Heimat-Roman Treueband 50 - Rosi Wallner - E-Book

Heimat-Roman Treueband 50 E-Book

Rosi Wallner

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Beschreibung

Lesen, was glücklich macht. Und das zum Sparpreis!

Seit Jahrzehnten erfreut sich das Genre des Heimat-Bergromans sehr großer Beliebtheit. Je hektischer unser Alltag ist, umso größer wird unsere Sehnsucht nach dem einfachen Leben, wo nur das Plätschern des Brunnens und der Gesang der Amsel die Feierabendstille unterbrechen.
Zwischenmenschliche Konflikte sind ebenso Thema wie Tradition, Bauernstolz und romantische heimliche Abenteuer. Ob es die schöne Magd ist oder der erfolgreiche Großbauer - die Liebe dieser Menschen wird von unseren beliebtesten und erfolgreichsten Autoren mit Gefühl und viel dramatischem Empfinden in Szene gesetzt.

Alle Geschichten werden mit solcher Intensität erzählt, dass sie niemanden unberührt lassen. Reisen Sie mit unseren Helden und Heldinnen in eine herrliche Bergwelt, die sich ihren Zauber bewahrt hat.

Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:

Alpengold 208: Dunkle Stunden im Bürgermeisterhaus
Bergkristall 289: Adieu, ihr Berge und Täler
Der Bergdoktor 1773: Auf diesem Hof liegt ein Fluch
Der Bergdoktor 1774: Der Besuch der Halbschwester
Das Berghotel 145: Sieben Wünsche für einen Sommer

Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 320 Taschenbuchseiten.
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Seitenzahl: 631

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Rosi Wallner Christian Seiler Andreas Kufsteiner Verena Kufsteiner Rosi Wallner Christian Seiler Andreas Kufsteiner Andreas Kufsteiner Verena Kufsteiner
Heimat-Roman Treueband 50

BASTEI LÜBBE AG

Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben

Für die Originalausgaben:

Copyright © 2015/2017 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2023 by

Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Covermotiv: © Michael Wolf / Bastei Verlag

ISBN: 978-3-7517-5182-7

www.bastei.de

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Heimat-Roman Treueband 50

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Alpengold 208

Dunkle Stunden im Bürgermeisterhaus

Bergkristall - Folge 289

Adieu, ihr Berge und Täler

Der Bergdoktor 1773

Auf diesem Hof liegt ein Fluch

Der Bergdoktor 1774

Der Besuch der Halbschwester

Das Berghotel 145

Sieben Wünsche für einen Sommer

Guide

Start Reading

Contents

Dunkle Stunden im Bürgermeisterhaus

Es war einmal eine angesehene Familie

Von Rosi Wallner

»Ich würd mich immer wieder in dich verlieben, Weiberl«, sagt Franz Altstetter, der Bürgermeister des kleinen Bergdorfes, zu seiner Frau Luitgard, als sie im Kreise ihrer Lieben mit einem rauschenden Familienfest Franz’ Geburtstag und ihren dreißigsten Hochzeitstag feiern. Tatsächlich haben die Altstetters immer eine vorbildliche Ehe geführt. Und doch hüten sie ein dunkles Geheimnis, von dem nicht einmal ihre drei Kinder Marco, Stefan und Annerl etwas wissen.

Dass sich das ausgerechnet auf dem Fest ändern soll, ahnt niemand der Anwesenden. Aber als die Wahrheit ans Licht kommt, stehen alle unter Schock …

»Hoffentlich hält sich das Wetter, und wir können draußen feiern. Im Haus ist halt net genug Platz für die vielen Gäste«, meinte Luitgard Altstetter besorgt und fuhr sich mit dem Arm über die erhitzte Stirn.

Sie hatte schon den ganzen Tag für das Familienfest am morgigen Samstag vorgekocht, und in der heißen Küche war es kaum noch auszuhalten. Auf dem großen Herd brodelte es, aromatische Düfte nach Kräutern und Gewürzen erfüllten den Raum.

»Das Kaiserwetter soll noch eine Woche anhalten, mach dir keine Sorgen«, beruhigte sie ihr Mann, der es gewagt hatte, die Küchenschwelle zu übertreten, was sonst weder von seiner Frau noch von Resi Angerer, ihrer Haushälterin seit Jahrzehnten, gern gesehen wurde.

»Hoffentlich«, meinte Luitgard und rührte in einem großen Topf. »Und wie geht es draußen voran?«

»Gut. Die Kinder stellen die Tische und Bänke auf und schmücken das Haus. Sogar Lampions wollen sie in den Bäumen aufhängen«, gab Franz Altstetter Auskunft.

»Gut«, murmelte Luitgard und richtete sich auf.

Ihr gerötetes Gesicht zeigte plötzlich einen Ausdruck tiefer Erschöpfung, der ihrem Mann nicht entging.

»Du hast für heut genug getan, Luitgard. Es gibt doch wohl nichts mehr, was die Resi net allein bewältigen könnt, oder?«, sagte er in bestimmtem Ton.

»Das will ich meinen«, behauptete Resi verdrossen, denn sie fand, dass Luitgard ihr wieder viel zu viel aus der Hand genommen hatte.

»So, wir schauen uns jetzt an, was die Kinder zuwege gebracht haben«, schlug Franz vor, und Luitgard erhob keinen Widerspruch.

Sie legte die Schürze ab und strich sich die Haare zurück, dann verließen sie das geräumige Bürgermeisterhaus, wie die Wohnstatt der Altstetters im Dorf allgemein genannt wurde.

Es war von Simon Altstetter, dem Vater von Franz, erbaut worden und glich einem stattlichen ländlichen Anwesen. Breit am Dorfausgang hingelagert, mit Balustraden und kunstvoller Lüftlmalerei bot es einen Blickfang, besonders wenn im Sommer eine üppige Geranienpracht von den Fenstersimsen und Balkonen herabflammte. Dahinter erstreckte sich ein liebevoll angelegter Bauerngarten, der von Luitgard gehegt und gepflegt wurde. Er ging in eine große Streuobstwiese über, deren Bäume nun in voller Blüte standen.

Hier hatten Franz und später dessen Nachkommenschaft eine glückliche Kindheit erlebt. Von der Streuobstwiese führte ein kleiner, ausgetretener Pfad zu einem Bergsee mit wunderbar klarem Wasser. Im Sommer trafen sich dort die Dorfkinder und kühlten sich in dem erfrischenden Nass von der Hitze ab. Und natürlich versammelten sie sich auch im Schatten der alten Obstbäume, wo es Limonade und frisch gebackenen Kuchen aus dem Bürgermeisterhaus gab.

Simon Altstetter war bis zu seinem plötzlichen vorzeitigen Tod Bürgermeister der kleinen Gebirgsgemeinde gewesen. Sein Sohn dagegen war mit seiner jungen Familie in München geblieben, wo er bei einer Behörde gearbeitet hatte. Kurz nach dem Ableben seines Vaters aber war er nach Eggertshofen zurückgekehrt, denn Luitgard, die auch aus dem Ort stammte, war zunehmend von Heimweh gequält worden und hatte sich in der Großstadt nicht wohlgefühlt.

Als man Franz den Bürgermeisterposten anbot, trat er die Nachfolge an. Es war seine Art, das Andenken seines Vaters zu ehren. Und er hatte es nie bereut. Sie bezogen das Bürgermeisterhaus, Luitgard blühte wieder auf und schenkte einem dritten Kind, einer Tochter, das Leben.

Daran musste Franz denken, als er neben Luitgard über den schmalen Weg, der mit Blumenrabatten gesäumt war, zu der Streuobstwiese schritt. Wie Schnee leuchteten die blühenden Bäume durch das satte Grün der Wiese, Sonnenstrahlen tanzten vor ihnen her. Zwischen den Baumgruppen tat sich eine Lichtung auf, die zwar beschattet war, aber gleichzeitig genug Raum bot, um eine Reihe von Tischen aufzustellen.

Das Ehepaar blieb unwillkürlich stehen, um das Treiben der jungen Leute zu beobachten. Wie gewöhnlich hatten sich die Spezln der beiden Söhne dazugesellt, und ihre Tochter unterhielt sich lachend mit zwei Freundinnen.

Der Anblick ihrer Kinder ließ den Altstetters immer das Herz aufgehen. Marco, der älteste Sohn, hochgewachsen und dunkelhaarig, verfügte über ein großes musikalisches Talent, auch wenn er es nur widerwillig zum Einsatz brachte. Stefan, sein jüngerer Bruder, schien dagegen in die Fußstapfen des Vaters zu treten, und studierte Verwaltungswissenschaft.

Luitgards Blick schweifte zu Anna, ihrer Tochter, die alle nur Annerl nannten. Mit den feinen Gesichtszügen und den silberblonden Locken, die ihr schönes Gesicht umgaben, wirkte sie geradezu elfenhaft. Ein Eindruck, der durch das helle Kleid, das ihre zierliche Gestalt umfloss, noch erhöht wurde.

Luitgards Herz zog sich zusammen. Ihr Annerl, das so gutherzig und empfindsam war. Sie leistete gerade ein soziales Jahr im Kreiskrankenhaus ab, und immer wenn es einem der Patienten schlechter ging, war sie bedrückt und unglücklich, auch wenn sie es zu verbergen suchte. Und dann machte sich Luitgard große Sorgen um die Tochter.

Jetzt aber war sie voller Lebensfreude, hängte mit den Freundinnen Lampions an den Ästen auf und gab schlagfertige Antworten auf die Neckereien der jungen Männer. Besonders der Sohn des Dorfarztes tat sich dabei hervor und ließ Annerl kaum aus den Augen.

Luitgard stieß ihren Mann leicht an.

»Da, schau nur! Der Martin vom Doktor ist anscheinend in unser Annerl verliebt. Er macht gar keinen Hehl draus.«

»Ach so? Das tät doch passen. Der Martl ist ein ordentlicher Bursche. Und wie steht sie denn dazu?«, gab Franz zurück.

»Du weißt ja, wie Madeln in dem Alter sind. Sie tut halt so, als ob sie nichts von ihm wissen wollt.«

»Sie will ihr Fell halt net so billig verkaufen«, gab Franz zurück.

»Mandl! Wie kannst du so über unser Annerl reden«, gab Luitgard entrüstet zurück, denn auf ihre Kinder ließ sie nichts kommen.

»Das war doch nur ein Scherz, Liebes«, lachte ihr Mann verschmitzt.

»Bei unseren Kindern versteh ich halt keinen Spaß«, erwiderte Luitgard schon wieder halb versöhnt. Doch dann erweckte etwas anderes ihre Aufmerksamkeit. »Da, schau, die Blanka. Dass die sich hierher bequemt hat«, sagte sie ohne die geringste Begeisterung.

»Kaum zu glauben, dass der Martl eine solche Schwester hat«, meinte ihr Mann.

»Und wie sie sich wieder hergerichtet hat! Das enge schwarze Zeug, und net nur den Mund hat sie sich schwarz angemalt, sondern auch ihre langen Krallen sind so grausig lackiert. So tät ich meine Tochter net aus dem Haus lassen.«

»Ach, das ist vielleicht nur eine Phase. In ein paar Jahren reißt sie sich das schwarze Zeug vom Leib und steht in einem weißen Brautkleid vor dem Altar.«

»Ihr Mannsleut seht das halt anders. Ich glaub net, dass die Blanka sich ändert.«

Luitgards Stimme hatte einen unfreundlichen Unterton angenommen, was verwunderlich war, denn die Frau des Bürgermeisters war sonst immer freundlich und ausgleichend. Geradezu harmoniesüchtig, wie Franz oft fand, aber Blanka war ihr eben schon immer ein Dorn im Auge gewesen.

Tatsächlich wirkte das junge Mädchen wie ein Fremdkörper unter den anderen. Es war eine auffallende Erscheinung, wurde auch meistens »die schöne Blanka« genannt. Ihre schwarzen Haare, in der Mitte gescheitelt, flossen ihr glatt auf die Schultern, und weder die auffällig geschminkten Lippen noch die dicke schwarze Umrandung ihrer Augen konnten ihrer Schönheit Abbruch tun.

Sie trug enge schwarze Kleidung, Arme und Beine waren bedeckt, als wäre es nicht ein warmer Frühsommertag. Gleichzeitig wurde dadurch die Blässe ihrer Haut hervorgehoben, die fast unnatürlich wirkte.

»Hast du gesehen, wie der Stefan sie eben angeschaut hat?«, fragte Luitgard beunruhigt ihren Mann.

»Dem scheint sie zu gefallen. Gegensätze ziehen sich halt an …«

»Jesses«, fiel sie ihm ins Wort, »nur net so eine in unserer Familie! Es ist ja net nur ihr Aufzug, sondern sie taugt auch sonst net viel. Hängt den ganzen Tag herum und weiß net, warum sie auf dieser Welt ist.«

»Reg dich net auf, Weiberl. Es ist ja noch lang net gesagt, dass ihr der Stefan gefällt. Der ist wahrscheinlich viel zu langweilig und zahm für sie«, versuchte Franz sie zu beschwichtigen, erreichte dabei aber nur das Gegenteil.

»Langweilig – unser Stefan«, kam es empört von ihren Lippen.

»Du weißt schon, wie ich’s mein. Komm, jetzt gehen wir zu den jungen Leuten. Die haben sich alle Mühe gegeben, wie man sieht.«

Kaum war das Ehepaar näher getreten, als es auch schon mit Fragen bestürmt wurde. Man war sich nicht ganz sicher, ob die Tische so richtig platziert waren, doch die Altstetters fanden nichts daran auszusetzen.

»Meint ihr, wir sollen noch mehr Lampions aufhängen?«, fragte Annerl, deren Wangen sanft gerötet waren.

»Ich helf dir gern dabei«, bot sich Martin Donath, der Arztsohn, eilfertig an.

Er rückte einen Stuhl zurecht und stieg darauf, und Annerl blieb nichts anderes übrig, als ihm die Kette mit den Lampions hochzureichen.

»Wie wäre es denn mit Lampions auf dem Hof hinter dem Haus? Es sind ja noch genug da«, schlug Stefan vor.

Das fand Anklang, denn der geräumige Hof an der Rückseite des Bürgermeisterhauses sollte den jungen Leuten als Tanzfläche dienen. Eine bekannte Trachtenkapelle war engagiert worden, die aufspielen würde.

»Wie romantisch«, flötete eines der jungen Mädchen.

Marco verdrehte die Augen, und ein abfälliger Zug auf seinem Gesicht ließ ihn mit einem Mal nicht mehr so attraktiv und liebenswürdig erscheinen. Dem Mädchen entging Marcos Reaktion auf diese Bemerkung offensichtlich.

»Wirst du uns etwas vorsingen, Marco?«, fragte es ihn in schwärmerischem Tonfall.

Marcos Stirn rötete sich – ein ungutes Zeichen.

»Das ist ja wie in der Schule …«

Doch ehe er in Schmähungen ausbrechen konnte, legte Stefan den Arm um die Schultern seines Bruders.

»Der Marco ziert sich nur ein bisserl. Am besten, ihr lasst ihn in Ruhe.«

Ursi lächelte verständnisvoll und ging zu Annerl hinüber, um ihr zu helfen, ein paar Lampions zu entwirren, die sich ineinander verknäuelt hatten. Marco trat ein wenig beiseite, um sich aus der Umarmung seines Bruders zu lösen, aber er verlor kein weiteres Wort mehr über den Zwischenfall.

Nur Blanka stand immer noch seltsam unbeteiligt an derselben Stelle.

»Komm, wir gehen ins Haus. Es geht ja alles ordentlich vonstatten«, sagte Franz, und seine Frau nickte zustimmend.

»Ja, ich will auch wieder in der Kuchel nach dem Rechten schauen.«

Als sie durch die rückwärtige Tür im Haus verschwanden, war es, als hallte ihnen noch das Gelächter und der Lärm der jungen Leute nach. Das Bürgermeisterhaus war immer von Leben erfüllt, und das machte es für die Altstetters zu einem richtigen Zuhause.

Es wurde spät, bis Franz und Luitgard endlich ihre eheliche Schlafkammer aufsuchten, aber trotz der vorgerückten Stunde konnten sie keinen Schlaf finden.

»Es waren gute Jahre«, sagte Luitgard, als sie nebeneinanderlagen, und griff liebevoll nach der Hand ihres Mannes.

»Dreißig Jahre sind wir schon verheiratet. Und gerade weil wir so glücklich miteinander gewesen sind, ist die Zeit vergangen wie im Flug. Keinen Augenblick hab ich es bereut, dass wir uns so früh gefunden haben«, erwiderte ihr Mann mit warmer Stimme.

»Und dass du schon fünfundfünfzig morgen wirst, das ist kaum zu glauben«, sagte Luitgard mit hörbarem Stolz.

Franz lachte geschmeichelt auf.

»Du willst doch bloß, dass ich sage, dass du noch viel jünger ausschaust, was ja auch die Wahrheit ist.«

»Ah geh, Tschapperl.«

Luitgard rückte näher zu ihrem Mann, und bevor sie einschlief, dachte sie, dass es doch ein guter Gedanke gewesen war, ihr Ehejubiläum, das schon etwas zurücklag, und den morgigen Geburtstag ihres Mannes gleichzeitig zu feiern. Ein großes Familienfest, so wie es sich gehörte, auch wenn sich einige recht schwierige Verwandte angesagt hatten.

Ja, ihre Ehe war sehr glücklich. Heute noch dachte sie an die große Hochzeit zurück, die sie beide im Überschwang der Gefühle trotz aller Unkenrufe der Verwandtschaft hier im Dorf gefeiert hatten. Für die Altstetters galt das Sprichwort »jung gefreit, nie bereut«, denn sie und ihr Franz waren immer enger zusammengewachsen und galten inzwischen als Beispiel für eine vorbildliche Ehe.

Doch nach den Flitterwochen, als sie in München lebten, trat eine Trübung ein. Luitgard sehnte sich nach ihrer Bergheimat zurück, und dass der erhoffte Kindersegen ausblieb, warf einen dunklen Schatten auf ihr gemeinsames Leben. Denn sie wünschten sich beide eine große Familie, besonders da Franz ein Einzelkind gewesen war.

Dann hatte sich doch alles zum Guten gewendet, und Luitgard als auch Franz vermieden es in stillschweigendem Einvernehmen, über diese Zeit zu sprechen. So, als ob diese Jahre nie existiert hätten …

Luitgard schmiegte sich an ihren Mann und sank in einen tiefen Schlaf. Mitten in der Nacht schreckte sie auf, denn sie hatte geträumt, dass das Bürgermeisterhaus in Flammen stehen würde und Franz in dem brennenden Gebäude gefangen war.

Sie richtete sich auf, ihr Herz hämmerte, als ob es bersten wollte, und unwillkürlich stöhnte sie laut.

»Was ist mit dir, Luitgard?«

Ihr Mann war von dem Klagelaut wach geworden und setzte sich ebenfalls auf, denn es war ungewöhnlich, dass seine Frau nicht durchschlief.

»Ich hab einen Albtraum gehabt. Aber ich kann mich schon nimmer dran erinnern«, erwiderte sie, was nicht ganz der Wahrheit entsprach.

»Du hast dich überanstrengt heut«, meinte er besorgt. »Soll ich dir eine heiße Milch mit Honig bringen?«

»Nein, nein«, wehrte sie ab, »ich komm schon wieder zur Ruhe. Leg dich hin und schlaf weiter, Franzl.«

Während die Atemzüge ihres Mannes bald davon kündeten, dass er wieder eingeschlafen war, hatte sich in Luitgard eine tiefe Unruhe ausgebreitet, die sie wach hielt. Zu deutlich und eindringlich waren die Bilder ihres Traums gewesen, hatten sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingegraben.

Erst kurz vor Morgengrauen kam der erlösende Schlaf.

***

Franz Altstetter hatte recht behalten, auch am nächsten Morgen überspannte wieder ein wolkenloser Himmel das Bergtal. Die Gletscher des hohen Gebirgsmassivs gleißten in der Sonne, und die blühenden Almwiesen schwammen im Morgendunst, der sich langsam in Schleier auffächerte.

Das Gras der Streuobstwiese des Bürgermeisterhauses war noch feucht vom Morgentau, und mit den blütenschweren Bäumen wirkte sie wie ein verzauberter Ort. Doch die Stille wurde jäh zerstört, als sich wieder die jungen Leute einfanden, die zusammen mit den Kindern der Altstetters weiter bei den Vorbereitungen für das Fest helfen wollten.

Die langen Tischreihen wurden mit weißem Leinen und rustikalem Geschirr eingedeckt, kleine Frühlingssträuße gaben dem Ganzen einen festlichen Anstrich. Dort, wo das Ehepaar sitzen sollte, stand ein weißer Rosenstrauß in Erinnerung an Luitgards Brautgebinde.

Luitgard traten Tränen der Rührung in die Augen, die sie nur mühsam verbergen konnte, als sie die Tische begutachtete.

»Ist alles so richtig?«, fragte Annerl besorgt.

»Das habt ihr schön gemacht. Und die Rosen – genau wie mein Brautstrauß damals«, erwiderte Luitgard mit schwankender Stimme.

»Da ist Annerl drauf gekommen«, sagte Stefan, der immer bemüht war, die Dinge richtigzustellen.

Am liebsten hätte Luitgard ihre Tochter in die Arme geschlossen, aber sie beschränkte sich darauf, ihr einen Blick voller Zuneigung zuzuwerfen.

»Und die Lampions – das wird was hermachen, wenn es dunkel wird«, sagte sie zum Abschluss befriedigt.

Sie hob lauschend den Kopf, denn vom Haus her erklang Stimmengewirr, aus dem sich unverkennbar das schrille Organ von Großtante Josefina hochschraubte.

»Ich muss ins Haus. Wie man hört, ist auch Großtante Josefina schon eingetroffen. Sonst beschwert sie sich gleich wieder, dass sie nicht angemessen begrüßt worden wär«, sagte Luitgard mit einem Seufzer.

»Na, dann viel Vergnügen. Wenn es gar zu arg wird, dann schick ich den Stefan«, schlug Annerl lachend vor.

Stefan war der erklärte Liebling von Großtante Josefina. In ihm sah sie die Wiedergeburt ihres viel zu früh dahingeschiedenen teuren Gatten, obwohl genau genommen überhaupt keine Blutsverwandtschaft zwischen Stefan und ihm bestand. Ihr unvergessener Gottlieb war höherer Beamter bei der Zollbehörde gewesen, worauf sie sehr stolz war.

Ein Neffe und zwei ältliche Kusinen waren bereits eingetroffen, doch Josefina gab Luitgard keine Gelegenheit, sie zu begrüßen, sondern nahm sie gleich völlig in Beschlag.

Wie immer dachte Luitgard beim Anblick der Großtante, dass diese aus einem früheren Jahrhundert stammte. Sie trug lange Röcke mit wallenden Überwürfen und darunter hochgeschlossene Spitzenblusen. Vor allem aber verließ sie nie ohne einen Hut das Haus, die an die blumengeschmückten Gebilde der Damen aus einer längst versunkenen Epoche erinnerten. Mittlerweile hatte sie sich auch noch angewöhnt, sich auf einen Spazierstock mit einem großen Silberknauf zu stützen, mit dem sie manchmal bedrohlich ausholte.

Nun musterte sie Luitgard mit einer Miene, die deutlich Missbilligung verriet, wobei sie einen Schritt zurücktrat.

»Luitgard! In so einem Gewand kann man doch seine Gäste nicht begrüßen! Und kann es sein, dass du zugenommen hast?«

»Das tut mir leid, Tante Josefina, aber ich war noch in der Küche und auf der Wiese. Und es kann sein, dass ich ein bisserl zugelegt hab, dafür hast du schon wieder abgenommen«, sagte Luitgard standhaft, denn sie hatte sich vorgenommen, sich diesen Tag nicht von den taktlosen Bemerkungen Josefinas verderben zu lassen.

»Abgenommen? Ich?«, sagte Josefina fassungslos und sah an sich herab.

Tatsächlich war die fast Achtzigjährige ziemlich hager geworden, was ihr etwas Fregattenhaftes verlieh. Allerdings erfreute sie sich einer unverwüstlichen Gesundheit und eines ebenso unverwüstlichen Appetits. Josefina schlug alle ärztlichen Ratschläge in den Wind und huldigte jeder nur möglichen Esssünde. Es hieß sogar, dass sie einem selbstgebrannten Obstler keineswegs abgeneigt sei.

Josefina hatte es die Sprache verschlagen, und diesen Augenblick nutzte Luitgard, um sich den übrigen Verwandten zuzuwenden und sie willkommen zu heißen. Auch Luitgards älteste Schwester war mit der »Brut« angereist, wie sie ihre drei lebhaften Enkelinnen immer nannte. Sie war früh verwitwet und hatte die Betreuung der drei Kinder ihrer Tochter übernommen, die in den Beruf zurückgekehrt war, nachdem ihr Mann sie schmählich verlassen hatte.

»Und die Hildegard hat wirklich net mitkommen können?«, fragte Luitgard bedauernd, denn sie hatte sich sehr auf ein Wiedersehen mit ihrer Kusine gefreut, zu der sie immer ein gutes Verhältnis gehabt hatte.

»Nein, sie hat Sonntagsdienst. Und da sie schon öfter zu Hause geblieben ist, wenn eines von den Madeln krank war, hat sie es net gewagt, wieder freizunehmen. Ihr Chefarzt hat sowieso etwas gegen sie, weil er der Meinung ist, dass eine Mutter zu ihren Kindern gehört«, erklärte Hanna bitter.

Das Los ihrer Tochter hatte auch einen Schatten auf ihr Leben geworfen, denn sie fühlte sich mit den Kindern oft überfordert. Vor allem haderte sie damit, dass Hildegard ihr Medizinstudium aufgegeben hatte, um einen jungen Arzt zu heiraten. Anfangs war die Ehe glücklich, doch dann verlor ihr Mann das Interesse am Familienleben, ließ sich scheiden und ging ins Ausland.

»Kann die Hildegard net ihr Studium wieder aufnehmen? Sie war doch Feuer und Flamme dafür«, schlug Luitgard vor.

»Das wär natürlich am besten. Aber die Kinder kosten sie viel Kraft, und sie hatte schon Mühe, die Schwesternausbildung abzuschließen. Ihr Mann, dieser vermaledeite Bazi, lebt irgendwo in Südamerika und schickt nur unregelmäßig Unterhalt, wenn überhaupt. Also muss sie allein für alles aufkommen«, fügte Hanna mit gesenkter Stimme hinzu.

»Ich hab net gewusst, dass es so schlimm steht«, meinte Luitgard betroffen. »Weißt du was, ich mach dir einen Vorschlag – lass doch die Kinder ein paar Tage da, es sind ja noch Pfingstferien. Dann kommst du auch wieder zu Kräften.«

Ein schwacher Hoffnungsschimmer erhellte das blasse Gesicht ihrer Schwester, der aber sofort wieder erlosch.

»Das kann ich dir net zumuten, die drei sind zu anstrengend. Natürlich hab ich die Madeln gern, aber ich wünsch mir oft, sie wären bald erwachsen …«

»Mach dir keine Gedanken. Stefan und Annerl sind ja auch noch da, und der liebe Onkel Franz kann ganz schön streng werden«, lachte Luitgard.

»Du weißt gar net, was für einen Gefallen du mir tust …«

»Schon gut. Dann weiß ich wenigstens, wie das ist, wenn man Enkel hat. Aber jetzt muss ich mich umziehen, die Josefina hat mich schon getadelt.«

Hanna verdrehte die Augen.

»Die hat halt keine anderen Sorgen.«

Luitgard eilte hoch in das Schlafzimmer und zog das Trachtendirndl aus schwerer dunkelblauer Seide an, das sie bereits herausgelegt hatte. Dann ordnete sie die aufgesteckten Haare und musterte sich prüfend im Schrankspiegel.

Sie konnte dem Schicksal wirklich dankbar sein. Noch immer besaß sie die frischen Farben der Jugend, und das wenige Grau an den Schläfen wurde von dem Silberblond ihrer Haare kaschiert. Sicher war sie nicht mehr so schlank wie früher, da hatte Josefina ganz recht, aber die Fülle stand ihr und wurde durch den Schnitt des Dirndls reizvoll betont.

»Bist du so weit, Luitgard?«, rief Franz etwas außer Atem vom Flur her, wahrscheinlich war er in aller Hast die Treppe hochgeeilt.

»Ich komme schon.«

»Schön schaust du aus, Luitgard«, sagte Franz beinahe andächtig, als sie schließlich hinaustrat und errötete.

»Ah geh. Mit dir braucht man sich auch net zu schämen«, erwiderte sie schelmisch und musterte ihn.

Der dunkle Trachtenanzug mit dem leuchtend roten Spenzer ließ Franz Altstetter sehr stattlich erscheinen. Auch er hatte sich eine gewisse Jugendlichkeit bewahrt, und nur wenig Grau mischte sich in das volle dunkelblonde Haar.

»Ich würde mich heut immer noch in dich verlieben«, sagte Luitgard und strich ihm zärtlich über den Arm.

»Und ich bin immer noch in dich verliebt nach all den Jahren«, erwiderte er und küsste sie zärtlich auf beide Wangen.

Man hätte sie für ein Paar in den Vierzigern halten können, als sie nun gemeinsam die ankommenden Gäste begrüßten. Strahlend nahmen sie Glückwünsche und Komplimente über ihr gutes Aussehen entgegen, und selbst wenn sich bei manchen ein gewisser Neid nicht verbergen ließ, so wusste Franz doch sehr gewandt damit umzugehen.

Schließlich saß man beim Festmahl an den langen Tischen, und Luitgard erhielt viel Lob für das vorzügliche Essen, das sie auch an Resi weitergab, deren Laune sich daraufhin merklich verbesserte.

Danach saß man bei Wein oder Bier zusammen, es wurde geschwatzt und gelacht, die »Brut« spielte auf der Streuobstwiese Fangen. Später verstummte der Lärm, weil sie mit ein paar Dorfkindern, die sich eingefunden hatten, den See erkundeten. Ihre Großmutter wirkte nun sichtlich gelöster, beteiligte sich lebhaft am Gespräch und verschmähte auch ein Gläschen Wein nicht.

Großtante Josefina war ganz in ihrem Element. Sie hatte dreimal von dem köstlichen Braten genommen, und sie nahm sich auch des Nachtischs ihrer Nachbarin an, die die lockere Mandelspeise nicht mehr bewältigen konnte. Und natürlich wollte sie von den angebotenen Weinen kosten, und zwar intensiv.

Und so saß sie mit zwei roten Flecken auf den Wangen und glänzenden Augen da und nahm die Anwesenden ins Visier. Wohlgefällig ruhte ihr Blick auf Stefan, der, ganz das Ebenbild des Vaters, in seinen engen Hirschledernen einfach eine Freude war.

Er war natürlich über jeden Zweifel erhaben und wurde auch niemals mit ihren scharfzüngigen Bemerkungen bedacht, die allgemein gefürchtet waren. Auch Annerl fand Gnade vor ihren Augen, obwohl sie der Meinung war, dass das Mädchen einfach zu spillrig war. In Wirklichkeit aber hegte sie die Befürchtung, dass Annerl aufgrund ihrer Empfindsamkeit eine gewisse Lebenstüchtigkeit abging. Das aber sagte sie wohlweislich nicht, denn sie war ihr sehr zugetan.

Leider wandte sich ihre Aufmerksamkeit nun Marco zu, der stumm und verdrossen dasaß und sich anscheinend wünschte, woanders zu sein. Zwischen ihm und der Großtante herrschte schon seit Kindheitstagen eine offene Feindseligkeit, die sich jetzt im Erwachsenenalter eher gesteigert als gemildert hatte.

»Und was machst du so, lieber Marco? Hast du irgendetwas Berufliches vor, oder bist du nur einfach hier zu Hause?«

Marcos volle Lippen wurden schmal, und er warf der Großtante einen Blick zu, der jeden anderen eingeschüchtert hätte. Doch Josefina hielt ihm ungerührt stand. Er lehnte sich zurück und nahm einen Schluck aus seinem Glas, ehe er sich zu einer Antwort bequemte.

»Nun, ich bin gerade in der Berufsfindungsphase, die ich wegen der Familienfeier unterbrochen habe. Und nun bin ich hier zu Hause, wie meine Geschwister auch«, gab er mit kalter Stimme Auskunft.

»Ja, hoffentlich findest du auch irgendwann etwas«, gab sie bissig zurück und stieß mit ihrem Stock auf.

»Weißt du, Großtante Josefina, kümmere dich einfach um deine eigenen Angelegenheiten, dann brauchst du dir darüber keine Sorgen zu machen.«

Betroffenes Schweigen senkte sich über den Tisch. In diesem Ton hatte es noch niemand gewagt, mit Großtante Josefina zu sprechen. Bei all ihren Eigenheiten war sie doch unbestritten für alle eine Respektsperson.

»Marco«, mahnte Franz Altstetter scharf.

»Lass nur, Franz. Der Marco ist halt aus der Art geschlagen«, sagte Josefina knapp und wandte sich ihrer Nachbarin zu.

»Das glaub ich net. Was das Mundwerk betrifft, hab ich wohl schon Ähnlichkeit mit dir«, erwiderte er bissig und stand auf.

Er schlenderte zu einer Baumgruppe hinüber, wo Blanka offensichtlich schon eine ganze Weile gestanden und die Auseinandersetzung mit seiner Großtante mitverfolgt hatte. Es kam nicht selten vor, dass man plötzlich entdeckte, wie Blanka andere beobachtete und ihre Gespräche belauschte.

Sie war keineswegs festlich gekleidet, sondern trug wie immer schwarze Kleidung. Als einziges Zugeständnis hatte sie sich die Haare gewaschen, die nun seidig ihr schönes, blasses Gesicht umrahmten.

»Du bist also aus der Art geschlagen«, sagte Blanka spöttisch. »Als ob ich das nicht immer geahnt hätte.«

»Hast du wieder mal gelauscht«, murrte Marco unmutig.

Er war der Einzige, den Blankas Schönheit nicht beeindrucken konnte, er ging sogar oft ausgesprochen unfreundlich mit ihr um.

»Alle sind blond in deiner Familie, aber du hast dunkle Haare. Und ich bin sicher, dass du auch eine dunkle Seite hast.«

Spielerisch fuhr Blanka ihm durch die dunklen, fast schwarzen Locken, die ihm tief in die Stirn fielen.

»Lass das«, wehrte er unwillig ab und wich zurück.

Blanka lachte auf, ein lockendes Lachen, das wie ein Gurren klang.

»Ein Jüngling, keusch und unerfahren …«

»Was weißt du denn von mir«, fiel er ihr hart ins Wort.

»Ich tät aber gern mehr von dir wissen«, sagte sie in werbendem Tonfall, der unvermittelt umschlug. »Zum Beispiel wie es kommen kann, dass deine Eltern beide blaue Augen haben und du braune. Und weder deinen Geschwistern noch deinen Eltern siehst du nur ein bisserl ähnlich. Alle in deiner Familie sind blond.«

Blanka klang nun ganz wie die Arzttochter, die es gewohnt war, dass bei ihr zu Hause am Mittagstisch medizinische Probleme erörtert wurden.

»Der Marco ist halt eine Neuzüchtung, aber glücklicherweise eine gelungene«, warf Stefan ein, der zu ihnen getreten war und die letzten Sätze Blankas mit angehört hatte.

Er schlug seinem Bruder leicht auf den Rücken, und dieses Mal wich Marco nicht zurück, sondern zwang sich sogar zu einem Lächeln.

»So etwas gibt es halt immer wieder, dass jemand einem Vorfahren nachschlägt, an den sich niemand mehr erinnern kann«, unterstrich Stefan seine scherzhafte Behauptung. »Manchmal nimmt das aber auch seltsame Züge an, wenn Großtante Josefina beispielsweise glaubt, ich sei die Wiedergeburt ihres verstorbenen Mannes.«

»Der hat den besseren Teil gewählt«, meinte Marco giftig.

Die jungen Männer lachten, nur Blanka verzog keine Miene.

»Wirst du heut Abend mit mir tanzen, Marco?«, fragte sie stattdessen unumwunden und sah den älteren der Brüder unverwandt an.

Marco zuckte gleichgültig die Schultern.

»Wenn mir danach ist.«

Über Stefans Züge legte sich ein Schatten, aber er kehrte gleich wieder zu seiner üblichen Heiterkeit zurück.

»Falls net, dann biete ich mich hiermit als Lückenbüßer an. Es soll ja wahrhaftig Schlimmeres geben, oder?«

Blanka tätschelte ihm herablassend die Schulter.

»Warten wir’s ab.«

Ihre Unterhaltung wurde von einem schrillen Aufschrei unterbrochen.

»Wo ist die Brut?«

Hanna, die sich die ganze Zeit angeregt mit Bekannten aus ihrer Jugendzeit unterhalten hatte, waren wieder ihre Großmutterpflichten eingefallen, und sie sah sich nach ihren drei Enkelinnen um. Wenn man von ihnen nichts hörte und sah, war das erfahrungsgemäß immer ein schlechtes Zeichen.

»Jesses! Wenn die in den See gefallen sind!«, jammerte sie.

Die jungen Leute schwärmten aus und fanden die Gesuchten unversehrt am Seeufer. Erhitzt vom wilden Spiel saßen sie friedlich nebeneinander und tauchten hin und wieder die Füße in das kühle Wasser. Auf diese Botschaft hin ließ sich Hanna wieder beruhigt auf ihren Stuhl fallen und nahm noch gern einen Enzian zur Stärkung an.

Am späten Nachmittag, es hatte noch Kaffee und Kuchen gegeben, natürlich selbstgebackenen, machte sich Unruhe unter den jungen Leuten breit, denn bald sollte zum Tanz aufgespielt werden. Annerl inspizierte noch einmal die Lampions und stellte dabei Mängel fest.

Sie stieg auf einen Stuhl und schraubte an einer der bunten Birnen herum, als sie ins Wanken geriet und samt dem Stuhl umgefallen wäre, wenn Marco sie nicht geistesgegenwärtig aufgefangen hätte.

Einen Augenblick lag seine Schwester an seiner Brust, dann sah sie lachend zu ihm empor.

»Das war knapp!«

»Pass halt gefälligst besser auf«, sagte er mit rauer Stimme und trat dann zurück.

»Schon recht, du alter Grantler.«

Sie lief davon, eine elfenhaft schmale Gestalt, die mit den blühenden Bäumen zu verschmelzen schien. Marco starrte ihr nach und fuhr sich dann über die Augen, als habe er eine Erscheinung gesehen.

Annerl, seine kleine Schwester. Eben noch ein Kind, und nun war sie plötzlich so ein berückendes Wesen …

Er schüttelte diese Gedanken ab und ging zum Hofplatz hinüber, wo gerade die Musikanten angekommen waren und von den Altstetters begrüßt und mit Getränken versorgt wurden. Die Instrumente erweckten Marcos Interesse, er kam mit den Männern ins Gespräch, und seine Stimmung hob sich.

Schon immer hatte er sich zur Musik hingezogen gefühlt, nicht nur, weil er eine schöne Singstimme hatte. Vielleicht war das der Grund, warum er sich nicht für einen Beruf entscheiden konnte, weil er insgeheim eine Gesangsausbildung anstrebte. Doch bei den Altstetters hatte es noch nie einen Künstler gegeben, und so hatte er von seinen Eltern bisher keinerlei Unterstützung erfahren.

Wieder kam ihm in den Sinn, dass er sich so sehr von seiner Familie unterschied, vor allem Blankas Bemerkung über seine Augenfarbe ging ihm nicht aus dem Kopf. Er würde sich erkundigen, ob an ihrem Verdacht etwas Wahres sein könnte …

Doch dann wurde er abgelenkt, denn die Lampions leuchteten auf, und die Musikanten, die bereits ihre Instrumente gestimmt hatten, nahmen Aufstellung. Die Altstetters betraten die Tanzfläche, und wie vor dreißig Jahren beim Brauttanz drehten sie sich jetzt zu einem langsamen Walzer. Die Festgäste hatten sich am Rand zusammengeschart, und manch einem, der bei ihrer Hochzeit dabei gewesen war, traten Tränen der Rührung in die Augen.

Franz flüsterte seiner Frau etwas ins Ohr, sie lachte auf und errötete tief, was natürlich nicht unbemerkt blieb.

»Nach all den Jahren sind sie immer noch ein so glückliches Paar«, sagte Annerl zu ihrem Bruder Stefan.

»Das ist keine Selbstverständlichkeit. Aber uns hat es eine schöne Kindheit beschert, dafür können wir immer dankbar sein«, gab er zurück.

Marco, der ein paar Schritte abseits stand, aber jedes Wort mit angehört hatte, schwieg. Er machte den Eindruck eines Menschen, der von seinen Gedanken so gefangen genommen war, dass er für alles andere nur noch Gleichgültigkeit empfand.

Als die Altstetters mit dem Ausklingen der Melodie zur Seite traten, war es an den jungen Leuten, die Tanzfläche in Beschlag zu nehmen. Eine wilde bayerische Polka kam als Nächstes, und unter Lachen und Juchzen stürmten die Paare vorwärts. Marco war verschwunden, sehr zu Blankas Betrübnis, doch Stefan war sofort zur Stelle.

Sie blieben noch zwei weitere Tänze zusammen, und Blanka stellte zu ihrer eigenen Überraschung fest, dass es ihr mit Stefan größeren Spaß bereitete als mit Marco. Denn während sie sich immer nach Marco richten musste, stand es für Stefan im Vordergrund, eine gemeinsame Harmonie zu erreichen.

»Das war fei eine Freud mit dir«, sagte sie außer Atem, und Stefan spürte, dass sie es aufrichtig meinte.

»Für mich net minder. Du tanzt wunderbar, Blanka«, sagte er mit einer Innigkeit, die sie gegen ihren Willen anrührte.

Schnell jedoch schüttelte sie diese Empfindung ab, denn Blanka hasste jede Sentimentalität, und sagte leichthin: »Du bist der beste Lückenbüßer, den ich je hatte.«

Wenn Stefan gekränkt war, so zeigte er es nicht, sondern erbot sich, ihr ein kaltes Getränk zu bringen. Doch sie wehrte ab und begab sich auf die Suche nach Marco, denn so schnell gab sie nicht auf.

Er war von ein paar Mädchen und seinen Spezln abgefangen worden, die ihn nun umringten und ihn baten, etwas zu singen, sobald die Musiker eine Pause einlegten. Schließlich erklärte sich Marco dazu bereit, angeblich nur, um endlich seine Ruhe vor ihnen zu haben.

Er sprach sich mit zwei der Musiker ab, die ihn begleiten sollten, und die Festgäste bildeten einen Halbkreis um ihn. Erwartungsvolles Schweigen senkte sich über sie. Sogar die Brut verhielt sich ruhig, die beiden jüngsten Mädchen schmiegten sich an ihre Großmutter.

Ein Bild von einem Mann, dachte Großtante Josefina, obwohl sie Marco nicht eben zugetan war. Doch wie er dastand, lässig und selbstsicher, bot er mit seiner schlanken, hochgewachsenen Gestalt und seinen markanten Zügen einen Anblick, der gewiss manches Frauenherz höher schlagen ließ.

Und gewiss das von dieser Blanka, die ihn hingerissen anstarrte, stellte sie fest. Schön war sie ja, aber sie passte mit ihrer ganzen Art nicht hierher ins Tal und schon gar nicht in die Familie Altstetter.

Noch nicht einmal heute, an diesem Festtag, hatte sie sich manierlich angezogen. Ein Graus, wie sich die jungen Frauen heutzutage …

Dann aber wurde sie von Marcos Liedvortrag aus ihren Gedanken gerissen. Er hatte sich für zwei alte Volksweisen entschieden, denn obwohl Marco Traditionen fremd gegenüberstand, liebte er die althergebrachte Musik, die ihre Wurzeln in längst vergangenen Zeiten hatte. Sie kündete von Abschied und Liebesleid, vom harten Los der Vorfahren, deren Leben von Mühe und Arbeit geprägt war.

Ein karges Leben, das die Familien oft in die Fremde getrieben hatte. Doch ihr Liedgut war zurückgeblieben und wurde von Generation zu Generation weitergegeben.

Wenn Marco Altstetter sang, verwandelte er sich in einen anderen Menschen. Der düstere, unzufriedene Zug schwand von seinem Gesicht, und ein warmes Leuchten trat in seine dunklen Augen.

Und seine Stimme, tragend und voller Strahlkraft, schwang sich hoch hinauf und verlor auch in den Tiefen nicht ihre Intensität. Die Klage des jungen Mannes, der von seiner Liebsten betrogen worden war, gab er mit einer derartig bedrückenden Einfühlungsgabe wieder, dass sie auch verhärtete Herzen anrührte. Das Erntelied der Schnitter dagegen riss die Zuhörer mit, denn Marco offenbarte plötzlich ein Temperament, das die Ursprünglichkeit dieses Liedes erfasste und jene längst versunkenen Zeiten wieder auferstehen ließ.

Und alle empfanden, dass dies der Höhepunkt des Festes war.

Als der letzte Ton verklang, herrschte zunächst noch Stille, dann aber gab es keinen, der nicht begeistert war und Marco seine Anerkennung ausdrücken wollte. Selbst Großtante Josefina rang sich ein Lob ab, auch wenn es etwas säuerlich geriet.

Blanka, die neben Stefan stand, ging spontan auf Marco zu, und es hatte beinahe den Anschein, als ob sie ihn umarmen wollte. Doch Marco beachtete sie überhaupt nicht, sondern trat zu seinen Eltern.

»Das hab ich euch zu Ehren gesungen. Ein Ständchen von eurem Sohn«, sagte er eindringlich und mit besonderer Betonung auf dem letzten Wort.

Stefan wunderte sich über diese Formulierung, und er stellte fest, dass so etwas wie ein plötzliches Unbehagen in den Augen seiner Mutter aufflackerte. Doch er hatte sich sicherlich getäuscht.

»Damit hast du uns eine ganz besondere Freude gemacht«, sagte sie liebevoll zu Marco.

Sein Vater umarmte ihn kurz, und Annerl stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. Ein roter Schein glitt über Marcos Züge, und für einen kurzen Augenblick wirkte er verunsichert.

Als die Älteren, die nicht mehr tanzen wollten, wieder ihre Plätze unter den Bäumen eingenommen hatten, griffen die Musiker erneut zu ihren Instrumenten, und die Paare formierten sich.

Einer der Musiker winkte Marco zu sich heran.

»Du hast ein ganz außergewöhnliches Talent, mein Junge«, sagte er neidlos. »Es wäre eine Schande, wenn du es verkommen lassen würdest. Mit der richtigen Ausbildung könntest du auf jeder Bühne bestehen, das sag ich net bloß so daher.«

Marco nickte nur, er war nicht imstande, darauf eine Antwort zu geben. Aber dennoch festigte sich in ihm ein Gedanke, der bisher immer nur eine unbestimmte Vorstellung gewesen war. Was, wenn er sich gegen die Eltern durchsetzen und tatsächlich einen künstlerischen Beruf ergreifen würde?

Doch vorher gab es noch etwas, das ihn viel mehr beschäftigte und worüber er sich unbedingt Klarheit verschaffen musste.

Ein Ländler erklang, und Marco entschloss sich, nun doch mit Blanka zu tanzen, damit sie endlich Ruhe gab.

»Ich hab schon gedacht, das wird gar nichts mehr mit uns beiden heut«, sagte sie mit schief geneigtem Kopf schmollend.

»So kann man sich halt täuschen«, erwiderte Marco leichthin, den Blick woandershin gerichtet, was ihr entging.

Stefan beobachtete, wie sie versuchte, sich an Marco zu schmiegen. Er verspürte einen Stich in der Herzgegend und sah schnell weg. Sein Freund Martin tanzte mit Annerl, und Stefan fand, dass die beiden ein schönes Paar abgaben. Annerl hatte rote Wangen und lachte immer wieder hell auf, denn Martin konnte sehr witzig sein.

Er fühlte sich etwas überflüssig, hatte keine Lust, mit einer von Annerls Freundinnen zu tanzen, die er alle ein wenig albern fand. Stattdessen machte er sich nützlich. Die Brut hatte sich einmal wieder der Obhut ihrer Großmutter entzogen und musste eingefangen werden, denn für sie war die Schlafenszeit schon überschritten.

Stefan fand sie schließlich in einer Laube, in der sie sich versteckt hatten, und machte kurzen Prozess mit der Ältesten, die lautstark protestierte. Er trug sie einfach ins Haus, während Hanna mit den jüngeren Mädchen folgte. Dort wurden sie ohne Federlesens in eines der Gästezimmer verfrachtet, wo sie, übermüdet wie sie waren, bald darauf einschliefen.

Um Mitternacht legten die Musiker ihre Instrumente nieder, und die letzten Gäste verabschiedeten sich. Hanna und Großtante Josefine würden die Nacht hier verbringen. Das Bürgermeisterhaus war sehr groß und bot im Obergeschoss genug Platz für Gäste, aber auch für Notfälle stand ausreichend Wohnraum zur Verfügung. Vorletztes Jahr hatte eine Zeitlang eine Familie im oberen Stockwerk gelebt, deren Haus durch einen Blitzeinschlag abgebrannt war. Das rechnete man den Altstetters hoch an, dass der Bürgermeister nicht nur Reden schwang, sondern auch tätige Hilfe leistete.

Die Lampions erloschen, und auch die Lichter in den Räumen des Bürgermeisterhauses gingen aus. Die Altstetters schliefen Hand in Hand ein, in dem beglückenden Bewusstsein, dass dieser Tag für immer in ihrem Gedächtnis bleiben würde. Annerl wälzte sich in unruhigen Träumen im Bett, und Stefan war in einen bleischweren Schlaf gefallen.

Großtante Josefine schnarchte derart lautstark, dass man es im Nebenzimmer hören konnte, doch Hanna war zu erschöpft, als dass es sie gekümmert hätte. Sie hatte noch einmal nach den Mädchen geschaut, dann fiel sie schwer ins Bett und schlief sofort ein.

Nur Marco war noch wach, quälende Gedanken kreisten hinter seiner Stirn. Er fasste Pläne und verwarf sie wieder, nur in einem war er sich sicher, nämlich dass er sich Gewissheit verschaffen musste.

***

Nach diesem Fest, über das man im Dorf noch lange sprach, kam im Bürgermeisterhaus das Alltagsleben nur zögernd wieder in Gang. Am einfachsten war es für Franz Altstetter – er fuhr in seinen Amtsgeschäften fort, und nach der Erfahrung, die er in langen Dienstjahren gewonnen hatte, bedeuteten sie keine Herausforderung mehr für ihn.

Zu Hause sah es dagegen anders aus. Nachdem Hanna abgereist war, lag die Verantwortung für die drei Mädchen allein bei Luitgard, und sie stellte fest, dass das mit großer Anstrengung verbunden war.

Großtante Josefine war doch dageblieben, um ihr zur Seite zu stehen, erreichte aber nur das Gegenteil. Josefines altmodische Erziehungsmethoden riefen bei Julchen, der Ältesten, Widerworte hervor, während Rosi und Lissi, die jüngeren Mädchen, meistens nur in lautes Weinen ausbrachen. Daher war Luitgard ganz froh, als Großtante Josefine sichtlich erschöpft ihren Aufenthalt im Bürgermeisterhaus beendete.

Auch die drei Kinder der Altstetters schienen mit einem Male mit Schwierigkeiten zu kämpfen zu haben. Annerl, immer heiter und tüchtig, neigte plötzlich zur Verträumtheit und war manchmal so geistesabwesend, dass sie sich im Krankenhaus mehrmals den Tadel der scharfzüngigen Oberschwester Regula zuzog.

»Wenn du verliebt bist, Madel, dann heirate in Gottes Namen und bleib zu Hause. Aber halt hier net den Betrieb auf«, sagte sie einmal schroff, als Annerl beinahe die Medikamente für eine Schwerkranke verwechselt hätte.

Auch der sonst immer so ausgeglichene Stefan war rastlos und unruhig. Eine seltsame Unzufriedenheit hatte von ihm Besitz ergriffen, und schließlich brach er unter dem Vorwand, noch ein Referat schreiben zu müssen, zu seinem Studienort auf. Marco, der so übellaunig geworden war, dass er kaum noch ein Wort sprach, verschwand tagelang, angeblich, um sich beruflich umzutun.

An dem letzten Wochenende, das die drei Mädchen im Bürgermeisterhaus zubringen sollten, war es so frühsommerlich warm geworden, dass Annerl und ihre Freundinnen beschlossen, ein Picknick am Bergsee zu veranstalten. Und vielleicht konnte man schon in dem klaren Wasser schwimmen.

Die Brut war natürlich begeistert, denn Annerl hatte sich erboten, auf die drei Mädchen aufzupassen. Julchen konnte schon schwimmen, während die zwei Jüngeren am seichten Rand herumplanschen durften. Luitgard versäumte es nicht, den dreien nachdrücklich klar zu machen, wie sie sich zu verhalten hatten.

»Julchen, du kannst schon schwimmen, aber ich weiß net, wie gut«, sagte sie zu der Ältesten, die sofort einen Schmollmund machte.

»Ich kann schwimmen wie ein Fisch«, erklärte sie trotzig.

»Das ist schön, aber du bist hier net im Schwimmbad, sondern in der freien Natur. Also schwimm net zu weit in den See hinaus, sondern immer am Ufer entlang, das ist sicherer. Hast du gehört, Julchen?«

Das Mädchen, das in einem alten Kinderbadeanzug von Annerl steckte, nickte widerwillig, und Luitgard seufzte innerlich. Schließlich zogen sie ab, versehen mit Getränken und Leckereien, und Luitgard sah ihnen nach, bis sie zwischen den krummen Bäumen auf der Streuobstwiese verschwunden waren.

Luitgard hatte ein ungutes Gefühl, obwohl sie Annerl noch einmal ans Herz gelegt hatte, besonders auf Julchen aufzupassen. Denn sie gehörte offensichtlich zu jenen Kindern, die immer ihren Kopf durchsetzen mussten. Sie beneidete Hildegard nicht.

Annerls Freundinnen lagerten schon an einem schattigen Platz am See. Vor ihnen erstreckte sich eine kleine Bucht mit seichtem Wasser, wie geschaffen für die zwei Jüngsten, um sich gefahrlos darin zu tummeln. Annerl breitete eine weitere Decke aus und stellte die Limonadenflaschen in das kühle Wasser.

Julchen watete vorsichtig ein Stück in den See, dann aber quiekte sie auf und kam schnell wieder zurück.

»So kalt«, jammerte sie und suchte sich einen sonnigen Fleck am Ufer.

Wenig später kamen Martin und Blanka hinzu, und Annerl rückte beiseite, um ihnen Platz zu machen.

»Wo ist denn der Stefan? Ich hab gehört, der wär schon weggefahren«, sagte Martin, der sonst immer über die Pläne seines Freundes unterrichtet war.

»Wir haben uns auch gewundert, denn er hat es sonst nie so eilig, wieder in seine Studentenbude zurückzukehren. Er müsse noch ein Referat schreiben, hat er gesagt«, gab Annerl bereitwillig Auskunft.

»Ach so«, meinte Martin nur, dem das unglaubwürdig vorkam; seiner Meinung nach war eher etwas vorgefallen, worüber Stefan nicht sprechen wollte.

Annerl legte sich bequemer hin, den Kopf hatte sie auf die Hand gestützt. Wie ihre Freundinnen trug sie einen Bikini, und Martin konnte nicht umhin festzustellen, dass Annerls vor Kurzem noch recht kindliche Gestalt anmutige weibliche Formen angenommen hatte. Eine richtige Schönheit war sie geworden, Stefans kleine Schwester …

Schnell wandte er den Blick ab.

»Kommt eigentlich der Marco noch?«, fragte Blanka träge.

Im Gegensatz zu den anderen Mädchen hatte sie sich nicht von ihrer schwarzen Kleidung trennen können, wodurch sie wieder zwischen ihnen seltsam hervorstach. Auch ihr Benehmen zeigte deutlich, dass sie sich ihnen nicht zugehörig fühlte.

Annerl zuckte mit den Achseln.

»Ich glaub net. Er ist unterwegs, Berufsberatung oder so etwas Ähnliches. Schließlich muss er sich eines Tages doch für eine Ausbildung entscheiden.«

»Leider Gottes«, murmelte Blanka, die nach der Schule weiter im Elternhaus lebte und jeder Entscheidung aus dem Weg ging.

Sie saß noch eine Weile bei ihnen, ohne sich an dem Gespräch zu beteiligen, den Blick gedankenverloren auf den See gerichtet, der in der Sonne flimmerte. Dann stand sie unvermittelt auf, ordnete ihren schwarzen Überwurf und schritt grußlos von dannen.

Annerls Freundinnen beschlossen, sich ins Wasser zu wagen, was dann unter viel Gelächter und Gekreische geschah. Martin war ihnen gefolgt und wurde von ihnen gründlich bespritzt, was zu einem richtigen Tumult führte.

»Komm ins Wasser, man kann es schon aushalten«, rief eines der Mädchen Annerl zu, die zurückgeblieben war.

»Ich muss auf die Kinder aufpassen«, gab sie zurück und sah sich nach der Brut um.

Rosi und Lissi spielten immer noch an der gleichen Stelle friedlich vor sich hin, und Julchen stand nun immerhin bis zu den Knien im Wasser. Dabei schimpfte sie unausgesetzt vor sich hin, dass Annerl unwillkürlich lächeln musste.

Martin spielte mit ihren Freundinnen, die ihn übermütig umkreisten, eine Art Fangen, sodass das Wasser hoch aufspritzte. Es schien ihnen viel Vergnügen zu bereiten, und Annerl verspürte einen heftigen Stich in der Herzgegend. Aber das bedeutete nicht, dass sie eifersüchtig war, auf keinen Fall.

Dennoch bereute sie jetzt, sich ihnen nicht angeschlossen zu haben, schließlich hätte sie auch vom See aus die Mädchen im Auge behalten können. Vielleicht ergab sich später noch einmal die Gelegenheit, tröstete sie sich und lehnte sich zurück.

Sie dachte wieder an ihre Brüder, deren seltsames Verhalten ihr nicht mehr aus dem Sinn ging. Stefan, der seine Heiterkeit verloren und geradezu fluchtartig das Elternhaus verlassen hatte. Annerl war davon überzeugt, dass seine überstürzte Abreise mit Blanka zusammenhing, und sie konnte nur hoffen, dass er sich das seltsame Mädchen aus dem Kopf schlug.

Noch größeres Unbehagen aber empfand sie über das Verhalten von Marco. Ihr älterer Bruder war schon immer verschlossen gewesen und besaß kein besonders freundliches Wesen. Nun aber wirkte er unstet und getrieben, und manchmal fürchtete sie sich sogar vor ihm. Denn es war ihr nicht entgangen, dass er sie verstohlen immer wieder mit Blicken umfasste, die sie sich nicht erklären konnte.

Annerl schauderte, obwohl es so warm war.

Sie nahm sich vor, bald die Kinder herbeizurufen, damit sie zusammen das mitgebrachte Essen verspeisen konnten. Ob es die Hitze oder die zurückliegenden Ereignisse waren, Annerl fühlte sich mit einem Mal unendlich müde. Ihr Kopf sank zurück, und sie fiel in einen bleischweren Schlaf.

Sie erwachte schlagartig, als aufgeregte Rufe und Schreie vom Wasser her zu ihr herüberhallten.

Julchen!

Und tatsächlich war das eigensinnige Mädchen weiter hinausgeschwommen und hatte dabei seine Kräfte überschätzt. Julchen schrie jämmerlich und drohte, unterzugehen. Lähmendes Entsetzen überkam Annerl.

Wie hatte sie nur einschlafen und ihre Aufsichtspflicht so vernachlässigen können!

Sie schüttelte die Erstarrung ab und sprang auf. Ihr war heiß, und sie fühlte sich wie benommen. Für einen Augenblick verschwamm alles vor ihren Augen. Dann aber durchquerte sie die seichte Bucht und warf sich ins Wasser.

Die Kälte des Bergsees, der tief hinabreichte und von gefährlichen Strömungen gespeist wurde, traf sie wie ein Schlag. Sie keuchte auf und rang nach Atem; es war, als würde ihr etwas die Brust zusammenpressen. Mit größter Willensanstrengung hielt sie sich über Wasser, dann aber wurden ihre Schwimmbewegungen immer schwächer und kraftloser, und schließlich senkte sich Dunkelheit über sie.

Eines der Mädchen, das Rettungsschwimmerin war, gelang es, Julchen sicher an Land zu bringen. Doch die Erleichterung wich Entsetzen, als Martin Annerl im Wasser treibend entdeckte. Er zog sie ans Ufer, trug sie zu dem Lagerplatz und ließ sie behutsam niedergleiten.

»Annerl!«, rief er, doch sie rührte sich nicht.

Still und bleich lag sie da. Er tastete verzweifelt nach ihrem Puls, doch er konnte nichts fühlen. Nachdem er sein Erschrecken überwunden hatte, handelte er mit kühler Überlegung, wie es einem zukünftigen Arzt anstand. Er begann sofort mit der Reanimation, presste beide Hände auf ihren Brustkorb, hob und senkte sie rhythmisch im Wechsel mit der Mund-zu-Mund-Beatmung.

Annerls Freundinnen standen stumm vor Furcht um sie herum, Julchen, in ein Badetuch gewickelt, weinte vor sich hin. Obwohl Martin vor Anstrengung keuchte und ihm der Schweiß in die Stirn rann, setzte er unbeirrt seine Bemühungen fort.

Er durfte Annerl nicht verlieren, niemals …

Endlich bäumte sich ihr Oberkörper auf, und sie stieß einen hustenden Laut aus, dem ein Wasserschwall folgte. Ihr Herz schlug wieder kraftvoll, und Martin brach erlöst neben ihr zusammen.

Als sie die Augen öffnete, war sie völlig verwirrt.

»Was ist geschehen?«

»Du bist im Wasser ohnmächtig geworden und untergegangen«, sagte Martin, als er wieder sprechen konnte.

Annerl wusste nicht, wovon er sprach, ihre Erinnerung war vollkommen ausgelöscht.

Ihr Bikinioberteil war bei der Wiederbelebung heruntergeglitten, und Martin bedeckte ihre Blöße rasch mit einem Handtuch. Aus dem umsichtigen Medizinstudenten war wieder der schüchterne junge Mann geworden, der leicht in Verlegenheit geriet.

Endlich trafen die herbeigerufenen Rettungskräfte ein, und Luitgard folgte ihnen, erfüllt von dunkler Vorahnung, zum See. Als sie ihre Tochter am Boden liegen sah, Martin über sie gebeugt, stieß sie einen lauten Schrei aus und sank neben Annerl in die Knie.

Und sie beruhigte sich auch nicht, als Annerl mehrmals wiederholte, dass es ihr doch wieder gut ginge. Denn mit dem Instinkt der Mutter spürte sie, dass ihre Tochter nur knapp dem Tod entronnen war.

Nachdem der Notarzt sie untersucht hatte, wurde sie auf einer Trage zu dem Krankenwagen gebracht, der vor dem Bürgermeisterhaus wartete, denn es gab keine Durchfahrt zu dem versteckt liegenden See. Martin begleitete sie und sollte den Altstetters später über Annerls Zustand Bericht erstatten.

Luitgard zögerte nicht, Annerls immer noch erschütterte Freundinnen auszufragen, wie es zu dem Unfall gekommen war. Dabei erfuhr sie nicht nur von Martin Donaths heldenhaftem Einsatz, sondern auch, wie es dazu gekommen war.

Julchen weinte immer noch, sah blass und elend aus, aber Luitgard, die Kinder sehr liebte, brachte es nicht über sich, sie an sich zu ziehen und zu trösten. Sie scheuchte die Mädchen ins Haus und rief als Erstes ihren Mann an, der von einer Vereinsversammlung sofort nach Hause eilte, um seiner Frau beizustehen.

»Am liebsten tät ich gleich in die Klinik fahren«, stieß er hervor und schritt erregt in der Stube auf und ab.

Die Vorstellung, dass ihnen beinahe ihr geliebtes Annerl entrissen worden wäre, war unerträglich für ihn.

»Wir warten erst einmal ab, was der Martin zu sagen hat«, schlug seine Frau vor, die allmählich ihre Fassung zurückgewann.

»Wir sind ihm zu ewigem Dank verpflichtet. Wenn er nicht …«

Seine Stimme brach, und er ließ sich schwer auf einen Stuhl fallen, sodass Luitgard ihm schnell einen Obstler brachte. In einem Zug schüttete er ihn hinunter, und die Farbe kehrte langsam wieder in sein Gesicht zurück.

Als Nächstes rief Luitgard ihre Schwester Hanna an und bat sie, die Brut so schnell wie möglich abzuholen. Auf Hannas besorgte Fragen ging sie erst gar nicht ein, sondern beendete abrupt das Gespräch.

Resi kümmerte sich um die Mädchen in der Küche, denn Luitgard wollte sie, besonders aber Julchen, nicht um sich haben. Dieser Vorfall trübte noch lange das Verhältnis zwischen den beiden Schwestern, denn Hanna fand, dass Luitgard zu nachtragend sei. Selbst als Julchen schon zu einer vernünftigen jungen Frau herangewachsen war, betrat sie nie wieder das Bürgermeisterhaus, weil sie dort nicht gern gesehen war.

***

»Wie geht es dir, Annerl?«, fragte Martin liebevoll, als er sie gleich am nächsten Tag wieder im Krankenhaus besuchte.

»Wahrscheinlich kann ich sogar in ein paar Tagen schon nach Hause. Die Ärzte sagen, ich hätte noch einmal Glück gehabt«, berichtete sie.

Martin betrachtete sie und fand, dass Annerl schon wieder recht gesund aussah. Ihre Wangen waren rosig, und die silbrigen Locken kringelten sich um das schöne Gesicht. Sein Herz begann heftig zu klopfen, und er konnte den Blick nicht von ihr wenden.

Die Ärzte, die sie behandelt hatten, waren davon ausgegangen, dass der plötzliche Sprung in das kalte Wasser einen Kreislaufkollaps herbeigeführt hatte, dem Annerl beinahe erlegen wäre. Das war die Ursache vieler tödlich verlaufender Badeunfälle, doch das Mädchen hatte Glück gehabt, weil Martin zur Stelle war und gleich tatkräftig gehandelt hatte.

»Sie haben ihr das Leben gerettet«, hatte der behandelnde Arzt anerkennend gesagt und ihm auf eine Weise auf die Schulter geklopft, die fast schon kollegial zu nennen war und ihn sehr stolz machte.

Annerl streckte die Hand nach ihm aus, und er ergriff sie verwirrt, aber glücklich.

»Ich muss dir ewig dankbar sein, Martin. Ohne dich …«

»Ich hätte es net verwunden, wenn du nimmer ins Leben zurückgekehrt wärst, Annerl«, fiel Martin ihr mit heiserer Stimme ins Wort, und in seinen warmen Augen spiegelte sich wider, was er für sie empfand.

»Martl«, flüsterte sie, und in dieser Koseform lag so viel Zärtlichkeit, dass er kühner wurde und näher an sie heranrückte. »Mir ist so seltsam zumute. Ich glaub, ich brauche wieder eine Mund-zu-Mund-Beatmung von dir«, fügte sie schelmisch hinzu.

Martin zögerte keinen Augenblick. Er küsste sie lange und ausdauernd, bis beide außer Atem waren.

»Ich werde keine andere mehr küssen«, versprach Martin mit einem Ernst, der sie noch mehr zum Erglühen brachte.

»Und ich keinen anderen«, gab sie zurück.

»Dann sind wir uns also einig«, erklärte er.

Und zur Besiegelung ihres Liebesbundes küssten sie sich noch einmal innig, bis sie auseinanderfuhren, als sie ein Geräusch von der Tür her hörten. Annerls Eltern traten ein, beide noch gezeichnet von der Angst, die sie um ihre Tochter ausgestanden hatten. In stillschweigendem Einverständnis verhielten sich Martin und Annerl, als seien sie Freunde wie bisher, denn sie wollten ihre Liebe zunächst für sich behalten.

»Madel! Du schaust ja schon wieder richtig gut aus, der Jungfrau sei Dank! Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht!«

Luitgard stürzte ans Bett und küsste und herzte ihre Tochter, dann wandte sie sich Martin zu und dankte ihm unter Tränen. Bürgermeister Altstetter umarmte ihn stumm. Es war selten, dass ihm die Worte fehlten.

Martin verabschiedete sich bald und verließ das Krankenzimmer, die sehnsüchtigen Blicke seiner Liebsten folgten ihm.

»Vom Stefan soll ich dir Grüße ausrichten, er wollte sogar herkommen. Aber es geht dir ja schon besser, und er soll mit seinem Referat net in Verzug geraten. Der Marco war reinweg außer sich, so hab ich ihn noch nie gesehen. Wahrscheinlich kommt er dich besuchen. Obwohl man bei ihm nie so genau weiß«, sprudelte Luitgard hervor.

Dann holte sie einen Kuchen, Süßigkeiten und Salate in Plastikdosen hervor und stellte sie auf einem kleinen Tisch in der Nähe des Bettes ab.

»Aber, Mutterl, ich verhungere hier doch net. Ich hab eh noch keinen rechten Appetit«, protestierte Annerl.

»Hab ich’s dir net gesagt?«, meinte Franz kopfschüttelnd, auch wenn ihn Luitgards mütterliche Fürsorge rührte.

»Ach was, der Appetit kommt beim Essen«, erwiderte Luitgard ungerührt und packte noch Leberkässemmeln aus.

»Damit kann ich ja die ganze Station verpflegen«, seufzte Annerl.

»Warum net? Wenn die halt nichts Ordentliches zu essen bekommen. So, das reicht erst mal fürs Erste.«

Luitgard ließ sich nieder und betrachtete erleichtert ihre Tochter, die so offensichtlich dem Leben wiedergegeben war. Richtig schön sah sie wieder aus, ihr Annerl, und ein ganz eigentümliches Strahlen schien von ihr auszugehen.

»Der Martin kümmert sich also weiter um dich«, stellte sie fest und betrachtete ihre Tochter mit einem Ausdruck in den Augen, den Stefan einmal scherzhaft den »lauernden Mutterblick« genannt hatte.

»Ja«, gab Annerl einsilbig zur Antwort.

»Die Donaths können stolz auf ihren Sohn sein. Er wird später einmal die Praxis übernehmen und ein genauso guter Arzt werden wie sein Vater. Aber das brauch ich dir ja alles net zu erzählen«, meinte Luitgard.

»Jedenfalls werden wir froh sein, wenn du wieder bei uns zu Hause bist«, lenkte ihr Vater das Gespräch in eine andere Richtung, denn die fast schwärmerischen Ausführungen ihrer Mutter schienen in Annerl sichtlich Unbehagen auszulösen.

Luitgard ließ sich noch ein wenig über den neuesten Dorfklatsch aus, aber als sie und Franz bemerkten, dass Annerl Anzeichen von Ermüdung zeigte, verabschiedeten sie sich. Kaum standen sie auf dem Flur, machte Luitgard aus ihrem Herzen keine Mördergrube mehr.

»Hast du es net bemerkt, Mandl, dass zwischen dem Martin und dem Annerl etwas ist? Ganz verlegen ist sie geworden, als ich ihn über den grünen Klee gelobt hab. Und er hat ja auch so schnell die Flucht ergriffen, wie einer, der etwas zu verbergen hat. Da spinnt sich etwas an, wenn sie sich net gar schon einig sind«, stieß Luitgard hervor.

»Was du immer gleich siehst, Schatzerl«, wiegelte Franz ab.

»Doch, doch, ich kenn die Zeichen«, widersprach seine Frau, und dem hatte er nichts entgegenzusetzen, denn Luitgard war in der Tat sehr scharfsichtig.

Sich immer wieder vergewissernd, dass sie tatsächlich auf dem richtigen Weg zum Ausgang waren, schritt das Paar durch die Flure. Luitgards Beobachtung hatte Franz nachdenklich gemacht.

»Das wär doch net das Schlechteste, wenn unser Annerl den Martin heiraten würde«, meinte er schließlich. »Ganz davon abgesehen, dass er ihr das Leben gerettet hat, ist er doch ein sehr rechtschaffener junger Mann. Er wird mal ein würdiger Nachfolger von seinem Vater, und Annerl könnt ich mir auch gut an seiner Seite vorstellen. Vielleicht studiert sie sogar noch Medizin, wer weiß. Also, ich tät den Martin mit offenen Armen empfangen«, schloss er.

Dr. Ludwig Donath, Martins Vater, war weit über den Ort hinaus beliebt und angesehen. Er gehörte noch zu den Landärzten der alten Art, die bei Nacht und Nebel an das Bett eines Patienten eilten, Kindern ins Leben halfen und den Sterbenden Beistand leisteten. Auch für die Altstetters war Dr. Donath ein vorbildlicher Mensch, und daher war Franz Altstetter keineswegs dagegen, dass seine Tochter in diese Familie einheiratete.

»Ich hab gewusst, dass du das gutheißen wirst«, sagte Luitgard befriedigt. Wie immer waren sie sich in grundsätzlichen Dingen einig.

»Es gibt nichts, was gegen den Martin spricht.«

»Die Blanka müssen wir allerdings in Kauf nehmen, das ist ein Wermutstropfen. Ich kann einfach net verstehen, dass ein Madel aus einer solchen Familie sich so verunstaltet und sich so aufführt«, wandte sie missbilligend ein.

»Wie ich schon mal gesagt hab, Luitgard, manche, die in der Jugend so wild sind, werden später überraschend zahm. Umgekehrt wär es auch viel schlimmer«, fügte er mit einem verschmitzten Lächeln hinzu.

Luitgard murmelte etwas Unverständliches vor sich hin. Ihre Miene hellte sich jedoch auf, als ihr Mann vorschlug, ein Café zu besuchen, ehe sie die Heimfahrt antraten. Und so saßen sie noch eine Weile bei Kaffee und Kuchen gemütlich beisammen, denn die Altstetters hatten es nicht eilig heimzukommen.

Das Bürgermeisterhaus kam ihnen mit einem Mal still und verwaist vor.

***

Annerl verbrachte die Tage, die sie auf Anraten der Ärzte noch im Krankenhaus bleiben musste, keineswegs unangenehm. Martin besuchte sie, so oft er konnte, dann tauschten sie Zärtlichkeiten aus und schmiedeten Zukunftspläne.

Sie hatte den Entschluss gefasst, nach Abschluss des sozialen Jahres ebenfalls Medizin zu studieren. Vielleicht gelang es ihr sogar, einen Platz an demselben Studienort wie Martin zu bekommen, sodass es keine langen Trennungen gab. Und irgendwann würden sie eine Gemeinschaftspraxis eröffnen als Nachfolger von Martins Vater.

Diesem Traum gaben sich beide gerne hin, ihr Lebensweg schien hell und leuchtend vor ihnen zu liegen.

Auch Annerls Freundinnen ließen sich blicken, es wurde viel gekichert, und Annerl musste Neckereien über ihre Beziehung zu Martin über sich ergehen lassen. Die Mädchen hatten sehr schnell durchschaut, wie es um die beiden stand.

»Das ist einfach so romantisch! Der edle Ritter rettet dir das Leben, und ihr verliebt euch ineinander«, hieß es.

Annerl lachte nur, sie war zu glücklich, um irgendetwas übelzunehmen.

Doch dann geschah etwas, das ihr Leben jäh verdüsterte.

Sie schreckte mittags aus einem leichten Schlaf empor, weil sie das plötzliche Empfinden hatte, dass sie nicht allein im Zimmer war. An ihrem Bett stand ihr Bruder Marco, der sie mit einem seltsamen Gesichtsausdruck betrachtete.

»Marco! Das freut mich aber, dass du mich besuchst«, rief sie arglos aus und bedeutete ihm, sich neben ihr niederzulassen.

Der junge Mann setzte sich auf den Besucherstuhl, dabei wandte er den Blick nicht von seiner Schwester. Ohne sich nach ihrem Befinden zu erkundigen, begann er plötzlich zu sprechen, wirr und unzusammenhängend, einem unüberwindlichen inneren Drang folgend.

»Schon als ich sechzehn war, hab ich es geahnt, denn es kann doch nicht sein, dass ich so empfinde. Und jetzt bin ich mir ganz sicher, wegen der Augen, verstehst du? Natürlich brauche ich noch mehr Beweise, aber dann, Annerl, steht uns nichts mehr im Wege. Das hab ich schon immer gewusst …«

»Wovon redest du?«, fragte Annerl erschrocken und richtete sich auf.