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Irgendwo im nordenglischen Yorkshire wird eine Hochzeit auf dem Lande gefeiert, und wie immer bei solchen Festen werden unter den Gästen alte Sympathien oder Abneigungen gefestigt und neue Liebesbande geknüpft. Als einer der Hochzeitsgäste, der Bankangestellte Leonard Instone, in der Dorfkirche das Marmorbildnis einer schönen jungen Frau findet, macht er eine Entdeckung, die ihn nicht mehr aus ihrem Bann entläßt.
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Seitenzahl: 337
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Eric Malpass
Liebe blüht zu allen Zeiten
Aus dem Englischen von Anne Uhde
Ihr Verlagsname
Irgendwo im nordenglischen Yorkshire wird eine Hochzeit auf dem Lande gefeiert, und wie immer bei solchen Festen werden unter den Gästen alte Sympathien oder Abneigungen gefestigt und neue Liebesbande geknüpft. Als einer der Hochzeitsgäste, der Bankangestellte Leonard Instone, in der Dorfkirche das Marmorbildnis einer schönen jungen Frau findet, macht er eine Entdeckung, die ihn nicht mehr aus ihrem Bann entläßt.
Eric Malpass (1910–1996) hat in seinem Heimatland Großbritannien lange Jahre als Bankangestellter gearbeitet. 1947 wurde er Mitarbeiter der BBC, außerdem schrieb er für diverse Zeitungen. Er verfasste zahlreiche Romane und lebte als freier Schriftsteller in Long Eton, nahe Nottingham.
Barbara Masters wanderte mutterseelenallein durch die graue Moorlandschaft von Yorkshire den Pennine Way entlang. Der Torfboden war durchzogen von schmalen Gräben und steilen Erdspalten, den Cloughs, die meist nur ein paar Meter tief waren, manchmal gab es aber auch größere Einbrüche, etwa zehn Meter breit und entsprechend tief, in denen Moortümpel oder trügerische Sümpfe waren. Alles war in nasses Grau gehüllt. «Freundliches Licht, o führe – aus Trübsal und Not mich zu ihm», sang Barbara ohne Melodie vor sich hin. Trübselig ist es hier weiß Gott, dachte sie und betrachtete die graue Landschaft: Moor und Torf, tiefhängende Wolken und ein Himmel so grau wie die Erde. Kein Vogel brach das Schweigen, brachte etwas Leben in die kalte Einöde. Barbara hatte gern Menschen um sich, konnte aber auch gut allein sein. Hier allerdings wäre ihr ein Wandergefährte lieb gewesen. Und gerade als sie mit ihren Gedanken so weit gekommen war, fiel sie über eine Gestalt.
«Au!» sagte die Gestalt.
«O Verzeihung!» sagte Barbara. Sie kam wieder auf die Beine und sah sich an, was da auf dem Weg lag. Da sie in der Schule zum naturwissenschaftlichen Zweig gehörte, hatte sie wenig Ahnung von Shakespeare, aber sein Ausspruch «O wackre Erde, die solche Wesen hat!» entsprach in etwa dem, was sie in diesem Augenblick fühlte. Denn vor ihr auf dem Weg kauerte ein Junge, etwa in ihrem Alter, gutaussehend, in wasserdichten Hosen, kräftigen Stiefeln und einem Pullover mit der Aufschrift «Oxo».
«O Mann, bist du verletzt?» fragte Barbara besorgt. «Ich meine, warst du schon vorher verletzt, ehe ich über dich gefallen bin?»
«Ja, mein Knöchel. Ich kann gehen, aber es tut weh. Ich muß öfter mal Pause machen.»
«Laß mal sehen.» Sie besah sich sein Bein. «Ja … durch den Stiefel kann ich natürlich nicht durchsehen.»
«Nein, aber wenn ich ihn ausziehe, kriege ich ihn womöglich nicht wieder an.»
«Ach komm, das riskieren wir. Ich hab mal ein Buch gelesen: ‹Erste Hilfe für Anfänger›. Gibt dir das Vertrauen?»
«Nicht sehr viel.» Er zog aber doch folgsam den Stiefel aus und dann die Socke. Barbara betrachtete den Fuß.
«Sieht ein bißchen schwammig aus, was?»
«Ja, finde ich auch.»
«Fühlt sich auch so an. Tut das weh?»
«Ja.»
«Ja, das stand auch in dem Buch.» Sie lachte ihn plötzlich an. «Da sitzen wir ganz schön in der Patsche, was?»
«Nein, nur ich. Du brauchst deswegen doch nicht –»
«Ich hab mal gehört, wie jemand zu einem Mr. Pitsch sagte: ‹Sie sitzen ganz schön in der Patsche, Mr. Pitsch.› War ganz ernst gemeint.»
«Tatsächlich?»
«Ich fand es immer witzig.» Sie überlegte. «Was meinst du – wollen wir unsere Zelte aufschlagen und hier übernachten? Vielleicht ist es morgen besser.»
«Oder schlimmer.»
«Oder schlimmer, kann sein. Aber um das rauszufinden, gibt’s nur einen Weg. Gib mir mal deinen Packen her.»
«Ich kann dich doch nicht alles allein machen lassen.»
«Doch.» Wieder kam das strahlende Lächeln. «Ich hab mir immer gewünscht, mal jemand zu bemuttern. Wenn man Naturwissenschaften macht, kommt der Mutterinstinkt oft zu kurz, das kannst du mir glauben.»
Eine Stunde später war es dunkel. Barbara hatte Eier gekocht, Schinken und Würstchen gebrutzelt, starken Tee aufgegossen und die beiden Zelte errichtet; satt und zufrieden lag der junge Mann jetzt in dem einen und sie in dem anderen Zelt. Ein Öllämpchen schien in die Zelte hinein, beleuchtete die Gesichter und ein paar Quadratmeter Torfboden. Rundherum war Dunkelheit, Schweigen und die Stille der Ewigkeit. Der Junge sah Barbara an. Er fand ihr Gesicht wundervoll: kindlich, lächelnd, und doch eine Spur nachdenklich und traurig.
«Gute Nacht», sagte sie. «Übrigens – ich heiße Barbara Masters, aber meine Freunde sagen Bar, oder Barbar, oder auch Bählamm.» Sie gähnte. «Maman sagt immer, ein geliebtes Kind hat viele Namen.»
«Wer sagt das?»
«Maman. Sie ist Französin, und alle Welt ist verliebt in sie. Aber Daddy und ich, wir sind stockbritisch.»
«Prima. Ich bin Nicholas Instone. Guten Tag.»
«Guten Tag.» Sie streckte die Hand aus, so daß ihre Fingerspitzen sich gerade berührten. Dann machte sie das Lämpchen aus und vergrub sich in ihren Schlafsack. Einen Augenblick später kam der Kopf wieder hoch. «Du – Nicholas!»
«Ja?»
«Ich meine – mit deinem Fuß, und wo ich so eingepackt bin – ich meine, da wirst du ja wohl nicht auf dumme Gedanken kommen. Aber falls doch – na ja, dann laß es lieber, ja?»
«Ich werd mein Bestes tun», sagte er ernst. «Gute Nacht.»
Leonard Instone ging in das Zimmer seiner Tochter, um ihr gute Nacht zu sagen. Er war beunruhigt, als er sah, daß die Bettdecke von unten erhellt war. Von Kate war nichts zu sehen als ein Häufchen unter der Decke.
Alle Welt sagte, es sei ganz egal, was Kinder läsen, Hauptsache, sie läsen überhaupt etwas. Aber Leonard war altmodisch; er fand diese Bemerkung ebenso blödsinnig, als wenn man sagte, es sei egal, was Kinder essen, wenn sie nur irgendwas essen. Ihn erschreckte die Vorstellung, daß seine süße unschuldige Tochter sich da womöglich eines der modernen widerwärtigen Druckerzeugnisse vorgenommen hatte.
«Kate?» sagte er fragend.
Sie schlug die Decke zurück. Das goldblonde Haar fiel ihr ins Gesicht, und sie lachte ihn an.
«Wenn du Brautjungfer sein willst, mußt du aber auf deinen Schönheitsschlaf achten. Läßt du mich mal sehen, was du da liest?» sagte er.
Er war erleichtert, als sie ihm einen staubgrauen dicken Band entgegenhielt, den er mit kurzsichtigen Augen betrachtete. Lady Emilys Entscheidung, Bd. II, las er. Von Lazarus Pike.
«Ist es gut?»
«Klasse. Janet Youngs Großmutter hat es mir geliehen, alle drei Bände. Den dritten kannst du haben, wenn du willst. Mummy liest gerade den ersten. Du, Dad, hoffentlich kommt Nicholas rechtzeitig zur Hochzeit.»
«Er muß rechtzeitig da sein, er ist doch einer der Zeremonienmeister.»
«Und was meinst du, wie er hinkommt?»
«Na, mit dem Zug natürlich.»
«Oder zu Fuß. Er liebt doch Fußmärsche.»
«Aber doch nicht von Durham, mein geliebtes Schäfchen!» Er küßte sie zärtlich. Für diesen einsamen, wunderlichen Mann war Kate eines der wenigen Bänder, die ihn mit der Umwelt verbanden. Er war ein Mensch, der mehr aus Unsicherheit als aus Ablehnung seiner Mitmenschen nicht leicht Freundschaften schloß. Nur den fiktiven Gestalten in Büchern trat er frei und unbefangen gegenüber. Das war auch der Grund, warum er in seiner Freizeit Buchbesprechungen für den Danby Advertiser schrieb – eine Nebenbeschäftigung, die die Bankdirektoren mit väterlicher Nachsicht, wenn auch ohne Verständnis duldeten.
An diesem Abend blieb er lange auf und las. Als er endlich zu Bett ging, sah er erstaunt, daß seine Frau Jane, in die Kissen gelehnt, ebenfalls las. «Das muß aber ein fesselndes Buch sein», sagte er.
Sie sah ihn mit ihrem leicht ironischen Lächeln an. «Was für dich», sagte sie und hielt ihm Band I entgegen. «Du kannst es haben, ich will jetzt schlafen. Gute Nacht.» Und sie rollte sich zusammen wie ein Igel, der sich gegen Störenfriede wehrt.
Leise zog er sich aus, schlüpfte in seinen billigen Pyjama und griff nach Lady Emilys Entscheidung. Er lag still und schlug lautlos die Seiten um – wenn er daran dachte, konnte er von geradezu neurotischer Rücksicht sein. Er las bis drei Uhr morgens. Dunkelgraue Schriftblöcke auf ehemals weißem Papier. Passagen, so schwer wie Grabsteine. Aber eine Prosa … kraftvoll und stark, glänzende Charakterisierungen, Situationen, die mit Hardy konkurrieren konnten, und ein leiser, sanfter Humor. Und von diesem Mann hatte Leonard noch nie gehört! Offenbar war Lazarus Pike in Vergessenheit geraten. Armer Kerl, dachte er – da hat er nun geschrieben, Neues geschaffen, gekämpft und sich durchgesetzt. Und dann – das Grab und Vergessenheit. Hundert Jahre ungelesen (außer von Janet Youngs Großmutter). Alle seine Helden, alle die Worte, die der Kopf seiner Hand diktierte, Tag für Tag, Jahr für Jahr: alles ausgelöscht, eingeschlossen in vergessenen Büchern auf verstaubten Regalen, wie eingesargte Körper im Gewölbe – tot. So tot, wie auch Jane und ich und unsere Liebe einmal sein werden. Er nahm die Hand seiner Frau und drückte sie, denn er konnte sehr sentimental werden, wenn er an so was dachte. Sie bewegte sich unruhig und murmelte etwas, aber sie wachte nicht auf.
«Warum habe ich bloß einen Mann aus diesem schrecklichen Land geheiratet!» Mit strahlendem Lächeln sah Antoinette Masters ihren Mann an. Als ihr Blick zu den regenverhangenen Bergen des Pennine zurückkehrte, verschwand das Lächeln. «Jetzt fängt es auch noch an zu nieseln», stöhnte sie. «Großartig.»
Wenn Antoinette ‹großartig› sagte, klang es fast wie ein Knurren. Die erste Silbe holte sie aus einer stimmlichen Tiefe, die von einem Engländer kaum je benutzt wurde. Die zweite Silbe wurde möglichst langgezogen, um Ekel, Verachtung, Verzweiflung auszudrücken, und die dritte glich einem Dolchstoß.
Clive Masters hielt den Lagonda in einer Parkbucht an und stieg aus. «Lieber das Verdeck jetzt zumachen.» Er fing an, die Riemen zu lösen. Antoinette saß bequem zurückgelehnt auf dem weichen Ledersitz und blickte ungläubig und angewidert über die Weite von Derbyshire. Plötzlich setzte sie sich auf und zeigte auf ein Schild. «Mein Gott! Sieh bloß, was da steht!»
«Pennine Way» stand auf dem Schild, und es wies auf eine schwarze Kraterlandschaft, die durchzogen war von Schluchten und Wasserläufen. Antoinettes Stimme klang fast flehend, als sie sagte: «Das ist doch nicht etwa da, wo wir Barbar treffen sollen?»
«Was glaubst du, warum ich an diesem gottverlassenen Flecken angehalten habe?» Clive zog – zog. Das Verdeck entfaltete sich und fing den Wind ein wie ein Segel. «Verdammt», sagte Clive Masters.
Antoinette starrte immer noch auf die Kraterlandschaft. «Und da strengen die blöden Menschen sich so an, um auf den Mond zu kommen. Das hätten sie hier auch haben können!»
Clive hatte jetzt die eine Seite festgehakt und machte sich an die andere. Endlich waren Verdeck und Seitenwände in Ordnung; er setzte sich wieder auf den Fahrersitz und schlug die Tür zu. Der Regen war stärker geworden, er trommelte jetzt auf das Verdeck und lief in Rinnsalen an den Seiten hinunter. Antoinette schauerte zusammen. «Hier sitzen wir also.» Dann lehnte sie sich zur Seite und rieb zärtlich die Wange an der ihres Mannes. «Im Kofferraum ist Kaffee, chéri.»
Er ließ die Hände auf dem Lenkrad. «Hast du etwas dagegen, wenn du ihn dir selber holst?»
Sie ließ sich gegen die Seitentür fallen und starrte ihn so angewidert an, wie sie vorher die regennasse Landschaft angestarrt hatte. «Dann werde ich ja klitschnaß! Nicht nur, daß ich immer im offenen Wagen fahren muß, wie ein Schwein zum Viehmarkt – jetzt soll ich auch noch mit meiner Frisur in den Regen hinaus! Dann sehe ich morgen auf der Hochzeit wie eine Hexe aus!» Und sie legte die Finger an die Schläfen und zog eine Grimasse.
Clive hatte gerade den Kofferraum erreicht, als sie ihm zurief: «Schau mal, Clive, da kommt ein Mann vom Mond.»
Von Norden her erschien eine Gestalt. Manchmal verschwand sie in einer Bodensenke, tauchte dann schwankend wieder auf und stapfte resolut weiter. Jetzt kam sie näher: klobige Stiefel, formlose Hosen, unleugbar auch ein Busen, über dem sich ein Pullover spannte. Das einzige, was dieses Wesen von einem Astronauten unterschied, war die Tatsache, daß es keinen Helm trug, dafür aber Ohrringe und einen Pferdeschwanz.
«Allmächtiger!» rief Clive Masters. «Das ist ja Barbara!»
«Großartig!» rief Antoinette. Ohne Rücksicht auf den Regen, ihre Frisur und den Nerz sprang sie aus dem Wagen und umarmte ihre nasse Tochter mit stürmischen Küssen und zärtlichen gallischen Koseworten.
Barbara reagierte ebenso warm, aber mit angemessen britischer Zurückhaltung. «Tag, ihr zwei», sagte sie mit strahlendem Lachen. «Prima abgepaßt. Gibt’s vielleicht gerade Kaffee?»
«Gleich.» Antoinette senkte die Stimme. «Dein Vater ist etwas widerspenstig heute, Liebes. Vielleicht – un certain âge, weißt du?»
Clive Masters erschien mit einem Picknickkorb. Neben seiner zierlichen Frau wirkte er groß und ungehobelt. In der Schule war er ein Grobian gewesen. Er war es auch heute noch, wo er es sich leisten konnte. Jetzt starrte er seine Tochter aus vorstehenden Augen an. «Na – ganz schön scheußlich da draußen, was?»
«Nein – fabelhaft. Außerdem hab ich einen großartigen Jungen kennengelernt.» Sie deutete nach Norden. «Da hinten ist er. Sehnenzerrung, deshalb konnte er nicht so schnell laufen.» Sie nahm ihren Rucksack ab, setzte ihn auf den nassen Boden und legte sich bequem hin, wobei sie den Rucksack als Kopfkissen benutzte.
Clive Masters starrte sie immer noch an. «Noch nie habe ich etwas gesehen, was weniger nach einer Brautjungfer aussah», sagte er.
Barbara verschränkte die Hände hinter dem Kopf. «Du hast doch wohl nicht erwartet, daß ich in Organdy und Spitzen über den Pennine wandere, nicht wahr?»
«Ich habe überhaupt nicht erwartet, daß du über den Pennine wanderst. Wir sind schließlich auf dem Weg zu einer Hochzeit, Kind, und nicht zu einer Arbeiterversammlung.»
«Na, dann warte nur, bis du den Jungen siehst.» Barbara stützte sich auf den Ellbogen und blickte über das Moor. Fröhlich winkend rief sie laut: «Hu-huu!»
Der hinkende junge Mann kam näher und winkte zurück. Clive Masters öffnete den Picknickkorb und entnahm ihm eine Thermosflasche, Tassen, Gläser und eine Flasche Courvoisier. «Mach schnell!» schrie Barbara. «Bleichgesicht hat Feuerwasser im Planwagen!»
Der junge Mann war herangekommen und versuchte zu lächeln, ohne schmerzhaft das Gesicht zu verziehen. Barbara lehnte sich zurück und machte eine große Handbewegung, wie ein Römer, der beim Bankett seine Gäste vorstellt. «Hier, das ist der Junge», sagte sie zu den Eltern, und dann zu dem Jungen: «Meine betagten Eltern.»
«Tag», knurrte Clive. Antoinette blickte zu dem Jungen auf, als habe sie nie ein schöneres Lebewesen gesehen, und streckte ihm freundlich die zarte, duftende Hand entgegen. Ihr «Guten Tag» hätte eine Turteltaube neidisch machen können.
«Warum haben Sie da Oxo stehen?» fragte Clive Masters gereizt. Die ‹betagten Eltern› hatten ihm nichts ausgemacht, aber ‹Planwagen› für den geliebten Lagonda, das nahm er übel.
«Warum nicht?» fragte der junge Mann verständnislos.
Clive Masters wußte es auch nicht. Er wußte nur, daß nichts auf der Welt ihn bewegen könnte, sich Oxo quer über die Brust zu schreiben. Dabei waren er und dieser junge Mann vom gleichen Geschlecht und Volk, sie gehörten zur gleichen Klasse und Kultur. Was sie trennte, war nur der Altersunterschied von fünfundzwanzig Jahren. Plötzlich ging ihm durch den Kopf, daß er eigentlich die Jugend haßte. «Hier», sagte er kurz und reichte dem Jungen Kaffee und Cognac.
Antoinette richtete ihren weiblichen Charme mit der Intensität eines Brennglases auf den jungen Mann. Mit zärtlich-tiefer Stimme fragte sie: «Sie haben doch gewiß einen Namen, nicht wahr?»
«Ja.» Er reagierte wie eine Blume im Treibhaus auf die Sonnenwärme. «Ich heiße Nicholas Instone.»
«Ist das nicht toll, dieser Zufall?» sagte Barbara. «Nicky kommt auch zu der Hochzeit – er ist Zeremonienmeister bei der heiligen Handlung.»
Clive drehte sein Glas zwischen den Fingern und starrte böse auf das Oxo. «Sie werden sich ja wohl umziehen?»
«Mein Gott – ja. Natürlich habe ich einen makellosen Anzug mit.» Er nahm einen Schluck Courvoisier und fragte vorwurfsvoll: «Sie haben doch nicht angenommen, daß ich so komme?»
«Ich dachte bloß», gab Clive kalt zurück. Gott sei Dank, dachte er, als ich heiratete, dachte man über so was gar nicht weiter nach.
Die Vorstädte von London blieben zurück. Amos Crump beobachtete es fast mit einer Art Panik. Der Norden war ihm, er war der erste, der das zugab, nicht recht geheuer. Lächerlich, natürlich. Er war schon einmal in Manchester gewesen und hatte es überlebt. Aber es war ein traumatisches Erlebnis gewesen. Er mochte die Menschen im Norden einfach nicht, das war’s. Und aus irgendeinem unerklärlichen Grunde mochten ihn anscheinend die Menschen im Norden auch nicht. Das lag natürlich einzig und allein an ihrem harten, mißtrauischen Charakter, sagte er sich.
Mein Gott, dachte er, und nun diese Hochzeit, eine Hochzeit auf dem Lande! Mittelstand und kirchliche Trauung! Amos hätte kaum sagen können, welche Einrichtung für ihn am meisten passé war: Gott oder die Kirche oder der englische Mittelstand.
In der schönen getäfelten Empfangshalle des Hotels Royal George in Shepherd’s Delight, im Norden von Derbyshire, saß Jane Instone, so elegant gekleidet, wie es das Gehalt eines Bankangestellten erlaubte. Sie blätterte in einer Illustrierten. Kate, ein dickes Buch im Arm, rutschte unruhig wie ein eingesperrter Hänfling neben ihr auf der Couch hin und her. Leonard saß an einem kleinen Schreibtisch und las mit gerunzelter Stirn im Telegraph.
«Wann wohl Nicholas kommt?» sagte Kate.
«Geh doch raus und warte dort auf ihn», sagte Jane. Sie wollte sich ausruhen, und an Ausruhen war nicht zu denken, solange Kate wie eine gespannte Feder neben ihr saß.
Kate stürzte nach draußen, und Jane schmiegte sich tiefer in ihren Sessel. Sie war wunschlos glücklich. Ein bequemes Hotel, ein paar müßige Stunden, ein gutes Dinner und eine lange ruhige Nacht vor sich, und morgen dann das festliche Ankleiden und der Trubel und die hübsche Hochzeit. Das war eine schöne Abwechslung.
Sie wollte das Fest gründlich auskosten – verdient hatte sie es. Die langen, langen Jahre mit all den Kosten für Nicholas’ Schulausbildung, künftige Jahre mit ähnlichen Kosten für Kate, und keinerlei Aussicht auf eine wesentliche Besserung der Verhältnisse. (Sie war heimlich davon überzeugt, daß Leonard den lieben Gott jeden Abend bat, die Bank möge ihn nicht zum Manager machen.) Trotzdem, sie wollte Leonard nicht kritisieren. Er war wirklich ein guter Ehemann und meist auch leicht lenkbar, und wenn er sich wirklich einmal versteifte, wechselte sie schnell das Thema und setzte nach einer Weile ihren Willen doch durch.
Von ihrem Platz aus konnte sie die Rezeption gut sehen. Das gefiel ihr. Nicht nur, weil sie ihren Sohn Nicholas dann gleich beim Eintreten sah, sondern vor allem, weil für sie – wie für die meisten Frauen – das Kommen und Gehen in einer Hotelhalle so faszinierend war wie das Auf- und Abtreten der Schauspieler auf der Bühne. Eigentlich merkwürdig, dachte sie, mein Mann interessiert sich nur für die Verschrobenheiten der menschlichen Natur, er ist der veritable verhinderte Romancier. Er sitzt da und liest seine Zeitung. Ich dagegen, viel zu handfest und praktisch, um je schreiben zu wollen, frage mich, wer diese Leute da sind, warum sie dauernd reisen, wie sie zueinander stehen und in welchem Milieu sie leben. Ich denke mir richtige kleine Geschichten aus. Dieser Mann da, zum Beispiel, der gerade hereinkommt, sich so irritiert den dünnen Bart kratzt und mit seinen kleinen Schweinsaugen alle Sessel auf ihre Bequemlichkeit prüft, der einen gleichgültigen Blick auf Leonard wirft und dann mich ansieht, die einzige Frau hier, schon weitaus interessierter. Ein Handlungsreisender? Junggeselle? Wie ein bequemer Pantoffelheld sah er nicht aus. Der Mann setzte sich so, daß er Janes schöne Beine im Auge behielt, und blickte verstohlen zu ihr herüber.
Jane zog ihren Rock etwas herunter und vertiefte sich in ihre Zeitschrift.
Kate kam wieder herein. «Noch nichts von ihm zu sehen. Abscheulich von ihm, finde ich», sagte sie zu Jane und ließ sich in einen Sessel fallen. Sie schlug ihr Buch auf und sagte grollend: «Der kommt bestimmt zu Fuß her.»
«Sei nicht albern. Er kann doch nicht von Durham zu Fuß herkommen.»
«Das sagt Daddy auch, aber ich kenne Nicholas. Er liebt eben Wanderungen, das dumme Stück.»
Hätte Amos Crump etwas Humor besessen, hätte er vielleicht die Regel abgewandelt und sich gesagt: Versuche nie mit einer Frau anzubandeln, die Tweed und Perlen trägt und in einem Dreisterne-Hotel wohnt. Das führt zu nichts. Aber der alte Trick, sich der Mutter über das Kind zu nähern, war immerhin einen Versuch wert. Er sagte also freundlich: «Sieht ja mächtig gelehrt aus, dein Buch, junge Dame.»
Kate haßte es, von Erwachsenen ‹junge Dame› tituliert zu werden. Sie hielt das Buch hoch, so daß er den Titel auf dem Rücken lesen konnte.
«Du lieber Gott», sagte er. «Du vertust deine Zeit mit Viktorianern, Kind? In deinem Alter solltest du lieber feststellen, was junge, moderne Schriftsteller zu sagen haben.»
Unverschämtheit! dachte Jane. Aber sie ließ sich nicht in die Unterhaltung hineinziehen. Amos sprach zwar zu Kate, aber seine kleinen Augen waren auf die Mutter gerichtet, in der Hoffnung, daß sie sich beteiligte.
«Daddy sagt, es ist ein guter Schriftsteller», sagte Kate. «Er sagt, wenn er mehr gelesen worden wäre, würde er auch heute noch gedruckt.»
«Dein Vater scheint viel davon zu verstehen», sagte Amos. «Hat er was mit Literatur zu tun?»
«Er rezensiert Bücher», sagte Kate, die das Besprechen von Büchern für eine blödsinnige Beschäftigung hielt. Wenn sie ein Buch las, wußte sie von allein, ob es ihr gefiel oder nicht, ohne daß jemand es ihr sagte.
Jetzt war Crumps Interesse erwacht. «Tatsächlich?» fragte er. «Wie heißt denn dein Vater?» Erwartungsvoll sah er Jane an, aber sie blieb in ihre Zeitung vertieft.
«Leonard Instone.»
Crumps gelbliche Augen flackerten unruhig. Er ließ sich nie die Chance entgehen, sich bei Spitzenkritikern beliebt zu machen. Aber Instone gehörte bestimmt nicht dazu, er hatte den Namen nie gehört. «Für welche Zeitungen schreibt er denn?» erkundigte er sich, die Augen immer noch auf Jane gerichtet.
«Für den Danby Advertiser.»
Du liebe Zeit, dachte Crump. Aber Kate hatte jetzt genug von dieser Unterhaltung. «Daddy?» rief sie laut.
Leonard ließ seine Zeitung zwei Zentimeter sinken und blickte vorsichtig um sich, wie immer, wenn eine Stimme plötzlich «Daddy» rief. Er liebte seine Tochter – natürlich liebte er sie, aber es war ja immerhin denkbar, daß nicht sie, sondern ein anderes Kind nach seinem Daddy rief. Doch diesmal hatte er kein Glück. Kate deutete mit dem Kopf in die Richtung von Amos Crump, der ihr gründlich mißfallen hatte, und ging hinaus, um nach Nicholas zu sehen. Daß sie damit ihrem Vater den Schwarzen Peter zuschob, machte ihr nichts aus.
Der Fremde stellte seinen Stuhl so, daß er sowohl zu Leonard wie zu Jane sprechen konnte, und setzte sich wieder. Ungläubig fragte er: «Dieser Lazarus Pike – Sie mögen ihn doch nicht wirklich, oder?»
Leonard überlegte einen Augenblick und sagte dann: «Doch, ja, ich mag ihn. Ich finde, er hat etwas von Hardys Format.»
«Na ja, wenn Sie Hardy mögen …» sagte Crump unhöflich. «Ich bin nämlich …» Die Grimasse, mit der er Jane anblickte, war alles, was er an Lächeln zustande brachte. «Ich bin nämlich selber im Verlagswesen, daher mein Interesse.»
Mit einem Ruck setzte sich Leonard aufrecht. Er hatte bisher an der äußersten Peripherie der Bücherwelt gelebt; jetzt saß ihm ein Verleger gegenüber, und er kam sich vor wie ein Mönch, der beim Spaziergang einem Heiligen begegnet. Außerdem hatte er noch ein besonderes Interesse. Er hatte sich schon Gedanken darüber gemacht, wie man dem großartigen Pike zu einer Neuauflage verhelfen könnte: man mußte an einen Verlag schreiben, an die BBC, an die Times, an den Premierminister (man denke nur daran, was Baldwin alles für Mary Webb getan hatte!). Und nun saß er hier vor einem leibhaftigen Verleger, der schlicht und einfach durch die Tür gekommen war. «Nein, wirklich?» rief er. «Darf ich fragen …»
«Mein Name ist Crump», sagte der fremde Mann befriedigt. «Amos Crump.»
Leonard war geknickt. Wenn man einen Namen wie Macmillan oder Heinemann erwartet, dann ist ‹Amos Crump› eine bittere Enttäuschung. Denn Amos gehörte zur Avantgarde und hatte schon mehrfach vor Gericht gestanden und war nur deshalb nicht verurteilt worden, weil ein Klüngel von Literaten und Geistlichen der verstörten Jury versicherten, die Veröffentlichungen seines Verlages seien größer als ‹Krieg und Frieden›, wahrhaftiger als das Johannes-Evangelium und harmloser als ‹Bambi›. Deshalb blinzelte Leonard ein paarmal, ehe er sagte: «Als Sie sagten, Sie seien Verleger, dachte ich, Sie hätten vielleicht ein Interesse daran, Lazarus Pike neu aufzulegen. Aber ich weiß natürlich …»
«Das will ich auch hoffen», unterbrach ihn Amos. «Ich blicke in die Zukunft, ich tue etwas für die jungen ungefesselten Geister hierzulande. Aber viel einbringen tut mir das nicht», fügte er säuerlich hinzu. Und dann mit anderer Stimme: «Und dies ist Ihre Teuerste?» fragte er.
Leonard überlegte. «Meine Frau», sagte er schließlich. Er nannte zwar nicht immer alle Dinge beim einzig richtigen Namen, aber bei der Ehefrau gab es eine Grenze.
«Guten Tag», sagte Jane ohne Begeisterung.
«Ich persönlich finde diese Vor-Freudianer einfach furchtbar», sagte Crump. «Ich meine – die menschliche Natur ohne Freud! Kommt mir vor wie Ziegelsteine ohne Stroh.»
«Man fragt sich, wie Dichter wie Shakespeare überhaupt ohne ihn auskamen, nicht wahr», sagte Jane und blickte mit strahlendem Lächeln auf.
Leonard sah sie erstaunt an. Crump sagte: «Ja, weiß Gott. Wenn man sich das überlegt – ein Freud-bewußter Shakespeare! Da läuft einem doch das Wasser im Munde zusammen.»
«Ja, wirklich», sagte Jane überzeugt. Crump war angenehm überrascht. Er hatte nicht erwartet, so schnell Eindruck auf diese Frau zu machen. Gutfrisierte Frauen mit klarem Teint machten sich meist nicht viel aus Amos. Die einzigen Frauen, die von ihm Notiz nahmen, hatten lange Mähnen und große Brillengläser, hinter denen sich die Akne versteckte.
Aber seine Freude war von kurzer Dauer, denn die Dame Instone, das war unverkennbar, ließ ihn fallen wie eine heiße Kartoffel, als sie jetzt zur Rezeption hinüberblickte. Eine Gruppe von vier Leuten war eben angekommen, gefolgt vom Hotelportier mit drei aufeinander abgestimmten rotledernen Koffern und zwei Rucksäcken, von denen Becher, Bratpfannen, Stiefel und anderes Zubehör herabhingen. Zwei Männer, zwei Frauen. Die ältere so elegant, daß Jane, in ihrem Tweedkostüm und den Zuchtperlen, sich am liebsten versteckt hätte; die jüngere in einem Aufzug, als habe sie eben ihre Schicht bei der Feldarbeit beendet. Der ältere Mann mit den kantigen Zügen trug einen Kamelhaarmantel mit Samtkragen, den Filzhut hielt er in der behandschuhten Hand. Der jüngere war …«Nicholas!» rief Jane und lief auf ihn zu.
«Mum!» sagte er strahlend. Er wandte sich an den Rest der Gruppe und sagte stolz: «Meine Mutter. Mr. und Mrs. Masters. Und Barbara Bählamm.» Wobei er und das Mädchen sich fröhlich anlachten.
Clive Masters stand an der Rezeption und nahm die Eintragung vor; er warf Jane über die Schulter einen Blick zu, grunzte und schrieb weiter. Aber Jane hatte genug gesehen. Das Gesicht kam ihr bekannt vor. Aber wer war es? Jedenfalls niemand, den sie persönlich kannte. Dann fiel es ihr ein: sie sah das Gesicht, größer, hell erleuchtet, in einem Rechteck mit abgerundeten Ecken. Clive Masters! Man sah ihn oft auf dem Bildschirm. Er redete, stritt, verhörte jemand, urteilte über alles mögliche, von Büchern bis zu Moralgesetzen und Politik. Ihr wurde schwach. Sie hatte einen der Großen unserer Tage kennengelernt, einen Propheten aus der Bruderschaft der Fernsehleute!
Antoinette lächelte und streckte ihr die Hand entgegen. «Guten Tag», sagte sie.
Jane lächelte zurück, und im Augenblick dieses Lächelns durchschauten die beiden Frauen einander. Antoinette sah eine durch und durch vernünftige Engländerin mit hellen Augen und klarem Teint, unauffällig angezogen, ganz der Typ ‹Hockeyschläger und Tennis und kalte Bäder›, aber trotzdem sehr nett. Jane sah eine zierliche funkelnde Französin mit Make-up und Nerz, elegant und teuer aufgemacht. Und obgleich sie sich plötzlich vorkam wie ein Sperling vor einem Kolibri: ihr gefiel das Gegenüber. Sie spürte die Wärme hinter der Kriegsbemalung.
«Daddy», sagte Barbara, «sieh mal – ist das nicht der Crump mit dem Hühnerblick?»
Clive Masters blickte in die Halle. «Stimmt, das ist er. Du lieber Gott, jetzt kommt er auch noch her.»
Amos, von Jane Instone schmählich im Stich gelassen, sah, wie auch Leonard den Daily Telegraph wie ein Rouleau wieder in die Höhe zog. Deshalb sprang er, als er die Neuankömmlinge erblickte, auf und ging grinsend auf die Rezeption zu. «Mein lieber Masters», sagte er.
«Tag, Amos. Ich muß erst mal ein Bad nehmen und mich etwas ausruhen.» Clive Masters’ Gesicht war nicht gerade freundlich, als er sich brüsk abwandte. «Was machen Sie überhaupt hier im Norden?» rief er über die Schulter zurück.
«Ich bin als Gast zu der Hochzeit morgen eingeladen. Der Bräutigam gehört zu meinem Personal.»
«Wie ich Ihren Laden kenne, ist er Ihr Personal. Also dann bis morgen in der Kirche.»
«Ja. Ich würde Sie gern mal kurz sprechen.» Amos sah aus wie ein Huhn, dem man soeben seinen Platz in der Hackordnung zugewiesen hat und dem dieser Platz nicht sonderlich behagt.
Jane stand neben ihrem Sohn. «Du ziehst dich doch um zum Dinner, nicht wahr, Nicholas?»
«Na klar, Mum.» Wie wichtig alle Leute so was nahmen! Sie dachten anscheinend, man lebte nur in Jeans und Blouson.
«Sag mal, ich verstehe das gar nicht. Warum trägst du diese Wetterkleidung? So schlimm sind doch die Züge gar nicht.»
«Ich bin nicht mit dem Zug gekommen, sondern zu Fuß.»
«Zu Fuß?» Lieber Himmel, dachte sie, was wird Kate sagen?
«Ja, oben über den Pennine Way. Es war toll.»
«Ja, toll», sagte Barbara. «Nicky, war das nicht himmlisch, als wir heute morgen aufwachten und die Sonne aufgehen sahen, bevor die Wolken wiederkamen?»
«Ja. Toll.» Schweigen. Dann sagte Jane: «Na, dann geh jetzt und zieh dich um, Nicholas, wir wollen früh essen. Du mußt doch halb verhungert sein.»
«Ja, bin ich. Bis dann, Mum.» Er küßte sie zärtlich.
Aber Jane blieb noch stehen. Sie wollte wissen, was da vorging. Sie wartete und sah erleichtert, daß Nicholas und das Mädchen an der Rezeption jeder für sich einen Schlüssel erhielten. Sie kehrte zu Leonard zurück. «Du bist mir ein schöner Vater», sagte sie. «Dein Sohn erscheint, und du kommst noch nicht mal dazu und sprichst ein Wort mit ihm.»
«Wer?» fragte Leonard verwirrt. «Ach so, du meinst Nicholas. Ist er da?»
«Natürlich meine ich Nicholas, und natürlich ist er da. Wenn du mal einen Augenblick von deiner Zeitung aufgeschaut hättest, dann hättest du ihn selber gesehen.»
Leonard, der stolz auf seinen Instinkt war, meinte eine leichte Ungeduld zu spüren; es war also wohl besser, die Zeitung beiseite zu legen. «Er ist doch hoffentlich in Ordnung, nicht wahr?» fragte er mit etwas übertriebener Sorge.
«Ja, in Ordnung ist er. Bloß – er ist anscheinend über den Pennine Way gewandert, und zwar mit einem Mädchen. Ich …»
«Über den Pennine Way? Liebe Zeit, was wird Kate sagen?»
«Laß doch jetzt Kate, Leonard. Dieses Mädchen …»
Kate stürzte herein. «Mummy, ich war am Bahnhof. Heute abend kommt kein Zug mehr. Was nun?»
«Er ist schon da, Liebes», sagte Jane. «Er ist oben und zieht sich um.»
«Er ist schon da?» Kate war den Tränen nahe. «Ich war doch die ganze Zeit am Bahnhof!»
«Er ist zu Fuß gekommen.»
Kate war sprachlos. «Also verdammt noch mal», fing sie an.
«Kate!» sagte Jane scharf.
«Entschuldige, Mummy.» Sie sah aus, als ob es ihr wirklich leid täte. «Aber ich hab zu euch beiden gesagt, er käme zu Fuß, und ihr habt beide gesagt: ‹Rede kein Blech.› Habt ihr beide gesagt.»
«Kate! Nicht so frech, bitte.»
Kate blickte ihre Mutter an und sah, daß ein Sturm aufzog. «Ich habe doch nur zitiert», sagte sie schnell. «Daddy zitiert doch auch immer den doofen alten Shakespeare, da kann ich doch wohl auch mal Oscar Wilde zitieren.»
Der Köder war geschickt gelegt, und der arme Fisch verschlang ihn sofort. «Oscar Wilde?» sagte Leonard. «Das war nicht Wilde, Kate. Das war Shaw.»
Mit weit offenen Augen sah sie ihn an. Ach, dachte er, diese geliebten vertrauensvollen Augen, die langen Wimpern, die zart geäderte Haut, die unter den Augen in die blasse Weichheit der Wangen überging … Anders als die meisten Bankangestellten hatte sich Leonard den staunenden Blick des Dichters bewahrt. Er war empfänglich für die zartesten Fäden der Schönheit. Jane beobachtete ihn mit der üblichen Mischung aus Belustigung und Gereiztheit und sah, wie die Festigkeit gleich einem Mantel von ihm abfiel. Er sagte: «Du kannst mir glauben, Kate, es ist aus ‹Pygmalion›, da, wo Eliza Doolittle …»
Kate hatte ihm höflich einen Augenblick zugehört und unterbrach jetzt: «Kann ich raufgehen zu Nicholas?»
«Natürlich, mein Liebes», sagte Leonard. Seine Tochter schoß wie ein Pfeil aus der Halle. Mit schmalen Lippen sah Jane ihren Mann an und sagte: «Ein schlauer Fuchs, das ist sie.»
Sie kannte den erstaunten Ausdruck, der nun in sein Gesicht trat, nur zu gut. «Wer – Kate? Wieso? Sie hat sich doch ganz gut gemacht, finde ich. Daß es ‹Pygmalion› war, wird sie jetzt bestimmt behalten.»
«Sie hat genau gewußt, daß es ‹Pygmalion› war. Sie haben es gerade im letzten Frühjahr durchgenommen.»
Leonard war zwar ein sanftmütiger Mann, aber manchmal, wenn auch nie lange, ließ er sich zu Entrüstung hinreißen. Jetzt nahm er einen Anlauf und fragte mit blitzenden Brillengläsern: «Warum hat sie dann …»
«Ach Leonard, sie geht doch mit dir um wie mit einer Lokomotive. Wenn du loslegst, stellt sie einfach die Hebel um und lenkt dich auf ein kleines Nebengleis. Das hat sie schon mit drei Jahren gekonnt.»
Er schwieg gekränkt; ärgerliche Röte stieg ihm in die Wangen. Wie ein Schuljunge, dachte sie. Lachend legte sie eine Hand auf seinen Arm. «Willst du mir einen trockenen Sherry holen, Leonard? Ich möchte gern etwas mit dir besprechen.»
Er trottete hinüber zur Bar, immer noch ein bißchen empört. Er gab ja zu, er war manchmal etwas geistesabwesend; aber wenn es darauf ankam, wußte er sehr wohl, was die Glocke geschlagen hatte, und es war hohe Zeit, daß Jane sich das merkte. Sie hatte kein Recht anzudeuten, daß seine kleine unschuldige Kate es faustdick hinter den Ohren hatte. Sollte sie etwa … aber das war doch nicht möglich … war sie etwa eifersüchtig auf seine warme Beziehung zu Kate? Sofort schämte er sich dieses Gedankens. Was für eine Idee! Unausgegorene Psychologie! Auch wenn man es gar nicht wollte, sie drang in die Gedanken ein wie Kohlenstaub in die Haut.
Das Royal George war ein stocksolides englisches Hotel: traditionelle Einrichtung, Bequemlichkeit, gutes Essen. Aber hinsichtlich der Bar hatte man einige Konzessionen gemacht: sie wurde nur von drei Lämpchen und zwei Kerzen erleuchtet. Leonard, der sich durch den schummrigen Raum tastete, war daher eine leichte Beute für Amos Crump, dessen Augen sich schon an das Dämmerlicht gewöhnt hatten. «Ah, Instone! Kommen Sie, kommen Sie. Was trinken Sie?»
«Nein, danke vielmals. Ich will bloß einen Sherry für meine Frau holen.»
«Na, holen Sie sie doch her», sagte Amos mit einer Dringlichkeit, die bei einem Warmblüter an Begeisterung gegrenzt hätte. «Sherry, sagten Sie? Und was nehmen Sie?»
«Nein, wirklich nicht, danke. Jane mag gern sehen, was sie im Glas hat. Einmal hat sie eine betrunkene Wespe in ihrem Cocktailglas gefunden», erzählte Leonard, selber beeindruckt von seiner glänzenden Improvisation.
«Ja, kann ich verstehen. Ist ja auch etwas dunkel hier.» Zu Leonards Entsetzen nahm Amos sein Glas und stand auf. «Ich komme mit rüber zu Ihnen in die Halle.» Er setzte sich in Bewegung; seine Einladung zum Drink hatte er offenbar vergessen.
Leonard erstand zwei Glas Sherry und folgte ihm. Er versuchte, Janes Blick aufzufangen, aber sie starrte ungläubig Crump entgegen. Der Kerl wollte sich doch nicht etwa zu ihnen setzen? Eben waren sie Kate losgeworden, und Jane hatte dringend etwas mit ihrem Mann zu besprechen.
«Ich dachte, wir nehmen unseren Drink hier», sagte Crump zu Jane. «Da drüben ist es etwas dunkel, wissen Sie.»
«Ich gehe aber gleich nach oben und ziehe mich um», sagte Jane.
«Ach, das ist noch nicht so eilig. Vor halb acht wird doch nicht serviert.»
Jane hätte gern etwas darauf erwidert, aber sie sagte nur knapp: «Nehmen Sie Platz, Mr. Crump.»
«Danke», erwiderte Crump, der bereits Platz genommen hatte. Und zu Leonard gewandt, fuhr er fort: «Sie haben also tatsächlich was übrig für diesen Lazarus Pike?» Der Hohn war deutlich zu hören. «Na ja.»
In Leonard brodelte es immer noch leicht. Mit ungewöhnlicher Schärfe entgegnete er: «Ich halte ihn für einen sehr guten Schriftsteller, und mir liegt viel daran, daß er neu verlegt wird. Aber für einen Verleger wie Sie ist er natürlich nicht der richtige Autor.» Er blinzelte ein paarmal, holte tief Luft und sagte dann mutig: «Viel zu sauber, nehme ich an.»
«Oh, das wäre kein Hindernis», sagte Crump selbstgefällig. «Ich könnte ihn groß herausbringen, wenn ich wollte, aber ich will nicht. Ich würde alles mögliche abschnipseln, und dann würde ich mir einen geschickten Kerl wie Masters besorgen, der ihn im Fernsehen vornimmt und auf die versteckte Sexualität des Mannes aufmerksam macht. Wenn einer im Fernsehen so was sagt, glaubt das jeder.»
«Bei Pike würde man von versteckter Sexualität nicht viel finden.»
«Sie können mir glauben, Instone», sagte Crump gewichtig, «Sexualität gibt’s immer und überall. Und je versteckter sie ist, um so stärker ist sie vorhanden. Nehmen Sie nur Die Schatzinsel.»
«Ach, um Himmels willen!» rief Leonard.
«Außerdem ist es genau die Zeit, für die sich die Fernsehspielfritzen von der BBC interessieren. Soll ich Ihnen mal was sagen, Instone?»
Leonard nickte schwach, und Crump fuhr fort:
«Wenn man heute was publizieren will, dann zählen nur zwei Dinge: Fernsehen und Sex. Wenn man sie beide hat, kann einem nichts passieren. Und wenn man sie beide nicht hat, wird man von einem Buch so viel Exemplare verkaufen wie Kühlschränke an Eskimos.»
Jane erhob sich. «Mein Mann wird sich Ihre Worte zu Herzen nehmen, Mr. Crump. Komm, Leonard.» Und mit eisigem Kopfneigen verließ sie den Raum.
Das Schlafzimmer war sehr behaglich. Lampenschirme, dicke Vorhänge, die die Winternacht nicht hereinließen, breite Betten und ein geräumiger Frisiertisch, an dem Jane sich niederließ, um Gesicht und Frisur in Augenschein zu nehmen. Sie überlegte, was sie tun konnte, um neben der bezaubernden Mrs. Masters zu bestehen.
Sie war nicht an so viel Luxus gewöhnt. Sie genoß ihn oder sie hätte ihn genossen, wenn sie jetzt nicht an die Rivalität mit der Französin hätte denken müssen. Und an ihren Argwohn hinsichtlich Nicholas und Barbara Masters. Über die Schulter sagte sie: «Du, Leonard, das Mädchen, mit dem Nicholas zusammen war – das ist Clive Masters’ Tochter.»
Schweigen. Sie fuhr prüfend mit dem Finger unter dem linken Auge entlang. «Die beiden scheinen einen wunderbaren Sonnenaufgang erlebt zu haben, oben auf dem Pennine Way», sagte sie. Ganz so heiter, wie es sich anhörte, war ihr nicht zumute.
Schweigen. Sie fuhr herum. Das Zimmer war leer. «Leonard!» schrie sie.
Er steckte den Kopf durch die Badezimmertür. «Hast du was gesagt, Jane?»
«Ja, eine ganze Menge. Wo warst du denn?»
«Ich habe dir ein Bad eingelassen», sagte er ärgerlich. Wieder stieg der Groll in ihm hoch. Gerade hatte er sich deshalb geschämt und ihr ein schönes heißes Bad eingelassen. Und jetzt legte sie los wie Kleopatra an einem ihrer schlechtesten Tage.
«Danke», sagte sie kurz. «Ich hatte gesagt: Nicholas und die Tochter von Clive Masters waren ganz allein unter dem Sternenzelt, mindestens eine Nacht lang. Ich weiß, heutzutage bedeutet das alles gar nichts. Aber ich dachte, ich meine, wenn es schon soweit ist, dann hätte er sie wenigstens mal bei uns erwähnen können.»
«Clive Masters? Meinst du den vom Fernsehen?»
«Ja», sagte sie kurz.
«Liebe Zeit, was hat der damit zu tun?»
«Er wohnt hier im Hotel. Genau gesagt, im Nebenzimmer.»
«Liebe Zeit», wiederholte er. «Und dann noch dieser Verleger. Wir bewegen uns wirklich in erlauchten Kreisen.»
«Leonard. Laß doch das jetzt. Willst du nicht was tun?»
«Was denn?» Was tun – das war offensichtlich das letzte, was er sich wünschte.
«Das Mädchen. Ich finde, du solltest mit Nicholas reden und feststellen, wie lange das schon geht.»
«Wie lange was schon geht?»
«Ich weiß es doch nicht. Also gut – dann stell erst mal fest, was da los ist, und dann wie lange.» Sie sah ihn leicht gereizt an. «Was hast du denn?»
Er beklopfte seine Taschen und sah sich hilflos im Zimmer um. «Ich hab meine Brille verloren», sagte er dann.
Jane seufzte. «Oh, ich muß mich fertig machen. Paß auf, zieh du dich zuerst um. Dann holst du Nicholas und gehst mit ihm in die Bar und bestellst ihm ein Bier oder einen Shandy, um ihm die Zunge zu lösen. Dann fragst du ihn.»
«Nach dem Mädchen?»
«Ja, nach dem Mädchen.» Sie sah ihn in einem Koffer wühlen. «Was ist denn nun schon wieder?»
«Mein Gott – hast du meinen guten Anzug nicht eingepackt?» fragte er mit leichtem Vorwurf.
«Doch, habe ich, und auch schon ausgepackt. Er hängt im Schrank.»