, Barbara«, flüsterte das Mädchen mit versagender Stimme.
»Armes Hascherl!« Barbara rieb ihr fürsorglich die eiskalten Hände und sprach beruhigend auf die ein. »Hast net viel Glück gehabt in der letzten Zeit!«
Jutta nickte, sie hatte der Freundin die Beziehung zu Hubert Lindacher nicht anvertraut und deswegen immer Schuldgefühle verspürt, weil es nie Geheimnisse zwischen ihnen gegeben hatte. Doch jetzt bereute sie ihre Verschwiegenheit nicht, selbst Barbaras Mitleid hätte sie nicht ertragen können.
»Ja, das war alles zu viel für mich«, murmelte sie und schämte sich gleichzeitig dieser Ausflucht.
Nach einer Weile stand sie schwankend auf und verließ, auf ihre Freundin gestützt, durch einen Seiteneingang die Kirche.
»Magst du net erst ein bisserl zu uns kommen und dich ausruhen, eh du dich auf den Weg machst?«, bot ihr Barbara, die sehr besorgt war, an.
Jutta zwang sich zu einem matten Lächeln.
»Ich dank dir! Aber die Luft wird mir guttun, und ich mag den Vater net lang alleinlassen.«
Nur widerstrebend ließ Barbara sie gehen, und Jutta musste ihr versprechen, bald bei ihr vorbeizuschauen.
Jutta bewegte sich mit steifen Schritten, die wie abgezirkelt wirkten, vorwärts. Sie sah nicht die blühende Natur um sich herum, die Schönheit der Bergwelt, die sich um diese Jahreszeit voll entfaltete. Das Sonnenlicht, das gleißend auf den Gletschern des Gebirgsmassivs lag, war ihr unerträglich, in ihren Augen brannten Tränen des Schmerzes und der Demütigung.
Sie fühlte sich beschmutzt und besudelt – ihre innigsten Gefühle waren missbraucht worden von einem Mann, der gefühlskalt und berechnend nur auf seinen Vorteil aus gewesen war.
Jutta sah Lena Wiesner vor sich, eine große Frau mit groben Gesichtszügen und gewöhnlicher Ausdrucksweise. Es hieß von ihr, sie hätte ihren wesentlich älteren Mann ins Grab gezankt. Spaßvögel behaupteten, Wiesner hätte lieber die Engel im Himmel singen hören, als das Gekeife seiner Frau auf Erden noch länger zu ertragen.
»Ich hoff, dass sie dir jeden Augenblick zur Hölle macht als Straf für deine Treulosigkeit«, sagte Jutta laut vor sich hin, während ihr die Tränen die Wangen hinabrannen. »Schon vor der Hochzeit hast du dich von ihr ausstaffieren lassen wie ein Angeber von der Stadt! Aber wer weiß, wie es nach der Hochzeit ist! Dann wird sie vielleicht den Daumen auf dem Geld halten!«, setzte sie ihre Schmährede, die dem treulosen Geliebten galt, fort.
Unwillkürlich kamen ihr die Worte ihres Vaters wieder in den Sinn, die sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingegraben hatten. Die Erkenntnis, dass er keineswegs zu Unrecht den Stab über Hubert Lindacher gebrochen hatte, erfüllte sie mit Zorn, einem Zorn, der vorübergehend sogar ihren Schmerz und ihre Enttäuschung verdrängte.
Als sie auf dem Hof anlangte und die Stubentür öffnete, schlug ihr schale, alkoholgeschwängerte Luft entgegen. Ihr Vater lehnte schnarchend auf der Eckbank. Vor ihm stand ein halb volles Glas Obstler auf dem Tisch, die Flasche war umgestoßen, und der ausgelaufene Inhalt tropfte auf den Boden.
Am liebsten hätte Jutta ihren Vater wachgerüttelt und ihn beschimpft, doch zu sehr war in ihr die Vorstellung von kindlichem Gehorsam verankert, als dass sie das gewagt hätte.
Das Bild häuslichen Elends, dem sie hilflos gegenüberstand, verstörte Jutta noch mehr, dennoch machte sie sich gleich daran, Tisch und Boden zu säubern und den Raum zu lüften. Sie konnte sich jedoch nicht dazu durchringen, das Sonntagsmahl zuzubereiten, ihr Vater nahm sowieso kaum noch etwas zu sich, so sehr sie ihn auch dazu drängte, und sie selbst würde heute sowieso keinen Bissen mehr hinunterbringen.
Gustl Altenbacher blieb für den Rest des Tages unansprechbar, wenn er kurz zu sich kam, stierte er sinnlos vor sich hin oder lallte unverständliche Wortfetzen. Er übernachtete in sich zusammengesunken auf der Eckbank, erst gegen Morgen fing er an, in der Wohnung herumzurumoren.
Jutta hatte ihre Kammer abgeriegelt, als wollte sie die übrige Welt aussperren. Die Trostlosigkeit ihres Daseins hatte sie überwältigt und sie in eine Art qualvolle Erstarrung verfallen lassen.
Sie wusste nicht, wie sie der Verelendung entrinnen konnte, zumal sie es nicht über sich brachte, vom Hof wegzugehen und den Vater seinem Schicksal zu überlassen.
Die rückhaltlose Liebe zu Hubert Lindacher hatte sie aufrecht gehalten, doch jetzt, ohne ihn, war auch ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft dahingeschwunden. Es war noch zu früh für sie, um dem Schicksal letztendlich dankbar zu sein, dass es sie vor einer Ehe mit einem Mann wie Hubert Lindacher bewahrt hatte.
***
»Tut mir leid. Ich bestell dir gleich ein neues Bier«, sagte Bert Leitner entschuldigend zu dem jungen Mann, den er aus Versehen so angerempelt hatte, dass dessen Bier übergeschwappt war.
»Schon gut«, murmelte Stefan Murner abwesend und blickte sich unschlüssig um.
»Setz dich doch zu mir. Ich hab einen Ecktisch ganz für mich allein«, forderte Bert ihn freundlich auf, was Murner mit einem Nicken annahm.
Stefan hatte sich schon lange nicht mehr beim Sonnenwirt sehen lassen. Zwar brauchte er keine Anfeindungen zu fürchten, denn er war im Dorf allgemein respektiert, doch die Scham über das Verhalten seiner Eltern hatte ihn menschenscheu gemacht.
Heute hatte er es jedoch daheim nicht mehr ausgehalten, denn zwischen den Murners waren Zank und Hader ausgebrochen. Jeder gab dem anderen die Schuld daran, dass sie in eine ausweglose Lage geraten waren und vor dem Ruin standen.
Das schrille Gekeife der Mutter schien das ganze Haus zu erfüllen, und manchmal hätte nicht viel gefehlt und der Vater hätte die Hand gegen seine Frau erhoben.
Wenn Stefan es auch nicht zeigte, so war er jetzt doch froh, sich zu Bert Leitner gesellen zu können, statt den Dörflern vielleicht Rede und Antwort stehen zu müssen.
»Du bist der neue Lehrer, net wahr? Hab davon gehört! Hoffentlich bist du net gar so flink mit dem Stock wie der Grindlhuber«, leitete Stefan das Gespräch ein, nachdem sie sich zunächst hingebungsvoll ihrem Bier gewidmet hatten.
»Nein. Vom alten Schrot und Korn bin ich net«, lachte Leitner.
»Der Grindlhuber scheint sich nur schwer von der Stätte seines Wirkens trennen zu können – das ist ja auch wirklich net leicht für ihn nach all den Jahren! So muss ich immer noch oben im Kammerl hausen, auch wenn mich die Sonnenwirtin recht verwöhnt.«
»Da kannst du aber von Glück sagen. Die Priska kann manchmal eine rechte Giftnocken sein. Es wird sogar erzählt, dass sie mal zwei Eingeschneite, die ihr von oben herab gekommen sind, aus der Gaststube gejagt hat.«
»Das kann ich mir schon vorstellen. Aber im Grund genommen hat sie ein gutes Herz. Ich hab dich eigentlich noch nie hier gesehen. Bist du von den Einödhöfen droben?«, lenkte Bert Leitner das Gespräch auf sein Gegenüber.
Stefan Murners markantes Gesicht verschloss sich, und er schien mit sich zu kämpfen.
»Wirst schon genug von uns gehört haben. Schließlich zerreißen sich doch hier alle die Mäuler über die Altenbachers und die Murners, die sich schon seit Ewigkeit in den Haaren liegen«, sagte er bitter und senkte den Blick.
Bert Leitner erwiderte betont gleichmütig: »Ja, ich hab davon gehört, aber über die Jungen zieht niemand her. Der Altenbacher soll doch eine Tochter haben, net wahr?«
»Ja, die Jutta. Sie ist ein paar Jahre jünger als ich. Sie lässt sich kaum im Dorf blicken«, beeilte sich Stefan zu bestätigen, um von sich selbst abzulenken.
»Dann ist sie ja grad im richtigen Alter«, meinte Leitner, und ein Lächeln, das den jungen Mann sehr sympathisch machte, glitt über seine Züge.
»Wie meinst du denn das?«
»Ach, mir ist eben nur ein Gedanke gekommen«, gab Bert zur Antwort und schüttelte amüsiert über seinen Einfall den Kopf.
»Nun lass es schon raus! Du hast mich ja richtig neugierig gemacht«, drängte Stefan ihn.
»Na, du kennst doch die Geschichte von Romeo und Julia. Die Kinder zweier verfeindeter Familien heiraten gegen deren Willen, und das führt dazu …«
»Brauchst mir das net zu erzählen. Wir sind ja net alles Deppen hier, die von nichts eine Ahnung haben!«, fuhr Stefan gereizt dazwischen.
»Ja, weißt du, einmal Lehrer, immer Lehrer! Aber was mir durch den Kopf gegangen ist, wäre eine Abwandlung von der Geschichte: Ihr zwei heiratet, werft das ganze Geraffel zusammen und lebt glücklich bis an euer seliges End. Na, wär das etwa nichts?«
Stefan starrte den jungen Lehrer an, als wäre dieser völlig von Sinnen.
»Ich glaub, du bist narrisch! Das kommt davon, wenn man zu viele Bücher liest!«
»Sag das net! Ich denk ganz praktisch! Wenn die Jutta beispielsweise mit in die Ehe bringen würd, was von dem Besitz noch geblieben ist, dann könnt euer Hof doch unter Umständen weiter bestehen! Hab ich recht?«
»Kann sein! Ein gutes Stückerl Land hat er noch, der Altenbacher, und die Jutta wär versorgt. Aber was red ich da für einen Unsinn! Weder er noch meine Eltern würden das zugeben. Lieber gehen die betteln!« Stefan nahm verwirrt einen tiefen Zug von seinem Bier.
»Kannst du dir vorstellen«, fuhr der Leitner fort, »dass deine Eltern von Almosen leben? Sie würden doch – wie jeder andere auch – nach jedem Strohhalm greifen! Oder habt ihr schon einen Schatz, die Jutta oder du?«
Stefan wehrte heftig ab.
»Unter solchen Umständen könnt ich niemals ans Heiraten denken. Es würd mich gar keine wollen! Und bei der Jutta wird es auch net anders sein!«
»Na also! Das Ganze klingt ein bisserl abwegig, aber je mehr ich darüber nachdenk – allerdings hab ich nie viel von Vernunftehen gehalten!«, schränkte Bert seine kühnen Ausführungen wieder ein.
»Warum net? Hier gibt es fast nur sogenannte Vernunftehen, wie du das nennst. Zuerst kommt mal, dass alles zueinanderpasst und dass die Familien damit einverstanden sind«, erklärte Stefan sachlich.
»Das käm für mich nie infrage! Ich heirate nur eine Frau, die mich genauso mag wie ich sie«, konterte Bert heftig.
Er ließ sich vom Sonnenwirt, der sich schon die ganze Zeit bemüht hatte, etwas von ihrem Gespräch aufzuschnappen, noch ein Bier bringen.
»Ja, als Lehrer kannst du dir das auch leisten!«, gab Stefan ziemlich bissig zurück, dann aber mussten die beiden jungen Männer unwillkürlich lachen.
»In was wir uns da nur verrennen! Meine Eltern würd der Schlag rühren, wenn sie wüssten, über was wir zwei hier so reden!«
Stefans Gesicht, eben noch gelöst, verdüsterte sich wieder, doch Leitner gelang es schnell, ihn wieder aufzuheitern, indem er dem Gespräch eine andere Richtung gab. Und je länger der Meinungsaustausch andauerte, desto mehr fanden die Männer Gefallen aneinander.
An diesem Abend wurde der Grundstein für eine lebenslange Freundschaft gelegt – eine Freundschaft, die auch eine schwere Belastungsprobe überstehen sollte.
Später setzte sich der Sonnenwirt zu ihnen, und sie konnten sogar Priska dazu bewegen, ein Glas Wein mit ihnen zu trinken. So schloss der Abend in fröhlicher Runde und Leitner und Murner verabredeten sich ganz selbstverständlich für den übernächsten Abend.
Auf dem Heimweg kam es Stefan zum Bewusstsein, dass er sich nicht erinnern konnte, in den letzten Jahren jemals so guter Stimmung gewesen zu sein. Das häusliche Unglück hatte ihm seine Jugend vergällt und ihn jeder Unbeschwertheit und Lebensfreude beraubt.
»Am besten wär, ich ging fort. Dann würd ein ganz anderer Mensch aus mir, das hab ich heut ja gesehen«, murmelte er nach Art einsamer Menschen vor sich hin, nachdenklich bei der Wegabzweigung innehaltend.
Doch gleichzeitig wusste er auch, dass er viel zu sehr mit seiner Heimat verbunden war, um alles hinter sich zu lassen. Dazu kam noch, dass er sich dann mit einer abhängigen, untergeordneten Stellung abfinden müsste, während er sich bislang als Hoferbe trotz aller Schwierigkeiten einer gewissen Freiheit erfreute. Er kannte sich gut genug, um zu wissen, dass es für ihn schwer sein würde, sich einem fremden Willen zu unterwerfen.
Dann ging ihm wieder die Unterhaltung mit Bert Leitner durch den Sinn, besonders dessen Vorschlag, Jutta Altenbacher zu heiraten.
»So etwas Hinverbranntes!«, schimpfte er vor sich hin und strich sich über die erhitzte Stirn.
Während ihm aber einerseits die Vorstellung völlig absurd erschien, so beschäftigte sie ihn gleichzeitig so lebhaft, dass sie Gestalt anzunehmen begann.
***
Als Stefan am nächsten Tag zum Mittagessen vom Feld heimkehrte, fand er seine Eltern in heller Aufregung vor.
Sein Vater, hochrot im Gesicht, schwenkte ein weißes, amtlich aussehendes Schreiben in der Hand. Gertrud saß wie zerschmettert auf einem Stuhl und hielt die Hand vor den Mund gepresst, kaum jemals zuvor hatte Stefan seine Mutter sprachlos gesehen.
»Was für eine Hiobsbotschaft ist denn jetzt wieder gekommen?«, fragte Stefan beunruhigt.
»Red net so geschwollen daher! Diese Bazis! Wenn man am Boden liegt, dann fallen sie alle über einen her!«, fuhr ihn sein Vater an und brach in einen Schwall von Verwünschungen aus.
»Willst net endlich sagen, was los ist!«, verlangte Stefan ungeduldig zu wissen.
Es war seine Mutter, die schließlich antwortete. Sie war unnatürlich blass und hatte die Hände im Schoß verkrampft, sodass Stefan plötzlich heißes Mitleid mit der verblendeten Frau verspürte.
»Die Hypothek ist uns gekündigt worden! Wir sind zu lang im Rückstand gewesen! Auf unsere alten Tage sind wir bettelarm und werden anderen zur Last fallen!«, greinte Gertrud und wiegte sich wie ein Klageweib hin und her.
Stefan war wie betäubt von dieser Eröffnung, stumm stand er da und eine große Bitterkeit stieg in ihm empor. Die Arbeit der ganzen letzten Jahre war umsonst gewesen – Jahre, in denen er sich keine Ruhe gegönnt und auf alles verzichtet hatte. Das Mitleid, das er eben noch für seine Mutter empfunden hatte, verwandelte sich in heftigen Zorn.
»Hör auf mit dem Gejammer! Hättet ihr beiden nur ein bisserl Einsicht gezeigt, dann wär es net so weit gekommen!«, herrschte Stefan sie an.
Früher hätten sich die Eltern diesen Ton niemals gefallen lassen. Die Tatsache, dass der Murner nun nicht die geringsten Anstalten machte, seinen Sohn in die Schranken zu weisen, zeigte mehr als alles andere, dass er ein gebrochener Mann war.
»Und gibt es net noch einen Ausweg?«, fragte Stefan in die lastende Stille hinein.
»Nein!«, sagte der Murner heiser, das Schreiben glitt aus seiner bebenden Hand, und keiner hob es auf.
»Am liebsten möcht ich sterben! Was soll ich noch auf dieser Erd?«, fing Gertrud wieder an zu klagen, doch Stefan schenkte ihr keine Beachtung.
»Wir müssen verkaufen, alles hergeben, was unsere Vorfahren in langer Zeit …« Murners Stimme brach, und er bedeckte das Gesicht mit den Händen.
»Vielleicht wüsst ich einen Weg, wie wir den Hof doch halten könnten«, sagte Stefan da langsam.
»Was? Sag’s schon!«, drängte ihn Gertrud begierig. In ihren trüben Augen glomm ein jäher Hoffnungsfunken auf.
»Ich kann nichts Genaues sagen, es ist nur eine Möglichkeit, und ich will euch keine falschen Hoffnungen machen. Aber es wär net leicht für euch. Und wenn ihr weiter so starrsinnig bleibt in allem, kann sowieso nichts draus werden«, setzte Stefan hart hinzu.
»Uns ist alles recht. Hauptsache, wir werden net von unserem Hof gejagt! Die Schand tät ich net überleben!«, jammerte Gertrud und begann wieder zu weinen.
»Sei stad! Dein Geflenne hilft uns auch net weiter!«, fuhr Murner seine Frau grob an, und Gertrud zuckte erschrocken zusammen. Dann fragte er misstrauisch, an Stefan gewandt: »Ich möcht aber doch gern wissen, was du vorhast. Net, dass wir vom Regen in die Traufe kommen.«
»Hast du einen Vorschlag?«, gab Stefan ungehalten zurück, und sein Vater presste verbittert die Lippen zusammen.
Schließlich griff Stefan nach dem Schreiben und steckte es, ohne es gelesen zu haben, in seine Jackentasche.
»Ich werd noch mal mit denen reden. Vielleicht kann ich sie doch noch zu einem Aufschub bringen«, murmelte er, obwohl er wusste, dass es ein sinnloses Unterfangen war.
»Da wirst du auf Granit beißen! Die haben es doch nur darauf abgesehen, an den Hof zu kommen! Erst bewilligen sie die Hypotheken, und dann lauern sie drauf, dass man nimmer zahlen kann!« Murner brach erneut in wilde Flüche aus.
Stefan verzichtete darauf, seinem Vater vorzuhalten, dass er nicht schuldlos an der Situation war. Er ging zur Kredenz und goss zwei Obstler ein, die er seinen Eltern anbot.
»Hier trinkt und beruhigt euch. Es wird net so heiß gegessen, wie gekocht wird. Wartet ab und überlasst alles mir.«
Die beschwichtigenden Worte verfehlten ihre Wirkung nicht, der Ausdruck wütender Verzweiflung wich aus Murners Zügen, und Gertrud wischte sich entschlossen die Tränen ab und stand auf.
»Ich hab noch nichts gekocht vor lauter Aufregung. Zu hungern brauchen wir ja noch net«, sagte sie wieder ganz auf ihre bissige Art und strebte, vielleicht ein bisschen langsamer als sonst, der Küche zu.
In stillschweigendem Einverständnis sprachen die Murners nicht mehr über die Bedrohung, die über ihnen hing, es war, als hätten sie alle Verantwortung dafür auf die Schultern ihres Sohnes abgewälzt.
Es gelang Stefan auch tatsächlich, eine weitere Zahlungsverlängerung zu erbitten, was ihm wohl in der Annahme bewilligt wurde, dass der Hof angesichts der anerkannten Tüchtigkeit des jungen Murner nun in besseren Händen wäre. Stefan wusste, dass diese Gnadenfrist nur von kurzer Dauer war, doch seine Eltern sahen sich völlig in ihrer Haltung bestätigt.
Dennoch unternahm Murner keine Anstalten, Stefan den Hof zu überschreiben, wie man es hätte erwarten können. Er verschanzte sich zwar hinter seinem Sohn, war aber nicht willens, die Zügel aus der Hand zu geben.
So lastete eine schwere Bürde auf Stefan Murner, verzweifelt sann er darüber nach, wie er das scheinbar Unabwendbare abwenden könnte. Und immer wieder gingen ihm Bert Leitners Worte im Kopf herum, bis er sich dazu entschloss, dem Altenbacherhof heimlich einen Besuch abzustatten.
***
An einem warmen stillen Abend machte sich Stefan auf den Weg zum benachbarten Hof. Er schlug einen weiten Bogen um das Anwesen und näherte sich ihm dann von der Rückseite, wo sich ein weitläufiger Gemüsegarten anschloss, der von dichtem Buschwerk umgeben war.
Stefan hätte jedoch keine Furcht vor Entdeckung zu haben brauchen, denn der Hof lag wie ausgestorben da. Nicht nur das Vieh, sondern auch der Kettenhund, der früher jedem wütend entgegen gekläfft hatte, und selbst die Perlhühner, einst Stolz der verstorbenen Bäuerin, befanden sich inzwischen in anderen Händen.
Stefan verbarg sich hinter einem dichten Haselnussstrauch und überblickte so – unsichtbar für die Hofbewohner – den Garten bis zur Rückseite des Wohnhauses. Auch hier zeigten sich überall Spuren der Verwahrlosung, zwar waren einige Gemüsebeete und Rabatten sorgfältig gepflegt, doch die überalterten, knorrigen Obstbäume bedurften dringend eines Schnittes und der Holzzaun war morsch und stellenweise eingebrochen.
Offensichtlich bewältigte das Mädchen so viel, wie es in ihren Kräften stand, und versuchte den täglichen Bedarf, soweit es der Garten hergab, abzudecken.
Stefans Geduld wurde schließlich belohnt, und obwohl er auf Juttas Erscheinen gehofft hatte, zuckte er zusammen, als sich die Hintertür mit kreischenden Scharnieren öffnete und die Hoftochter hinausschlüpfte.
Stefan hatte nur eine ungenaue Vorstellung von ihr, weil er Jutta in den letzten Jahren kaum noch zu Gesicht bekommen hatte. Als Kind war sie ein scheues, mageres Geschöpf gewesen, dessen Haare immer unordentlich ins Gesicht hingen, sodass er ihre Züge nie richtig erkennen konnte.
Nach dem Tod ihrer Mutter wirkte sie noch vernachlässigter, und von den anderen Kindern wurde sie wegen ihrer armseligen Kleidung oft grausam verspottet. Nur die Tochter des Ratsschreibers hatte zu ihr gehalten und derbe Püffe auszuteilen gewusst, wenn die Freundin wieder einmal als »Lumpen-Jutta« gehänselt wurde.
An Juttas äußerem Erscheinungsbild hatte sich, obwohl das Mädchen inzwischen längst erwachsen war, offensichtlich wenig verändert. Sie trug einen ausgeblichenen Hauskittel und darüber eine geflickte, formlose Schürze, sodass ihre Gestalt einen schmächtigen und reizlosen Eindruck machte. Auch heute hing ihr das Haar wirr in die Stirn, als käme sie vor Sorgen und Erschöpfung nicht dazu, sich richtig zu kämmen.
Jutta begann unverzüglich, die Gemüsebeete zu jäten und zu harken, dann wässerte sie die Nutzpflanzen und Blumenrabatten. Kanne um Kanne schöpfte sie aus der brennnesselumwachsenen Regentonne, von der die grüne Farbe abblätterte. Manchmal hielt sie inne und murmelte vor sich hin, wie um ihren Gedanken mehr Raum zu geben oder sich selbst Trost zuzusprechen.
Stefans Herz krampfte sich zusammen, sah er doch in dem Mädchen, einsam wie er selbst, sein eigenes Spiegelbild, doch ungleich bedrängter und gepeinigter als er.
Plötzlich unterbrach sie ihre Arbeit und heftete ihren Blick unverwandt auf das Gebüsch, hinter dem Stefan stand. Er hielt den Atem an, doch zu seiner Erleichterung schöpfte sie keinen Verdacht. Aber sie blieb unruhig, ihre Bewegungen wurden fahrig, sie schien zu spüren, dass sie beobachtet wurde.
Stefan konnte den Blick nicht von ihr lösen, er hatte noch nie ein Mädchen gesehen, das mit so liebevoller Sorgfalt und Umsicht zu Werke ging. Behutsam drückte sie eine kleine Pflanze in das Erdreich zurück, band Ranken hoch und schnitt wilde Triebe aus. Inmitten von Armseligkeit und Verwahrlosung hatte Jutta eine blühende kleine Insel geschaffen, die ihr, bedrängt von den Sorgen eines freudlosen Daseins, Zuflucht bot.
Mit sichtlichem Bedauern raffte sie schließlich ihre Gartengeräte zusammen, warf noch einen prüfenden Blick in die Runde und verschwand, nachdem sie ihre erdigen Hände in der Wassertonne gereinigt hatte, im Haus.
Stefan wartete noch eine Weile, ehe er den Rückzug antrat, dann schritt er langsam, in tiefes Grübeln versunken, voran, ohne seine Umgebung wahrzunehmen. Jutta hatte etwas in ihm angerührt, ein unbestimmtes Empfinden geweckt, das er sich schließlich als Mitleid zu erklären versuchte.
»Sie ist eine kleine Vogelscheuche! Eine kümmerliche, zerrupfte Vogelscheuche, aber sie muss meine Frau werden«, sagte er halblaut vor sich hin und erschrak über seine eigenen Worte.
Stefan Murner pflegte, hatte er erst einmal einen Entschluss gefasst, mit großer Zielstrebigkeit vorzugehen, und so plante er schon seine nächsten Schritte.
»Ich werd mit dem Bert Leitner reden, der ist ein schlauer Kopf! Wir werden zusammen etwas ausbrüten, um den Altenbacher herumzukriegen, ohne den geht es net. Es wird uns schon etwas einfallen!«
Er beschleunigte seine Schritte, denn die Dunkelheit sank herab, und bald tauchte das elterliche Anwesen vor ihm auf.
***
Doch das Schicksal setzte allem Klügeln und Planen ein Ende. Als Jutta tags darauf von der abendlichen Gartenarbeit in die Stube zurückkehrte, fand sie ihren Vater vor der Ofenbank reglos am Boden liegen.
Der scharfe Geruch des Obstlers, der aus der Lasche ausgelaufen war, würgte sie in der Kehle, dennoch beugte sie sich zu ihrem Vater hinunter und drehte seinen schweren Körper herum.
»Vater!«
Aus weit aufgerissenen Augen starrte er sie blicklos an, ein schwerer Schlaganfall, der nicht zuletzt dem maßlosem Alkoholkonsum zuzuschreiben war, hatte seinem unglücklichen Leben ein Ende gesetzt.
Die nächsten Tage vergingen für das Mädchen wie ein furchtbarer Traum, aus dem es kein Entrinnen gab. Auch wenn der Altenbacher ihr keine Zuneigung entgegengebracht und durch sein törichtes Verhalten ihre Zukunft zerstört hatte, so empfand sie seinen Tod doch als schweren Verlust, der sie der völligen Vereinsamung preisgab.
Barbara hatte alles im Stich gelassen und stand ihrer Freundin zur Seite. Barbara war es auch, die alles für die Beerdigung in die Wege leitete und Jutta am Grab stützte, als das Mädchen umzusinken drohte.
Die entfernten Verwandten, die in der Hoffnung auf eine Erbschaft herb eigereist waren, boten ihr weder Trost noch Hilfe. Nachdem rasch klargeworden war, wie die Dinge standen, verschwanden sie sofort nach der Beerdigung, nicht ohne noch ein paar abschätzige Bemerkungen über den Verstorbenen und die Umstände seines Todes fallen zu lassen.
Barbara machte sich große Sorgen um die Freundin, die ihr verstört und hilflos vorkam, und die den Tod des Vaters offenbar nicht als Befreiung empfand.
»Ich lass dich gar net gern allein hier oben. Willst du net eine Weile bei uns wohnen?«, schlug sie vor, doch Jutta wies ihr freundliches Anerbieten, ohne zu zögern, ab.
»Du meinst es gut mit mir! Aber ich kann net alles so zurücklassen, besonders net den Garten! Außerdem bin ich es ja gewohnt, allein zu sein.« Jutta biss sich auf die Unterlippe, sie hatte nicht verraten wollen, dass ihr Vater seit Langem nicht mehr ansprechbar gewesen war.
»Ich versteh dich schon. Sicher willst du auch die ganzen Papiere durchsehen«, meinte Barbara rasch.
Jutta nickte, obwohl es keineswegs in ihrer Absicht lag, die persönlichen Dinge ihres Vaters zu berühren. Sie wusste, dass er kein Testament gemacht hatte, alles andere musste sie auf sich zukommen lassen.
»Am Wochenende komm ich wieder, wenn es dir recht ist«, sagte Barbara, und die beiden Freundinnen umarmten sich liebevoll zum Abschied.
Jutta sah Barbara nach, bis sie verschwunden war, dann wandte sie sich um und ging mit schleppenden Schritten ins Haus zurück.
***
Nachdem Jutta wieder zu sich gefunden hatte, entfaltete sie eine fieberhafte Tätigkeit. Sie befürchtete, dass der Hof in absehbarer Zeit versteigert würde, und so lag ihr daran, dass alles, soweit es in ihren Kräften stand, in tadellosem Zustand war.
Sie polierte das Kupfergerät in der Küche, wusch und putzte, legte die Federbetten aus und flickte die verbliebenen Bestände an Leinenzeug.
Augenblicklich war sie damit beschäftigt, die Holzdielen in der Stube zu scheuern, ein mühsames Unterfangen, da sie vom Alter nachgedunkelt und ausgetreten waren. Sie hatte die Türen und Fenster weit geöffnet, um die warme Sommerluft hineinzulassen.
Als sie plötzlich ein Geräusch auf dem Flur hörte, schrak sie zusammen, und Barbaras Ermahnungen, mehr auf ihre Sicherheit zu achten, gingen ihr durch den Kopf.
»Bist du es, Barbara? Hab gedacht, du kannst erst morgen kommen?«, rief sie, und ihre Hände begannen zu zittern, als sie keine Antwort bekam.
Ein kräftiger junger Mann stand in der Tür, und Jutta war so überrascht, dass sie ihre knieende Stellung beibehielt und angstvoll zu ihm emporstarrte.
Wie immer sah sie erbarmungswürdig aus, sie hatte das Haar unter einem dunklen Tuch verhüllt, in den zerschundenen, verarbeiteten Händen hielt sie einen triefenden Putzlumpen.
Stefan Murner ging einen Schritt auf sie zu und hielt ihr die Hand hin, um ihr aufzuhelfen. Doch sie machte keine Anstalten aufzustehen, sah ihn nur aus weit aufgerissenen Augen an.
»Ich wollt dich net erschrecken, Jutta. Es ist aber ziemlich leichtsinnig von dir, alles aufgesperrt zu haben, wenn du ganz allein bist.«
Schließlich erhob sie sich mit einer behänden Bewegung, und da ihr wohl zu Bewusstsein kam, wie ihr Aufzug wirken musste, streifte sie hastig das Tuch vom Haar und hing die Überschürze, die an den Knien vom Schmutzwasser durchweicht war, über die nächste Stuhllehne.
Dann musterte sie ihn mit zusammengekniffenen Augen und murmelte: »So, der Murner-Stefan!«
Ihr Tonfall reizte Stefan unwillkürlich zum Lachen, er verstummte aber sofort unter ihrem Blick.
»Tut mir leid, ich mein, wegen deinem Vater«, stammelte er unbeholfen. »Ich musste lachen, weil das eben so vorwurfsvoll geklungen hat, schließlich hab ich dir nie etwas angetan.«
»Von wegen! Als ich noch zur Schule ging, hast du mich immer an den Zöpfen gezogen und dir einen Spaß draus gemacht, wenn ich geweint hab!«, gab sie heftig zurück. »Ich hab immer eine Angst ausgestanden, wenn ich dich schon von Weitem gesehen hab!«
Ein Sonnenstrahl verirrte sich in ihrem wirren Haargelock und ließ es kupfern aufleuchten. Mit den geröteten Wangen und den funkelnden Augen kam sie Stefan plötzlich so verändert vor, dass ihm die Kehle eng wurde.
»Ich kann mich nimmer erinnern, dass ich dich so geplagt haben soll. Aber deine Freundin, die Barbara, die hat mir ganz schön zugesetzt, das kratzbürstige Ding!«
Nun konnte Jutta doch nicht verhindern, dass ein Lächeln über ihre Züge glitt, was sie auf wunderbare Weise verschönte und sie so jung erscheinen ließ, wie sie tatsächlich war. Dann aber verhärtete sich ihr Gesicht wieder in plötzlicher Abwehr, und kurz angebunden fragte sie: »Was willst du eigentlich?«
»Das ist eine längere Geschichte, und ich hätt nichts dagegen, wenn ich mich hinsetzen könnt dazu!«
Mit einer Kopfbewegung forderte sie ihn auf, Platz zu nehmen, und zwang sich zur Höflichkeit.
»Willst du einen Enzian?«, fragte sie.
»Höchstens ein Wasser«, bat Stefan, »da hätt ich nichts dagegen. Die Wärme hat mich durstig gemacht.«
Diese Antwort befriedigte sie offenkundig, und nachdem sie ihm das Gewünschte gebracht hatte, brühte sie in der Küche frischen Kaffee auf und stellte einen Teller mit Gebäck auf den Tisch.
»Die back ich immer für die Barbara. Morgen kommt sie mich besuchen«, erklärte sie spröde.
»Gut sind sie. Der Mann, der dich mal zur Frau kriegt, …«
»Sei doch stad!«, fuhr Jutta auf. »Mich nimmt doch keiner, das weißt du so gut wie ich!«
Sie errötete, sie schämte sich ihrer Offenheit und ihrer Unbeherrschtheit und konnte sich nicht erklären, was sie dazu getrieben hatte.
»Genau das ist der Grund, warum ich mit dir reden möcht«, sagte Stefan, von ihrem Ausbruch ermutigt.
Jutta sah ihn verständnislos an.
»Ich will auch gleich zur Sach kommen. Musst mir aber versprechen, dass du mir net gram bist, wenn dir das Ganze net gefällt.«
Er schilderte ihr mit knappen Worten, wie er sich mit Bert Leitner angefreundet und welchen Vorschlag der ihm gemacht hatte.
»Ich weiß, das klingt alles sonderbar, und wahrscheinlich wirst du sagen, ich soll mich davonscheren, aber es geht mir halt nimmer aus dem Sinn. Du hast aber sicher schon andere Pläne.«
»Ich hab gar keine Pläne!«, gab Jutta spontan zur Antwort.
Seit dem Tod ihres Vaters hatte sie sich immer nur auf das Nächstliegende konzentriert und alles andere verdrängt.
Bevor sie richtig auf das Gesagte reagieren konnte, stand Stefan hastig auf.
»Also, lass dir das alles mal durch den Kopf gehen, ich schau dann wieder vorbei. Weißt du, wenn ich den Hof wieder rentabel machen könnt, gäb es net nur für mich eine Zukunft. Außerdem will ich die leidige Sach mit unseren Eltern endgültig aus der Welt schaffen«, schloss er.
Jutta sah ihn nur an, sie war außerstande, ihm eine Antwort zu geben. Sie war immer noch wie gelähmt, auch als er das Haus schon längst verlassen hatte.
Dann erst brach sich ihre Empörung Bahn.
Wie konnte er es wagen, ihr einen solchen haarsträubenden Vorschlag zu unterbreiten – so kurz nach der Beerdigung ihres Vaters, an dessen frühem Tod seine Eltern nicht unbeteiligt waren! Wollte er so beweisen, dass die Murners schließlich doch die Oberhand gewonnen hatten? Wie über ein Geschäft, einen Kuhhandel, hatte er gesprochen!