Schöne Zeit der jungen Liebe - Eric Malpass - E-Book

Schöne Zeit der jungen Liebe E-Book

Eric Malpass

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Beschreibung

Millionen von Lesern, Film- und Fernsehzuschauern haben seit «Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung» den Schlingel Gaylord und seine kauzige Familie ins Herz geschlossen. Inzwischen ist Gaylord beinahe erwachsen geworden. Zum erstenmal verbringt er einen Urlaub ohne seine Sippe. Das, meint Opa Pentecost, kann nicht gutgehen. Und so bringt der Siebzehnjährige seinen Eltern aus Bayern auch keinen Bierseidel mit, sondern tatsächlich ein äußerst lebendiges Andenken: das Au-pair-Mädchen Christine. Gaylords erste Liebe sorgt für heillose Aufregung in der Familie, zumal auch seine Mutter May plötzlich entdeckt, daß man mit vierzig noch unerwartete Wünsche haben kann. Auf überraschende Weise findet auch diese äußerst turbulente Geschichte wieder ihr gutes Ende.

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Seitenzahl: 261

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Eric Malpass

Schöne Zeit der jungen Liebe

Aus dem Englischen von Anne Uhde

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Millionen von Lesern, Film- und Fernsehzuschauern haben seit «Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung» den Schlingel Gaylord und seine kauzige Familie ins Herz geschlossen. Inzwischen ist Gaylord beinahe erwachsen geworden. Zum erstenmal verbringt er einen Urlaub ohne seine Sippe. Das, meint Opa Pentecost, kann nicht gutgehen. Und so bringt der Siebzehnjährige seinen Eltern aus Bayern auch keinen Bierseidel mit, sondern tatsächlich ein äußerst lebendiges Andenken: das Au-pair-Mädchen Christine. Gaylords erste Liebe sorgt für heillose Aufregung in der Familie, zumal auch seine Mutter May plötzlich entdeckt, daß man mit vierzig noch unerwartete Wünsche haben kann. Auf überraschende Weise findet auch diese äußerst turbulente Geschichte wieder ihr gutes Ende.

Über Eric Malpass

Eric Malpass (1910–1996) hat in seinem Heimatland Großbritannien lange Jahre als Bankangestellter gearbeitet. 1947 wurde er Mitarbeiter der BBC, außerdem schrieb er für diverse Zeitungen. Er verfasste zahlreiche Romane und lebte als freier Schriftsteller in Long Eton, nahe Nottingham. Mit dem kleinen Herzensbrecher Gaylord ist Eric Malpass eine der originellsten Jungenfiguren der modernen Literatur gelungen, ernsthaft und liebenswert zugleich.

Inhaltsübersicht

To our beloved ...1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel

To our beloved Ruth Liepman

1

Angefangen hatte alles an einem schönen Sommerabend im Obstgarten der Pentecosts.

Charles Bunting war mit dem Wagen herübergekommen, um vom Garten seiner Freunde aus die Flußniederung zu malen. Seine Tochter Liz hatte beschlossen, ihn zu begleiten, was selbstverständlich nichts damit zu tun hatte, daß Gaylord Pentecost an diesem Abend nach Hause kommen sollte. Zumindest hoffte Liz, daß niemand ihren Entschluß mit dieser Tatsache in Verbindung brachte. Charles Bunting war ein berühmter Maler. Er besaß einen Rolls-Royce von 1935 und das Temperament eines Künstlers.

Jocelyn Pentecost beneidete ihn weder um seinen Ruhm noch um seinen Rolls, er war vernünftigerweise stets zufrieden mit dem, was er selber erreichen konnte. Nur um das Temperament beneidete er Charles. Er fand, daß ihm als Schriftsteller ebenfalls ein künstlerisches Temperament zustand. Doch das war ein Luxus, der ihm versagt blieb. Man konnte nicht mit May verheiratet sein und sich auch noch in Szene setzen, ohne sich lächerlich zu machen. Und da er auf dem Hof seines eigenwilligen alten Vaters lebte, verboten sich auch Gefühlsausbrüche von selber. Und im Grunde, dachte er manchmal, konnte man sich überhaupt nichts erlauben, wenn man eine zehnjährige Tochter hatte, die einen ebenso lauernd wie unschuldig beobachtete, begierig, die geringste Abweichung ihres Vaters von der psychologischen Norm lautstark der ganzen Welt zu verkünden.

Wie eine goldene Orange versank im Westen die Sonne hinter den Apfelbäumen. Amanda saß auf der alten Schaukel und ließ sich sanft hin und her schwingen, wie das Pendel einer alten Uhr. Charles Bunting stand vor der Staffelei und tupfte mit dem Pinsel ungeduldig auf die Leinwand, gereizt wie ein Huhn beim Futterpicken. Die anderen lagen auf ihren Liegestühlen im hohen Gras. Opa blickte versonnen dem Rauch seiner Zigarre nach, der sich in Spiralen nach oben drehte, durch die Blätter und Zweige und schließlich wohl gar bis zu den noch unsichtbaren Sternen hinauf. May blätterte mit heiterem Lächeln in einer Zeitschrift. Liz wandte den Blick nicht von der immer noch leeren Straße, die unten am Fluß entlangführte. Jocelyn beobachtete die anderen und dachte: Was hätte Turgenjew oder Tschechow aus diesem friedlichen Sonnenuntergang gemacht – welchen Aufruhr hätten sie entdeckt unter all den ruhig schlagenden Herzen! Und ich – was sehe ich? Nichts. Nur friedliche Stille unter einem englischen Himmel. «Eigentlich müßte Gaylord schon hier sein», sagte May. Opa zog genießerisch an seiner Zigarre. «Noch reichlich Zeit, May.»

Sie wandte sich mit gespieltem Erstaunen um. «Was heißt denn das, Vater – freust du dich nicht auf deinen lieben Enkel?»

«Nein, nicht besonders. Sobald er kommt, stürzt ihr Frauen alle durcheinander. Dann kann ich meine Zigarre nicht mehr in Ruhe zu Ende rauchen. Selbst die Sonne kann dann nicht mehr in Ruhe untergehen.»

Liz Bunting blickte mit wachsender Spannung auf die Straße am Fluß. Immer noch nichts? Wenn ihm nun etwas zugestoßen war?

«Zum Teufel mit der Sonne – sie hält aber auch nicht einen Augenblick still!» sagte Bunting gereizt.

«Du bist ja auch nicht Josua», meinte May, «der die Sonne und den Mond still stehen ließ!»

Er drehte sich um und sah die nachdenklich an. May lachte, aber er lächelte nicht zurück, sondern wandte sich wieder seiner Leinwand zu. Hatte er sich über sie geärgert? Sei’s drum, dachte sie. May schätzte Charles Bunting, er war leicht beleidigt, aber hätte man nie etwas sagen wollen, das er womöglich gleich übelnahm, dann hätte man überhaupt nichts mehr sagen dürfen.

Amandas Schaukel schwang langsam aus und hielt inne. Sie sagte laut: «Wenn ich Mr. Bunting wäre, dann würde ich Mummy malen. Bestimmt!»

Charles trat einen Schritt von der Staffelei zurück und betrachtete Amanda mit einer Mischung aus Ärger und Staunen. «Genau das möchte ich ja. Bestimmt!»

«O Gott!» sagte Jocelyn. Er wußte, daß er eine sehr hübsche Frau hatte. Aber May war doch keine Mona Lisa! Trotzdem … Er überlegte. Ein Bild von May im Abendkleid, in Goldrahmen über dem Kamin – gar nicht schlecht, die Idee. «Das ist doch nicht dein Ernst, Charles?»

Charles Bunting hatte ein ungeduldiges hageres Gesicht mit glimmenden grauen Augen und einem schwarzen hängenden Schnurrbart. Jetzt flammten die Augen auf wie glühende Kohlen. «Natürlich ist es mein Ernst! Wenn’s May recht ist.»

«Wir hatten mal einen hier, der hat deine Mutter gemalt», sagte Opa zu Jocelyn. «Furchtbarer Stümper!»

Zum Erstaunen aller sagte jetzt May: «Nein, ich glaube, lieber nicht, Charles. Trotzdem, vielen Dank.» Sie lächelte noch, aber um das Kinn herum zeigte sich ein trotziger Zug.

«Komm, sei kein Spielverderber, Liebling», sagte Jocelyn. «Ich hätte so gern dein Bild über dem Kamin!» Er war ganz begeistert von der Idee.

«Als das Bild fertig war, sah deine Mutter darauf aus wie Ophelia in der letzten Szene», setzte Opa seine Erinnerungen fort.

«Ich dachte ja bloß, Mr. Bunting würde es gern tun», sagte Amanda, die alle mit ihren weit auseinanderstehenden schmalen Augen beobachtete. Ihre Augen waren immer unter ihren langen Wimpern verborgen, aber ihr ganzes Gesicht konnte plötzlich überströmen von Fröhlichkeit oder Mitleid oder Liebe, oder es verriet, wenn sie eine menschliche Schwäche durchschaute.

«Natürlich würde ich’s gern tun! May, hör doch auf, die Spröde zu spielen. Ich werde dich beim Nähen malen, am Kamin.»

«Ach, und ich dachte», sagte Jocelyn schüchtern, «in dem blauen Abendkleid – und mit einer Frisur von Mabel Higgins – Madame Teresa.»

«Und vielleicht auch noch mit dem Hosenbandorden quer über der Brust, wenn’s recht ist», sagte Charles bissig.

«Oh, bitte, Mrs. Pentecost, lassen Sie sich doch von Daddy malen!» bat Liz, ganz Feuer und Flamme. Für sie war May Pentecost die schönste und auch die netteste Frau, die sie je kennengelernt hatte. Seit dem Tod ihrer eigenen Mutter war May für sie oft wie eine Freundin oder wie eine zweite Mutter gewesen.

May ging nicht weiter darauf ein. Sie sagte: «Wenn Gaylord jetzt nicht bald kommt, muß ich –» Aber in diesem Moment rief Amanda: «Da kommt er! Da!» Sie sprang von der Schaukel und vollführte drei schnelle Radschläge im hohen Gras. Alle blickten zur Straße hinunter, wo jetzt ein hochaufgeschossener Schuljunge angeradelt kam.

Opa hatte recht gehabt. Kaum näherte sich Gaylord, war es mit der friedlichen Ruhe aus und vorbei. May und Jocelyn sammelten die Zeitschriften ein, Charles Bunting legte die Farben beiseite, und sogar die Sonne verschwand hinter dem Horizont. Amanda war immer noch dabei, Rad zu schlagen, und stieß dazu schrille vogelartige Freudenschreie aus. Nur Liz Bunting saß regungslos auf ihrem Stuhl und sah so aus, als ob ihr das Atmen schwerfiele.

Wie gern, wie gern wäre sie an die Pforte gerannt, um sich zu überzeugen, ob er wirklich so gut aussah und so nett war, wie er in ihrer Erinnerung lebte! Und um festzustellen, ob er sich in dem Dreizehn-Wochen-Semester sehr verändert hatte. Für sie waren es dreizehn Wochen voll langer unausgefüllter Tage gewesen, verlorene Sommertage, weil Gaylord nicht dagewesen war. Und nun kam er zurück – wie gern wäre sie hingelaufen, um ihn zu begrüßen. Aber sie traute sich nicht. Und so blieb sie im Garten, still wie der Sommerabend und in eine Zeitschrift vertieft, und wartete darauf, daß endlich ein Schatten über die Seiten fiel. Dann würde sie aufblicken und ganz erstaunt rufen: ‹Ach, du bist’s, Gaylord! Du hast mich aber erschreckt.›

Amanda war solche Zurückhaltung fremd. Sie stürzte ins Haus und vorn hinaus auf den Vorplatz und fiel dem sonnenverbrannten Jungen um den Hals. «Gaylord! Wir sind hinten im Garten. Mr. Bunting will Mummy gern malen, aber sie will nicht, komisch nicht? Irgendwelche Hemmungen, nehme ich an, meinst du nicht auch? Bist du versetzt, Gaylord?»

Gaylord Pentecost trug seinen Schulblazer und die graue Flanellhose, und die Mütze saß schief auf seinem Kopf. Er lächelte ernst: jeder Zoll der lässig-würdevolle Oberschüler. Doch sogar Oberschüler können zuweilen, wenn niemand aufpaßt, ihre Würde vergessen, und das tat Gaylord jetzt: er nahm die jubelnde Amanda huckepack und lief mit ihr in den Obstgarten.

«Gaylord!» rief May und streckte ihm die Hände entgegen. «Wie schön, daß du da bist!»

Er nahm ihre Hände und schwang sie hin und her. «Tag, Mum!» Er beugte sich über sie und gab ihr einen Kuß aufs Haar. «Du wirst ja schon ganz grau, Mum!»

«Ja, ich weiß.»

«Henry Bartlett sagt, seine Mutter hat noch genauso schwarzes Haar wie mit siebzehn. Sie kauft so ein Zeug in der Drogerie – ich kann ihn ja mal fragen, wie es heißt, wenn du willst.» Er hockte sich auf einen Stuhlrand und ließ seine begeisterte Schwester ins Gras rollen.

«Tag, Dad, Tag, Großvater, Tag, Mr. Bunting. Wenn Sie meine Mutter malen, hat sie dann wie bei Picasso beide Augen auf der einen Seite?»

Charles Bunting warf ihm einen verärgerten Blick zu. Dann erwiderte er steif: «Ich denke an eine Studie in heiterer Gelassenheit und Ruhe, Gaylord.»

«Ja – wie Buddha», sagte May kichernd und ärgerte sich im nächsten Moment über sich selbst. Andererseits war Charles aber auch zu empfindlich.

Er schlug gereizt mit dem Pinsel auf seine Palette.

May sagte: «Entschuldige, Charles. Ich hab’s wirklich nicht böse gemeint.»

Er knurrte, dann mußte er plötzlich gegen seinen Willen lachen und sah sie grinsend an.

Gaylord saß da und schlug mit der Schulmütze auf sein Knie. Liz war immer noch in ihre Zeitschrift vertieft und beobachtete ihn aus dem Augenwinkel. Sie war die einzige, von der er noch keine Notiz genommen hatte. Es war zum Sterben. Am liebsten wäre sie zu ihm hingegangen, hätte ihn kräftig auf den Fuß getreten und gesagt: ‹Kennst du mich nicht mehr? Ich bin Liz!› Aber solche dramatischen Auftritte lagen ihr nicht, und sie wußte, daß er bloß gelacht und zurückgetreten hätte.

Es war wirklich ein Elend.

«Mum, du kennst doch Roger Miles?» fragte Gaylord. «Er geht jetzt ab. Aber er war der beste Sportler von der Schule, Mannschaftskapitän in Kricket und Fußball.»

«Und was ist mit ihm?» fragte Amanda eifrig und mit klopfendem Herzen. Roger war der Junge, den sie anbetete.

May jedoch wußte, wenn Gaylord etwas so beiläufig mitteilte, mußte man sich beeindruckt zeigen. «Meine Güte», sagte sie erstaunt. «Das ist ja toll!»

«Sein Onkel Franz fährt im August mit einer Pfadfindergruppe nach Deutschland und hat Roger gefragt, ob er mitkommen will. Und er kann auch noch einen Freund mitbringen. Ja, und da – da hat Roger mich gefragt.» Er hielt inne, immer noch überwältigt. «Das wäre natürlich große Klasse.»

May kannte ihren Sohn. Sie wußte, ihm bedeutete die Einladung mehr, als wenn ihn Prinz Philip zu einer Jagdpartie nach Sandringham aufgefordert hätte. Aber immerhin mußte man auch an die Familie denken. Und so sagte sie vorsichtig: «Junge, wir fahren doch nach Wales. Und wir wollten doch auch Liz mitnehmen. Außerdem –»

«Oh, Mummy, darf ich mit nach Deutschland?» schrie Amanda. Ins Ausland mit ihren beiden liebsten Männern.

«Nein, mein Herz», sagte May klipp und klar.

«Nein, natürlich nicht», fügte Gaylord hinzu. «Ist doch keine Kindergartengruppe!»

«Nach Deutschland?» fragte Opa. «Was, zum Teufel, willst du in Deutschland?» Er begriff nie, warum die Familie auch nur nach Wales fuhr, wo die Luft hier so gut war. Aber nach Deutschland – wozu, um Himmels willen?

«Klingt doch eigentlich sehr gut», meinte Gaylord verträumt. «Findest du nicht? Und kostet auch nur fünf Pfund. Oder – oder waren es fünfzig?»

Lieber Gott, mach, daß sie nein sagen, betete Liz. Mach, daß sie sagen, er soll mit nach Wales kommen.

«Frag mal deinen Vater», entschied May.

Gaylord hielt das für völlig überflüssig. Wer traf denn hier im Haus die Entscheidungen? Sein Vater sagte oft, er habe genug Probleme in seinen Büchern, er brauche nicht noch Probleme in der Familie. Aber man mußte wohl so tun als ob. «Darf ich, Dad?» fragte er höflich.

«Was?» fragte Jocelyn zurück und sah seinen Sohn ari, als hätte er ihn eben zum erstenmal erblickt. Er war in Gedanken weit weg. Die Sonne war untergegangen, eine goldene Orange, und kleine gelbrosa Wolken schwebten am Himmel, süß und unschuldig wie kleine Engel. Die Luft ringsumher war durchtränkt von Farben – blau und rosa und gelb. Irgend jemand hatte etwas von Deutschland gesagt. «Was?» fragte er noch einmal.

«Nach Deutschland. Im August.»

«Ja – warum nicht? Du wirst einen Paß brauchen.»

«Ich hab einen, in der Schule.»

«Du bist richtig gemein, Gaylord», sagte Amanda empört.

May dachte an Wales. Ferien mit den Kindern, als beide noch klein waren. Strahlende Morgen, wenn man barfuß über den Strand zum Wasser hinunterlief, Tage voller Spiel und Gelächter, und stille Abende mit der Lampe auf dem Tisch, wenn die Kinder im Bett waren und der Regen aufs Dach trommelte und Jocelyn mit Pfeife und Buch in seinem Sessel saß. Ferien in Wales! Und nun hieß es: Darf ich nach Deutschland? Fünf Pfund oder fünfzig, ich weiß nicht mehr. Damals hätten wir für fünzig Pfund das Häuschen in Wales ein ganzes Jahr lang mieten können. Aber das war albern – die Welt veränderte sich. Ihre geliebte alte Welt war dabei, sich aufzulösen wie eine Sandburg, wenn die Flut kam. Und die Familie, die kleine, fest zusammengehörende Familie, die sie geformt und beschützt hatte, auch sie veränderte sich. Ihr Sohn – jetzt ein junger Mann – hatte keine Lust mehr, in heimatlichen Gewässern herumzupaddeln, und das war recht so. Gaylord meinte, sie brauchte ein Färbemittel für ihr Haar. Und Charles wollte sie als brave Ehefrau malen. Irgend etwas sträubte sich in ihr dagegen. Und sie, die sonst ihre eigenen Motive so klar und nüchtern erkannte, konnte nicht sagen, warum sie es nicht wollte. Sie blickte in den roten Abendhimmel. Sie, die immer behauptete, sie sei nie ohne Grund bedrückt oder deprimiert, fühlte, wie sich ihr etwas, das sie nicht recht bestimmen konnte, schwer auf die Schultern legte. War es das Alter, waren es ihre und Jocelyns vierzig Jahre? Oder war es einfach die Tatsache, daß ihr kleiner Gaylord nun zu einem kräftigen jungen Mann herangewachsen war, dem die Familie nicht mehr genügt? «Du wirst uns allen fehlen, Gaylord», sagte sie. «Vor allem Amanda und Liz.»

Amanda nickte stürmisch, und Liz faßte Mut und rief: «Das macht nichts, Mrs. Pentecost. Wir kommen schon zurecht, was, Mandy?»

Gaylord blickte auf. «Heh, Lizzie!» rief er fröhlich, ging zu ihr hinüber und zog ihr den Strohhut über die Augen.

Liz war selig. «Hallo, Gaylord», flüsterte sie und zog den Hut zurecht, damit sie ihn bewundernd anlächeln konnte.

Gaylord warf sich neben ihrem Stuhl ins Gras. Er pflückte einen Grashalm, kaute darauf herum und sah sie grinsend an.

Ein leichter Abendwind war aufgekommen; er kräuselte die Wasseroberfläche des Flusses, brachte Aufruhr in die Mückenschwärme und bewegte die Blätter der Zeitschrift auf Liz’ Knien. «Kommt, wir gehen ins Haus», sagte May. Und Charles Bunting rief: «Komm, Liz, wir müssen heim, es ist Zeit.»

John Pentecost zertrat den Rest seiner Zigarre im Gras. Wie viele Zigarren würde er noch rauchen in diesem Garten, bevor Zigarren und Gärten und Erde und Sonne für ihn versanken? Wieder ein Sommerabend dahin, dachte er und seufzte. Jocelyn trat heran. «Soll ich helfen, Vater?» Der alte Mann warf ihm aus seinem Liegestuhl einen finsteren Blick zu. «Nein, danke, ich brauche keine Hilfe. So klapprig bin ich noch nicht.» Er kam mühsam auf die Füße. Verdammt, ja, es war beschwerlich, aber das hatte mit seinem Alter nichts zu tun – es lag einfach daran, daß die Liegestühle heutzutage so niedrig waren.

May schob ihren Arm unter den ihres Sohnes. «Wie schön, daß du wieder bei uns bist, mein Kleiner.»

«Schön, wieder zu Haus zu sein, Mum.»

Über den Rasen kam ein Ruf, dem man die bemühte Fröhlichkeit anhörte. «Wiedersehen, Gaylord!»

Mutter und Sohn wandten sich um. Liz stand neben dem offenen Rolls-Royce. Sie lächelte verzweifelt und winkte. May sah ihr an, wie sehr sie sich nach einem freundlichen Wort, nach einem Kuß von Gaylord sehnte.

Gaylord rief: «Bis bald, Liz!» und ging fröhlich weiter. Der Wagen fuhr an und überholte die kleine Gruppe, die langsam auf das Haus zuschlenderte. Charles Bunting hupte und beschleunigte das Tempo. Der Wagen glitt mit einem langen Schatten die Straße am Fluß entlang und verschwand schließlich hinter der Kurve.

 

May drückte Gaylords Arm. «Du wirst doch vorsichtig sein in Deutschland, ja?»

«Ja, natürlich, Mutter.» Er grinste. «Ich werde Miles’ Onkel sagen, er soll auf der Autobahn höchstens fünfzig fahren.»

«Ich spreche nicht von der Autobahn. Ich meinte es ganz allgemein. Die Mädchen sollen sehr hübsch sein.»

«Mädchen!» Er lachte geringschätzig. «Nein, da gibt’s wichtigere Dinge – Sport, Fußball …»

Sie lächelte. «Ja, natürlich, mein Großer.» Insgeheim dachte sie: Warte nicht zu lange, mein Sohn. Küsse verlieren mit den Jahren ihre Süßigkeit. Und Liz gäbe ihre rechte Hand für einen Kuß.

Aber sie wußte, die kleine Liz würde wohl vergeblich warten.

 

Sie war immer noch leicht deprimiert, als sie später am Abend Amanda einen Gutenachtkuß gab. Im Hinausgehen wandte sie sich noch einmal um und fragte sie: «Übrigens, woher wußtest du denn, daß Mr. Bunting mich gern malen würde?»

Sie sah Amanda nicht an, aber sie wußte, daß die großen offenen Augen des Kindes sie genau beobachteten. Nachdenklich sagte Amanda: «Das weiß ich nicht, Mummy. Ich dachte, er wär vielleicht in dich verliebt. Aber das könnte er doch gar nicht, nicht? Weil du schon verheiratet bist.»

«Nein, mein Kleines, natürlich könnte er das nicht», sagte May mit ruhiger Stimme. Doch nachdem sie die Tür geschlossen hatte, wurde ihr auf einmal klar, daß Amanda recht hatte. Sie lachte – ein kurzes ärgerliches Lachen. Sie, die Jocelyn gehörte, die Jocelyn gehörte bis zum letzten Atemzug, wurde von einem anderen Mann geliebt! Es war lächerlich! Sie mußte dem sofort ein Ende machen. Aber – und wenn nun alles nur Einbildung war?

Nein, dachte sie. Amanda hat es bemerkt. Amanda, der kleine Satan, weiß Bescheid. Wie blind bin ich gewesen! Wie lange geht das wohl schon? Seit Rachels Tod? Ja, so war es. Die Einsamkeit nach dem Tod seiner Frau, das war’s. Und natürlich ist er ein Ehrenmann, er würde eher sterben, als Jocelyn oder mir auch nur eine Spur seiner Gefühle zu offenbaren. Der Arme. Sie bemühte sich, Mitgefühl aufzubringen, aber zu ihrer eigenen Überraschung fühlte sie sich nur verletzt und empfand gleichzeitig eine Spur fast arroganter Befriedigung. Gegen ihren Willen stellte sie mit einer gewissen Genugtuung fest, daß sie sich doch offenbar noch einigermaßen sehen lassen konnte – auch ohne das Zeug aus der Drogerie.

Als sie endlich ins Bett schlüpfte, sagte sie mit ernstem Gesicht: «Mir kam heute ein merkwürdiger Gedanke, Jocelyn.»

«Ja, Liebes? Moment mal eben, ich will mir nur noch schnell die Zähne putzen.» Er ging ins Badezimmer und kam nach einer Weile zurück. «Also, diese Zahnpasta – ich meine, diese neue mit dem fabelhaften Zusatz – schmeckt wie Lederpolitur!»

«Ich habe Lederpolitur noch nie probiert.»

Klang das nicht etwas kühl? Er dachte nach. Ach ja – der merkwürdige Gedanke, natürlich! Übertrieben eifrig fragte er: «Also, dann erzähl mal – was war das für ein merkwürdiger Gedanke?»

«Na ja, es klingt sicher schrecklich eingebildet, aber ich dachte auf einmal, ob Charles Bunting vielleicht in mich verliebt ist.»

«Charles? Na klar. Seit Jahren.»

Sie fuhr hoch und setzte sich im Bett auf. «Wieso – du hast es gewußt?»

Jocelyn setzte ein kleines selbstgefälliges Lächeln auf. «Ach, weißt du, ein Schriftsteller merkt so etwas ganz instinktiv.»

Sie saß still da, die Hände um die Knie geschlungen. Nach einer Pause sagte sie: «Ich dachte schon, er hätte was zu dir gesagt. Ich dachte, ihr beide hättet vielleicht ein Gespräch von Mann zu Mann darüber gehabt.»

«Nein, nein!» sagte er, und es klang erschreckt. «Das gehört sich doch wohl nicht, findest du nicht auch, May?»

«Ich weiß nicht. Ich hätte eigentlich angenommen, es gehört sich auch nicht, daß man sich in die Frau eines anderen Mannes verliebt.»

«Nein, sicher nicht, aber so etwas kommt natürlich vor. Und du kannst ja auch sehr reizend aussehen.»

«Danke.»

Sie schwieg und rieb das Kinn an den Knien. Dann sagte sie: «Aber ich bin schon vierzig, Jocelyn.» Es klang fast wehklagend. «Gaylord findet, ich müßte mir das Haar färben.»

Er betrachtete sie nachdenklich und schüttelte den Kopf. «Nein, das paßt nicht zu dir. Mit Charme und Anmut alt werden, das ist eher dein Stil, May.»

Wieder sagte sie eine Weile nichts. Dann: «Ja, das mag stimmen.» Sie legte sich wieder hin und seufzte. «Jocelyn?»

«Ja –?»

«Du bist nicht böse? Ich meine, wegen Charles?»

Er lachte herzlich. «Aber May! Ich hoffe doch, ich bin zivilisiert genug …» Er kroch ins Bett und gähnte.

«Ja», sagte sie nachdenklich. «Von der Seite hatte ich es noch gar nicht betrachtet. Gute Nacht, Jocelyn.»

«Gute Nacht, Liebes.»

Sie konnte nicht schlafen. Ob auch Jocelyn alt wurde? Ältlich, gesetzt und vielleicht sogar pathetisch? Jocelyn, dessen trockener Humor, dessen belustigte Selbstironie sie immer so entzückt hatte? Ich hoffe doch, ich bin zivilisiert genug …

Wir werden alle älter, dachte sie düster und immer noch hellwach. «Wir müssen Liz die Möglichkeit geben, jetzt andere Ferienpläne zu machen. Ohne Gaylord ist es für sie zu langweilig.»

«Oh, sie wird sich schon amüsieren. Und sie kann sich ein bißchen um Amanda kümmern. Außerdem kann sie dir doch auch im Häuschen zur Hand gehen.»

Sie wandte ihm das Gesicht zu und sagte langsam: «Weißt du was, Jocelyn? Wenn du nicht gut aufpaßt, bist du bald ebenso ein Egoist wie dein Vater.»

Er hob den Kopf vom Kissen und sah sie erstaunt an. «Ist Vater denn so egoistisch?» überlegte er. «Ja, du hast recht, manchmal ist er es wirklich. Du bist ein kluges Kind!»

«Danke», sagte sie.

Er lag still da und sagte nichts mehr. May war heute abend offenbar empfindlich. Hoffentlich schlief sie bald ein.

 

Charles und Liz Bunting kamen nach Hause, stellten den Wagen in die Garage und gingen ins Haus. Liz zitterte leicht – wie immer, wenn sie mit Daddy im Auto unterwegs gewesen war.

Aber heute lag es nicht nur an der haarsträubenden Fahrweise ihres Vaters. Sie hatte Gaylord wiedergesehen, das war es – ein paar bittersüße Minuten lang. Und sie hatte erfahren, daß er den größeren Teil der Ferien in Deutschland verbringen wollte. Sie hatte erfahren, daß er nicht mit nach Wales kommen würde.

Charles legte seinen Arm um ihre Schultern. «Wollen wir uns ein bißchen was bruzzeln?» meinte er. «Vielleicht Eier mit Speck?»

«Ja, und Würstchen.»

«Und Tomaten.»

«Mit geröstetem Brot.»

«Du kannst schon mal den Tisch decken», sagte er. «Ich stell mich inzwischen an den Herd.»

Während er in der Küche die Eier in die Pfanne schlug, sagte er leise und liebevoll: «Tut mir ja leid, daß Gaylord nicht mitkommt nach Wales, Liz.»

Sie fühlte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoß. Zum Glück wandte er ihr den Rücken zu. «Danke, Daddy. Aber es ist nicht so wichtig, wirklich.»

«Komm, Liz. Du bist doch ganz verliebt in ihn.»

Tiefe Verlegenheit, Scham und Erstaunen kämpften in ihrem Gesicht. Und sie hatte sich solche Mühe gegeben, sich ihre Gefühle nicht anmerken zu lassen. «Woher weißt du das, Daddy?»

«Kindchen, die erste Liebe kann man nicht verbergen. Gibst du mir bitte mal den scharfen Senf?»

«Soll ich dir eine Flasche Bier aufmachen? Ich dachte nicht, daß man’s so deutlich merkt.»

«Ja, gern. Ein Ale.» Er ließ den Inhalt der Bratpfanne auf zwei Teller gleiten und trug sie hinüber zum Küchentisch. Sie setzten sich. Durch das weit geöffnete Fenster blickte man in das letzte stille Abendrot. Doch um den Duft von Kletterrosen und Lavendel wahrzunehmen, roch es in der Küche jetzt zu sehr nach Spiegeleiern, Speck und Würstchen. Trotz ihres Liebeskummers lief Liz das Wasser im Mund zusammen. Sie war selber bitter enttäuscht über ihren Appetit, aber sie konnte es kaum abwarten, mit dem Essen zu beginnen, und hielt schon die Gabel in der Hand.

Charles aß schweigend. Er war ein einsamer Mann geworden. Er hätte gern wieder eine Frau gehabt, aber sie hätte so sein müssen wie seine geliebte Rachel, und solche Frauen gab es nicht viele. May Pentecost war eine von ihnen, aber May Pentecost war nicht mehr zu haben. Und er, der einige der schönsten Frauen Englands gemalt hatte, wußte, daß nur wenige es mit May aufnehmen konnten; und die wenigen waren alle vergeben. Er trank einen großen Schluck aus seinem Bierglas, stellte es auf den Tisch und schob die eigenen Gedanken und Sehnsüchte energisch beiseite. Er sah lächelnd zu Liz hinüber und nahm den Faden der Unterhaltung wieder auf. «Hoffentlich kann ich’s besser verbergen, daß ich seine Mutter liebe», sagte er.

Sie starrte ihn an und legte langsam die Gabel nieder.

Er beugte sich über den Tisch und drückte ihre Hand. «Mach dir keine Sorgen, Kleines. Ich werd schon damit fertig.» Sie starrte ihn immer noch an und begann dann heftig zu zittern.

«Die Kleine hat’s gespürt – Amanda», sagte Charles. «Deshalb dachte ich, du hättest es wahrscheinlich längst gemerkt.»

Sie fand endlich die Sprache wieder. «Mrs. Pentecost? Ja, aber … Und ihr Mann?»

«Lieber Himmel», sagte er, «ich bin ein alter Narr. Es ist doch nichts. Nichts als ein Gefühl, Liz, ein sentimentales Gefühl, verstehst du? Und mehr wird es auch nie sein.»

Ihr Blick schien in ihn einzudringen. Auch Liebe lag darin, und der verzweifelte Versuch, ihn zu verstehen. Endlich sagte sie tastend, als wollte sie sich vergewissern: «Ja, natürlich. Mehr kann es doch auch gar nicht sein, nicht, Vater? Ich meine, bei Menschen wie dir und Mr. und Mrs. Pentecost.»

«Nein, selbstverständlich nicht», versicherte er.

Vater und Tochter blickten sich an. Dann nahm Liz langsam die Gabel wieder auf und aß weiter.

2

Draußen hinter der Kasse im Supermarkt stand ein Mann, der hastig und ungeschickt Lebensmittel in einen der kleinen Rollwagen lud. Neben der Kasse stand eine elegante, heiter lächelnde Frau, die gerade dabei war, die Sachen zu bezahlen. Das sind ja Gaylords Eltern! dachte Liz Bunting und wurde puterrot. Ob Gaylord auch da war? Sie sah sich rasch um. Nein, kein Gaylord weit und breit. Aber jetzt hob Mrs. Pentecost den Kopf, sah Liz und winkte ihr. Liz trat mutig näher. «Hallo, Mrs. Pentecost. Hallo, Mr. Pentecost.»

Jocelyn warf ihr einen gehetzten Blick zu. «Guten Tag, Liz», sagte er, während er mit einem tiefgefrorenen Puter kämpfte, der nicht in den Einkaufswagen passen wollte. Er hatte das Mädchen gern, aber er mußte hier erst zurechtkommen, ehe er sich unterhalten konnte. Er hatte Angst, den ganzen Betrieb aufzuhalten.

Aber jetzt kam May Pentecost heran, faßte Liz’ Arm und sagte freundlich: «Hallo, Liz. Wie schön, wir wollten nämlich gern mit dir sprechen, nicht wahr, Jocelyn?»

«Oh. Ach so, ja, natürlich», sagte Jocelyn etwas verwirrt. Sein Wagen strebte nach Südosten, sollte aber nach Südwesten rollen.

«Wir wollten dich fragen, ob du denn überhaupt noch Lust hast, mit uns nach Wales zu kommen. Du weißt ja, Gaylord kommt nicht mit. Ich – wir würden es also durchaus verstehen …»

«Ich weiß, Mrs. Pentecost. Aber ich komme gern mit, ehrlich.»

May spürte die Anspannung in ihrer Stimme, hörte die Enttäuschung, die in der Antwort mitschwang. Und sie dachte, wie sie schon mehrmals gedacht hatte: Sie liebt meinen Jungen. Und sie wird leiden, denn Gaylord macht sich nichts weiter aus ihr, Kricket und Fußball sind ihm wichtiger. Liebevoll sagte sie: «Wir werden uns Mühe geben, daß du dich gut amüsierst, Liz. Aber ich fürchte, es wird ein bißchen langweilig für dich werden.»

«Bestimmt nicht, Mrs. Pentecost.» Liz bemühte sich, so zu tun, als sei es ihr völlig gleichgültig, ob Gaylord mitkam oder nicht. Jocelyn, der inzwischen mit seinem Rollwagen zurechtgekommen war und nun mit der Miene einer viktorianischen Amme, die im Park ihren Kinderwagen vor sich herschiebt, dem Parkplatz zustrebte, fiel prompt darauf herein. Die Kleine, dachte er, freute sich offenbar auf seine Gesellschaft und fühlte sich geschmeichelt. Er kam sich weise vor – weise und väterlich und anziehend wie ein reifer Mann in den besten Jahren. Sie würde Gaylord gar nicht vermissen.

May wußte es besser. Sie sagte: «Es tut mir leid, daß Gaylord nicht mitkommt, Liz.»

«Macht wirklich nichts, Mrs. Pentecost.» Das Lächeln war eine Spur zu strahlend. Schmerz und Tapferkeit der ersten Liebe, dachte May.

 

Wie immer, wenn die Familie verreist war, fuhr John Pentecost nach London. Er wohnte in seinem alten Club, und wie immer wunderte er sich auch in diesem Jahr wieder darüber, wie sehr die anderen Mitglieder in den vergangenen zwölf Monaten gealtert waren. Unbegreiflich. Sicherlich waren es seine robuste Konstitution und seine vernünftige Lebensart, die ihn vor diesem traurigen Schicksal bewahrten.

Die jungen Pentecosts fuhren nach Wales und zogen wieder in das alte Häuschen, wo sich jeder Teller, jedes Bild, jeder Stuhl noch am selben Fleck befand wie vor zwölf Monaten. Die Felder und Wege waren die gleichen wie seit hundert Jahren, und der leere Strand war der gleiche wie seit hunderttausend Jahren. Liz machte lange, einsame Wege und staunte über die Sonnenuntergänge, die Einsamkeit, das Meeresrauschen. Und wenn sie abends heimkehrte, staunte sie über den liebevollen Empfang, den man ihr bereitete, den gedeckten Tisch – und über den Appetit, mit dem sie trotz Liebeskummer über Roastbeef und Apfelkuchen herfiel.

 

Die Trossen wurden gelöst, und England begann kaum merklich, aber stetig davonzuschwimmen. Gaylord hatte ein merkwürdiges Gefühl im Magen, und irgend etwas schnürte ihm die Kehle zusammen. Er warf einen verstohlenen Blick zu Henry Bartlett hinüber. Auch Henry starrte verzagt auf die sich langsam entfernenden weißen Felsen von Dover. Auch Pfadfinder waren offenbar nicht gegen Heimweh gefeit.

Doch als sie dann in Bayern ankamen, war alles Heimweh verschwunden und vergessen. Schon auf der Fahrt im Kleinbus durch Frankreich waren Namen aus langweiligen Geographie- und Geschichtsbüchern plötzlich lebendig geworden: Reims, Verdun, Metz, Strasbourg. Dann der Rhein, der Schwarzwald und schließlich München mit seiner herrlichen Umgebung.

Von München aus waren sie weiter nach Süden gefahren, und dann, endlich, hatten sie die Berge vor sich: dunkle, merkwürdig gezackte Riesen, die in den Himmel ragten wie düstere Wolken, mit glitzerndem Eis und blendenden Schneeflächen. Staunend fuhren sie weiter, tief hinein in ein bewaldetes Tal, das rings von weißen Riesen umgeben war. Der schmale Weg schien kein Ende zu nehmen. Sie kamen an eine Lichtung: eine kleine Wiese, ein Bach, am Rande hohe Bäume, und dahinter drohend der eisgezackte Berg. Hier schlugen sie ihr Lager auf.