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Befremdliche Stille herrscht in dem großen alten Haus der Familie Kemble, als die siebzehnjährige Viola an ihrem letzten Schultag heimkommt. Etwas Unfaßbares ist geschehen: Mutter ist fort – »und nicht nur für einen Tag«, erklärt Vater trocken, der über die neueste Eskapade seiner so liebenswerten wie unberechenbaren Frau offenbar kaum erstaunt ist. Wiederum dürfen sich die unzähligen Leser und Filmbesucher, die die Familie Pentecost und Gaylord, den Schlingel, ins Herz geschlossen haben, auf einen vergnüglichen Roman und eine nicht minder turbulente Familie freuen. Frisch und natürlich erzählt die junge Viola von den haarsträubenden Verwicklungen, die Mutters Flucht im Hause Kemble auslöst. Für das leibliche Wohl der Familie zu sorgen, ist für Viola, die freilich mehr von dem jungen Mr. Chisholm als von der Küche träumt, noch das geringste Problem, zumal Vater, der den praktischen Dingen des Lebens sonst mit einiger Reserve gegenübersteht, seinen Teil dazu beiträgt. Er engagiert als Hilfe die entzückende Gloria, die allerdings auf Grund ihrer unübersehbaren Vorzüge in den Augen böswilliger Nachbarn Mutters Stelle nicht nur im Haushalt einzunehmen scheint. Wie aber behütet man jüngere Geschwister? Vor allem die zwölfjährige Perse, die es faustdick hinter den Ohren hat und die doch so verletzlich ist, und deren geheimnisvolle Schönschreibübungen bei verschlossener Tür keineswegs den Schulaufgaben gelten. Und was ist plötzlich in den eigensinnigen kleinen Trubshaw gefahren, der ungeachtet seines Abscheus vor der Schule den Montagmorgen jetzt kaum noch erwarten kann? Viola ist ratlos.
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Seitenzahl: 173
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Eric Malpass
Als Mutter streikte
Aus dem Englischen von Anne Uhde
Ihr Verlagsname
Befremdliche Stille herrscht in dem großen alten Haus der Familie Kemble, als die siebzehnjährige Viola an ihrem letzten Schultag heimkommt. Etwas Unfaßbares ist geschehen: Mutter ist fort – »und nicht nur für einen Tag«, erklärt Vater trocken, der über die neueste Eskapade seiner so liebenswerten wie unberechenbaren Frau offenbar kaum erstaunt ist.
Wiederum dürfen sich die unzähligen Leser und Filmbesucher, die die Familie Pentecost und Gaylord, den Schlingel, ins Herz geschlossen haben, auf einen vergnüglichen Roman und eine nicht minder turbulente Familie freuen. Frisch und natürlich erzählt die junge Viola von den haarsträubenden Verwicklungen, die Mutters Flucht im Hause Kemble auslöst. Für das leibliche Wohl der Familie zu sorgen, ist für Viola, die freilich mehr von dem jungen Mr. Chisholm als von der Küche träumt, noch das geringste Problem, zumal Vater, der den praktischen Dingen des Lebens sonst mit einiger Reserve gegenübersteht, seinen Teil dazu beiträgt. Er engagiert als Hilfe die entzückende Gloria, die allerdings auf Grund ihrer unübersehbaren Vorzüge in den Augen böswilliger Nachbarn Mutters Stelle nicht nur im Haushalt einzunehmen scheint. Wie aber behütet man jüngere Geschwister? Vor allem die zwölfjährige Perse, die es faustdick hinter den Ohren hat und die doch so verletzlich ist, und deren geheimnisvolle Schönschreibübungen bei verschlossener Tür keineswegs den Schulaufgaben gelten. Und was ist plötzlich in den eigensinnigen kleinen Trubshaw gefahren, der ungeachtet seines Abscheus vor der Schule den Montagmorgen jetzt kaum noch erwarten kann? Viola ist ratlos.
Eric Malpass (1910–1996) hat in seinem Heimatland Großbritannien lange Jahre als Bankangestellter gearbeitet. 1947 wurde er Mitarbeiter der BBC, außerdem schrieb er für diverse Zeitungen. Er verfasste zahlreiche Romane und lebte als freier Schriftsteller in Long Eton, nahe Nottingham.
Für Blanche Malpass
Es war der letzte Schultag meines Lebens.
Im Hause herrschte, als ich heimkam, befremdliche Stille. Draußen war es drückend heiß, und wenn man an solchen Sommertagen unser Haus betrat, war es immer, als tauche man in einen tiefen grünen Teich.
»Viola? Bist du es, Viola?« rief mein Vater.
Ich ging zu ihm in sein Arbeitszimmer. Er blickte vom Schreibtisch auf und sah mich prüfend an. »Sag mal, Viola, kommt dir in deinem Alter das Leben auch manchmal unbegreiflich vor?«
Ich hatte Vater sehr gern. Er hatte ein ausdrucksvolles, kluges Gesicht: die eine Hälfte wirkte immer leicht amüsiert, die andere schien fassungsloses Staunen und manchmal auch Verzweiflung auszudrücken; die eine Braue wölbte sich wie ein schützendes Dickicht über dem Auge, während die andere sich skeptisch-verwundert nach oben zog; der Mund unter dem weichen Schnurrbart hatte etwas Schiefes. Sein Haar, borstig wie eine Fußmatte, fing an grau zu werden. Er sah verdammt intelligent aus, aber in diesem Augenblick schien er bestürzt. Ich überdachte seine Frage kurz und sagte dann: »Nein, ich finde es eigentlich ziemlich unkompliziert.«
Vater setzte sich tiefer in den Lehnsessel und starrte, die Finger unter dem Kinn verschränkt, vor sich hin. »Wenn du mich fragst, Vi, dann ist es ein wahrer Dschungel.«
Irgend etwas war da nicht in Ordnung. Die auffällige Stille im Haus war verdächtig. Oft hörte man Mutter um diese Zeit Klavier spielen oder singen. Sie liebte Chopin und Bach. Auch in der Küche schienen die Waffen zu ruhen.
»Wo ist Mutter?«
Das Auge unter der hochgezogenen Braue richtete sich wie ein Scheinwerfer auf mich. »Sie ist abgehauen, ob du’s glaubst oder nicht«, sagte Vater kurz angebunden.
»Wie? Richtig fort – für immer?«
»So ist es, mein Kind. Sozusagen mit Sack und Pack. Ohne sich erst noch groß zu verabschieden. Ein wahrer Segen, daß du weder schön noch intelligent bist.«
»Wieso?«
»Weil du sonst womöglich auf die Idee gekommen wärst, irgendwo studieren zu wollen. Oder irgend so ein Narr hätte es sich einfallen lassen, dich heiraten zu wollen. Du wirst jetzt hier gebraucht. Du mußt dich um die Kleinen kümmern.«
Das hatte ich allerdings in meinen Plänen keineswegs vorgesehen. Ich hatte vor, jetzt, wo die Schule hinter mir lag, Mr. Chisholm von der Midland Bank zu heiraten und zehn Kinder zu kriegen, wovon allerdings weder er noch Vater bisher eine Ahnung hatten. So schnell konnte ich nicht umdenken – Vaters Tempo war mir immer etwas zu stürmisch. »Aber sie kommt doch irgendwann wieder?« fragte ich.
»Mach dir nur ja keine Hoffnungen darauf. Deine Mutter mag ja weiß Gott viele Fehler haben, aber was sie sich einmal vorgenommen hat, davon bringt sie nichts ab.«
Ich war immer noch wie vor den Kopf geschlagen. »Aber Vater – ich verstehe das nicht. Habt ihr denn Krach miteinander gehabt?«
»Krach? Das kann man wohl sagen. Und zwar in einer Lautstärke, daß du es eigentlich in der Schule hättest hören müssen.«
Ich schwieg eine Weile und sagte dann ohne große Überzeugung: »Sie geht doch nicht einfach fort und läßt ihre Kinder im Stich.«
»So, meinst du?« Die rechte Augenbraue schoß steil nach oben.
Er hatte natürlich recht. Mutter war einfach bezaubernd – schön und fröhlich und die lustigste Kameradin. Aber ein Teil ihres Charmes lag gerade darin, daß sie völlig unberechenbar war. Nein, ein Hausmütterchen war sie nicht gerade.
Ich zog mir einen Stuhl heran und ließ mich erst mal nieder. Mir war ganz weich in den Knien. »Und was machen wir nun?« fragte ich.
Vater zuckte hilflos die Schultern. »Ich kann Tee machen, Eier kochen, den Kamin versorgen und Betten machen.«
Diese Fähigkeiten schien er hoch zu veranschlagen. »Wenn das alles ist«, sagte ich.
»Na, und was ist mit dir? Du bist ja beinahe eine erwachsene Frau.«
Das erklärte Ziel unserer Schule war es gewesen, junge Damen aus uns zu machen. »Da werden wir uns wohl um dieselben Aufgaben reißen«, sagte ich. »Viel mehr habe ich nämlich auch nicht zu bieten.«
Vater sah mich verstört an. Er lehnte sich über den Schreibtisch, und seine Stimme nahm einen vertraulichen Ton an. »Und was ist mit Trubshaw? Müssen wir für den etwa noch Windeln waschen?«
»Danke deinem Schöpfer, daß du das mich gefragt hast und nicht ihn«, sagte ich. »Sonst hättest du es für alle Zeiten mit ihm verdorben.«
»Jedenfalls eine Arbeit weniger. Ich –«
Irgendwo in dem still vor sich hin träumenden Haus schlug eine Tür. »Das ist sicher Perse«, sagte ich. »Wir sagen es ihr am besten gleich. Niemand hängt so an Mutter wie Perse.«
Wenn Vater diesen Namen hörte, zuckte er regelmäßig zusammen. Als meine Mutter und er meiner jüngeren Schwester den klangvollen Namen Persephone gaben, konnten sie nicht ahnen, daß man ihn so verstümmeln würde. »Kannst du dir nicht endlich angewöhnen, sie Persephone zu nennen? So heißt sie nämlich.«
Die Tür ging auf, und Perse kam herein. »Wo ist Mutter?« fragte sie.
»Damit du es gleich weißt: sie ist abgehauen«, bellte Vater.
Ich ging auf meine kleine Schwester zu und wollte ihr den Arm um die Schulter legen, was nicht ganz einfach war, denn sie war mit Taschen, Beuteln und Turnschuhen behängt wie ein Hutständer. Ich drückte sie in einen Stuhl. »Mit wem?« fragte sie.
»Mit niemand«, sagte Vater gereizt. »Du kennst doch deine Mutter. Sie braucht niemand.«
Perse schwieg. Nach einer Weile schlug sie hilfsbereit vor: »Wie man Hummer Thermidor macht, weiß ich. Theoretisch jedenfalls.« Dann schwieg sie wieder und sagte schließlich mit dünnem Stimmchen: »Ich finde, sie hätte uns das wenigstens sagen sollen.«
»Sie hat es selbst vorher nicht gewußt«, sagte Vater.
Perse saß zusammengesunken auf ihrem Stuhl, noch immer behängt mit der ganzen Schulausrüstung einer Zwölfjährigen. Ihr langes, hitzefeuchtes Haar hing ihr ins Gesicht wie brauner Seetang. Die kleinen tintenbeklecksten Finger lagen rührend hilflos auf ihren Knien. Sie sah erhitzt, verstört und verloren aus. Sie stand auf. »Können wir wohl jetzt Tee trinken? Ich komme um vor Hunger.«
Ich gab ihr einen Kuß. »Lauf und wasch dich, Vater und ich machen das schon.«
Sie dampfte ab, behängt wie ein Boot mit Fendern. Arme Kleine, dachte ich, mit ihren zwölf Jahren glaubt sie alles zu wissen über die Liebe, den Dreißigjährigen Krieg und die Zusammensetzung von H2O. Nur von der menschlichen Natur hatte sie nicht die geringste Ahnung, während ich mit meinen siebzehn zwar eine ganze Menge vom Leben wußte, aber von der Liebe weit weniger, als ich zugeben mochte. Mich hatte Mutters Fortgehen keineswegs überrascht, eher daß sie es so lange zu Hause ausgehalten hatte. Häuslichkeit war nicht ihre Stärke.
Vater sah mich verlegen an. »Ich war wohl etwas zu direkt, was?«
»Perse kommt darüber schon hinweg«, sagte ich. »Sie ist zäh wie Leder. Die hättet ihr auf ’ne Jungensschule schicken sollen. Was sollen wir ihr zu essen machen?«
»Kein Problem. Pochiert oder gekocht, das ist hier die Frage.« Zufrieden stellte ich fest, daß Vater zur Praxis überging.
Wieder schlug eine Tür. »Das ist Trubshaw«, sagte ich.
Ich hörte, wie er die Treppe hinauf ins Kinderzimmer polterte, und folgte ihm. »War’s schön in der Schule?« fragte ich munter.
Er starrte mich an und schüttelte den Kopf. Trubshaw hatte, obwohl er erst ein halbes Jahr in der Schule war, schon festgestellt, daß man dort nur seine Zeit verschwendete.
»Was habt ihr heute gelernt?« fragte ich.
Er überlegte krampfhaft. »Nichts«, erklärte er bündig.
Eigentlich ein Jammer, daß alle ihn Trubshaw nannten, wo er doch noch zwei so schöne Vornamen wie Nicholas und Anthony hatte, aber irgendwie paßte Trubshaw zu ihm. Er war pummelig, nachdenklich und ständig mit sich selbst beschäftigt. Ich hielt es für das beste, mit Erklärungen zu warten, bis er selber Mutters Abwesenheit bemerkte – falls er sie überhaupt bemerkte. Mit übertriebenen Gefühlsäußerungen war von seiner Seite nicht zu rechnen.
Im Kinderzimmer waren die Jalousien herabgelassen, schmale Sonnenstreifen flimmerten auf den Wänden. Das stille Dämmerlicht des Raumes lud zum Schlafen ein. Ich stellte mir vor, wie schön es sein müßte, einfach den Kopf auf das kühle Kissen zu legen und zu weinen oder zu schlafen – oder auch beides, während draußen die Sonne sengte. Aber dazu war keine Zeit. Trubshaw war nach einem heißen Schultag so klebrig wie ein Honigtoast. Ich nahm ihn mir also erst einmal im Badezimmer tüchtig vor und ging dann mit ihm in die Küche, wo ich Vater am Werk sah. »Hartgekochte sind einfacher«, sagte er. »Pochierte müssen wir uns für festliche Stunden vorbehalten. Außerdem will ich nicht alle meine Pfeile gleich zu Anfang verschießen.«
Ich schnitt das Brot, die Butter konnte sich jeder selber drauf streichen. Perse machte den Tee. Unterdessen ließ Trubshaw mit Heidenlärm zwischen unseren Beinen ein Spielzeugauto herumrasen. Wir deckten den Tisch im Eßzimmer und setzten uns. Ich goß den Tee ein, und schließlich hatte jeder eine dampfende Tasse, ein schönes braunes Ei und eine Scheibe Brot vor sich. Unsere erste Mahlzeit ohne Mutter. Vater nahm das Messer und köpfte sein Ei mit einem energischen Schlag. Zack. Eine Geste des Triumphs.
An der Haustür klingelte es. Vater sah aus wie ein Küchenchef, der das Soufflé aus dem Ofen nimmt und dabei draußen die ersten Schüsse der Revolution hört. Perse, die sich gerade ihr Brot dick mit Butter bestrich, erstarrte und sah mich voll wilder Hoffnung an. Ich schüttelte den Kopf. Nein, Unentschlossenheit gehörte nicht zu Mutters Schwächen, wie Vater schon gesagt hatte. Trubshaw kaute ungerührt weiter.
»Ich gehe schon«, sagte ich.
Für einen Augenblick stand mir das Herz still, wenn auch die Ärzte einem erklären, das gäbe es nicht. Ich ging durch unsere mit blauen und roten Fliesen ausgelegte, verlassen wirkende Diele, und durch das farbige Glas der Haustür sah ich den Mond am Himmel schimmern. Das konnte nur Clifton Chisholm sein.
Mit zitternden Händen öffnete ich die Tür. Mein Mund war wie ausgetrocknet. Ich brachte kein Wort hervor. Ich konnte nur starren.
Wenn man sich den Erzengel Gabriel ohne Flügel vorstellt, dann hat man ein ungefähres Bild von Mr. Chisholm. Hinter dem Bankschalter wirkte er natürlich ganz anders, aber wenn er sonntags in der Kirche neben dem Pfarrer am Altar stand, hätte er tatsächlich zu den himmlischen Heerscharen gehören können. Eigentlich war es eine Schande, daß er seinen Lebensunterhalt als Bankkassierer verdienen mußte und seine wunderbar schlanken, weißen Finger tagtäglich mit schnödem, schmutzigem Mammon in Berührung kamen. Der Pfarrer konnte froh sein, einen so unermüdlichen Helfer und Mitarbeiter gefunden zu haben. Mir schien freilich manchmal, als ob er das gar nicht richtig zu schätzen wußte.
Als Mr. Chisholm jetzt lächelte und mich mit einem freundlichen »Hallo, Viola«, begrüßte, wurde mir ganz schwindlig.
»Hallo«, brachte ich krächzend heraus.
Er kam herein und gab mir seinen Hut, wobei sich unsere Hände – nicht ganz zufällig, was mich betraf – sacht berührten. Ich legte den Hut andächtig auf den Tisch in der Diele und führte Mr. Chisholm ins Eßzimmer.
Vater erhob sich. Perse blickte gelangweilt auf. Trubshaw schlürfte schweigend seinen Tee. »Ach, das tut mir leid – ich störe Sie gerade beim Tee«, sagte Mr. Chisholm. »Aber ich werde Sie nicht lange aufhalten. Der Pfarrer hat mich gebeten, bei Ihnen vorzusprechen.«
Trubshaw sah sich plötzlich um – anscheinend zählte er die Anwesenden – und fragte leicht erstaunt: »Wo ist Mutter?«
»Ausgegangen«, sagte ich hastig. Dies war, weiß Gott, nicht der Zeitpunkt für ausführliche Erklärungen.
»Oh, wie schade. Und gerade ihretwegen bin ich gekommen«, sagte Mr. Chisholm.
»Wo ist sie denn hin?« fragte Trubshaw und schlug mit den Absätzen gegen die Stuhlbeine.
»Nach Marrakesch«, sagte Vater.
Mr. Chisholm blickte überrascht zu ihm hinüber. Man sah ihm an, daß seine Gehirnzellen fieberhaft arbeiteten. Endlich fragte er: »Dann ist sie wohl zum Sommerfest gar nicht hier, Mr. Kemble?«
»Nein – und auch nicht zum Erntedankfest – und auch nicht zur Christmette, Mr. Chisholm.«
»Ah so«, sagte Mr. Chisholm. Er war offensichtlich der Ansicht, hier handle es sich um einen Fall für den Pfarrer. »Ich kann mir unser Sackhüpfen ohne sie gar nicht vorstellen«, sagte er bedauernd. »Sie wird uns sehr fehlen.«
»Amen«, sagte Vater, den Blick zur Decke hebend.
»Wo ist denn das, wo sie hin ist?« fragte Trubshaw.
»Marrakesch! Das ist in Marokko«, sagte Perse.
»Wo ist denn Marokko?«
»In Nordafrika.«
»Und wo ist Nordafrika?«
»Ganz oben in Afrika.«
»Wo ist Afrika?«
Das konnte den ganzen Tag so weitergehen, ich kannte meinen kleinen Bruder. Und bei diesem Hin und Her steuerte mein Schwarm, mein Angebeteter bereits hilflos auf die Tür zu. Im nächsten Augenblick würde er fort sein. »Wollen Sie nicht eine Tasse Tee mit uns trinken, Mr. Chisholm?« fragte ich, der Verzweiflung nahe.
»Nein, danke schön, Viola«, sagte er mit verstörtem Lächeln, aber immerhin, er lächelte. Wieder wurde mir fast schwindlig. Ich folgte ihm in die Diele, reichte ihm stumm seinen Hut und öffnete die Tür. Und hier wandte er sich zu meinem Erstaunen und Entzücken noch einmal um. »Sagen Sie es mir nur, wenn ich irgendwie helfen kann«, flüsterte er mir zu.
»Danke«, stieß ich hervor.
Er stand da und lächelte mir zu. Einen Augenblick dachte ich wirklich, er würde seiner Verliebtheit die Zügel schießen lassen und mir einen Kuß auf meine fiebernde Stirn hauchen, aber er tat es dann doch nicht. Immerhin – was er tat, war fast ebenso gut. Er ergriff meine Hand, betrachtete sie liebevoll und nachdenklich und drückte sie leicht. Dann ging er.
Nun – viel war es nicht, wenn man an das denkt, was man in modernen Romanen liest, aber mir genügte es. Jedenfalls muß ich, als ich wieder ins Eßzimmer zurückkam, ausgesehen haben wie die heilige Bernadette nach einer ihrer Visionen, denn Perse musterte mich mit einem entsprechenden Blick. »Paß nur auf«, sagte sie. »Miß Buttle hat schon ein Auge auf ihn geworfen.« Also, Ideen hatte diese Perse! Miß Buttle und Clifton – es war einfach absurd. Sie war mindestens zehn Jahre älter als er.
»Du hättest dem Ärmsten das Ganze wirklich erklären können«, sagte ich zu Vater.
»Deine Mutter kann man nicht erklären«, gab er zurück. »Ich – ach verdammt noch mal.«
»Was ist los?«
»Mir fällt gerade ein, daß ich morgen nach London muß. Ich bin mit einem dieser blöden Zeitschriftenredakteure zum Lunch verabredet.«
»Das macht doch nichts«, sagte ich tapfer, obwohl mir gar nicht so zumute war. »Ich werde die Stellung schon halten.«
»Das meinte ich nicht. Es ist wegen der höllischen Hitze. In der Stadt wird es unerträglich sein.«
»Warum ist Mutter nach – nach Dingsda gefahren?« fragte Trubshaw.
Die Mühle in seinem kleinen Kopf mahlte genauso langsam wie die des lieben Gottes, aber schließlich kam sie doch in Schwung.
»Um etwas Abwechslung zu haben, Schatz«, sagte Perse.
»Im Sommer müßte London eigentlich evakuiert werden«, meinte Vater. »Das wäre das einzig Vernünftige. Aber an Verstand fehlt’s da ja.«
»Ich werde es schon schaffen«, sagte ich. »Außerdem macht es Spaß, so Sachen im Kochbuch nachzuschlagen und alles einzukaufen und – die Stellung zu halten. Findest du nicht auch, Perse?«
»Na klar.« Perses Augen glänzten. Merkwürdig – wenn man zwölf ist, ist einem jede Abwechslung willkommen.
»Um sieben bin ich auch bestimmt zurück«, sagte Vater. »Und was das Essen angeht, so braucht ihr wegen mir keine Umstände zu machen. Ein bißchen Salat oder so was genügt mir.«
Um sieben! Zehn oder zwölf Stunden lang sollte ich in diesem großen, einsamen Haus mit den beiden Kleinen allein bleiben! Ich bin nicht besonders mutig; Verantwortung macht mir Angst. Ich war überzeugt: Vater brauchte nur den Rücken zu kehren, und Trubshaw würde die Treppe herunterfallen und sich ein Bein brechen, Perse würde mir erzählen, sie sei schwanger, und der Hausbock im Gebälk würde das Dach über uns zum Einsturz bringen.
Der Hausbock gehörte nämlich untrennbar zu unserem Alltag, genau wie der Holzwurm und der Schimmelpilz.
Unser Haus, das alte Pfarrhaus von Shepherd’s Delight, war ein Überbleibsel aus der Zeit der Zinkbadewanne und der Wäschemangel. Jeder Modernisierung trotzte es aufs feindseligste. Die Anfang der zwanziger Jahre gelegten elektrischen Leitungen waren längst verrottet, und an den überraschendsten Stellen der Wände konnte man sich einen Schlag holen. Wir waren froh, wenn das Licht überhaupt noch brannte. Gasgeruch durchzog wie ein ruheloser Geist das ganze Haus; nicht einmal die Leute vom Gaswerk wurden seiner Herr. Das Wasser in dem gigantischen, verrosteten Tank nahm keinerlei Notiz von dem elektrischen Gerät, das es aufheizen sollte. Das Badezimmer, riesig und ungemütlich wie ein Wartesaal, war mit einer überlebensgroßen, häßlich verfärbten Badewanne ausgerüstet, mit scheußlichen braunen Rinnspuren unter den Wasserhähnen. Wenig moderne Häuser können sich rühmen, ein Wohnzimmer von der Größe unserer Toilette zu besitzen. Die Zimmer waren hoch, kahl und kalt. Das Haus mußte vor Urzeiten für eine Familie von drei Meter langen Riesen gebaut worden sein, und selbst Mütterchen Kirche hatte schließlich nichts mehr davon wissen wollen. Als der Immobilienmakler es endlich an meine Eltern los wurde, muß er dem Himmel auf Knien gedankt haben.
Mutter hat immer den Eulen die Schuld an diesem Kauf zugeschrieben. Als nämlich der Makler ganz ohne Hintergedanken beiläufig erwähnte, daß sich Käuzchen im Garten aufhielten, horchte Vater plötzlich auf und sagte: »Käuzchen? Ich höre für mein Leben gern Käuzchen in der Nacht rufen. Du nicht auch, Clementine?« Plötzlich wurde aus nörgelnder Kritik begeisterte Zustimmung. (Jahre später saß der Makler einmal auf einer Gesellschaft neben meiner Mutter und erzählte ihr, die alte Pfarre sei das einzige Haus gewesen, das er der Käuzchen wegen an den Mann gebracht habe; so etwas sei ihm nie wieder gelungen.)
Früh am nächsten Morgen stand ich in unserer alten, riesigen Küche und besah mir die Requisiten meiner neuen Tätigkeit: den steinernen Ausguß, den wenig vertrauenerweckenden Gasherd, den altertümlichen Spültisch. Gestern hatte ich die Schule verlassen und von Mr. Chisholm, Hochzeitsglocken und Kindern geträumt, von Musik und Büchern, von neuen Freunden. Gestern war ich zum letztenmal mittags mit dem Bus nach Hause gefahren. Zum letztenmal hatte ich mich auf den freien Platz neben Miß Buttle gesetzt, die sich wie immer darüber freute. Als Tochter eines Schriftstellers gehörte ich für Miß Buttle zu den gehobenen Kreisen.
»Hallo, liebes Kind«, hatte sie gesagt, ihre Sachen zusammengerafft und sich ganz schmal gemacht, um mir mehr Platz einzuräumen. »Geht es so? Ja, also für dich fängt ja nun ein neues Leben an. Und wie soll es aussehen? Heirat und Kinder? Oder Studium und Beruf?« Sie lachte fröhlich.
»Heirat und Kinder, hoffe ich«, sagte ich.