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Lesen, was glücklich macht. Und das zum Sparpreis!
Seit Jahrzehnten erfreut sich das Genre des Heimat-Bergromans sehr großer Beliebtheit. Je hektischer unser Alltag ist, umso größer wird unsere Sehnsucht nach dem einfachen Leben, wo nur das Plätschern des Brunnens und der Gesang der Amsel die Feierabendstille unterbrechen.
Zwischenmenschliche Konflikte sind ebenso Thema wie Tradition, Bauernstolz und romantische heimliche Abenteuer. Ob es die schöne Magd ist oder der erfolgreiche Großbauer - die Liebe dieser Menschen wird von unseren beliebtesten und erfolgreichsten Autoren mit Gefühl und viel dramatischem Empfinden in Szene gesetzt.
Alle Geschichten werden mit solcher Intensität erzählt, dass sie niemanden unberührt lassen. Reisen Sie mit unseren Helden und Heldinnen in eine herrliche Bergwelt, die sich ihren Zauber bewahrt hat.
Dieser Sammelband enthält die folgenden Romane:
Alpengold 214: Wozu brauch‘ ich ein Hochzeitskleid?
Bergkristall 295: Der Fluch vom Rauscherhof
Der Bergdoktor 1785: Drama im Bürgermeisterhaus
Der Bergdoktor 1786: Licht und Schatten des Lebens
Das Berghotel 151: Sag einfach Ja!
Der Inhalt dieses Sammelbands entspricht ca. 320 Taschenbuchseiten.
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Seitenzahl: 622
BASTEI LÜBBE AG
Vollständige eBook-Ausgaben der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgaben
Für die Originalausgaben:
Copyright © 2015/2016/2017 by
Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Für diese Ausgabe:
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Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln
Covermotiv: © LilM91 / Shutterstock
ISBN: 978-3-7517-4699-1
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Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Alpengold 214
Wozu brauch' ich ein Hochzeitskleid?
Bergkristall - Folge 295
Der Fluch vom Rauscherhof
Der Bergdoktor 1785
Drama im Bürgermeisterhaus
Der Bergdoktor 1786
Licht und Schatten des Lebens
Das Berghotel 151
Sag einfach Ja!
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Contents
Wozu brauch’ ich ein Hochzeitskleid?
Als für Beate alles Glück verloren schien
Von Rosi Wallner
Etwas reißt Beate im Morgengrauen aus dem Schlaf. Ein Käuzchen sitzt auf dem Fensterbrett und schreit. Sie springt aus dem Bett, läuft zum Fenster und verscheucht den Vogel. Unheil soll es bringen, das Käuzchen, sogar den Tod. Und das zwei Tage vor ihrer Hochzeit!
»Scher dich weg«, murmelt sie verstört, und es schaudert sie. Da fällt ihr Blick auf das weiße Kleid, das am Schrank hängt, ihr Brautkleid, und wie um sich zu trösten und zu beruhigen, streicht sie über den kostbaren Stoff und nimmt es vom Kleiderhaken, um es sich vor dem Spiegel anzuhalten. Aber es bleibt hängen, und entsetzt hört Beate das Reißen von Stoff. Der Schaden ist nur gering, mit wenigen Stichen zu beheben, und doch überläuft es Beate wie ein seltsames Kältegefühl. Erst das Käuzchen, jetzt dieser Riss – ein zweites böses Omen?
»Schön schaust du aus! Wie eine Prinzessin! So ein herrliches Brautkleid hab ich noch nie gesehen!«, entfuhr es Rosi Berghofer neidlos. Sie konnte den Blick gar nicht von ihrer Freundin wenden.
Beate Steinert drehte sich lächelnd im Kreis herum, dass der Rock des langen Kleides aufschwang und sie in eine Wolke von weißer Seide zu hüllen schien.
Selbstgefällig betrachtete sie sich dann im Spiegel, der ihr ein bezauberndes Bild bot: ein schlankes schönes Mädchen mit ebenmäßigen Zügen und üppigem dunkelblondem Haar, das ihr bis über die Schultern fiel.
»Darin wirst du dem Michael gefallen! Augen wird der machen!«, meinte Rosi und seufzte ein wenig.
»Das soll er auch! So ein Tag muss unvergesslich bleiben. Schlimm genug, dass später so viele Männer vergessen, was sie am Altar versprochen haben«, entgegnete Beate und nestelte am Ausschnitt des Kleides, der mit aufwendigen seidenen Rosen verziert war.
»Aber dein Michael ist net so einer. Auf den kannst du bauen. Noch nie hat er einem anderen Madel schöne Augen gemacht«, sagte Rosi beinahe heftig.
»Das würd ich ihm auch net raten! Dann wär’s sofort aus mit uns. Ich bin keine, die sich das gefallen lässt.« Beate warf den Kopf zurück, und ihre schönen Augen funkelten. »Aber was reden wir denn da! Wir wollen den Teufel doch net an die Wand malen!« Sie lachte auf, und ihre Freundin stimmte nach kurzem Zögern mit ein.
»So kurz vor der Hochzeit kommt man halt auf die absonderlichsten Gedanken«, meinte Rosi. »Dass doch net alles gut gehen könnt …
»Ach, warum denn?«, erwiderte Beate leichthin. »Der Michael und ich kennen uns schon von Kind an. Das ist vielleicht net so romantisch, aber ich finde, da weiß man wenigstens, wie man mit dem anderen dran ist. Geheiratet wird auf der Erde, net im Himmel.«
»Du bist halt vernünftig und stehst mit beiden Beinen auf dem Boden, Beate. Viele würden net so denken, das kannst du mir glauben.«
»Und manche hat’s dann auch gereut, denn die Ehe ist halt nichts Romantisches.« Beate trat näher an den Wandspiegel in ihrem geräumigen Zimmer, um den Faltenwurf des Kleides zu begutachten, wobei sie kritisch den Kopf schief legte.
»Ich hab ja nur gemeint, dass …«, begann Rosi.
»Ist ja schon gut!«, unterbrach Beate sie ungeduldig. »Meinst du net auch, dass das Mieder ein bisserl lose sitzt? Es schlägt sogar Falten!«
»Ja, das stimmt. Weißt, wie man das früher genannt hatte? Die Brautdürre! Weil sich die Madeln vor der Hochzeit so aufgeregt haben, dass sie nimmer richtig essen konnten.«
Beate musste trotz ihrer Verärgerung kichern und zupfte an der deutlich sichtbaren Falte.
»Hoffentlich reg ich mich net noch so auf, dass die Schneiderin ein neues Kleid nähen muss«, meinte sie trocken und ließ sich von der Freundin ein paar Stecknadeln reichen.
Unter übertriebenem Gelächter und Gestöhne gelang es Beate schließlich herauszuschlüpfen, ohne sich an den Nadeln zu stechen.
Vorsichtig verstauten die beiden Mädchen das Kleid im Schrank und setzten sich noch ein wenig zusammen, um zu plaudern, wie es ihnen seit Langem eine lieb gewordene Gewohnheit war. Sie empfanden eine gewisse Wehmut; es war das letzte Mal, dass sie so in Beates Zimmer saßen und ihre Kümmernisse und Freuden, aber auch ihre Geheimnisse teilten.
Sie waren seit der Schulzeit unzertrennliche Freundinnen, obwohl man sich kaum größere Gegensätze als die beiden Mädchen hätte vorstellen können. Das galt schon für Herkunft und Familie. Während Beate die Tochter eines reichen Sägewerkbesitzers war, besaßen Rosis Eltern nur ein kleines Anwesen außerhalb des Dorfes, dem man nur das Lebensnotwendigste abringen konnte. Und hätte Rosis Vater nicht bei Waldarbeiten Geld dazuverdient, wäre der kleine Hof längst nicht mehr in ihrem Besitz gewesen.
Auch äußerlich, vor allem aber wesensmäßig, unterschieden sich die Freundinnen voneinander. Beate stand im Mittelpunkt eines jeden Dorffestes, und ihre strahlende Schönheit verdrehte den Burschen den Kopf, sodass sie viele Verehrer hatte.
Rosis bescheidene Reize verblassten daneben völlig. Sie war drall und rundlich und hatte ein herzförmiges Gesicht mit warmen honigfarbenen Augen und braunem lockigem Haar. Sie war kein Mensch, der Aufsehen erregte, aber man fühlte sich in ihrer Gegenwart sofort wohl. Dazu trugen ihre Freundlichkeit und ihr herzerfrischender Humor bei – Eigenschaften, die Beate oftmals recht hochfahrendem Verhalten Einhalt geboten.
Beate hatte keine andere Freundin außer Rosi, denn sie, die »alles hatte« und nun auch noch den begehrtesten jungen Mann im Dorf bekam, erweckte in den meisten Mädchen eine gewisse Feindseligkeit, zumindest aber Neid. Doch Rosi missgönnte der Freundin nichts und hielt treu zu ihr, und das schmiedete die Mädchen fest zusammen.
»Versprichst du, dass du mich oft auf dem Hof besuchst, Rosi?«, sagte Beate, und in ihren schönen Augen schimmerten Tränen.
»Ja!« Rosi schluchzte vor Rührung auf. »Es soll sich nichts ändern zwischen uns, das wünsch ich mir. Schau, ich werd nie einen finden, dem ich gefalle. Ich bin net hübsch und bring auch nichts mit. Wer will so eine schon haben? Und wenn ich dann auch noch meine beste Freundin verliere …« Sie konnte nicht mehr weitersprechen.
»Tschapperl! Der Mann, der dich bekommt, kann von Glück sagen! Du darfst dein Licht net immer unter den Scheffel stellen. Aber eins ist abgemacht – unsere Freundschaft bleibt bestehen, auch wenn ich Pernegger-Bäuerin bin. Weißt du noch, wie wir uns damals ewige Freundschaft geschworen haben?«
»Das könnt ich nie vergessen!«
Rosi musste bei der Erinnerung unwillkürlich lächeln, und die beiden Mädchen reichten sich die Hände. Feierlich wiederholten sie den Schwur, der damals so leicht von den Kinderlippen gegangen war, sich aber in den folgenden Jahren bewährt hatte.
»Jesses! Jetzt muss ich aber gehen. Ich bin doch bei den Perneggers zum Abendbrot eingeladen. Es gibt noch so viel zu bereden.«
Beate sprang auf, und Rosi folgte ihrem Beispiel. Auch sie stellte fest, dass sie sich versäumt hatte.
»Ein Stückerl können wir ja noch miteinander gehen und plauschen«, meinte Beate und warf sich mit einer anmutigen Bewegung ein Umschlagtuch über die Schultern.
Mit raschen Schritten ließen sie das Bergdorf hinter sich und stiegen einen gewundenen Bergpfad hinauf. Sie waren so in ihr Gespräch vertieft, dass sie der Schönheit des Frühlingsabends keine Beachtung schenkten.
Sie blieben auch nicht – wie viele Wanderer – stehen, um sich an der Aussicht zu erfreuen. Die Abendsonne ließ die Felsen rot aufglühen, und ein heller Strahlenkranz legte sich um die Berggipfel.
»Ich wünsch dir einen schönen Abend mit den Perneggers, grüß sie von mir«, sagte Rosi in ihrer freundlichen Art, als sie sich an der Wegabzweigung trennten.
»Ja, pfiat di, Rosi, und grüß deine Eltern. Und vielen Dank noch!«
Beate eilte, ohne zurückzuschauen, davon, während Rosi der schlanken Gestalt nachsah, bis sie ihren Blicken entschwunden war. Unwillkürlich entschlüpfte ihr ein Seufzer.
»Ich weiß net, was ist. Ich hab so ein ungutes Gefühl. Das geht alles zu glatt und selbstverständlich ab, aber ich seh sicher nur Gespenster. Abergläubisch war ich schon immer«, murmelte sie vor sich hin.
Dann verbannte sie alle Gedanken an die bevorstehende Hochzeit ihrer Freundin und beeilte sich, nach Hause zu kommen.
***
Als Beate auf der Anhöhe angelangt war, von der aus der Pernegger-Hof am besten zu überblicken war, blieb sie stehen und schöpfte tief Atem.
Die Heirat mit dem Erben des Pernegger-Hofes bedeutete für sie die Erfüllung all ihrer Wünsche. Schon als sie, ein Kind noch, den Pernegger-Hof zum ersten Mal gesehen hatte, als sie mir ihrer Mutter einen Besuch abstattete, wurde sie von dem sehnsüchtigen Verlangen erfasst, ihr späteres Leben dort zubringen zu können.
Damals bereits freundete sie sich mit Michael Pernegger an, und selbst die Zeit des Heranwachsens, die sich so oft trennend auswirkt, hatte die Verbindung nicht zerreißen lassen. Und nun war es bald so weit. Sie würde auf dem Pernegger-Hof Einzug halten!
Voller Stolz umfasste Beate das vertraute Bild, den behäbigen, breitgelagerten Bau mit dem tief herabgezogenen Dach und den Balustraden aus dunklem Holz an der Vorderseite, die einen Kontrast zu den weißgekalkten Mauern bildeten. Kein Wanderer ging vorbei, ohne die kunstvoll ausgeführte Lüftlmalerei über der schweren holzgeschnitzten Haustür zu bewundern. Die Perneggers trugen auch Sorge dafür, dass sie immer wieder erneuert wurde.
Ebenso gut instand gehalten waren die angrenzenden Stallungen; der Garten, der seitlich um das Wohnhaus herumführte, war liebevoll angelegt. Im Hof plätscherte ein Brunnen aus Sandstein, der breite Rand war wie die Balustrade mit Blumenkästen geschmückt, in denen später im Jahr rote Geranien blühen würden.
Für Beate war der Pernegger-Hof eine in sich geschlossene Welt; ein Ort, von dem Ruhe und Geborgenheit ausging. Seit Jahrzehnten, ja, in den letzten hundert Jahren war hier das Leben nach einer festen Ordnung, nach festen Regeln verlaufen. Und Beate ersehnte sich nichts mehr, als an diesem Leben teilhaben zu dürfen und dazu beizutragen, dass altbewährte Traditionen erhalten blieben.
Als sie ihren Weg fortsetzte, sah sie, wie die Tür aufging und ein hochgewachsener junger Mann auf die Schwelle trat – Michael Pernegger, dessen Frau sie bald sein würde. Und erneut stieg freudiger Triumph in ihr empor, denn keiner im Tal glich ihrem zukünftigen Ehemann.
Gutaussehend, wie er mit seinem vollen dunklen Haar und den markanten Zügen war, schwärmten viele Dorfmädchen für ihn – nicht nur, weil er der Erbe des größten Hofes war. Neben seinem beeindruckenden Äußeren hatte Michael auch ein angenehmes Wesen, er neigte nicht zum Hochmut und Großtuerei wie manch andere Großbauernsöhne, sondern er bestach durch Humor und Ausgeglichenheit. Dass er überdies noch einen tüchtigen Hofbauer abgeben würde, daran zweifelte niemand, der ihn kannte.
Michaels braune Augen leuchteten auf, als er Beate erblickte, und der ging ihr schnell entgegen.
»Schatzerl, ich hab gedacht, heut kommst du gar nimmer hoch«, begrüßte er sie.
»Tut mir leid, Michael, dass ich mich verspätet hab«, sagte sie entschuldigend und hängte sich bei ihm ein, nachdem sie ihn flüchtig auf die Wange geküsst hatte.
»Hast bestimmt wieder mit der Rosi zusammengegluckt. Oder hast dich net von deinem Spiegelbild losreißen können?«, neckte Michael sie übermütig.
Beate lachte auf. »Beides! Ich hab das Hochzeitskleid noch mal anprobiert, es passt halt noch immer net recht!«
»Womöglich können wir net heiraten, weil dein Gewand nie fertig wird«, meinte er schmunzelnd.
»So kommst mir net aus, du Schlawiner!«, fiel ihm Beate lachend ins Wort.
Arm in Arm betrat das junge Paar die Wohnstube, wo die Perneggers und die übrigen Hofleute schon am reich gedeckten Abendbrottisch versammelt waren.
»Da seid ihr ja!« Ruth Pernegger ließ Beate wegen ihrer Verspätung erst gar nicht zu Wort kommen, sondern umarmte sie und küsste sie herzhaft auf beide Wangen, war ihr doch das junge Mädchen immer lieb wie eine eigene Tochter gewesen, die ihr das Schicksal vorenthalten hatte.
Zum ersten Mal wurde sich Beate der Tatsache bewusst, dass sie auch dafür dankbar sein musste. Wie viele junge Frauen heirateten in Familien ein, von denen sie nicht mit offenen Armen empfangen wurden. Doch ihre zukünftigen Schwiegereltern liebten und schätzten sie und würden es auch tun, wenn sie aus einer weniger begüterten Familie stammen würde.
Sie sind glücklich miteinander, dachte Ruth Pernegger, und wusste selbst nicht, warum diese Feststellung sie mit einer solchen Erleichterung erfüllte, denn alle waren doch der Meinung, dass Michael und Beate füreinander bestimmt waren.
Ruth schob diese seltsame Anwandlung auf die Anspannung der Hochzeitsvorbereitungen und auch darauf, dass auf sie, Ruth, ein neuer Lebensabschnitt zukommen würde.
Die Perneggers hatten lange auf diesen Sohn und Erben warten müssen. Schließlich, als ihnen alles Hoffen vergeblich erschienen war, hatten sie den Sohn von Perneggers jüngster Schwester bei sich aufgenommen, die, vom Vater des Kindes verlassen, bei der Geburt gestorben war.
Wie es bisweilen geschieht, war Ruth kurz danach schwanger geworden und durfte bald ein eigenes Kind in den Armen halten. Weitere Nachkommenschaft war jedoch ausgeblieben.
Die beiden Perneggers waren dem kleinen Markus herzlich zugetan, sahen sie in ihm doch auf gewisse Weise den Urheber ihres Familienglücks. Sie ließen ihm die gleiche Zuwendung und Fürsorge zukommen wie ihrem leiblichen Sohn. Er sollte nicht unter dem Makel der unehelichen Geburt und dem Fehlen elterlicher Zuneigung zu leiden haben.
Dennoch hatte er sich nicht auf die gleiche Weise wie Michael entwickelt, was den Perneggers oft große Sorgen bereitete. Nicht selten suchten sie die Schuld bei sich selbst, denn während Michael alle Herzen zuflogen, war es oft schwer, Markus gerecht zu werden.
In der letzten Zeit sprach er häufig davon, den Hof zu verlassen und sich in der Stadt umzusehen. Der Abschied vom Pernegger-Hof, der Ruth mit Bangen und Wehmut erfüllte, schien für Markus die einzige Zukunftshoffnung zu sein.
Josef Pernegger, schon einiges über sechzig, hatte beschlossen, seinem Sohn bei dessen Heirat den Hof zu überschreiben und mit seiner Frau ins Dorf zu ziehen. Dort besaßen sie ein gemütliches kleines Haus mit Garten, und es bot sich ihnen so auch die Möglichkeit, mehr als bisher am Dorfleben teilzuhaben.
»Wir haben genug geschafft, jetzt sind die jungen Leut dran. Und es bringt nur Unfrieden, wenn wir ihnen dreinreden. Jung und Alt unter einem Dach – das geht nur selten gut«, pflegte er zu sagen.
Seine Frau jedoch wusste, dass es ihm ebenso schwerfiel wie ihr, den Hof, mit dem sie verwachsen waren und um den all ihre Erinnerungen kreisten, zu verlassen. Es tröstete sie aber, dass Michael und Beate alles in ihrem Sinne weiterführen würden.
Auch Pernegger erhob sich, um seine zukünftige Schwiegertochter lächelnd zu begrüßen.
»Fesch schaust du aus, Madel, wirst von Tag zu Tag hübscher. Der Michael kann sich net beklagen.« Beate errötete, doch es war ihr anzumerken, dass sie dieses Kompliment nicht ungern hörte.
Markus nickte ihr wie üblich nur kurz zu, was sie immer ein wenig aufbrachte. Ein Glück, dass er in die Stadt ziehen wollte!, ging es ihr durch den Sinn.
Obgleich sie doch Cousins waren, ließen Michael und Markus wenig verwandtschaftliche Ähnlichkeit erkennen. Markus wirkte älter als sein Ziehbruder; seine an sich gut geschnittenen Züge waren hart und düster. Zwar hatte er – wie Michael – dunkle Haare, doch seine kühlen grauen Augen bildeten einen eigenartigen Kontrast dazu. Beate fühlte sich immer unbehaglich unter seinem abschätzenden Blick.
Überhaupt war er ein Mensch, zu dem sie keinen Zugang gewinnen konnte. Markus war wortkarg und verschlossen und lächelte so gut wie nie. Er ließ selten Gefühlsregungen erkennen, doch manchmal hatte sie das Gefühl, dass er sich insgeheim über seine Mitmenschen lustig machte.
Er passte auch wenig in die Runde, denn unter den Perneggers und den Hofleuten herrschte eine heitere Ungezwungenheit. Während des Essens wurde geschwatzt und gelacht, und Michael und Beate mussten sich Scherze und Neckereien gefallen lassen, die jedoch nie über die Grenzen des guten Geschmacks gingen.
Schließlich, nachdem alle reichlich dem Geselchten und dem selbst gebackenen Brot zugesprochen hatten, blieben nur noch die Perneggers in der geräumigen Stube mit den schweren geschnitzten Möbeln zurück.
Auch Markus Pernegger hatte sich erhoben, und für einen Augenblick zuckte ein spöttisches Lächeln um seine Mundwinkel auf, als er im Ton der Beiläufigkeit fragte: »Will euch net stören bei den Vorbereitungen. Was kostet es denn eigentlich, euer großes Glück? Ich mein natürlich das Fest.«
Beate schoss das Blut in die Wangen, und sie wollte schon zu einer heftigen Antwort ansetzen, als Michael ihr zuvorkam.
»Das ist mit Geld net aufzuwiegen. Und jetzt sei net so ein giftiger Grantler, hast du gehört?«, sagte er ohne jede Boshaftigkeit und versetzte Markus einen freundschaftlichen Schlag auf die Schulter.
»Werd mich anstrengen!« Markus stieß ihm spielerisch mit dem Ellenbogen in die Rippen und verließ dann abrupt den Raum, was die alten Perneggers mit schuldbewusster Erleichterung erfüllte.
»So ein Bazi!«, stieß Beate hervor, ihre Wangen brannten immer noch. Sie war es nicht gewohnt, so behandelt zu werden. Keiner im Dorf wagte es, der Tochter des reichen Sägewerkbesitzers, der großen Einfluss hatte, respektlos zu begegnen.
»Der meint das net so. Das darfst du ihm net übelnehmen«, versuchte Michael, das Mädchen zu beschwichtigen.
Eigenartig genug, aber Michael hing mit großer Zuneigung an Markus, der sich keiner besonderen Beliebtheit erfreute, und er pflegte stets Partei für ihn zu ergreifen. Er war allerdings auch der Einzige, der weitgehend von Markus Gehässigkeiten und spöttischen Anspielungen verschont blieb.
»Das musst du schon mir überlassen, was ich übelnehm«, erwiderte Beate spitz.
»Ich hab einen Vorschlag für den Blumenschmuck in der Kapelle«, warf Ruth schnell ein, die eine Auseinandersetzung herannahen sah.
Michael nahm die Anregung sofort auf, und bald darauf waren sie damit beschäftigt, den Schmuck des Altars und der Kirchenbänke festzulegen. Auch das Hochzeitsessen stellte Beates Ansprüche noch nicht zufrieden, und es mussten weitere Vereinbarungen getroffen werden.
Darüber war die Verstimmung bald vergessen, wozu Michaels unverändert gute Laune nicht unwesentlich beitrug.
»Jesses! Es wird ja schon dunkel! Die Zeit ist vergangen wie im Flug!«, rief Beate unvermittelt aus.
Ruth stand auf und ging hinüber zu der Stehlampe, die den Raum in ein warmes Licht tauchte.
»Ich glaub, ich geh besser«, fuhr Beate fort. »Ihr wisst ja, wie überängstlich meine Eltern sind.«
»Aber dafür gibt’s doch keinen Grund! Der Michael bringt dich hinunter bis vor die Haustür. Komm, trink noch ein Glaserl Wein mit uns, wo wir jetzt grad so gemütlich zusammensitzen.«
»Recht hast du, Tante Ruth!« So nannte Beate die Pernegger-Bäuerin noch von Kindheitstagen her.
Schließlich brachen die beiden jungen Leute auf, die Perneggers begleiteten sie bis zum Hofgatter.
»Ein schönes Paar«, sagte Ruth und wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel.
»Wenn sie nach so langer Ehe wie der unsrigen immer noch zufrieden sind, dann können sie erst von Glück sagen.« Josef Pernegger verstummte unbeholfen, denn er machte selten viele Worte, und Liebeserklärungen lagen ihm schon gar nicht. Er legte den Arm um seine Frau, und so standen sie da und schauten den Brautleuten nach, bis sie ihren Blicken entschwunden waren. Sie ahnten nicht, dass es das letzte Mal war, dass sie das junge Paar in so harmonischer Übereinstimmung sehen sollten.
Beate und Michael sprachen auf dem Heimweg kaum, schon als Kinder hatten sie es geliebt, schweigend nebeneinander herzulaufen.
»Willst du noch mit zu den Eltern hochkommen?«, fragte Beate, kurz bevor sie bei dem Sägewerk, in dessen unmittelbarer Nähe auch das Wohnhaus des Besitzers stand, angelangt waren.
»Heut nimmer. Aber grüß deine Eltern von mir«, meinte er.
»Also, gute Nacht.« Beate wollte ihm entschlüpfen, doch er hatte den Arm fest um sie gelegt.
»Ein Busserl musst du mir schon gönnen! Sonst kommst du mir net aus!«, forderte er.
»Wenn’s sein muss!« Beate gehorchte lachend und bot ihm die roten Lippen, doch als Michael sie küsste, ging ihm durch den Sinn, dass es zwar ein zärtlicher, aber auch leidenschaftsloser Kuss war.
Beate hatte das Empfinden, dass sie etwas tat, was sie eigentlich überhaupt nicht wollte. Und beide dachten sie, dass sich das ändern würde, wenn sie erst einmal Mann und Frau wären und es keine Schranken mehr zwischen ihnen gäbe.
Ich kann froh sein, dass ich ein Madel wie sie bekomme. Eine, die keinem anderen schöne Augen macht und bei der ich net fürchten muss, dass ich mehrere Vorgänger hab, wie das ja heut net selten der Fall ist. Alles andere wird sich in der Ehe finden, ich muss halt ein bisserl Geduld haben, dachte Michael, als er mit weit ausholenden Schritten dem Pernegger-Hof zueilte.
***
Zwei Tage vor der Hochzeit wurde Beate im Morgengrauen unsanft aus dem Schlaf gerissen. Erst konnte sie nicht genau ausmachen, was sie eigentlich geweckt hatte, dann aber erkannte sie, dass es das Schreien eines Käuzchens war.
Ein Käuzchen! Auch damals, bevor die Großmutter gestorben war, hatte sich eines auf dem Dachfirst niedergelassen und die Hausbewohner in Angst und Schrecken versetzt. Alle waren davon überzeugt, dass ein solches Ereignis den nahenden Tod, zumindest aber großes Unheil ankündete.
Beate hielt es nicht in ihrem Bett; sie sprang hinaus und lief mit bloßen Füßen zum Fenster. Als sie es öffnete, flog der Vogel mit einem gellenden Laut auf und verschwand in Richtung Wald.
»Scher dich davon! Du hast hier nichts verloren!«, murmelte Beate mit zitternden Lippen, obwohl sie sich dabei recht kindisch vorkam. Ein plötzliches Kältegefühl ergriff von ihr Besitz, und sie kroch wieder zurück in das Bett, zurück in Wärme und Geborgenheit. Doch sie fand keinen Schlaf mehr, und schließlich stand sie auf und nahm ihr Hochzeitskleid aus dem Schrank, als müsste sein Anblick sie trösten und beruhigen.
Sie strich mit den Händen vorsichtig über den kostbaren Stoff und stellte sich vor, wie alle sie bewundern würden, wenn sie an Michaels Seite zum Altar schritt.
»Davon sollen sie noch lange reden im Tal«, murmelte sie zufrieden.
Als sie das Kleid aufnahm, um es sich wieder einmal vor dem Spiegel auszuhalten, blieb der Saum irgendwo hängen, und entsetzt hörte Beate das Reißen von Stoff.
»Jesses – nur das net!«, rief sie aus und begann fieberhaft den Rock zu untersuchen.
Der Schaden war leicht zu beheben, nur ein paar Stiche am Saum waren nötig, dennoch war Beate auf seltsame Weise die Freude an dem Kleid verdorben. Sie gehörte zu den Menschen, die ungern etwas um sich dulden, das schadhaft geworden war. Ärgerlich und achtlos hängte sie das Hochzeitsgewand zurück in den Schrank.
Am besten, wenn ich mich doch wieder hinlege und zu schlafen versuche, dachte sie.
Im Geiste ging sie durch, was sie an diesem Tag noch alles zu besorgen hatte, und sie sank tatsächlich noch einmal in einen kurzen, aber wenig erholsamen Schlaf.
***
»Gefällt dir die Schlafkammer? Hoffentlich findest du sie net altmodisch«, meinte Michael besorgt.
Bislang hatte Beate kein Wort über die Möbelstücke verloren, die ein Kunstschreiner aus dem Nachbarort eigens für das junge Paar angefertigt hatte.
»Etwas Neumodisches tät hier gar net hereinpassen«, versicherte sie endlich.
Sie war ein wenig verlegen, mit Michael vor dem ausladenden Ehebett zu stehen, in dem sie bald ihre Nächte miteinander verbringen würden. Dieser Gedanke löste eine gewisse Beklommenheit in ihr aus, die die Freude über die in ihrer Einzigartigkeit kostbaren Möbelstücke dämpften.
So geht es sicher jeder, die unerfahren in die Ehe geht. Aber es wird sich alles finden, der Michael wird mir ein guter Mann sein, versuchte sie sich zu beruhigen.
Gewollt munter begann sie die Vorzüge der neuen Einrichtung aufzuzählen, sodass sich Michael zufriedengab. Die Stube allerdings war – von einigen Ausbesserungen abgesehen – im ursprünglichen Zustand erhalten geblieben. Sie stellte ein Stück Tradition dar, von dem sich kein Pernegger zu trennen gewagt hätte.
Michaels Eltern hatten bereits den Umzug ins Dorf bewerkstelligt und blieben nur noch so lange auf dem Hof, um ihn dem jungen Paar nach dem Fest übergeben zu können. Einem Augenblick, dem die alten Perneggers mit Wehmut, ihr Sohn und insbesondere Beate mit Freude und Genugtuung entgegensahen.
Michael fasste das Mädchen um die Schultern, und sie gingen nach unten, wo seine Mutter das Mittagessen zubereitet hatte. Bald würde sie – Beate – es sein, die das selbst gebackene Brot schnitt und es feierlich, wie es hier oben immer noch geheiligter Brauch war, verteilte.
Ruth Pernegger sah so ernst aus, dass Beate unwillkürlich zu ihr hineilte und sie auf die Wange küsste.
»Bist ein gutes Madel!«, sagte Ruth leise. »Und du bist die Einzige, die …« Sie stockte und rückte etwas auf dem liebevoll geschmückten Tisch zurecht.
Es war alles wie immer, wenn die Hofleute zum Essen zusammenkamen, und doch war eine gewisse Anspannung spürbar. Was für Neuerungen würde es geben mit den jungen Perneggers? Oder würde das Leben auf dem Hof in gewohnten Bahnen weiterlaufen?
Markus Pernegger machte einen noch verschlosseneren Eindruck als gewöhnlich und sah nicht von seinem Teller auf. Kaum dass er Beate bei ihrer Ankunft begrüßt hatte.
Einmal fing sie einen Blick von ihm auf, in dem Groll und noch etwas anderes lagen – etwas, was sie nicht zu deuten wusste.
Es störte Beate, dass er sein Vorhaben, den Hof zu verlassen, doch nicht in die Tat umgesetzt hatte. Sie hatte gehofft, dass Markus schon vor ihrer Hochzeit in die Stadt ziehen würde, denn er hatte aus seiner Abneigung gegenüber der zukünftigen Pernegger-Bäuerin nie ein Hehl gemacht.
Doch sie konnte Michael schwerlich bitten, Markus zum Weggehen zu bewegen, nicht nur, weil die beiden jungen Männer miteinander aufgewachsen waren und auf ihre Weise aneinanderhingen, sondern auch, weil Markus im Ruf großer Tüchtigkeit stand.
Nun, man würde sehen.
Jetzt jedenfalls genoss sie die gemeinsame Mahlzeit. Heute haftete ihr eine gewisse Feierlichkeit an, so als kosteten die alten Perneggers jede Minute aus, die sie noch auf dem Hof verbrachten.
Ruth hatte das »gute« Geschirr aus der Kredenz geholt, auf der weiß gestärkten Leinendecke leuchtete ein bunter Frühlingsstrauß. Die Stubentür stand weit auf, und durch die ebenfalls geöffneten Fenster, vor denen sich weiß die Gardinen blähten, drang warme vorsommerliche Luft herein.
Heitere Sonnenkringel verschränkten sich auf den honigbraunen Dielenbrettern, huschten über die Wände und ließen das Kupfergeschirr auf den Regalen aufschimmern.
Das war das Leben, wie Beate es sich vorgestellt hatte. Zwar würden viele Pflichten als Hofbäuerin auf sie zukommen, doch es würde immer Augenblicke wie diese geben, in denen nichts von Bedeutung geschah, und von denen sie doch wünschte, dass sie andauern würden.
Das Gespräch war mit einem Mal zum Stillstand gekommen; nur das Ticken der alten Standuhr und das Summen der Insekten waren zu hören. Unvermittelt verspürte Beate ein starkes Glücksgefühl, wie jemand, der endlich ein ersehntes Ziel erreicht hat und dessen Zukunft nun voller Verheißung vor ihm liegt. Und nichts und niemand sollte dieses Glück, das sie als Pernegger-Bäuerin erwartete, trüben dürfen. Denn eine andere Zukunft konnte sie sich nicht vorstellen.
»Da kommt jemand«, sagte Ruth plötzlich, die aus dem Fenster blickte, weil der Hofhund angeschlagen hatte.
»Hat sich wieder ein Städter nach heroben verirrt? Aber um die Zeit?«, meinte ihr Mann gleichmütig und häufte sich noch ein paar Knödel auf den Teller.
»Nein, es ist ein Madel!«
»Ein Madel? Ganz schön leichtsinnig, so mutterseelenallein auf eine Wanderung zu gehen«, meinte Pernegger missbilligend, der, was Frauen anbelangte, recht altmodischen Vorstellungen anhing.
»Die hat keine Bergwanderung vor. Sie trägt einen Koffer und hat ein Bündel auf dem Arm. Sie schaut aus, als wär sie net ganz sicher auf den Beinen«, erwiderte Ruth. Etwas wie Beunruhigung malte sich auf ihren Zügen.
Es war Beate, als verspürte, sie plötzlich einen kalten Hauch, und sie schauerte zusammen, am liebsten hätte sie schützend die Arme vor der Brust überkreuzt.
»Ich geh ihr entgegen.« Pernegger machte Anstalten, sich zu erheben, doch die junge Frau hatte anscheinend all ihre Kräfte zusammengenommen und ihre Schritte beschleunigt. Da die Haustür, des guten Wetters wegen, gleichfalls weit geöffnet war, betrat die unerwartete Besucherin nach einem zaghaften Gruß die Stube.
Alle Blicke waren auf die schmale Gestalt gerichtet, die einen Moment zu schwanken schien. Dann setzte die Fremde den abgeschabten Koffer langsam ab, während sie das unförmige Bündel mit dem rechten Arm weiterhin fest an sich presste. Sie war noch sehr jung, wenigstens wirkte sie so mit ihren kindlichen Zügen, die schön gewesen wären, wären sie nicht von Krankheit und Erschöpfung gezeichnet gewesen.
Das zarte Gesicht mit großen graugrünen Augen, unter denen tiefe Schatten lagen, war blass und abgezehrt; tiefes Leid hatte seine Spuren hinterlassen. Wirre rotbraune Strähnen hatten sich aus dem nach hinten gebundenen Haar gelöst und fielen ihr in die Stirn.
Auch ihre übrige Erscheinung wies Anzeichen der Vernachlässigung auf, die krankheitsbedingt sein mochte. Ein Dirndlrock, der früher vielleicht einmal gepasst hatte, hing lose um die abgemagerte Gestalt der jungen Frau.
Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder, ihre Augen irrten in stummer Qual über die Hofleute, die wie erstarrt dasaßen.
Dann erblickte sie Michael, der totenbleich und wie gelähmt dasaß, und sie flüsterte tonlos, aber so deutlich seinen Namen, dass jeder im Raum ihn vernehmen konnte.
Er gab keine Antwort, und ein Ausdruck des Entsetzens trat auf seine Züge, als sich das Bündel auf dem Arm zu regen begann und ein schwaches Wimmern von sich gab.
»Ein Kind! Das ist ja ein Kind!«, kam es überrascht von Ruth Perneggers Lippen. Spontan ging sie hin und befreite das winzige Kindergesicht von dem Zipfel des großen Einschlagtuches, das es vor der Sonne geschützt hatte.
»Michael!«, sagte die junge Frau jetzt laut und vernehmlich, und wieder schien sie alle Kräfte zusammenzunehmen. »Ich bin krank. Du musst dich um dein Kind kümmern!«
Die Anstrengung, die diese Worte sie kosteten, war zu viel für sie. Mit einem Laut, der wie ein lang gezogener Seufzer klang, sank sie zu Boden.
Während es Ruth noch gelang, das Kind an sich zu reißen, schlug die junge Frau schon am Boden auf blieb regungslos liegen. Das Kind begann durchdringend und jammervoll zu weinen.
»Wir müssen einen Arzt holen! Sie atmet ja kaum noch!«, rief Ruth erregt. Das Gesicht der jungen Frau hatte sich auf erschreckende Weise verfärbt.
In der Aufregung um die junge Mutter schien allen die Bedeutungsschwere ihrer Worte entgangen zu sein – allen, außer Beate und Michael.
Das Mädchen saß da wie ein Standbild; ihre Züge, eben noch heiter und ausgeglichen, hatten sich erschreckend verzerrt, als wäre etwas Dunkles aus den verborgenen Tiefen ihres Wesens hervorgebrochen.
Als die fremde junge Frau eilends in eine leer stehende Kammer hochgebracht worden war, wandte Beate dem jungen Pernegger langsam ihr Gesicht zu. Michael erschrak vor der kalten Leere in ihren Augen.
»Sag mir nur eines …« Beate holte mühsam Atem, als bereite es ihr Schmerzen, die nächsten Worte auszusprechen. »Sag mir eines«, wiederholte sie. »Kennst du das Mädchen, oder ist das alles nur eine furchtbare Verwechslung?«
»Ja, ich kenne es«, gab er unumwunden zu.
Er wirkte in diesem Augenblick wie einer, dem das Schicksal zu einem Zeitpunkt, an dem er es am wenigsten erwartet hätte, einen tödlichen Schlag versetzt.
»Und das Kind? Was ist mit dem Kind? Ist es deines?«, fuhr Beate unbarmherzig fort.
Michael suchte nach einer Erklärung, rang mit sich, dann sagte er fast flüsternd: »Ich weiß net genau.«
»Du weißt es net genau!« Beate lachte schrill auf, ein Laut, der alle im Raum zusammenzucken ließ. »Da, schau her! Ich hab immer gedacht, ich kenn dich in- und auswendig, aber das ist wohl ein Irrtum. Es könnte also dein Kind sein?«
Michael senkte den Kopf und schwieg, aber das war Beate Antwort genug.
»So einer bist du also! Und dich wollte …« Ihre Stimme brach, sie stand auf und stürzte fluchtartig aus dem Raum, wo Michael zunächst betroffen zurückblieb, bis endlich Bewegung in ihn kam.
»Beate! Lass mich doch alles erklären!«, rief er und eilte ihr nach, doch erst in dem kleinen Wäldchen, einer Abkürzung zum Dorf, holte er sie ein.
Da sie keine Anstalten machte, stehen zu bleiben, griff er nach ihrem Arm und hielt sie fest.
»Lass mich aus!«, fuhr sie ihn an.
»Nein, net eher, als bis ich mit dir gesprochen hab. Übermorgen soll unsere Hochzeit sein. Da kannst du doch net einfach so davonlaufen!«
Unvermittelt brach Beate in Tränen aus, was Michael noch mehr erschütterte als ihre Anklagen. Sie gehörte zu jenen Frauen, die nur selten weinen, und nie hätte sie versucht, Tränen einzusetzen, um etwas zu erreichen.
»Als Kinder haben wir immer Hochzeit gespielt«, stieß sie hervor. »Du warst der Bräutigam und ich die Braut. Eine weiße Tischdecke hab ich mir umgehängt, und du hast den alten Zylinder deines Großvaters aufgesetzt. Alle lachten darüber, aber wir haben es ernst gemeint, obwohl wir noch Kinder waren. Erinnerst dich daran? An keinen anderen hab ich gedacht, nur an dich – und dass ich, wenn es dann an der Zeit ist, Pernegger-Bäuerin werd! Das war für mich das Wichtigste auf der Welt!«
»Ich wollt auch nie eine andere zur Frau als dich!«, erwiderte Michael heftig.
»Und dann haben wir Vater und Mutter gespielt, und meine Puppe war unser Kind! Denn das war auch wichtig für mich, dass wir ein Kind haben – unser Kind! Und was haben wir jetzt? Deinen Bankert.« Beate schrie es fast, und es hatte den Anschein, als wollte sie auf Michael einschlagen.
»Das ist doch gar net sicher!«
Das brachte Beate noch mehr gegen ihn auf, hasserfüllt funkelte sie ihn an.
»Es ist net sicher? Vielleicht ist auch net sicher, ob du noch mehr von der Sorte hast! Was hast du denn alles so getrieben hinter meinem Rücken?«
»Beate!«
Noch nie hatte sich Michael ernstlich mit ihr gestritten, selbst, als sie noch Kinder waren, hatte es nie die üblichen Zänkereien gegeben. Nun offenbarte sie ihm eine neue Seite des Mädchens, und er stand ihrem Zorn hilflos gegenüber.
»Aber eines ist sicher! Auch wenn es net dein Kind ist, so hast du mich doch betrogen! Das stimmt doch, oder?«
»Ja, aber …«
»Vor der Ehe hast du mich schon betrogen! Alles Lug und Trug, was du mir versprochen hast! Wie kann ich dir denn noch ein einziges Wort glauben?«
Michael, der vor ihr zurückgewichen war, trat wieder auf sie zu und sagte beschwörend: »Beate! Ich bin einmal in meinem Leben schwach geworden und hab mich vergessen. Ich kann dir nur sagen, dass es mir bitter leidtut. Aber das hat nichts mit dir zu tun! Unsere Liebe, unsere Ehe – das ist doch etwas ganz anderes.« Er stockte und rang nach Worten.
»Das hat nichts mit mir zu tun? Das sagen die Mannsbilder immer, wenn man ihnen auf die Schliche gekommen ist! Wie viele Gspusis hast du denn noch gehabt, die alle nichts mit mir zu tun haben? Ich sag dir was: In Zukunft wirst du nichts mehr mit mir zu tun haben! Es ist aus mit uns beiden! Heirate doch die mit deinem Bankert!«
Michael erschrak zutiefst vor dem Ausdruck in Beates Gesicht. Ihre Züge, die für ihn immer der Inbegriff der Schönheit gewesen waren, hatten sich verzerrt, sodass sie hässlich, ja, abstoßend wirkten.
Er starrte Beate an und alles, was er ihr noch erklären wollte, blieb ungesagt. In diesem Augenblick erkannte er, dass sie für seine Verfehlung niemals Verständnis aufbringen würde – vielleicht noch niemals Mitgefühl und Verständnis für andere Menschen empfunden hatte.
Und sie hatte sich auch schon abgewandt und ließ ihn ratlos und verzweifelt stehen. Michael war außerstande, auf den Hof zurückzukehren. Ihm graute vor der Vorstellung, seinen Eltern und den Hofleuten gegenüberzutreten; er hatte das Gefühl, ihnen niemals mehr in die Augen blicken zu können.
So irrte er durch den Wald und über die Felder, erfüllt von brennender Scham. Wie hatte Markus immer gespöttelt?
»Du bist das leuchtende Vorbild für die heranwachsende Dorfjugend! Immer schaffen und keinen Schritt vom Weg ab.«
Das hatte ihn zwar jedes Mal geärgert, aber er hatte sich auch auf gewisse Weise geschmeichelt gefühlt. Und nun würden ihn alle für einen Heuchler halten, der anderswo zweifelhaften Vergnügungen nachging, während er zu Hause den Tugendbold spielte.
An das Mädchen, das er ins Unglück gebracht hatte, durfte er gar nicht denken!
Michael bemerkte nicht, dass sich der Himmel bezog und es zu regnen begann. Erst bei Einbruch der Dunkelheit fand er, durchnässt und elend, zum Hof zurück und schlich sich unbemerkt in seine Kammer.
***
»Ich will niemanden sehen! Niemanden!«, klang Beates vom Weinen heisere Stimme aus ihrer Kammer, als Rosi behutsam angeklopft hatte.
»Ich bin es, Rosi! Mach doch auf!«, rief sie.
Erst rührte sich nichts, doch dann hörte sie, wie Beate den Schlüssel umdrehte und aufschloss.
Rosi erschrak, als sie der Freundin gegenüberstand, so sehr hatte sich Beate verändert. Ihr Gesicht war verquollen und gerötet, das sonst so sorgfältig gekämmte Haar hing ihr strähnig und ungepflegt auf die Schultern herab. Sie trug einen alten verwaschenen Hauskittel, von dem Rosi nie vermutet hätte, dass er sich in Beates Besitz befinden könnte.
Am schlimmsten jedoch empfand Rosi den bitteren Zug, der sich um Beates Mund eingegraben hatte, und der überhaupt nicht zu ihrer blühenden Jugend passen wollte.
»Setz dich irgendwo hin!«, forderte sie Rosi tonlos auf und ließ sie in das unaufgeräumte, stickige Zimmer eintreten. Die Vorhänge waren halb zugezogen.
»Wie kannst du’s denn hier aushalten? Das ist ja reinweg zum Ersticken!« Rosi zog mit einem Ruck die Vorhänge zurück und öffnete das Fenster, um frische Luft hereinzulassen. »Mei, wie schaut’s denn hier aus? Und dich hab ich auch noch nie in einem solchen Aufzug gesehen! Also weißt du, man kann es auch übertreiben!«, fügte sie kopfschüttelnd hinzu und musterte die Freundin von Kopf zu Fuß.
Rosis Absicht, die Freundin aus ihrer Gleichgültigkeit herauszureißen, zeigte sofort Erfolg.
»Ich hab im Augenblick andere Sorgen, als aufzuräumen und mich herauszuputzen!«, erwiderte Beate giftig und ließ sich auf ihr ungemachtes Bett fallen.
Rosi wollte zu einer Antwort ansetzen, als ihr Blick auf einen weißen Stofffetzen fiel, der achtlos neben der breiten Kommode lag.
»Jesses! Was ist denn das? Das sieht ja aus wie von deinem Brautkleid. Du wirst doch net …« Ehe Beate sie daran hindern konnte, riss Rosi den Schrank auf, und ihre Augen weiteten sich entsetzt bei dem Anblick, der sich ihr bot. »Wie hast so was tun können? Beate! Das schöne Kleid!«
Rosi beugte sich nieder und ließ die Hand über den kostbaren Stoff gleiten, der zu einem formlosen Gebilde zusammengeknüllt auf dem Schrankboden lag. In sinnloser Wut hatte Beate ihr Hochzeitskleid zerschnitten und zerfetzt.
»Ja, das schöne Kleid! Und das schöne Hochzeitsfest!«, höhnte Beate bitter.
»Damit ist es nun ja nichts mehr«, meinte Rosi trocken und schloss nachdrücklich die Schranktür.
»Bist gekommen, um mich daran zu erinnern?«, entgegnete Beate streitlustig. »Ich brauch kein Hochzeitskleid mehr.«
Aber Rosi war nicht der Mensch, der sich einschüchtern ließ; es war nur zu offenkundig, dass Beate verzweifelt war und dringend Hilfe brauchte.
»Lass uns vernünftig miteinander reden«, sagte sie freundlich, aber bestimmt und nahm gegenüber ihrer Freundin auf einem Sessel Platz, nachdem sie zuvor Wäschestücke beiseitegeschoben hatte.
Das Mitgefühl, das Rosi ihr entgegenbrachte und das frei von Schadenfreude und Herablassung war, bewirkte, dass Beate erneut zu weinen begann.
Geduldig wartete Rosi ab, bis sich die Freundin beruhigt hatte und trotzig das Taschentuch in der Faust zusammenpresste, sodass ihre Knöchel weiß hervortraten.
»Sie werden sich wohl alle im Dorf die Mäuler zerreißen«, meinte Beate dann.
»Das kannst du laut sagen! Schließlich passiert es net alle Tage, dass so eine große Hochzeit von heut auf morgen ins Wasser fällt. Das hat Aufregung gegeben, das kannst dir ja denken. Und geklatscht und getratscht wird darüber, wie’s dazu kommen konnt«, erwiderte Rosi gewollt leichthin.
»Und ich steh jetzt als die Dumme da, obwohl ich die Betrogene bin und mir nichts hab zuschulden kommen lassen! Neidisch waren sie doch alle auf mich.« Beate schluchzte heftig auf.
»Das stimmt net«, berichtigte Rosi. »Sicher gibt’s ein paar, die schadenfroh sind, aber sie geben doch dem Michael die Hauptschuld. Grad die, die selbst keine Engel sind und gewiss so manchen Seitensprung hinter sich haben, tun jetzt ganz hochmoralisch. Erlaubt ist vieles, man darf sich nur net erwischen lassen! Und wenn dann halt eine mit einem Kind daherkommt …«
»Wie hat er mir das antun können!«, fiel ihr Beate wütend ins Wort. »Ich hasse ihn!«
»Das kann ich verstehen, Beate! Wie geht’s denn deinen Eltern?«, lenkte Rosi schnell ab. Sie fürchtete einen von Beates Zornausbrüchen, der jede weitere Unterhaltung unmöglich machen würde.
»Schlecht. Sie sind ganz außer sich, besonders der Vater. Net nur, weil er alles rückgängig machen muss; es hat ihn auch sonst hart getroffen. Er wollt mich halt immer gut versorgt wissen und hat auf Enkelkinder gehofft, die später mal das Sägewerk übernehmen. Aus der Traum! Und die Mutter heult sich die Augen aus! Jetzt hängt bei uns der Haussegen schief, und ich weiß net, wie alles noch werden soll!«
Beate schwieg, dass es heftige Auseinandersetzungen innerhalb der Familie gegeben hatte. Sie hatte sich schließlich, um dem zu entgehen, in ihre Kammer eingeschlossen und stundenlang dumpf vor sich hin gegrübelt.
»Du schaust ganz blass und krank aus, Beate! Zieh dir was Ordentliches an, und dann machen wir einen Spaziergang zu uns hinauf, da kommt kaum ein Mensch hin um die Zeit«, schlug Rosi vor.
Beate schüttelte heftig den Kopf, und ein verstockter, trotziger Ausdruck trat auf ihr Gesicht.
»Ich geh net vor die Tür! Ich will net, dass man mich anglotzt!«
»Sei net narrisch! Du kannst dich doch net ewig im Haus verstecken!«, beschwor Rosi die Freundin.
»Lass mir doch meine Ruh! Niemand versteht mich! Du weißt net, wie mir zumute ist. Alles ist in Scherben, mein ganzes Leben! Ich möcht am liebsten sterben!« Beates Tränen flossen wieder. »Alles hat keinen Sinn mehr.«
Rosi fuhr jetzt aufgebracht aus dem Sessel hoch, und ihre sonst so sanften Augen sprühten.
»Da siehst du, wo du hinkommst, wenn du dich hier vergräbst! Gedanken hast du, die eine Sünd und eine Schand sind! Andere Leut haben schon Schlimmeres durchmachen müssen, und sie denken net an so was! Schämen sollst du dich!«
Beate gab keine Antwort, sie hatte ihr Gesicht in beiden Händen verborgen, ihre Schultern zuckten.
»Armes Hascherl! Aber du musst da wieder herausfinden. Und je früher, desto besser«, sagte Rosi milder. »Und jetzt nimm Vernunft an. Ich helf dir beim Herrichten, und wir gehen ein bisserl hinaus. Dann wird’s dir gleich bessergehen.«
Sie zog die Widerstrebende hoch und war ihr beim Umkleiden behilflich. Danach kämmte sie Beate, die inzwischen alles willenlos über sich ergehen ließ, die Haare und tupfte das gerötete Gesicht mit kaltem Wasser ab.
»So, jetzt schaust du schon ganz anders aus«, meinte Rosi anschließend befriedigt.
Die beiden Mädchen verließen unbemerkt das große Wohnhaus und schlugen den Weg zum Hof von Rosis Eltern ein. Zu Beates Erleichterung begegneten sie niemandem, und ihre innere Anspannung löste sich etwas.
Seite an Seite schritten sie durch das Wäldchen, die lichtgrünen Blätter leuchteten in der Frühlingssonne, helle Lichtflecken sprenkelten den moosbewachsenen, fast zugewucherten Weg.
Doch Beates Herz war allem gegenüber verschlossen, die Natur schenkte ihr keinen Trost; zu sehr hielten ihr Unglück und die unerträgliche Demütigung sie gefangen.
Schließlich brach Beate das Schweigen.
»Das hat mich gelehrt, dass ich keinem trauen kann. Früher konnt ich mir gar nichts anderes vorstellen, aber jetzt weiß ich, dass ich niemals heiraten werd! Weder jetzt noch später! Davon bin ich kuriert!«
»Hast du dir überhaupt schon mal angehört, was der Michael dazu zu sagen hat?«, fragte Rosi.
Beate stieß einen verächtlichen Laut aus und kickte mit dem Fuß einen Stein weg.
»Was soll es denn dazu noch zu sagen geben! Schließlich hat er gar net abgestritten, dass er mich betrogen hat, und das ist net aus der Welt zu schaffen!«
»Da hast du schon recht. Aber es kommt auch auf die Umstände an.«
»Umstände!« Beate lachte böse auf. »Wenn ich das schon hör! Das ist net zu vergeben und zu vergessen, net für mich! Er hat keine Ehre und kein Gewissen. Das ist nimmer der Mann, den ich heiraten wollte!«
»Und du hast kein Herz!«, entfuhr es Rosi unwillkürlich, was ihr aber sofort leidtat. »Sei mir net gram, Beate, aber es klingt arg hart, was du da sagst. Jeder kann mal etwas tun, was net recht ist, und Michael ist auch nur ein Mensch aus Fleisch und Blut.«
»Jetzt verteidigst du ihn auch noch! Und du willst meine Freundin sein! Dann nimm ihn doch selber! Beklagst dich doch eh immer, dass du wohl keinen abbekommst.«
Beate brach ab, als sie den verletzten Ausdruck auf Rosis Zügen gewahrte.
»O Rosi, ich hab es net so gemeint! Ich weiß schon nimmer, was ich red!«, stieß sie reuevoll hervor und umarmte die Freundin.
»Lass gut sein! Sonst fangen wir noch beide an zu flennen. Wenn ich dir nur raten könnt!«
»Was würdest du mir denn raten?«
»Ich würd an deiner Stell erst mal abwarten, um Abstand zu bekommen. Und dann überdenkst du die ganze Sache noch einmal, vielleicht sieht dann alles ganz anders aus. Vor allem aber würd ich mich mit dem Michael zusammensetzen und mir anhören, was er zu sagen hat. Jeder hat doch das Recht, sich zu verteidigen«, sagte Rosi mit Überzeugung.
Beate presste die Lippen zusammen und hielt den Blick beharrlich zu Boden gesenkt, doch Rosi ließ sich nicht entmutigen.
»Sicher«, fuhr sie fort, »es ist schlimm, was geschehen ist, und ich kann verstehen, dass du wütend und enttäuscht bist. Das wäre ich auch. Aber auf der anderen Seite … Wenn es nur ein einziger Schritt vom Weg ab war, soll er – und auch du – ein Leben lang dafür büßen? Der Michael ist kein Hallodri, er würde dir ewig dankbar und ein guter Ehemann sein, wenn du ihm verzeihst. Schließlich seid ihr wirklich füreinander geschaffen, und daran hat sich bestimmt nichts geändert!«
»Es kommt mir so vor, als wäre er ein völlig fremder Mensch«, entgegnete Beate mit zitternden Lippen.
»Du musst halt Geduld haben! Nach einer Weile, wenn du ihn nimmer gesehen hast, wirst du ihn bestimmt vermissen und an seine guten Seiten denken. Dann ist der richtige Augenblick gekommen, dass du versuchen kannst, über deinen eigenen Schatten zu springen. Damit vergibst du dir nichts!«
Beate schien nachzudenken, und Rosi wiegte sich schon in der Hoffnung, dass ihre Worte auf fruchtbaren Boden gefallen wären, als sie unvermittelt sagte: »Ich hasse es, Scherben zu kitten!«
»Du musst erst mal mit dir ins Reine kommen!«, erwiderte Rosi mit erzwungener Ruhe und unterdrückte ein Seufzen.
»Lass uns zurückgehen, mir ist kalt«, bat Beate, obwohl die Sonnenstrahlen inzwischen auch in diesen abgelegenen Winkel vorgedrungen waren.
Sie machten kehrt, und Rosi erzählte von ein paar Dorfereignissen, die sich mittlerweile zugetragen hatten. Beate hörte aber kaum hin; sie schien es eilig zu haben, wieder in den Schutz ihrer vier Wände zu gelangen.
Dennoch wollte sie nicht allein sein, und sie gab der Freundin zu verstehen, dass sie ihr noch Gesellschaft leisten sollte. Die beiden Mädchen räumten das Zimmer auf, legten die Wäsche weg und bezogen das Bett frisch, Arbeiten, zu denen Beate vorher allein nicht imstande gewesen war.
Beate machte eine leichte Kopfbewegung zum Schrank hin.
»Nimmst du das mit?«
Rosi wusste sofort, was gemeint war, und nickte zustimmend. Als Beate unter einem Vorwand das Zimmer verließ, verstaute sie das verwüstete Hochzeitskleid in einer Tasche. Gleich darauf verabschiedete sie sich bedrückt von der Freundin, versprach ihr aber, am nächsten Tag wieder vorbeizuschauen.
Als sie mit der Tasche heimging, kam es ihr so vor, als ob deren Inhalt immer schwerer wurde.
»Leidest schon an Einbildung«, verspottete sie sich grimmig und beschleunigte ihre Schritte, aber das seltsame Unbehagen ließ sich nicht verdrängen.
Spätabends, als sie nach getaner Arbeit allein in ihrer Kammer war, wurde sie magisch von der Tasche angezogen, die sie achtlos in eine Ecke abgestellt hatte. Und wie unter einem Zwang befreite sie das Kleid aus seiner lieblosen Verbannung und breitete die zerstörte Pracht auf ihrem bescheidenen Bett aus, wo sich die wunderbare Seide und die kostbare Spitze seltsam ausnahmen.
Bewundernd fuhr sie mit den Fingerspitzen über eine der seidenen Rosen am Ausschnitt, streichelte über eine der Stoffbahnen, die noch erhalten war.
Es gibt nichts Traurigeres als ein Brautkleid, das ungetragen bleibt. Freude und Hoffnung sind darin verwoben, um dann zum Symbol des Scheiterns, der Vergänglichkeit menschlicher Beziehungen zu werden.
Rosi fühlte sich in diesem Augenblick der Freundin sehr nahe; beide Mädchen schienen einer glücklosen Zukunft ausgeliefert zu sein. Doch im Gegensatz zu der vom Leben bislang so verwöhnten Freundin hatte sich Rosi längst still in ihr Schicksal ergeben.
Sinnend saß sie da, bis ihre Erschöpfung sie daran erinnerte, dass sie Schlaf brauchte, um den Anforderungen des morgigen Tages gewachsen zu sein. Behutsam legte sie das Kleid zusammen und verbarg es ganz unten in ihrer Truhe.
***
»Sie ist in keinem guten Zustand, das hohe Fieber macht mir Sorgen. Aber wenigstens das Büberl ist gesund«, sagte Dr. Hettinger, der alte Dorfarzt, grimmig zu Ruth Pernegger, nachdem er die Kranke bei seinem täglichen Besuch gründlich untersucht hatte.
Die junge Frau stöhnte auf und warf sich im Bett herum, das Fieber ließ sie ihre Umgebung nicht wahrnehmen. Sie wirkte noch hinfälliger als bei ihrer Ankunft, es schien, als seien all ihre Kräfte aufgezehrt.
»Das Büberl wird doch net ohne Mutter aufwachsen müssen! Wir tun alles …« Ruth stockte.
»Es wäre net zu verantworten, sie ins Krankenhaus zu bringen in ihrem Zustand. Soll ich eine Pflegerin schicken, das wäre leicht zu machen?«
»Nein! Ich werd mich um sie kümmern und um das Kindl auch!«, fiel Ruth dem Arzt zu ihrer eigenen Überraschung heftig ins Wort.
Der Doktor, der die Perneggers kannte, seit er seine Tätigkeit in dem kleinen Bergdorf aufgenommen hatte, streifte Ruth mit einem raschen Seitenblick.
»Bist eine gute Frau, Perneggerin, weiß Gott!«
Ruth errötete, was sie um Jahre jünger erscheinen ließ und ihre einstige Schönheit wieder heraufbeschwor. Sie hatte schon lange vermutet, dass der bärbeißige Arzt ihr auf seine Weise zugetan war.
»Ich komm wieder hoch! Falls das Fieber steigen sollt, müsst ihr mich sofort holen!«
»Ich dank dir, Doktor!«
Dr. Hettinger knurrte nur, warf einen letzten prüfenden Blick auf seine Patientin und verließ mit seiner abgeschabten schwarzen Tasche leise den Raum.
Ruth beugte sich über das kranke Mädchen, das nach einer Spritze wieder in einen unruhigen Schlaf gesunken war. Eigenartigerweise empfand sie keinen Groll gegen die junge Frau, deren unerwartetes Auftauchen verhängnisvolle Folgen nach sich gezogen hatte.
Sie betrachtete die zarten Züge, den lieblich geschwungenen Mund und die fast durchsichtigen Lider; die langen Wimpern warfen Schatten auf die Wangen.
Ruth, die sich stets auf ihren Instinkt verlassen konnte, erkannte, dass die Fremde sicher nicht das verworfene Geschöpf war, wie man sie im Dorf wohl hinstellen mochte.
Und sie war die Mutter des jüngsten Perneggers.
Als wollte sie sich dieser Tatsache erneut vergewissern, nahm Ruth den Kleinen vorsichtig aus der Wiege und zog das Hemdchen hoch, sodass ein sternförmiges rotes Mal am Rücken entblößt wurde.
Ihr Mann, ihr Sohn, beide besaßen dieses auffallende Muttermal, das in dieser Form bestimmt einzigartig war und nur innerhalb einer Familie auftreten konnte.
Behutsam bedeckte Ruth den zarten Rücken wieder und hielt den Kleinen auf dem Arm. Ein großes Glücksgefühl bemächtigte sich ihrer, so wie damals, als man ihr nach der Geburt endlich den lang ersehnten Sohn reichte.
Ihr Sohn … Ruths Gesicht verdüsterte sich, das gute Einvernehmen, das bislang zwischen den Perneggers geherrscht hatte, schien unwiderruflich zerstört. Pernegger sprach nicht mehr mit seinem Sohn, strafte ihn mit stummer Verachtung. Mit der Heirat, die gescheitert war, war auch die Überschreibung hinfällig geworden und vom Umzug in ihr kleines Haus im Dorf war nicht mehr die Rede.
Die Perneggers hatten sich wieder notdürftig eingerichtet, das neu ausgestattete Brautzimmer stand leer, niemand betrat es.
Michael wagte es auch nicht, an seine Mutter, zu der er immer ein inniges Vertrauensverhältnis gehabt hatte, heranzutreten. Ruth ihrerseits vermochte nicht, die Barriere, die sich zwischen ihnen aufgerichtet hatte, niederzureißen; zu sehr fühlte sie sich von ihrem Sohn enttäuscht, und sie schämten sich für ihn, ihr Mann und sie.
Die Zustände waren aber so unhaltbar auf die Dauer. Michael hatte begonnen, eine Art Eigenleben zu führen. Er machte sich meistens auf den Feldern zu schaffen und schlang zu unregelmäßigen Zeiten in der Küche etwas zu essen hinunter. Er wollte nicht mehr an den gemeinsamen Mahlzeiten teilnehmen, die jetzt im Gegensatz zu früher in unbehaglichem Schweigen verliefen.
Wenn Ruth daran dachte, stiegen ihr die Tränen in die Augen.
War das die Strafe dafür, dass sie vielleicht im insgeheimen doch Genugtuung empfunden hatte, wenn sich die anderen Mütter bitter über ihre leichtsinnigen Söhne beklagt hatten?
Und nun hatte sich ihr mustergültiger Sohn als ein Heuchler und Heimlichtuer erwiesen, was in den Augen der Dörfler noch schlimmer war, als wenn er in jüngeren Jahren einmal ordentlich über die Stränge geschlagen wäre.
Ruth seufzte wieder und legte das Kind liebevoll in die Wiege zurück. Wehmütig betrachtete sie es, wie es friedlich schlief. Sollte dieses schutzlose kleine Wesen, ihr Enkel, unter Fremden aufwachsen, weil seine Eltern leichtsinnig und ohne Verantwortungsgefühl waren?
Ruth spürte einen Stich bei dem Gedanken, und es wurde ihr bewusst, wie viel ihr dieses Kind schon bedeutete.
Sie stand noch eine Weile gedankenverloren da, dann schloss sie lautlos die Tür hinter sich. Im Haushalt wartete viel Arbeit auf sie, die durch die Krankenpflege liegen geblieben war. Vor allem aber galt es, alles was an die gescheiterte Hochzeit erinnerte, beiseitezuschaffen; eine Aufgabe, die sie mit großer Bitterkeit erfüllte.
***
Während Beate noch ihrem zerronnenen Lebenstraum nachtrauerte und darüber nachgrübelte, ob sie in ihrem Zorn nicht doch zu voreilig gehandelt hatte, wurde ihr vom Schicksal die Entscheidung aus der Hand genommen.
Eines Abends, die Mutter war schon zu Bett gegangen, hielt der Vater sie zurück, als sie zu ihrer Kammer hochsteigen wollte.
»Komm in die Stube, Beate, ich hab mit dir zu reden!«, forderte er kurz angebunden.
Sie hatte ja geahnt, dass noch nicht alles ausgestanden war! Beate folgte dem Vater mit einem unterdrückten Seufzer. Er war derjenige in der Familie, der ihren Entschluss nicht gutgeheißen hatte, obwohl er nicht mit harten Worten gegenüber Michael gespart hatte.
»Setz dich, Beate! Es ist sehr wichtig, was ich dir zu sagen hab.«
Das Mädchen leistete der Aufforderung voller Unbehagen Folge; noch nie hatte sie den Vater so ernst und entschlossen gesehen.
Nachdem er hastig einen Obstler hinuntergeschüttet hatte, was sonst auch nicht seine Art war, nahm er seiner Tochter gegenüber Platz. Wäre Beate nicht so mit sich selbst beschäftigt gewesen, wäre ihr aufgefallen, was für eine Veränderung sich mit ihrem Vater vollzogen hatte.
In dem vor Kurzem noch so jugendlich wirkenden Gesicht hatten sich tiefe Furchen eingegraben, eine angstvolle Spannung lauerte in seinen Augen.
»Du weißt, dass ich net damit einverstanden bin, dass du den Michael nimmer heiraten willst.« Er wehrte die heftige Entgegnung, zu der Beate ansetzen wollte, mit einer Handbewegung ab. »Das heißt net, dass ich deine Gründe net versteh! Der Pernegger hat net gut an dir gehandelt, und ich nehm ihm das sehr übel, das kannst du mir glauben!«
»Aber trotzdem soll ich ihn heiraten, darauf willst du doch hinaus!«
»Ja, der Meinung bin ich. Wir sind jetzt alle wütend auf den Michael, und das mit Recht. Aber auf längere Sicht schadest du dir nur selber, wenn du so eine gute Heirat ausschlägst. Lass ihn noch eine Weile schmoren, das hat er verdient! Dann schauen wir zu, wie wir die leidige Sach aus der Welt schaffen können! Du wolltest doch immer Pernegger-Bäuerin werden, und jetzt, wo es endlich so weit ist, willst du aufgeben? Nur, weil der Michael von einer nichtsnutzigen Schlampe ein Kind angehängt bekommen hat! Dabei ist es noch net mal ganz sicher, ob es überhaupt seines ist!«
Beate zuckte zusammen, niemals hätte sich ihr Vater früher einer so groben Ausdrucksweise bedient. Immer hatte er sich bemüht, alles Hässliche von ihr fernzuhalten, und nun versuchte er sogar, in ihr Verständnis dafür zu erwecken.
»Das lässt sich net so leicht aus der Welt schaffen! Ich werd immer dran denken müssen!«, entgegnete sie heftig, auf ihren Wangen brannten rote Flecken.
Lenz Steinert sah seine Tochter nachdenklich an, schien seine nächsten Worte sorgfältig abzuwägen.
»Weißt du, Madel, du bist sehr behütet aufgewachsen, du weißt net viel von der Welt. Und da geht es net so zu, wie du es dir vorstellst – und auch net so, wie der Pfarrer sonntags in der Kirch predigt. Das Leben, Beate, ist …« Er stockte, suchte nach Worten, etwas, was für den selbstsicheren befehlsgewohnten Mann ungewöhnlich war. So ungewöhnlich, dass es Beate plötzlich mit dumpfer Furcht erfüllte.
»Schau, Kind«, fuhr er fort, »ich hab vor deiner Mutter auch Gspusis gehabt und net nur eines. Aber mir war immer klar, dass ich eine solche net genommen hätt! Und deiner Mutter bin ich immer treu geblieben, und ein schlechter Vater war ich doch auch net, oder?«
Beate nickte unwillkürlich und senkte den Kopf. Sie empfand den Verlauf, den das Gespräch so unerwartet genommen hatte, als peinigend. Mit solchen Augen hatte sie ihren Vater, einen Mann mit strengen Prinzipien, noch nie gesehen.
»Also! Und der Michael hat sich vor der Ehe halt auch die Hörner abgestoßen und Pech gehabt. Aber ich sag dir, solche Männer sind später die treuesten. Er wird dir immer dankbar sein, wenn du dich wieder mit ihm versöhnst. Was hättest du denn getan, wenn das Flitscherl erst nach der Hochzeit aufgetaucht wär? Was hättest du dann getan, das möcht ich wissen! Wärst du dann auch weggelaufen?«
»Ja!«, erwiderte Beate böse, und ein beklemmendes Schweigen breitete sich aus.
»Ich hab gehofft, ich könnt dich umstimmen, dass du noch nichts zu wissen brauchst von …« Lenz Steinert war bleich geworden, seine kräftigen Hände öffneten und schlossen sich krampfhaft, er kämpfte sichtlich mit sich und suchte nach Worten.
»Vater! Was gibt es? Warum drängst du mich denn so? Sag mir die Wahrheit, ich bitt dich!«, beschwor ihn Beate. Ihr war mit einem Mal ganz kalt geworden, eine unbestimmte Furcht schnürte ihr die Kehle zu.
»Als ich das Werk von meinem Vater übernommen hab«, sagte er dumpf, »waren wir reich, und die Geschäfte gingen prächtig. Aber in der letzten Zeit konnten ein paar Kunden net bezahlen, die Außenstände wurden immer größer. Ein Loch reißt das andere, und schließlich ist es nimmer zu stopfen.«
»Vaterl!« Alles Blut war aus Beates Gesicht gewichen. Das sichere Fundament ihres wohlgeordneten Lebens war mit einem Mal unabänderlich ins Wanken geraten.
»Ich hab die Grundstücke im Nachbardorf verkauft, heimlich, an Städter, damit es niemand erfährt, das hat eine Weile vorgehalten. Aber dann …« Lenz Steinert stöhnte gequält auf.
»Was dann? Sag mir alles!«, forderte Beate. »Ich muss wissen, wie es um uns steht!«
Es hielt sie nicht länger auf ihrem Stuhl, wie eine Anklägerin stand sie vor ihm, und Lenz Steinert wagte nicht, zu seiner Tochter hochzublicken.
»Dann hab ich gedacht, ich könnt alles mit einem Schlag ins Reine bringen und hab spekuliert. Und das war der Ruin. Jetzt ist alles verloren.«
Ein Laut, wie ein Schluchzen, brach von seinen Lippen, und ein Zittern lief durch seinen schweren Körper.
»Wir sind also arm? Arm?«, flüsterte Beate kaum hörbar, und ein Schwindel erfasste sie. »Und meine Hochzeit? Der ganze Aufwand? Woher kommt das alles?«
»Das hab ich in der Stadt auf das Haus aufgenommen. Nach deiner Hochzeit hätt ich es verkauft, und deine Mutter und ich wären weggezogen. Niemand hätt die wahren Gründe erfahren, alle hätten gedacht, wir wollten uns noch ein paar schöne Jahre machen, nachdem du versorgt bist!«
Beate schüttelte in hilflosem Nichtbegreifen den Kopf, auch wenn ihr Verstand den Ausführungen ihres Vaters durchaus folgen konnte.
»Verstehst du jetzt, warum diese Heirat so wichtig ist?«, fuhr er drängend fort. »Die einzige Möglichkeit, dass du net plötzlich als Betteldirn dastehst – die Tochter einer verkrachten Existenz! Jetzt kannst du noch wählen! Jetzt kannst du noch Pernegger-Bäuerin werden! Oder glaubst, die werden Mitleid haben mit dir hier im Dorf, wenn alles herauskäm?«
»Vater!«, rief Beate gequält aus. »Keiner wird nur an Funken Mitleid haben. Hochmut kommt vor dem Fall, werden sie sagen.«
»Und vielleicht bestehen die Perneggers noch drauf, dass der Michael die Mutter seines Kindes heiraten soll. Zuzutrauen wär ihnen das, sie haben’s ja schon immer mit der Moral gehabt.«
»Das wär ja …«, fuhr Beate auf.
»Je länger du dich besinnst, desto mehr Zeit haben die Perneggers, über die ganze Sache nachzudenken und dem Michael noch ihren Willen aufzuzwingen!«
Als sie schwieg, setzte er in einer Härte, die er sie noch nie hatte spüren lassen, hinzu: »Und merk dir eines: Wer arm ist, der kann sich keinen Stolz mehr leisten!«
Hinter Beates Stirn wirbelten die Gedanken. Ihr Leben war aus den Fugen geraten, jetzt galt es wenigstens das zu retten, was ihr immer als Selbstverständlichkeit erschienen war.